Deine Augen in unseren Augen - Madeleine Delbrêl - E-Book

Deine Augen in unseren Augen E-Book

Madeleine Delbrêl

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Beschreibung

Zukunftsweisende Texte der "Mystikerin der Straße", die meisten erstmals in deutscher Sprache. Eine "Auslese" aus einer Hinterlassenschaft, die zeigt, wie faszinierend es ist, gerade heute als Christ, als Christin zu leben, in einer Welt, die ständig im Fluss ist, mitzugehen auf Jesu Spuren, in einer Innerlichkeit, die trägt und drängt, Mensch unter Menschen zu sein: Madeleine Delbrêl (1904-1964) ist aktueller denn je. Zusammengestellt und übersetzt von Annette Schleinzer. Mit einer ausführlichen biografischen Einleitung.

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MADELEINE DELBRÊLDEINE AUGEN IN UNSEREN AUGEN

Madeleine Delbrêl

Deine Augenin unserenAugen

Die Mystik der Leute von der Straße

Ein LesebuchHg. von Annette Schleinzer

VERLAG NEUE STADTMÜNCHEN · ZÜRICH · WIEN

Wir danken der Association des Amis de Madeleine Delbrêl und dem Verlag Nouvelle Cité, Bruyères-le-Châtel/Frankreich, in dem das Gesamtwerk Madeleine Delbrêls erscheint, für die Unterstützung und die freundliche Genehmigung der Übersetzung und Publikation der Texte aus den Œuvres complètes.

2014, 1. Auflage© Alle Rechte für die deutsche Ausgabe bei Verlag Neue Stadt GmbH, MünchenUmschlaggestaltung und Satz: Neue-Stadt-GrafikFotos: Archiv Madeleine DelbrêleISBN 978-3-87996-426-0ISBN 978-3-7346-1026-4

www.neuestadt.com

INHALT

Vorwort

Biografische Einführung

VOM DUNKEL ZUM LICHT: GOTTSUCHE UND GOTTESERFAHRUNG

Gott ist tot – es lebe der Tod

Du lebtest – und ich wusste es nicht

Die Kunst ist eine Weise der Liebe: Briefe aus der Jugendzeit

DIE MYSTIK DER LEUTE VON DER STRASSE

Leute des gewöhnlichen Lebens: Alltagsspiritualität und Gebet

Leute des gewöhnlichen Lebens

Den ganzen Weg entlang die Gebärden Christi wiederholen

Das Evangelium ist das Buch unseres Lebens

Lernen wir, dass es nur eine Liebe gibt

Das Gebet der „Leute von der Straße“

Der Ball des Gehorsams

Armut zu leben ist eine echte kirchliche Aufgabe

Ehelosigkeit ist nicht nur ein Verzicht

Demut hat keine Ehre zu verteidigen

Eine wahre Goldgrube der Liebe: Leben in Gemeinschaft

Liebe ist der Daseinsgrund unserer Gemeinschaft

Wir sind ein lebender Widerspruch

ALS KIRCHE UNTER DEN MENSCHEN

Wie könnten wir schlafen? Im Dienst an den Armen

Ein Schrei steigt auf aus der Welt

Vigil am Vorabend der Schlacht

Wer schweigt, bezieht Stellung

Weil deine Augen in den unsren erwachen: Missionarisch Kirche sein

Alles schweigt auf der ganzen Linie von Gott

Gott mitten in der Welt aussäen

Liturgie der Außenseiter

Der Atheismus – ein guter Boden für unsere eigene Bekehrung

„Die bitteren Früchte meiner Romreise“: Das Verbot der Arbeiterpriester

Tendenz zum Bündnis – Tendenz zum Heil

Die Mission muss Kirche sein

Die Kirche – das Geheimnis der Liebe Jesu Christi für uns

Ich kann weder „sie“ noch „ich“ sagen, sondern nur „wir“

Eine lebendige Einheit: Erfahrungen mit der Ökumene

Ein Weg zwischen zwei Abgründen

Du hast viel gelitten! Wie du gelitten hast!

