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Das ganze Leben sollte es sein. Weg von zuhause, lachen, streiten, Musik machen, Jobs suchen, Gras, Meskalin, LSD, Reisen, arbeiten, Kommune, Einsamkeit, meditieren, Liebe... Ein bewegtes Leben zwischen Kiel, Berlin und Dorfidylle, eine Biographie wie keine zweite über den Texter, Musiker, Vater und Großvater, der seinen Enkeln und allen Ungläubigen erzählt, wie es wirklich war, was möglich und unmöglich war als 68er.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für meine Enkel Benjamin, Juni, Leo, Marie und Mascha.
Eigentlich bin ich tot
Wie man lernt einen Lanz Bulldog anzuwerfen
Die Kieler Jugend
Goethe-Schule – die Rettung
Ja, ich war ein Aktmodell
Wagners Sängerknabe
Blut an den Riemen
Die leeren Lehren
Das ist doch nicht gesund
18 Monate Wehrkraftzersetzung
Die lieben Lieben
THANK YOU
Flugblattschmuggel ins Kommunistenland
Meskalin statt Heroin
Wahre Arbeit
Schaubühne – was für ein Theater
Morgens alleine
Ich als Versicherungsvertreter
Ein toter Freund
In Trance mit und ohne LSD
DEUTSCHLAND SCHWARZBROT
Lava. Tears are goin home
Freaks in Marokko
Kommune Berlin
Polizisten-Sauer statt Flower-Power
Die Frau meines Lebens
Eine Texterkarriere
Ohne Hose
Berlin, da war Musik drin
Mensch, Mensch
Der Untergang
Jürgen und Michaela heiraten
Badenstedt bei Zeven
Bis dass der Tod uns schied
Michaela auferstanden
Ich seh durchs Fenster meiner Träume
Gezeugt und geboren im zweiten Weltkrieg – lebensgefährlich
Als Jahrgang 1943 und Mitglied einer großen pommerschen Familie war am Ende des 2.
Weltkrieges nichts vernünftiger, als vor den Russen zu flüchten,
Die stürzten sich, voller Rachedurst über die Schandtaten der deutschen Uniform- und Leistungsträger, auf alles, was im Lande geblieben war. Unsere Familie floh auf Lastwagen plus
Anhänger in Richtung Westen – zurückgelassen wurden Haus, Fabrik, Land, Geschichte, alles. Aber dann ging die Scheiße erst richtig los...
Das muss man sich mal vorstellen: Großes Haus und goße Familie in Pommern, Ziegelei, Sägewerk, Ländereien, Eltern, vier Kinder – auf der Flucht vor den Russen – alles weg, für immer.
Vor allem die Kleinkinder litten unter den hohen Belastungen und der mangelhaften Ernährung. Viele der Babys, die in einem Krankenhaus landeten, starben dort, ohne ihre Eltern je wiedergesehen zu haben.
Auch meine Mutter ging mit mir ins Krankenhaus, um einen schweren Abszess behandeln zu lassen, der sich an meinem Auge gebildet hatte. Ein entzündeter Bienenstich brachte mich beinahe um. Eine Krankenschwester begutachtete mich und empfahl meiner Mutter, sich schon mal von mir zu verabschieden. „Den kriegen Sie nicht mehr durch.“
Daraufhin, so die Erzählung, lächelte ich sie mit meinen anderthalb Jahren dermaßen überwältigend an, dass sie gerührt aus ihrem Medizinschrank ein Antibiotikum stahl, das als neueste Wunderwaffe allein verwundeten Soldaten zur Verfügung stehen sollte. „Wenn man mich damit erwischt, werde ich erschossen“ war ihr realistischer Kommentar. Aber so rettete sie mein Leben Und meine Mutter vermied es, dem Himmel sei Dank, mich im Krankenhaus zu lassen. Dort, wo zwei kleine Kinder meiner Familie ein frühes Ende fanden.
Oder ein Kalb aus einer Kuh rauszuziehen.
Meine Familie mütterlicherseits gehörte zu einer Art pommerschen Landadel, dem arbeitenden Teil. In einem solchen Milieu ist meine Mutter aufgewachsen. Wo mein Vater herkommt, weiß ich nicht genau (geboren auf Sumatra, als Sohn eines Goldminenausbeuterdirektors). Aber da ich von Mutter und ihren Schwestern erzogen wurde, haben Frauen mich entscheidend mehr geprägt als ein kaum vorhandener Vater.
