Der berühmte Herr Leibniz - Eike Christian Hirsch - E-Book

Der berühmte Herr Leibniz E-Book

Eike Christian Hirsch

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Beschreibung

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) gilt als das letzte Universalgenie. Beim Erwachen hatte der Philosoph, Mathematiker und Erfinder "schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben", hat er selbst bekannt. Die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte hat den Blick vor allem auf seine Werke gerichtet, aber auch den Menschen Leibniz kennenzulernen ist faszinierend. In dieser Lebensbeschreibung wird er zum ersten Mal als Person lebendig. Dank der Darstellungskunst des Verfassers fühlt man sich dem Genie und dem Menschen Leibniz trotz all seiner Schwächen so nahe, dass man sein Altwerden und sein Sterben voller Mitgefühl, ja mit Trauer erlebt. Aber auch die neue Mathematik, die Monaden oder die Theorie von der besten aller Welten werden so einleuchtend erklärt, dass auch ein philosophischer Laie versteht, worum es dem großen Philosophen ging. Eike Christian Hirsch zeichnet mit dem Portrait dieses sonderbaren, schwierigen und doch liebenswerten Mannes auch ein Bild der Epoche um 1700, deren überragender Kopf Leibniz war.

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Eike Christian Hirsch

Der berühmte Herr Leibniz

Eine Biographie

C.H.Beck

Zum Buch

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) gilt als das letzte Universalgenie. Beim Erwachen hatte der Philosoph, Mathematiker und Erfinder «schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben», hat er selbst bekannt. Die Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte hat den Blick vor allem auf seine Werke gerichtet, aber auch den Menschen Leibniz kennenzulernen ist faszinierend. In dieser Lebensbeschreibung wird er zum ersten Mal als Person lebendig. Dank der Darstellungskunst des Verfassers fühlt man sich dem Genie und dem Menschen Leibniz trotz all seiner Schwächen so nahe, dass man sein Altwerden und sein Sterben voller Mitgefühl, ja mit Trauer erlebt. Aber auch die neue Mathematik, die Monaden oder die Theorie von der besten aller Welten werden so einleuchtend erklärt, dass auch ein philosophischer Laie versteht, worum es dem großen Philosophen ging.

Eike Christian Hirsch zeichnet mit dem Portrait dieses sonderbaren, schwierigen und doch liebenswerten Mannes auch ein Bild der Epoche um 1700, deren überragender Kopf Leibniz war.

Über den Autor

Eike Christian Hirsch war nach seinem Studium der Theologie und Philosophie jahrzehntelang Redakteur im Hörfunk des NDR und ist heute Journalist in Hannover. Einem breiten Leserkreis ist er bekannt geworden durch seine Sprachglossen.