Eine Einsamkeit, die keiner anderen gleicht

Ein normaler Gewaltzustand

Unsere Zeit als Zeit unseres Glaubens

Der Atheismus des Schweigens

Der Glaube ist in der Zeit und für die Zeit

Fahrradspiritualität

TESTAMENT

Ich möchte, dass ihr wahrhaft frei seid

ANHANG

Zeittafel

Literaturverzeichnis

VORWORT

Du hast uns heute Nacht in dieses Café ‚Le Clair de Lune‘ geführt.“ So beginnt eines der schönsten Gedichte Madeleine Delbrêls mit der Überschrift „Liturgie der Außenseiter“1. In dieser Bar am Stadtrand von Paris berühren sich Himmel und Erde. Und das deshalb, weil es Menschen gibt, die sich gerade an diesem Ort dem Wirken Gottes zur Verfügung stellen. „Weil deine Augen in den unsren erwachen, weil dein Herz sich öffnet in unserm Herzen“, ist dieses Café „nun kein profaner Ort mehr. Wir wissen, dass wir durch dich ein Scharnier aus Fleisch geworden sind, ein Scharnier der Gnade, die diesen Fleck Erde dazu bringt, sich mitten in der Nacht, fast wider Willen, dem Vater allen Lebens zuzuwenden“.

Wer ist diese Frau – Madeleine Delbrêl – die so radikal damit Ernst macht, Gott mitten im Alltag zu entdecken, die sich damit auch weigert, zwischen profanem Leben und religiösem Leben zu unterscheiden?

Poetin – Sozialarbeiterin – Mystikerin: das sind nur drei der zahlreichen Attribute, die Madeleine Delbrêl kennzeichnen, deren Todestag sich im Oktober 2014 zum fünfzigsten Mal jährt. Im deutschen Sprachraum ist sie längst keine Unbekannte mehr. Sie gilt nicht nur als Vorläuferin des Zweiten Vatikanischen Konzils, sondern auch als „Prophetin der Nachkonzilszeit“.

In ihrer Jugend war sie eine überzeugte Atheistin. Doch eine tiefe Lebenskrise und die Begegnung mit jungen Christinnen und Christen leiteten die Wende ein: „Ich habe geglaubt, dass Gott mich gefunden hat“, so beschreibt sie das, was sie zeitlebens als Übergang vom Tod zum Leben erfahren hat. Im Evangelium hat sie eine Form dafür gefunden, aus diesem „unerhörten Glück“ zu leben und es an andere weiterzugeben. Sie war davon überzeugt, dass dies die Aufgabe aller Christen ist: Alle sind in der Welt wie „mit Gott geladen“ und bilden ein „Scharnier der Gnade“. Lange vor dem Konzil war ihr bewusst, dass die europäische Kirche der Zukunft auf diese Weise eine missionarische Kirche werden muss.

Über dreißig Jahre lang lebte sie mit ein paar Gefährtinnen unter den Menschen des kommunistischen Arbeitermilieus in Ivry, einer Stadt in der Bannmeile von Paris. Dort versuchte sie, „Gott einen Ort zu sichern“ – jenseits vorgegebener pastoraler Konzepte und zugleich verankert in der Tradition von Glauben und Kirche. Schon in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurden all diejenigen auf sie aufmerksam, die nach neuen pastoralen Möglichkeiten in der zunehmend entchristlichten Kirche Frankreichs gesucht haben. Für viele von ihnen wurde sie zur Beraterin.

Ihre Leidenschaft galt zugleich Jesus Christus und den Menschen, unter denen sie lebte und die Christus nicht (mehr) kannten. Ihnen wollte sie „das Leben allen Lebens“ bezeugen, von dem sie sich selbst beschenkt wusste. Mission – in diesem Sinne verstanden – war für sie keine „Zutat“ zum Glauben, sondern die „normale Frucht eines normalen christlichen Lebens“.

In solchen Sätzen leuchtet heute – fünfzig Jahre nach dem Tod Madeleine Delbrêls – eine überraschende Parallele zu Papst Franziskus auf. Es ist geradezu frappierend, wie sehr das Anliegen des Papstes, das er in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ zum Ausdruck bringt, bis in einzelne Formulierungen hinein dem entspricht, was Madeleine Delbrêl gelebt hat. Sie ist ganz buchstäblich an die Ränder, an die Peripherien gegangen und hat ihr Leben mit den Armen geteilt. Beide – Madeleine Delbrêl und Papst Franziskus – sind durch die Intuition ihres Herzens auch „Genies der Begegnung“.