Nach der Flucht aus Pommern landeten wir in Burg in Dithmarschen, und daraus ging es nach Kiel, weil mein Vater einen guten Job bei der FDP bekam. Ich war gerade mal fünf Jahre alt, wollte aber auf keinen Fall aus der Dithmarscher Idylle in die Großstadt Kiel.
Kiel hatte für mich eigentlich nur zwei gute Seiten: Es gab die Kieler Förde mit ihren vielen Stränden.
Die andere gute Seite war unsere pommersche Restgroßfamilie und dazu alte Freunde meiner Mutter, die nach dem Krieg in der Nähe Kiels einen Hof bewirtschafteten. Diese Familie besuchte ich oft, besonders wenn mir nachmittags nach der Schule oder am Wochenende langweilig wurde. 10 km mit dem Rad und schon konnte ich den Bauern auf seinem Trecker ablösen oder auch mal für Tante Uschi den Garten umgraben. War alles besser als Schule.
Dazu muss ich mal erzählen, wie man einen Lanz Bulldog startet und fährt. Ein Lanz Bulldog ist ein riesiges metallisches Gefährt, völlig massiv, unkaputtbar und nach dem Krieg unverzichtbar für die deutsche Landwirtschaft.
Es gibt wohl nichts Schöneres: Nach 4 Stunden in glühender Sommerhitze auf dem Trecker – da kommt Tante Uschi aufs Feld, breitet eine Decke aus, packt Kaffee und Kuchen aus und verwöhnt den fleißigen Jürgen. Und weiter gehts.
Um den Lanz Bulldog anzuwerfen, muss man zunächst eine Lötlampe unter einem kleinen frontseitigen Kolben erhitzen. Ist das geschehen, wird das massive Lenkrad komplett mit seiner stabilen Längsachse abgenommen und an ein riesiges Schwungrad an der Seite des Treckers angeflanscht. Nun wird mit dem Lenkrad das Schwungrad in Bewegung gesetzt. Aber Vorsicht, denn es geht darum, das Schwungrad in die richtige Richtung zu bewegen. Falsch herumgedreht (geht auch) hat der Trecker drei Rückwärtsgänge und einen Vorwärtsgang. Also vorwärts und noch mal mit Schwung, und noch mal, und dann geht's los. Mit starken Schlägen, dann beginnt das Leben des riesigen Einzylinder mit seinen 10,3 l Hubraum (!) zu pochen. Sofort muss das Lenkrad von dem Schwungrad gelöst werden. Sollte man das nicht rechtzeitig schaffen, wird es lebensgefährlich. Denn der Motor kommt nun richtig in Schwung, das Schwungrad dreht sich immer schneller, das Lenkrad an der Stange ist nicht mehr zu fassen, taumelt und löst sich dann von der Verankerung und fliegt unkontrolliert irgendwohin. In dieser Phase ist es nützlich, unter dem Trecker Schutz gesucht zu haben.
Dann springt man flugs auf den Treckersitz – ein massives, durchlöchertes Metall-Konstrukt auf einer wohl ein Meter hohen Feder. Hinsetzen, Kupplung drücken, den ersten von drei Gängen einlegen und mit einem Handgashebel, der auf millimeterweise Bewegung reagiert, den Motor in Schwung halten – und schon erwacht der Trecker aus seiner Lethargie und springt mit einem Satz nach vorne. All das wird von ohrenbetäubendem Lärm und dem noch lauteren Gedonner des blechernen Daches begleitet.
Solltest du irgendwann dieses Treckerleben bremsen wollen, bereite dich auf ein anstrengendes Erlebnis vor: Um die brachiale Gewalt dieses kaum zu bändigen Motors zu bremsen, musst du aufstehen und mit aller Kraft auf das massive Pedal treten. Vielleicht wirkt es ja.
Auf dem Lanz habe ich fahren gelernt. Etwas später kaufte der Bauer einen etwas feineren Hanomag, mit 10 Gängen und allen Drum und Dran. Habe ich auch gerne gefahren.
So verbrachte ich viele produktive Tage vor Kiel auf einem Bauernhof, wo mir die Menschen wohlgesonnen waren, die Kühe gut rochen und ich von Tante Uschi lernte Bratkartoffeln mit Speck zu lieben. Mindestens so genussreich waren ihre Besuche, wenn sie mich nachmittags bei sengender Sonne mit Kaffee und Kuchen auf dem Feld besuchte, wo ich gerade ein paar tausend Quadratmeter geeggt hatte.