Inhalt

Seinem Helden nahekommen

I: Ein neues Leben

Nächtliche Begegnung

Ein Rückblick auf seine Jugend

Kein leichter Anfang

Das Wohlwollen steigt

Besuch bei Christiaan Huygens

Beim viel bedrängten Arnauld

Als Diplomat nach London

Lebensstellung gesucht

Aus London gefüttert und getadelt

Leibniz wollte politisch wirken

2: Pariser Ernte

Das Geheimnis der Zahl Pi

Ein Erfinder wird bestaunt

Geldnot, Beschäftigung, Stellensuche

Malebranche, ein mystischer Rationalist

Geld verdienen, zu einer Stellung kommen

Ehrenfried Walter von Tschirnhaus kommt

Die Erfindung der Infinitesimalrechnung

Es ist kein Bleiben

Die zweite Reise nach London

3: Berufen zum Berater

Zwei Genies aus der Nähe

Die Ankunft

Eingewöhnen

Die Reihe der Anregungen

Verlockende neue Ämter

Heil und Unheil aus dem Westen

Zur Rettung des Harzes

Abschied vom Herzog

4: In den Wind geschrieben

Der neue Herrscher

Drei Mühlen und ein neues Konzept

Ein Hofrat ohne Amt macht spontane Vorschläge

Eine Versicherung

Sorgenkind Catharina

Zum Frankfurter Deputationstag geladen

Sein Ansehen in Hannover und anderswo

Versöhnliche Religionsgespräche

Politischer Beobachter in der Einsamkeit

Das Harzer Krisenjahr geht zu Ende

5: Ein Ende und drei Anfänge

Eine neue Windkunst

Brandenburg wird gewonnen

Ein Mathematiker offenbart sich

Scheitern und noch ein Anfang

Alles für einen Kurhut

Grundsätze in Eis und Schnee

Die wichtigste These des Jahrhunderts

6: Reise in den Ruhm

Auf allerlei Umwegen

Der offizielle Teil der Reise

Es geht doch, wie Leibniz will

Kühne Pläne mit Bischof Rojas y Spinola

Warten auf eine Audienz beim Kaiser

Der Tag ist gekommen

Italien auf eigenen Wunsch

Ein Schatz wird gehoben

7: Wieder Alltag

Empfangen von der Herzogin

Kräftemessen mit Bossuet

Archivar und Briefautor

Nochmal Pellisson und Bossuet

Verbreitung der Physik

Das Neueste und Letzte vom Landgrafen

Leibniz wird berühmt als Mathematiker

Verdacht gegen eine Mutter

Ein Referent der Kurwürde

Den Kurhut auf dem Papier

Nachsicht mit den Schwärmern

Den neuen Hut liegen gelassen

8: Ein neues System

Der deutsche Patriot

Die Affäre Königsmarck

Hoffnung auf den Titel Geheimer Rat

Welfen und Este vereint

Nachfolger eines quälenden Vorbilds

Der Philosoph und die Kurfürstin

Hoch über den Konfessionen

Christian Thomasius und die Dissertation des Neffen

Vergleichende Sprachwissenschaft

Gesundheit, Selbstbeobachtung, Ärzte

Die Rechenmaschine

Das neue System seiner Metaphysik

9: Unter Papierbergen

Neu in der Klasse sieben

Verzettelt, auch aus Sorge vor Kritik

Rijswick, ein schmählicher Frieden

Das feindliche Wolfenbüttel entlarvt

Gespräche mit Helmont zu dritt

Familienpolitik

Novissima Sinica

Der allzu vielseitige Wissenschaftler

Der Zar wird bestaunt

Das Ende des Kurfürsten

Wie weit ist die Welfengeschichte?

10: Der höchste Ratgeber

Ein riskantes Spiel geht auf

‹The Jacobite Letter›

Grosser Besuch

Ein Pfand für die Katholiken

Die Reise nach Wien im Jahre 1700

Den Gegner in die Zange nehmen

Die Union der Evangelischen

Dyadik und I Ching

Der Kaiser von China

11: Kalender für die Wissenschaft

Zunächst ein Observatorium

Ein erster Blick auf Berlin

Steht die Finanzierung, fällt die Entscheidung

Kleiner oder grosser Zuschnitt?

Theoria cum praxi

Ein Gelehrter am Berliner Hof

Unterschriften am Geburtstag

Es geht um Titel, aber auch um Geld

Schmerzlicher Abschied

Die Kärrnerarbeit bleibt

12: Die beste aller Welten

Berliner Gold

Argumente, frisch aus Rotterdam

Prinzenerziehung

Incognito unterwegs

Eine Komödie

Gott nimmt sich einen Anwalt

Feuerkopf John Toland

Ein Buch über John Locke

Prinzessin Caroline

Die Einzigartige geht

Ein Denkmal aus Worten, die Theodicée

13: Blüte und Frost

In Hannover an der Kette

Ein falscher Ratschlag – und doch wieder in Berlin

Gelehrte Herren in der Marine-Stube

Das Seidenwerk und eigene Räume

Drei Kronen

Die Miscellanea

Die Vertrauenskrise

Die Inauguration lockt

Die letzten Jahre als Präsident

14: England als Schicksal

Keine Einladung für die Welfen

Ein Sprengsatz auf Englisch

Das Bildnis des Pretenders

Drei Feldherren

Der Diener zweier Herren in der Klemme

Anton Ulrichs Verwandlung

Englands höchster Adel

Wettstreit mit Newton

Eine Kommission als Tribunal

Mit Widukind bei Premier Bernstorff

Haushistoriker und Bibliothekar

Die Rechenmaschine

Ein Schnellschuss-Gewehr

Von Helmstedt nach Zeitz

15: Für Zar und Kaiser

Mit den Gedanken in Russland

Mehr als nur Briefträger

Die Hochzeit in Torgau

Grosses Welttheater und ein Spielzeug

Karlsbader Papier

Die Nähe des Kaisers

Hannover besänftigen

Reichshofrat mit dem falschen Gehalt

Schwächen und Stärken

Kanzler von Siebenbürgen oder Archivdirektor?