Über all das hinaus, was Madeleine Delbrêl an Gedichten, Gebeten und anderen Texten verfasst hat, ist es sicher auch dies, was bei vielen Menschen ihrer Umgebung einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Ob das nun ein emeritierter Universitätsprofessor war, ein geistig behinderter Nachbar, entwurzelte Jugendliche oder die zahlreichen Priester und Ordensleute, mit denen Madeleine Delbrêl im Kontakt war: dem Charme ihrer Persönlichkeit konnte sich kaum jemand entziehen. Mit ihrem südfranzösischen Temperament hat sie Grenzen überwunden und in alle Richtungen Brücken gebaut. „Sie trug gerne bunte Kleider, liebte die Musik und die Dichtung und traf einen Freund lieber in einem Café oder in einer Kneipe im Quartier Latin als im Sprechzimmer eines Klosters“, so beschreibt sie eine polnische Freundin.

Als ich vor über dreißig Jahren – auf Anregung von Karl Kardinal Lehmann – begonnen habe, mich mit dieser prophetischen Gestalt zu beschäftigen, hatte ich das Glück, dass die meisten Zeitzeugen und -zeuginnen noch lebten. Mit großem Vertrauen wurde mir von den Gefährtinnen Madeleine Delbrêls der Zugang zu den damals noch zahlreichen unveröffentlichten Schriften ermöglicht, und in unzähligen Gesprächen ist mir das Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl nahegebracht worden.

Seit vielen Jahren werde ich nun zu Veranstaltungen über diese „Mystikerin der Straße“ eingeladen. Immer wieder werde ich dabei auch nach ihren Originaltexten gefragt. Schon seit den Sechzigerjahren haben die Gefährtinnen Madeleine Delbrêls begonnen, ihre Texte herauszugeben, und vieles davon liegt auch längst in deutscher Übersetzung vor. In verschiedenen Ländern werden inzwischen auch immer neue Diplomarbeiten und Dissertationen über sie verfasst. Ich selbst habe vor einigen Jahren unter dem Titel „Gott einen Ort sichern“ eine kleine Textsammlung herausgegeben, in der ich die verschiedenen Facetten der Spiritualität und des Lebenszeugnisses von Madeleine Delbrêl aufleuchten lassen wollte.2

Inzwischen sind in Frankreich – auch im Zusammenhang mit einem Seligsprechungsprozess – bereits elf Bände einer Gesamtausgabe der Werke Madeleine Delbrêls erschienen, ein zwölfter Band ist in Vorbereitung. Sie enthalten zahlreiche Texte, die bis dahin sowohl in Frankreich als auch vor allem im deutschsprachigen Raum noch nicht veröffentlicht worden waren.

Anlässlich des 50. Todestags von Madeleine Delbrêl am 13. Oktober 2014 bot es sich an, deutschen Leserinnen und Lesern eine Sammlung dieser Texte zugänglich zu machen.

Ich habe deshalb aus den bisher erschienenen Bänden der Gesamtausgabe eine Auswahl getroffen und diese Texte aus dem Französischen übersetzt. Zugleich habe ich mich dafür entschieden, bewährte „Klassiker“ mit in diese Sammlung aufzunehmen und sie – sofern sie schon in deutscher Übersetzung vorlagen – noch einmal neu zu übersetzen oder zumindest sprachlich zu überarbeiten.

Danken möchte ich der Association des Amis de Madeleine Delbrêl und dem Editionskomitee der Gesamtwerke – vor allem Suzanne Perrin, Anne-Marie Viry-Lavaux und Cécile Moncontié – für so manche Hilfe bei der Erstellung dieser neuen Textsammlung. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Stefan Liesenfeld vom Verlag Neue Stadt für seine stets ermutigende und inspirierende Begleitung.

Möge diese Anthologie zur (erneuten und vertieften) Begegnung mit einer Frau beitragen, die zu Recht als eine der größten geistlichen Gestalten unserer Zeit gilt.