Zum eggen, pflügen und graben tigerte ich regelmäßig von Kiel zum Bauern und half wo ich konnte.
Auch eine komplizierte Kälbergeburt gehörte zu meinen Aufgaben. Schon der einarmige Viehdoktor war eine Sensation. Ein Arm oft bis zur Achsel in der Kuh, der andere Arm war im Krieg geblieben. Praktisch ohne Arme stand der gute Mann dann vor mir und erzählte mir was vom Pferd – und Kuh
Aber an diesem Tag war er nicht dabei. Die Kuh stöhnte herzzerreißend, denn vom Kalb sah man nur ein Bein rauskommen, das andere hing quer in der Kuh. Gemeinsam mit dem Bauern zogen wir am Kälberstrick bis die Kuh nach langem Zögern das Kalb endlich freigab. Ein ziemlich blutige Schlacht.
Stadt mit Strand
Geflohen auf einem Lastwagen, aus Pommern, gelandet in Burg in Dithmarschen, dann weitergezogen nach Kiel.
Zunächst wohnte meine Familie, also Vater, Mutter, Kind und Kind recht generös in einer Kieler Villa, mein Vater als Geschäftsführer der FDP. Dann zogen wir weiter in die Wilhelmshavener Straße, am Adolfplatz, zweiter Stock, eine kleinere Wohnung.
Der Vater arbeitete inzwischen in der nahen Landesregierung.
Sozial eingebettet waren wir in einer recht großen Familie. Großvater, Großmutter, drei Töchter, ein Sohn und die dazugehörigen Kinder. Alle gemeinsam vor den Russen aus Pommern geflohen, aus der Heimat, von der sie immer wieder so sehnsüchtig sprachen, dem Zuhause. Sie sollten es nicht wiedersehen.
Männer gab es in dieser Konstellation nur wenige. Entweder kümmerten sie sich nicht um die Familie, wie mein Vater, oder waren im Krieg getötet worden.
Vaterlos, orientierungslos fand ich Anschluß an eine Pfadfindergruppe. Leider hatte unser Sippenführer einen schweren Hang zu kleinen Jungs wie mich zu Beispiel. Und so befummelte er mich nach den späten Abenden extrem intim, und versprach mir eine Segeltour übers Wochende. Meine Mutter warbegeistert. Ewu nannte man ihn, weil er Uwe hieß und andersrum war.
Und so sorgten sich die drei Schwestern und der Bruder um den Zusammenhalt, halfen sich gegenseitig und zogen ihre Kinder auf.
Also wurde ich im Wesentlichen von Frauen erzogen. Von meiner Mutter, die mich mehr als liebte und meiner älteren Schwester, die mich liebte und beschützte und die Pflicht hatte, auf mich aufzupassen.
Mein bester Freund in diesen jugendlichen Jahren war mein Vetter Peter. Wir waren ein unzertrennliches Duo, machten viel Unsinn, waren für jeden Spaß, für jedes Abenteuer zu haben.
Viel abenteuerlicher aber waren Peters und meine Tramp-Fahrten durch ganz Deutschland:
16, 17 Jahre waren wir jung, packten unsere Sachen und zogen los. Als Tramper auf Lastwagen, in Jugendherbergen oder draußen geschlafen, nach München zum Beispiel zum Deutschen Museum, immer wenig Geld, vorzugsweise ernährt von einer Tüte grober Kölln- Flocken, aufgefüllt mit viel Zucker und dazu reichlich Orangensaft mehr nicht. Der schönste Fluch hinter gleichgültig vorbeifahrenden Autofahrern: „Urarsch deutscher Unnatur.“
All dies ohne Aufsicht wochenlang durch Deutschland -. Abenteuer vom Feinsten, und von den Müttern durchaus toleriert.
Zu den Höhepunkten dieser Zeit gehörten die Sommer, in denen wir viele Jahre an der Eckernförder Steilküste wochenlang zelteten.
Geld war knapp in dieser Zeit, so knapp, dass wir zum Beispiel am Kieler Hafen Schrott klauten, um diesen vorne am Eingang wieder zu verkaufen. Auch dies toleriert von den Müttern, die ansonsten aus einer hochanständigen, bürgerlichen Familie stammten.