Prinz Eugen

Ein Spiegel ohne Fenster

Leidenschaftliche Gefühle?

Hannover im Blick

Das andere hannoversche Genie

Ein tödlicher Konflikt

16: Dem Ende entgegen

Heimkehren, um überzusetzen

Ein sprechender Hund und ein Perpetuum mobile

Das Ende der Rechenmaschine

Druck auf einen säumigen Historiker

Vollendete Geschichtsschreibung

Noch einmal den Zaren sehen

Merkwürdige Helfer in Wien

Ein Kranker will reisen

Streit um den Weltuhrmacher

Schreckensmeldungen aus Wien

Besuch eines alten Berliners

Die letzten Tage

Das Sterben

Zweimal beigesetzt

Ein Nachruf

Danksagung

Bildnachweis

Farbtafeln

Zeittafel

Register

Fußnoten

Der Enzyklopädist Denis Diderot (1713–1784):

«Wenn man zu sich selbst zurückkehrt, und die Talente, die man empfing, mit denen eines Leibniz vergleicht, ist man versucht, die Bücher von sich zu werfen und in irgendeinem versteckten Winkel der Welt ruhig sterben zu gehen.»

Leibniz war vielleicht Mitte dreissig, als ihn ein Maler, über den man nichts weiss, dargestellt hat, dann wäre das Bild um 1680 entstanden. Es ist 1945 verschollen. Nach einer schwarz-weissen Fotografie hat der Grafiker Broder Brodersen die alten Farben, zu denen Angaben überliefert sind, neu erstehen lassen, wie er auch alle anderen farbigen Porträts in diesem Buch restauriert hat.

Unglaublich zerrissen waren damals alle Länder, zusammen ein Flickenteppich. Auch das Herzogtum Hannover zerfiel in Landesteile ohne Zusammenhang. Im Herzogtum Wolfenbüttel lag wiederum das Bistum Hildesheim. Gebiete, die zu Leibnizens Zeiten den Besitzer wechselten, sind schraffiert dargestellt. – Grafik: Martin Ishak

Der etwa fünfzigjährige Leibniz, wohl im Auftrag des Wolfenbütteler Herzogs Anton Ulrich gemalt vom dortigen Hofmaler Christoph Bernhard Francke. Der Dargestellte blickt warm und offen, wirkt vornehm und lebhaft zugleich. Als Mann des Hofes erweist ihn der üppig gemalte Samt und der Hintergrund, der das Innere eines Schlosses andeutet.

Das Bild ist datiert auf 1703, Leibniz war also 56 oder 57 Jahre alt. Gemalt wurde er im Auftrag der Kurfürstin-Witwe Sophie vom hannoverschen Hofmaler Andreas Scheits, der in Holland das Hell-Dunkel lieben gelernt hatte und eine skizzenhafte Pinselführung bevorzugte. Leibniz blickt nachdenklich, fast verschlossen. Das wundervoll gemalte Halstuch zieht die Blicke auf sich, als wollte es dem Gesicht Konkurrenz machen.

Im Jahre 1704 bestellte der Grossherzog der Toscana beim hannoverschen Hofmaler Andreas Scheits dieses Porträt, das er in eine Reihe von Bildnissen berühmter Männer aufnehmen wollte, so rückte Leibniz in die Nähe von Isaac Newton. Scheits hat diesmal auf ein Spitzenhalstuch und auf vornehme Würde verzichtet, die Darstellung wirkt lebendiger, der Gesichtsausdruck ist sogar etwas herausfordernd und spöttisch geraten, bleibt aber zugleich geheimnisvoll.

Sophie Charlotte, Kurfürstin von Brandenburg, später auch Königin in Preussen, war die Tochter der hannoverschen Kurfürstin Sophie, der Gedankenfreundin von Leibniz. Die Tochter in Berlin, mit Schönheit wie mit Geist gleich begabt, wurde vom sonst recht spröden Gelehrten leidenschaftlich verehrt. Der Hofmaler Friedrich Wilhelm Weidemann hat auch ihren berühmten «Hals», wie man damals umschreibend sagte, gut zu Geltung gebracht.