Röderhof, am 22. Juli 2014,Fest der heiligen Maria von Magdala

Annette Schleinzer

BIOGRAFISCHE EINFÜHRUNG

Madeleine Delbrêl wurde am 24. Oktober 1904 in der kleinen südfranzösischen Stadt Mussidan/Dordogne geboren, als einziges Kind ihrer Eltern Lucile und Jules Delbrêl. Ihre Mutter und Großmutter waren praktizierende Katholikinnen, sodass das Kind getauft wurde, Katechismusunterricht bekam und schließlich auch zur Erstkommunion ging. Der Vater hingegen war ein Freidenker, der Kirche und Glauben eher skeptisch gegenüber stand. Die Lebensumstände hatten ihn dazu gezwungen, Eisenbahnbeamter zu werden, obwohl er lieber Journalist geworden wäre. Dieser auferlegte Verzicht hinterließ in ihm eine Unerfülltheit, die er nie verwand. Seine Karriere brachte einen häufigen Wohnungswechsel mit sich: fünf Mal allein in Madeleines ersten neun Lebensjahren! Sie wuchs deshalb, wie sie selbst sagte, „außerhalb jeglicher Schuldisziplin“3 auf.

1916 zog die Familie Delbrêl nach Paris, wo Madeleine den atheistisch oder agnostisch gesinnten Freunden ihres Vaters begegnete und von ihnen darin bestärkt wurde, dem Intellekt „den ersten Platz in der Stufenleiter meiner Werte“4 einzuräumen.

Dazu kam die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, der sie nach dem Sinn des Lebens und vor allem des Leidens fragen ließ. Das Fundament des Glaubens, das einige Priester wohl auf überzeugende Weise in ihr gelegt hatten, wurde dadurch immer mehr erschüttert und erwies sich als nicht mehr tragfähig: „Mit fünfzehn war ich strikt atheistisch und fand die Welt täglich absurder.“5

Früh war sowohl ihre intellektuelle als auch ihre künstlerische Begabung aufgefallen; bereits mit sechzehn Jahren belegte sie Kurse in Philosophie und Geschichte an der Pariser Sorbonne, nahm Zeichenunterricht und schrieb Gedichte, für die sie in den Zwanzigerjahren einen bedeutenden französischen Literaturpreis erhielt. Doch auf ihre leidenschaftliche Frage nach dem Sinn des Lebens fand sie letztlich keine Antwort. „Gott ist tot – es lebe der Tod“ – zu dieser existenzialistisch-nihilistischen Erkenntnis kam die Siebzehnjährige.

Menschliche Begegnungen leiteten dann eine Wende ein. Im Haus eines der Freunde ihres Vaters lernte sie Jean Maydieu, einen überzeugten jungen Christen, kennen. Er wäre gerne schon in jungen Jahren in einen Orden eingetreten, doch auf Wunsch seines Vaters studierte er Ingenieurwissenschaften. Madeleine Delbrêl und er fühlten sich zutiefst voneinander angezogen. Was bei ihr weder die Kunst noch die Philosophie vermocht hatten, das vermochte nun die Liebe: eine Bresche in das Bollwerk ihres Nihilismus zu schlagen.

Zu ihrem neunzehnten Geburtstag richteten ihre Eltern ein großes Fest aus, an dem man von der offiziellen Verlobung zwischen ihr und Jean Maydieu sprach. Doch kurze Zeit später brach er die Verbindung mit ihr ab, um seiner ursprünglichen Berufung zu folgen und ins Noviziat der Dominikaner von Amiens einzutreten. Als Ordensmann wurde er später eine der zentralen Gestalten für die Erneuerung des französischen Katholizismus – und sein Weg ist dem Weg Madeleine Delbrêls bis in Details hinein sehr ähnlich geworden.

Der Schmerz über diese abrupte und für sie kaum nachvollziehbare Trennung löste bei ihr einen intensiven Prozess der Suche aus, an dessen Ende das stand, was sie als „eine überwältigende Bekehrung“6 bezeichnete: die Begegnung mit dem lebendigen Gott, die Erfahrung einer Liebe, die nicht mehr zur Wahl stand.

Zunächst dachte Madeleine Delbrêl wohl daran, in den Karmel einzutreten. Die großen Heiligen der karmelitanischen Tradition – Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz, Therese von Lisieux – faszinierten sie und bestätigten ihre Sehnsucht nach dem „einen Notwendigen“.