Die Grundschule war noch gut für mich, das darauf folgende repressive Jungengymnasium ein reines Desaster. Insgesamt brauchte ich für vier Jahre Gymnasium sechs Schuljahre. Denn ich war recht faul, es fehlte eine Führung. Der Vater ließ sich scheiden, mit Versprechungen, die er nicht eingehalten hat, meine Mutter konnte als Verkäuferin zusätzlich Geld verdienen.
Nach der Mittleren Reife folgte eine höchst frustrierende Lehrzeit in einer kleinen Farbenfabrik und 18 vergebliche Monate bei der Bundeswehr.
Leider setzte sich der zwielichtige Charakter meines Vaters gegenüber seinen guten Seiten durch. Sein Versprechen seine von ihm geschiedene Familie mit einer erwarteten Erbschaft zu alimentieren hielt er nicht. Und entblödete sich auch nicht, meiner begabten Schwester Christiane und mir ein Studium zu verweigern. Er, ein sehr gut verdienender Offizier, dagegen ließ es sich gut gehen.
Und so waren meine Schwester und ich beide gezwungen, ihn auf Unterhalt zu verklagen. Jeweils in der ersten Instanz verlor er diese Prozesse, ging in die Revision und verlor erneut beide Prozesse.
So verließ ich Kiel, um in Berlin zu studieren – mit 250,- DM monatlich Unterhalt ausgestattet. Endlich.
Mittelschule statt Gymnasium, mein Leben bekam wieder einen Sinn.
Viel zu lange brauchte ich, um auf dem autoritären Humboldt-Gymnasium die Untertertia zu erreichen. Nach dem zweiten Sitzenbleiben und weiterhin schlechten Noten musste was passieren. Ich selbst hatte die Scheidung meiner Eltern zu verkraften, dazu einen schweren Unfall, der mich immer mal wieder ohnmächtig werden ließ und meine Fähigkeiten, Gelerntes zu behalten, wesentlich reduzierte – also runter vom Gymnasium, hin zur Mittelschule, auf die Goethe-Schule. Und das war eine gute.
Was für ein Glück. Statt vor schlecht gelaunten Gymnasiallehrern und elitär erzogenen Schulkameraden stand ich plötzlich vor einer Klasse, die zur Hälfte aus wachen Jungs und hübschen Mädchen bestand. Ich selbst war durch mein wiederholtes Sitzenbleiben zwei Jahre älter. Aber das sollte mich nicht hindern, fortan mein Schulleben bei guter Laune zu komplettieren. Zu meiner Freude saß ich bald inmitten einer Mädchengruppe links, rechts, vor mir. Die ließen mich abschreiben, was ich wollte und ich steigerte ihre gute Laune mit unpassenden Bemerkungen über Lehrer, die große Mühe hatten, uns alle zu disziplinieren. Und zu meiner größten Freude war schon die erste Klassenarbeit in Deutsch eine glatte 2, die auch noch mit großem Lob übergeben wurden. Mein Gott, hat mich das gefreut.
Auch mit den Jungs lief es ausgezeichnet. Bald kristallisierte sich eine kleine Gruppe heraus, die sich mit regelmäßigen Saufabenden in Form hielt. Wir waren voll engagiert mit Aufnahmen eigener Musik und Hörspiel-Produktionen, die wir zusammen mit Klassenkameraden realisierten. Eine wunderbare Zeit, in der ich wieder ganz zu mir kam. Und noch heute, Jahrzehnte später, treffen sich die Überlebenden dieser munteren Schar zum Klassenfest. Wir waren und sind noch immer etwas Besonderes.
Es war die Zeit, als wir, die selber viel Musik machten, fasziniert und überwältigt die neue Musik hörten: Jimmy Hendrix, Cream, Beatles, Mamas and Papas...kaum begreifbare Wunder für uns.
Über ein paar schöne Streiche in der Schule kann ich heute noch grinsen. Wir bemerkten, dass die unfähige Deutschlehrerin ihre Gedicht-Interpretation aus einem Lehrbuch für Lehrer herauslas. Dieses Buch besorgten wir uns, ich legte es mir auf den Schoß und dann begann eine schöne Interpretations-Orgie – wir waren bestens vorbereitet. Die gleiche Lehrerin wurde im Geschichtsunterricht düpiert. Mit sonorer zerhackter Stimme und etwas Technik simulierte C. eine Adolf Hitler-Ansprache, die er der Lehrerin als Dachboden-Fund verkaufte. Mit Erfolg natürlich. Dumme Pute.