Leibniz als Präsident der Sozietät der Wissenschaften, die das Bild während seines letzten Aufenthalts 1711 beim Berliner Hofmaler Johann Friedrich Wentzel in Auftrag gegeben haben mag. Ganz sicher sind die Umstände nicht belegt, aber das gealterte Gesicht würde zu einem 64-Jährigen passen. Das vorzüglich gemalte Porträt ist noch heute im Besitz der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Kurfürstin Sophie, die vertraute Gönnerin von Leibniz, als Witwe mit fast achtzig Jahren. Das Gemälde des Hofmalers Andreas Scheits, der auch Leibniz zweimal hervorragend gemalt hat, zeigt sie fast privat und, bis auf den reichen Schmuck, ohne ein herrschaftliches Attribut, dafür recht weiblich und kaum verschleiert. Sie war bis ins hohe Alter souverän und energisch, dazu sehr rüstig und hatte, was viel bestaunt wurde, noch alle ihre Zähne.

Seinem Helden nahekommen

Dieses Buch über ein randvolles Leben beruht auf Ergebnissen der Leibnizforschung, trägt die Fakten aber, wo es geht, auch gern im Erzählton vor. Der Verlag hat mich gebeten, mit Rücksicht auf die Leser keine Fussnoten zu verwenden. Trotzdem kann man sich auf die Darstellung verlassen, denn um Fiktion geht es nie, und wenn ich Zusammenhänge nur erschlossen habe, ist das vermerkt. Selbst wo Leibniz im Dialog zu reden beginnt, habe ich mich eng an seine belegbaren Ansichten gehalten. Kleine Szenen, wörtliche Rede – diese Zugeständnisse an die Lesbarkeit sollen helfen, den unvergleichlichen Leibniz vielen Menschen nahezubringen.

Genies haben einen guten Charakter und sind in allem gross! Diesem üblichen Vorurteil verfällt leicht, wer das Leben eines bedeutenden Menschen beschreiben will. Auch ich wollte ursprünglich meinen Helden vorbildlich und stark sehen. Als ich mehr von Leibniz erfuhr, schien er mir hingegen allzu menschlich, und ich habe mich an ihm gerieben. Doch je näher ich ihm kam, desto mehr mochte ich diesen Mann, und ich fand seine Schwächen nicht mehr störend und seine Niederlagen nicht mehr peinlich. So bin ich ihm selbst begegnet, auch wenn es schwer ist, ihn zu verstehen, denn Leibniz hat wohl nie einen anderen in sein Herz blicken lassen. Zugleich glaubte ich, seine Grösse immer besser erkennen zu können. Für mich wurde er zu einem Visionär der Wahrheit.

Seine theoretischen Entwürfe zur Deutung der Welt – etwa der Versuch, Atom und Geist zur ‹Monade› zu vereinen – fesseln noch heute die Nachdenklichen. Andererseits mag man den Kopf schütteln über seine Ungeschicklichkeit in praktischen Fragen. Obwohl es ihm an Urteil fehlte, wollte er in die Politik, und das hiess, an die Höfe, wo er die Herrscher beraten, sogar regelrecht anleiten wollte. Eigentlich müsste man von Grössenwahn sprechen – wenn es nicht um diesen sonderbar klugen Menschen ginge.

Es trieb ihn überallhin, so suchte er ebenso die Nähe von Erfindern, Abenteurern und Goldmachern, wie er in Konkurrenz trat zu den grössten Gelehrten seiner Zeit.

Angeregt zu diesem Buch hat mich Friedrich Oehler, der schon 1991 die Idee hatte, es müsse eine neue Leibniz-Biographie geschrieben werden, und mich dafür gewonnen hat. Den Auftrag gab mir Günter Schmidt von der Landschaftlichen Brandkasse Hannover, einem Unternehmen, das seine Gründung im Jahre 1750 auf einen frühen Vorschlag von Gottfried Wilhelm Leibniz zurückführt. Beiden, die mich angeregt und gefördert haben, gilt mein besonderer Dank.

Diese dritte Auflage erscheint zum dreihundertsten Todestag des Denkers und wurde, soweit es mir möglich war, erneut auf den Stand der Wissenschaft gebracht. Nicht zuletzt hat die Forschung nun ergeben, dass die Leibnizsche Rechenmaschine als ein vollkommenes Meisterwerk erdacht war und – baut man sie heute nach dem neuesten Stand der Fertigungstechnik – fehlerfrei funktioniert. Eine unglaubliche Leistung unseres Gedankengenies.