Sie verzichtete jedoch zunächst auf einen Klostereintritt, weil ihre Eltern in einer belastenden Situation waren: Der Vater war früh erblindet und forderte die volle Aufmerksamkeit seiner Angehörigen ein. Unter der Begleitung von Abbé Lorenzo – dem späteren Mitbegründer der Mission de France – fand sie Zugang zu einer Pariser Pfarrgemeinde und lernte dort die Pfadfinderinnen-Bewegung kennen; zusammen mit ein paar jungen Frauen engagierte sie sich im Bereich alltäglich verwirklichter Diakonie. Die geistliche Grundlage dieses Kreises bildete die wöchentliche Bibelmeditation. Auf diesem Boden wuchs in Madeleine Delbrêl allmählich die Gewissheit, dass sie sich nicht „aus der Welt zurückzuziehen“ brauchte, um Ernst zu machen mit der Liebe Gottes. Nach dem Vorbild Jesu Christi müsste es möglich sein, ganz bei Gott und zugleich ganz bei den Menschen zu sein – und so die innere Einheit der beiden Liebesgebote ohne äußere und innere Grenzen zu leben, das heißt: ohne die Einschränkungen einer vorkonziliaren klösterlichen Klausur.

Eine Initialzündung, die zu einer konkreten Lebensform führen sollte, ergab sich für Madeleine Delbrêl und einige ihrer Freundinnen aus der gemeinsamen Lektüre der Apostelgeschichte. Dabei wurde ihr klar, was sie suchte: „Mitten in unserer säkularisierten Zeit eine christliche Gemeinschaft gründen, die sich unaufhörlich vom Beispiel der ersten Christen inspirieren lässt, in einem Leben, das so wenig streng geregelt ist wie das ihre; das von einem ebenso wahrhaftigen Verlangen nach Heiligkeit erfüllt ist. Ein Leben, das genauso einfach, genauso glühend und genauso in die Welt hineingetaucht ist.“7

Im Oktober 1933 legte Madeleine Delbrêl mit zwei Gefährtinnen den Grundstein für ein solches Leben: Alle drei verließen ihr bürgerliches Milieu und zogen nach Ivry, eine Arbeiterstadt in der Pariser Bannmeile, die als erste französische Stadt kommunistisch regiert wurde. In diesem sozialen Brennpunkt wollten sie ein gemeinschaftliches Leben nach dem Evangelium aufbauen, ohne Regeln, ohne Gelübde und ohne Klausur: „Wir sind echte Laien, die keine anderen Gelübde haben als ihr Taufversprechen und seine Wirklichkeit und die Wirklichkeit ihrer Firmung.“8

Ihr Haus sollte ein Haus der offenen Tür sein, und die drei Frauen wollten sich ganz bewusst auf die alltägliche Realität einer Arbeiterstadt einlassen.

Schon Jahre zuvor hatte Madeleine Delbrêl ihre künstlerischen und philosophischen Studien aufgegeben, um sich zur Sozialarbeiterin ausbilden zu lassen. In diesem Beruf arbeitete sie dreizehn Jahre lang; zuerst in einer kirchlichen Sozialstation, während des Krieges und noch ein Jahr danach in der kommunalen Stadtverwaltung.

Die Wahrnehmung des Elends – vor allem die menschenunwürdigen Lebensbedingungen derer, die in den dreihundert mittleren und kleineren Fabriken von Ivry arbeiteten – löste in ihr ein leidenschaftliches Engagement für die Armen und Benachteiligten aus. Deshalb zögerte sie auch nicht, mit den Verantwortlichen der Kommunistischen Partei zusammenzuarbeiten, um das Elend der Menschen zu lindern.

Zeitlebens engagierte sie sich auch in verschiedenen sozialen und politischen Projekten, deren Notwendigkeit sich für sie oft aus ganz ungeplanten Begegnungen ergab. Mehrmals hat sie sich zugunsten politisch Verfolgter oder ungerecht Verurteilter zu Wort gemeldet.