C. hatte ein Tonbandgerät in Koffergröße, und ein riesiges Mikrofon. Beides wurde gut sichtbar auf einen Stuhl gestellt und fortan die Stunde auf Band aufgenommen. Man kann sich nicht vorstellen, was wir dann für einen Rabatz gemacht haben. So laut und so chaotisch, dass die Aushilfslehrerin uns die Zunge herausstreckte und die Klasse empört verließ. Jemand half ihr noch höflich in den Mantel, allerdings nicht ohne dabei ihren Ärmel zuzuhalten.
Die gleichermaßen schöne und chaotische Sound-Aufnahme nun spielten wir auf einem Klassenfest ab, zu dem auch die Lehrer eingeladen waren. Als wir diese Aufnahme vorspielten, war die Reaktion wie erwartet: Entsetzen und Empörung bei der Lehrerschaft, die die Veranstaltung sofort verließen. Wir haben uns sehr gefreut.
Ich war jung und brauchte das Geld.
Mir, dem schlanken, schönen jungen Mann, vermittelte meine Schwester, Studentin an einer Kunstschule, den ruhigsten Job seines Lebens.
Allerdings musste ich mich dafür ausziehen. Für 16 DM lag ich zwei Stunden auf einer Art Bank, praktisch nackt, und ließ mich malen oder stand rum, wie Gott mich schuf (oder wer es damals auch immer war) und musste entspannt und unverkrampft die Blicke der vielleicht zehn Maler-StudentInnen aushalten.
Auf der Muthesius Werkschule studierten meine Schwester und ihre Freunde Gestaltung. Ich dagegen war ein dummer Mittelschüler und Lehrling, gequält von sogenannten Minderwertigkeitskomplexen und beneidete sie alle für Ihr Studium.
Aber keine Angst, mein Gemächte, sprich Geschlecht, wurde ausgespart, denn ich trug eine knappe Unterhose. Was einige meiner geilen Bewunderer nicht hinderte, mich in ihren Zeichnungen zu allgemeiner Freude mit einem riesigen Geschlechtsteil auszustatten. Habe ich protestiert? Nicht doch.
Als Chorknabe in Wagners „Tannhäuser“
Sechs Jahre hatte ich für die ersten vier Jahre Gymnasium gebraucht. Anscheinend war das nicht meine Welt. Zwar hinderte eine Elternscheidung und ein veritabler Schädelbruch mich am flotten Fortkommen, aber auch mein Fleiß war eigentlich keiner. Dagegen machte ich beim Musikunterricht einen guten Eindruck. Mein schöner Sopran war der drittbeste in der Schule. Immerhin etwas.
Dann tauchte eines Tages der Chorleiter des Kieler Stadttheaters in der Schule auf, um für eine Tannhäuser-Oper sechs Knaben zu finden, die gut singen konnten. Und nach einem strengen Casting wurde mein schöner Sopran auserwählt Richard Wagner zu singen. Was für ein Erlebnis. Das Ausmaß der Rolle hielt sich allerdings in Grenzen: „Wolfram von Eschenbach, beginne“. Das war unser Text – dreistimmig zu singen. Weiterhin mussten wir im zweiten Akt allerlei Ringe einsammeln und uns kontrolliert bewegen.
Allerdings waren unsere jugendlichen Stimmen doch nicht druckvoll genug, um das ganze Theater überzeugend zu beschallen. Also beschloss man später, den großen Damenchor unbemerkt mitsingen zu lassen. Und so produzierten wir wenigen Edelknaben, einen Sound, der die Zuschauer zu Tränen rührte.
Ohne uns allerdings wäre die Handlung komplett zusammengebrochen, ganz klar.
Die vielen Proben absolvierte ich gerne, Theater fand ich faszinierend. Und als junger Spund abends vor vielen 100 Zuschauern zu spielen und zu singen ist natürlich auch überwältigend.
Mehr als 20 Proben und 20 Aufführungen habe ich so bewältigt, die Musik Wagners habe ich wie kaum ein anderer gründlich inhaliert, verstanden und lieben gelernt. Leider brach der Heldentenor, der in dieser Oper extrem gefordert wird, also Tannhäuser himself, während einer Aufführung mit den Worten zusammen: „Ich kann nicht mehr.“
Abbruch, Schluss, Aus. Noch heute kann ich die Tannhäuser-Ouvertüre nahezu auswendig dirigieren.