Neu hinzugekommen ist auch die Zeittafel, die einen Überblick über das Leben von Leibniz gibt.

Hannover, im Februar 2016

Eike Christian Hirsch

I

Ein neues Leben

Nächtliche Begegnung In einem Frankfurter Gasthof blickt die Wirtin die Treppe hinauf, es dämmert spät an diesem Morgen Ende Oktober 1667. Sie sieht, wie eine schwarze Perücke, darunter ein Milchgesicht, herabschwebt, das ist der junge Herr Doktor Leibniz; lautlos und verlegen tritt er auf die Stufen, ein stiller Mensch. Unten hält er nach der Frau Wirtin Ausschau, und als er sie mit seinen kurzsichtigen Augen erspäht, reckt er sich, so dass er nicht mehr so gebeugt wirkt, und blickt sie nach einem kurzen Gruss fragend an. Sie schüttelt den Kopf, nein, noch immer keine Botschaft für den wohlgeborenen Herrn Doktor. Er trägt den hergebrachten schwarzen Talar der Gelehrten, auf dem der breite weisse Kragen liegt. Die Perücke sticht dagegen ab, sie ist schon fast lächerlich modisch, denkt die Wirtin. Der Hausknecht hat ihr allerdings erzählt, der Gast sei fast kahl, das Haar muss ihm ausgefallen sein, auch soll er eine Beule, fast so gross wie ein Ei, auf seinem Kopf tragen, das hat der Knecht selbst gesehen. Vor einer Woche ist der junge Jurist hier abgestiegen, aus Nürnberg kommend, ohne Diener übrigens. Er studiert die ganze Zeit auf seinem Zimmer und wartet darauf, Nachricht zu bekommen, wo er sich einfinden soll. Am Wirtshaustisch gibt er wenig aus, hat eine schwere Zunge, auch menschenscheu ist er, denkt die Wirtin, und sieht den Gast wieder nach oben gehen.

Dort hütet er seinen Schatz, ein Empfehlungsschreiben, gerichtet an eine der bedeutendsten politischen Gestalten seiner Zeit, Johann Christian Freiherrn von Boineburg. Seit Tagen wartet Gottfried Wilhelm Leibniz darauf, von ihm gerufen zu werden, obwohl er weiss: Der, auf den er wartet, ist ein gefallener Stern. Das Schreiben, das in seinem Zimmer liegt, stammt von dem Mann, der die Aufsicht über die Nürnberger Universität in Altdorf führt, dem betagten Pastor Dilherr. Der ist ein guter Freund Boineburgs und war ursprünglich einmal sein akademischer Lehrer. Ja, der wohlmeinende Dilherr. Er hatte ihn, Leibniz, bei der Promotion gehört und gleich für eine Professur in Altdorf gewinnen wollen. Doch der junge, blendende Jurist war entschlossen, in die Politik zu gehen. Hier in Frankfurt suchte er seinen Meister in dieser Kunst. Der Freiherr von Boineburg, längst entmachtet, kannte noch alle Fährten und Finten, alle Schliche und Strategien. Auch jetzt war er geschickt genug, sich unsichtbar zu machen, und schien doch irgendwo hier in der freien Reichsstadt Frankfurt zugegen. Ein guter Lehrer für einen, der einmal aufsteigen wollte zum Ratgeber der Fürsten. Er hatte Leibniz, ohne eine eigene Adresse zu nennen, Anweisung gegeben, in welchem Gasthaus er sich aufhalten solle, der junge Mann werde dann gerufen. Das Warten ging schon Tage.