1946 gab sie zum Erstaunen vieler ihren Beruf auf, um sich verstärkt ihrer Gemeinschaft zu widmen, die sich inzwischen vergrößert hatte. Als Verantwortliche versuchte sie, diese Frauengruppe zu begleiten und immer neu zu umschreiben, was ihre Berufung als Laien ausmachte. Madeleine Delbrêl legte stets Wert darauf, als Gruppe kein besonderes „Erkennungszeichen“ zu haben. Dass ihre Gemeinschaft deshalb in keiner Weise – vor allem auch kirchenrechtlich – einzuordnen war, führte allerdings Ende der Vierzigerjahre zu Konflikten. Spätestens nach dem Erscheinen der Konstitution „Provida Mater Ecclesiae“ zur kirchlichen Approbation der Säkularinstitute (1947) sah sich Madeleine Delbrêl von allen Seiten (auch von ihrer eigenen Gemeinschaft) dazu aufgefordert, über einen Anschluss an das Institut „Caritas Christi“ nachzudenken. Dieses Ringen um den Status der Gruppe dauerte zehn Jahre lang und war für alle Beteiligten zermürbend. Schließlich fand Madeleine Delbrêl in dem späteren Kardinal von Paris, Msgr. Veuillot, einen unerwarteten Fürsprecher. Er warnte davor, sich vorschnell institutionalisieren zu lassen und bekräftigte die Originalität ihrer Berufung, in der er einen Impuls des Heiligen Geistes für die heutige Zeit erkannte.9

Seit den Vierzigerjahren war sie darüber hinaus mit den Verantwortlichen der missionarischen Aufbruchsbewegungen in Frankreich in Kontakt gekommen, vor allem mit der Mission de France. Durch ihre langjährigen Erfahrungen als Christin im kommunistisch-atheistischen Milieu einer Arbeiterstadt wurde sie bald zur Beraterin für diejenigen, die nach neuen Wegen der Evangelisierung suchten. Mit zahlreichen Arbeiterpriestern – vor allem mit Jacques Loew – war sie zeitlebens freundschaftlich verbunden. Die Konflikte, die sich in den Fünfzigerjahren im Zusammenhang mit diesen kirchlichen Aufbrüchen ergaben, hat sie zutiefst mitgetragen und miterlitten; unermüdlich suchte sie nach Wegen der Verständigung. Diesem Anliegen diente ihr Buch „Ville marxiste, terre de mission“, das sie 1957 veröffentlichte und das auch von seiner Entstehung her die Frucht von über zwanzig Jahren Erfahrung als Christin unter Atheisten war.

Aus Sorge um die missionarischen Bewegungen suchte Madeleine das Gespräch nach allen Seiten und fuhr mehrmals nach Rom, um ihre Erfahrungen an der Basis der französischen Kirche auch dem Vatikan zu vermitteln; von dort aus ergaben sich weitere Kontakte und Begegnungen, in denen sie sich als unbeirrbare Ratgeberin für die verschiedensten kirchlichen Gruppierungen erwies. Vor allem in ihren letzten Lebensjahren wurde sie immer häufiger auch von Bischöfen um Erfahrungsberichte gebeten – bis hin zur Bitte um Mitarbeit bei den Konzilsvorbereitungen.

Als Madeleine Delbrêl am 13. Oktober 1964 ganz plötzlich an einem Schlaganfall starb, hinterließ sie trotz alledem nicht viel: ihr Buch und zahlreiche unveröffentlichte Texte und Manuskripte; einen Freundeskreis, der kaum über die Grenzen einer kirchlichen Minderheit hinausreichte.

Doch ihre Botschaft begann auszustrahlen. Ihre Texte wurden posthum in mehreren Büchern herausgegeben und in sechs verschiedene Sprachen übersetzt.

Seit 1996 ist der Seligsprechungsprozess, den der Bischof ihrer Diözese bereits im Jahr 1988 beantragt hatte, von Rom offiziell anerkannt und Madeleine Delbrêl als „Dienerin Gottes“ bestätigt worden.

Wie lässt sich dieses unerwartete Echo auf eine Frau erklären, die nie etwas anderes wollte, als ein „ganz gewöhnliches Leben“ zu führen, deren Spiritualität ganz einfach blieb und die ihre Berufung darin sah, „nichts anderes als das Wesentliche jeder christlichen Berufung“10 zu verwirklichen?