Als Rudersklave die Weltmeister besiegt
In der Blüte meiner Jahre, ich war wohl 17, hatte ich ein paar gute Freunde in der Schule. Wir schmiedeten kraftstrotzend den Plan, in einen Ruderclub einzutreten. Und so meldeten wir uns im Ersten Kieler Ruderclub an, einer renommierten Institution in der Ruderwelt, mit Olympiasiegern und Weltmeistern im Verein. Im EKRC erwartete uns zunächst ein Initiationsritus, der uns bis aufs Blut herausfordern sollte…
So wurde gleich am unserem ersten Tag das älteste und breiteste Ruderboot aus der Versenkung geholt. Breit heißt hier: Ultrabreit, viel Kraft, kaum vorankommen. Das schleppten wir zum Kai und los ging es in Richtung Außenförde. Raus bis nach Stein mussten wir knechten, stundenlang, völlig ungeübt und schon bald am Ende unserer Kräfte. Aber genau das war das Ziel dieser Übung – und nun das Ganze wieder zurück. Kurz: Die Blasen an den Händen gingen bis aufs Blut auf. Wir sollten am eigenen Körper erleben, was Galeeren-Sträflinge Tag für Tag aushalten mussten – und wir haben es ausgehalten. So wurden wir aufgenommen und konnten uns fortan uneingeschränkt an den kostbaren Booten des Vereins bedienen. Und es dauerte nicht lange, bis wir richtig gut in Form kamen.
Sogar das Wintertraining war hart. Ein Wasserbecken mit rotierenden Wasser simulierte die Arbeit und das Fortkommen eines Vierers.
Neben dem Rudern wurden auch fleißig Gewichte gestemmt und viel gelaufen – und bald waren wir wirklich stark.
Das Vereinsfest war natürlich der Höhepunkt für die Vereinsmeier – eigentlich nichts für mich. Außer dem Klatsch und Tratsch wer wohl mit wem. Zum Beispiel die schöne Frau des Vereinsvorsitzenden, die sich auf diesen Festen von den amtierenden Weltmeistern in den Büschen beglücken ließ – und das nicht nur von einem. O-haua-haua-ha, wie der Kieler sagt.
Oder unsere Wettfahrt gegen das Boot, das die nächste WM gewinnen sollte. In einem spektakulären 500 Meter Rennen schlugen wir den nächsten Weltmeister. Damit war unser Ehrgeiz auch schon befriedigt.
In Eckernförde lieh ich mir ein superschmales Rennskiff aus, ruderte einige Kilometer in die Ostsee und kenterte, weit draußen, völlig allein. Es reicht eben ein falscher Riemenschlag und man liegt im Wasser. Wieder reinklettern? Eigentlich unmöglich. Es dauerte bestimmt eine Viertelstunde, bis ich wieder auf dem Boot war. Eine gelungene Aktion.
Oder die abenteuerliche Fahrt die Schwentine aufwärts. Dies ist ein immer enger und flacher werdender Fluss, der in den Kieler Hafen mündet. Wir fuhren den so weit wie möglich aufwärts und auch noch ein Stück weiter – bis wir endgültig auf Grund liefen. Hat dem Boot nicht besonders gutgetan. Aber uns.
Oder in Strande, weit draußen an der Förde, als wir in einem veritablen Achter vom Sturm überrascht wurden. Es dauerte beim eiligen Ablegen vom Strand ungefähr anderthalb Meter, bis das Boot vollgeschlagen war und wir alle bis zu den Brustwarzen im Wasser saßen. Aber wir haben es dann doch noch geschafft.
Sehr gerne lieh ich mir aus dem Bootshaus ein Skiff. Ein Skiff ist ein Renn-Einer, extrem schmal, nicht viel breiter als dein Becken, 4 m lang und schnell wie sonst nichts. Ein solches Boot konnte ich mir jederzeit ausleihen und dann, so oft ich wollte, zu den weit entfernten Stränden der Kieler Förde rudern, wo ich mich dann angemessen bewundern ließ.
Eine starke Zeit.
Schiffsmakler oder Industriekaufmann sollte ich lernen, wollte ich nicht lernen.