Ein Schlüssel zur Person und zum Leben Madeleine Delbrêls liegt in ihrer radikalen Konzentration auf das Wesentliche des christlichen Glaubens: auf die Liebe in ihrer untrennbaren Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. Von dieser Liebe ist sie selbst als Zwanzigjährige erfasst worden – so sehr, dass sich daraus eine grundlegende Entscheidung ergab: „Wir haben nur ein Ziel, und zwar nicht das Ziel, etwas zu tun, sondern das Ziel, etwas zu leben: das Abbild Jesu Christi zu sein, indem wir sein Evangelium leben.“11

Diese Grundentscheidung musste sich dann in einem Milieu bewähren, das für einen praktizierten christlichen Glauben alles andere als günstig erscheinen könnte, das sich für sie aber im Gegenteil als besonders geeignet erwies: „Ivry, die kommunistische Stadt, war meine Schule angewandten Glaubens – sie hat mir meine spirituelle Lehre erteilt.“12

In dieser „Schule von Ivry“ lernte sie nicht nur die Realität des Kommunismus kennen, nicht nur die sozialen Bedingungen einer Arbeiterstadt, die ihr Engagement zutiefst geprägt haben – sie lernte vor allem etwas über die Realität des Glaubens, über den Realismus eines Lebens, „das nur im Leben des Menschen, der wir sind, lebbar ist; des Menschen, der von Gott geschaffen ist, der in Bewegung ist, der sich immer weiterentwickelt und der sich verändert“.13 Lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil war ihr somit bewusst, dass sich der Glaube sowohl an den Weisungen Jesu als auch an den Herausforderungen der jeweiligen Zeit orientieren muss, dass er nicht anders gelebt und verleiblicht werden kann als in dieser immer neu zu entziffernden und auszuhaltenden Spannung zwischen Kontinuität und Wandel, zwischen Ewigem und Zeitlichem.

Auf dieser Grundlage hat sie sich auf alles eingelassen, was ihr begegnete und sie herausforderte, und darin versucht, ihren Standort zu finden. Richtschnur dafür war ihr das Evangelium, dem sie das Doppelgebot der Liebe in seiner untrennbaren Einheit entnahm. Anhand dieses Kriteriums der Unterscheidung hat sie ihre konkrete Lebenspraxis gestaltet: ob es um den Dialog mit Kommunisten und Kommunistinnen ging, um die Frage des sozial-politischen Engagements, um eine tragfähige Alltagsspiritualität, um die missionarischen Aufbrüche der Kirche vor Ort oder um die Berufung aller Getauften und Gefirmten.

In großer Klarheit und Konsequenz hat sie in alldem die Grundsituation der christlichen Existenz ausgetragen: ganz „in der Welt“, ganz weltzugewandt zu sein, in voller Bereitschaft zu Dialog und Engagement – und andererseits auch wiederum eine kritische Distanz zur „Welt“ zu bewahren, die bleibende Fremdheit des Glaubens, seine prophetische Funktion gegenüber den gottwidrigen und damit menschenfeindlichen Tendenzen in der Gesellschaft wachzuhalten. Einerseits aus ganzem Herzen auf das Gelingen menschlichen Lebens zu hoffen und sich leidenschaftlich für die Benachteiligten einzusetzen – andererseits zu wissen, dass es eine letzte Erfüllung der Hoffnung von Gott her gibt, die alle innerweltlichen Hoffnungen sprengt und übersteigt: Erst in dieser Spannung eines christlichen Realismus erfüllte sich für sie der Ruf zu einer Liebe, die nicht das Maß von Menschen, sondern das Maß Gottes, das Maß Jesu Christi hat.

Ein sichtbares Zeichen ihrer Lebensbindung an Jesus Christus war für sie auch die Einwurzelung in die Gemeinschaft der Kirche, die sie als Organismus verstand, in dem alle Glieder aufeinander verwiesen sind. Die kreative Bewältigung möglicher Konflikte, die sich zwischen diesen Gliedern ergeben (zur Zeit Madeleine Delbrêls vor allem in Form der Auseinandersetzung um die Arbeiterpriester), sah sie als dringende geistliche Aufgabe an. Kirche-Sein hieß dann für sie, „dass wir immer tiefer mit Herz und Verstand, in Glaube und Liebe ihr inneres Geheimnis leben können. Damit ist auch gesagt, dass unsere Kirchenliebe uns nicht verpflichtet, in Aktionsformen oder unter Vokabeln zu handeln, die offiziell kirchlich sind – wohl aber, den Mut zu haben, dass die Knospe der Liebe, die unsere Berufung ist, unsere Lebensrinde, unseren Lebenssaft und das Mark durchdringe“.14

Madeleine Delbrêl hat zwar nicht Theologie studiert, sie war aber eine „praktische Theologin“, eine Expertin des gelebten Lebens, eine Pionierin, die sich bewusst war, dass es heutzutage gilt, „ohne Landkarte“ in Neuland aufzubrechen.

Dank ihrer schriftstellerischen Begabung konnte sie ihre Anliegen immer wieder auch zur Sprache bringen. Mit großer Ausdruckskraft, sprachlicher Kreativität und zugleich mit analytischer Schärfe verfasste sie zahlreiche Manuskripte, Gedichte und Briefe; das meiste davon war von ihr her nicht für eine Veröffentlichung bestimmt, sondern aus aktuellen Anlässen verfasst und immer durchzogen von einer religiösen Grundmotivation.

Diese Motivation ist vielleicht einer der Gründe dafür, dass Madeleine Delbrêl trotz ihrer großen menschlichen und geistlichen Begabung nicht Schule gemacht hat, dass sie zu Lebzeiten doch relativ unbekannt geblieben war.

Aus der Studentin und Künstlerin, die in den Zwanzigerjahren als eine der verrücktesten jungen Frauen von Paris galt und die imstande war, eine ganze Nacht hindurch auf der Seine-Brücke zu tanzen, wurde eine verborgene Gotteszeugin, die sich dazu beauftragt sah, jeden Tag auf ganz unspektakuläre Weise „die Gebärden Christi zu wiederholen“.15 Denn die Zeugen und Zeuginnen Gottes „werden durch den, der in ihnen wohnt, zu Zeugen gemacht. Sie machen sich nicht selber dazu, in einer Art von höherem Komödiantentum. Der Platz dieses Lebens ist der letzte und der am tiefsten vergrabene. Das ist die erste Bedingung dafür, dass es keimt und fruchtbar wird“.16

„Diese Notizen stammenvon einer Laiengemeinschaft in der Banlieue,die sich ganz und gardem Evangelium verschrieben hat.Ihre Mitglieder haben eine große Abneigunggegen jede Art von Theorieund Wirklichkeitsferne:Ihr Apostolat ist ein Apostolat des Lebens.Sie sagen nicht: Wir arbeiten für Christus,sondern:Wir wollen Christus lebendig werden lassenmitten in einer Welt, in der er unbekannt ist.Deshalb wollen sie nicht Leute sein,die etwas ‚machen‘,sondern Leute, durch die hindurchChristus wirkt.“17

Madeleine Delbrêl

VOM DUNKEL ZUM LICHT:

GOTTSUCHEUND GOTTESERFAHRUNG

GOTT IST TOT – ES LEBE DER TOD

Gott ist tot – es lebe der Tod18.

Man hat gesagt: „Gott ist tot“.

Weil das wahr ist, muss man auch den Mut haben, nicht mehr so zu leben, als ob er lebte.

Man hat die Frage für ihn geregelt; nun muss man sie auch für uns regeln.

Solange Gott lebte, war der Tod nicht wirklich ernst zu nehmen.

Der Tod Gottes hat unseren Tod viel sicherer gemacht.

Der Tod ist zur sichersten Sache der Welt geworden.

Das muss man wissen. Man darf nicht mehr so leben wie Menschen, für die das Leben eine große Sache ist.

Nein, wir haben unser kleines Leben, unser ganz kleines Leben. Für die einen wird Unglück den ganzen Raum ausfüllen. Für andere wird das Glück mehr oder weniger Platz einnehmen. Aber das kann niemals ein großes Unglück oder ein großes Glück sein, denn beides wird in unserem ganz kleinen Leben Platz nehmen.

Das große, zentrale, vernünftige Unglück ist der Tod.