Mittlere Reife. Was nun. Keine Ahnung. Wie es in bürgerlichen Kreisen so Usus ist – eine kaufmännische Lehre musste her. So landete ich in Kiel am Kiel Kanal, an der Holtenauer Schleuse. Dort sollte ich in die kaufmännischen Regeln des Schiffsmaklergewerbes eingewiesen werden, um später was zu machen, ja was? Was? Was? Diese Lehre war schon mal das Härteste. Nicht nur immer wieder 24-Stunden-Schichten, sondern auch ein sehr rauer Ton. Das mir, dem faulen Sensibelchen mit dem Hang zu frechen Witzen.
Interessant war es aber, die ein- und auslaufenden Schiffe in der Schleuse zu betreuen. Sowie eines angemeldet wurde, das von uns betreut werden sollte, musste ich an Bord klettern, um mit dem Kapitän alles Notwendige abzuwickeln. Das bedeutete bei großen Schiffen über frei schwebende Holzleitern auf Deck zu klettern, sich zur Brücke durchzuschlagen, um mit dem Kapitän erst mal einen schönen Schnaps zu trinken und noch einen, denn der war froh, mal ein anderes Gesicht zu sehen. Dann wieder runter denselben Weg, ins Büro, die Abwicklung auf den Weg gebracht, wieder zurück aufs Schiff, komm, noch einen Schnaps – so ging das die ganze Schicht lang.
Das heißt, nach zwei Stunden war ich recht gut abgefüllt und die Kletterei aufs Schiff war auch nicht ungefährlich, denn zwischen Schiff und Schleusenkante kabbelte das offene Schleusenwasser und wartete nur auf den Absturz des angetrunkenen Jürgen, um ihn für immer zu verschlingen. Zudem gab es in diesem zollfreien Gebiet Zigaretten ohne Ende und ohne Geld. Was das bedeutet, kann sich jeder Raucher ausdenken. Die Kapitäne waren gut drauf, aber meine Vorgesetzten mochten mich nicht, ich mochte sie auch nicht.
Hängen geblieben ist eigentlich nur ein Erlebnis, als ich plötzlich ein Mädchen in einer Kapitänskajüte entdeckte, das gerade von diesem Schiff gerettet worden war. Es kam von einem Segelboot, dessen Skipper über Bord gegangen war und von der Restmann-schaft nicht wieder an Bord gezogen werden konnte, weil er einfach zu schwer war. So ertrank er jämmerlich in den Händen seiner Mannschaft. Entsprechend konsterniert und geschockt saß dort das Mädchen. Später habe ich sie noch einmal kennengelernt als Freundin eines Freundes. Wir verbrachten eine tüchtige Nacht miteinander. Ja, so klein ist die Welt.
Nun gut, aber nach wenigen Monaten wusste ich, diese Tortur würde ich nicht lange aushalten und so kündigte ich – und stand wieder vor dem Nichts. Was nun?
Die nächste Stufe der Ausbildung: eine kleine Farbenfabrik, eine Klitsche vor den Toren Kiels. Dort saß ich in einem weißen Kittel, der mich als Büro-Mitarbeiter auswies in der Buchhaltung, der Lagerbuchhaltung, im Versand – alles Arbeiten, die ich von Grund auf hasste und entsprechend widerwillig erledigte. Heute wird mir klar, dass ich mit ein bisschen sportlichem Ehrgeiz für gute Arbeit mir auch eine bessere Zeit hätte verschaffen können, aber ich hatte einfach keine Lust. Ich wollte was anderes, ich wollte was Besseres, wollte Journalist werden. Aber dazu hätte ich studieren müssen, dazu hätte ich Abitur haben müssen. Alles unerreichbar.
In der Farbenfabrik gab es eigentlich nur eines, was mich wirklich interessierten: Die Produktion, in der ich Arbeiter kennenlernte, die eine halbe Tonne Farbe mit einem 100 kg Farbensack über der Schulter in kurzer Zeit den exakt richtigen Farbton mischen konnten. Denen habe ich gerne geholfen.
Um von den Arbeitern geachtet zu werden, was mir wirklich wichtig war, erprobten sie meine Toleranzgrenze: Hier Jürgen, riech mal in den Eimer, aber richtig doll. Also nahm ich einen ordentlichen Hieb und rums lag ich in der nächsten Ecke. Reines Ammoniak. Was haben die gelacht.
Das Schönste war, an heißen Sommertagen Sand in eine rotierende Röhre zu schaufeln, um eine dort erfundene Emulsion herzustellen. All das machte für mich mehr Sinn, als Lagerbestände mit Durchschreibebuchführung zu dokumentieren und