Da klopft es, die Wirtin ist selbst gekommen, sie hat eine Meldung zu überbringen. Am Abend wird den hochgelehrten Herrn jemand holen kommen. «Ein Diener. Er hat nicht gesagt, welcher Herr ihn schickt. Ihr wüsstet es …» Nun muss Leibniz die Stunden bis dahin noch überstehen, macht sich wieder Notizen, nimmt sich vor, was er sagen wird. Gegen sieben kommt ein Mann, er trägt keine Livree. Es dunkelt schon. Mit einer Fackel geht er voran, durch winklige Gassen. Leibniz weiss nicht mehr, wo er ist. Er denkt mit Bangen an den hohen Herrn, dem er jetzt begegnen wird. Den Freiherrn von Boineburg kannte man im ganzen Reich, er sollte, sagte man, eine ebenso eindrucksvolle Persönlichkeit sein, wie er ein intriganter Politiker gewesen war. Elf Jahre hatte er dem Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn gedient und damit die deutsche Politik nach dem Dreissigjährigen Krieg stark beeinflusst, trug der Mainzer Bischof und Kurfürst doch immer den Titel Kanzler des deutschen Reiches, und dieser Inhaber des Amtes, Johann Philipp, hatte etwas daraus gemacht. Sein Obermarschall Boineburg, den sein Kurfürst im Sommer 1663 entlassen hatte, war den Franzosen jedoch nicht nur ein Freund, sondern auch, so munkelte man, ihr heimlich bezahlter Helfer gewesen. Nun, vier Jahre später, 1667, war er immer noch verstossen und streckte seine Fühler überallhin aus.

Der Diener geht durch ein Tor, man betritt ein Haus durch den Hintereingang, es geht eine steile Treppe hinauf. Dann heisst es noch einmal warten, bis ein leutseliger Herr erscheint, etwa Mitte vierzig, und den jungen Mann einzutreten bittet – es ist tatsächlich der grosse Boineburg selbst. Ein Tisch ist gedeckt. Man setzt sich und spricht vom guten alten Pastor zu Nürnberg. «Ich habe manches von meinem Freund Dilherr darüber erfahren», sagt der Freiherr, «wie es zugegangen ist, jetzt vor einem halben Jahr zu Altdorf, als man Euch promoviert hat zum Doctor iuris. Über die Lösung schwieriger Rechtsfälle, kein einfaches Thema. Und dann diese glänzende Verteidigung Eurer Thesen. Es hat Aufsehen erregt!» Bei Leibniz, der anfangs immer befangen ist, löst sich allmählich die Starre, er fühlt sich anerkannt, ja aufgenommen. Dann geht es mit dem Reden schon besser. Ja, sagt er, gedruckt worden sei schon einiges von ihm, auch etwas über die Kunst der Kombinatorik, ebenfalls seine juristische Dissertation über unlösbare Rechtsfälle.

Er hat sich auch später gern an seine lateinische Promotionsfeier erinnert: «Als ich zwei Reden hielt, die eine in Prosa, die andere in Versen», erzählt er, «trug ich die erste so fliessend vor, dass ich den Eindruck erweckte, als läse ich sie ab. Doch als ich danach die Verse zu rezitieren begann, musste ich – wegen meiner Kurzsichtigkeit – das Blatt so nahe an die Augen halten, dass die Zuhörer bald erkannten, dass ich das Vorangegangene frei gesprochen hatte. Sie glaubten daher, ich hätte die Rede in Prosa auswendig gelernt, wunderten sich aber, warum ich dies nicht lieber mit den Versen getan hätte, weil das leichter sei. Ich erwiderte, sie befänden sich im Irrtum, ich hätte die Rede in Prosa gar nicht auswendig gelernt, sondern aus dem Stegreif gehalten.» Doch habe er damit wenig Glauben gefunden. «Der Vortrag», sagte er fast entschuldigend, «fliesst bei mir im Lateinischen mit der gleichen Leichtigkeit wie bei anderen im Deutschen; jetzt aber zog ich das Papier mit meiner Rede hervor, worauf sie sich überzeugten, dass es ganz andere Worte enthielt als die, die ich vorgetragen hatte. Dieser Umstand erwarb mir bei den Männern von Nürnberg grossen Beifall.» Der Gast ist jetzt guter Dinge, und der Gastgeber nickt behaglich, die Geschichte hat auch ihm gefallen.

Während er sich den nächsten Gang vorlegen lässt, sagt Freiherr von Boineburg: «Dann hat mein Freund Dilherr Euch alsbald eine Professur angeboten. Die habt Ihr ausgeschlagen. Es drängt Euch in die hohe Politik.» Und im Stillen fragt er sich beim Anblick dieses jungen, fast verlegenen Mannes, der sich gebeugt hält und nicht weiss, wohin mit seinen langen Händen: «Ist das ein Mann der Staatsaffären? Hat er die Statur zum Gesandten?» Leibniz sagt leise, aber entschlossen: «Ich möchte den Fürsten nur Rat geben, will die Pläne für das Staatswesen entwerfen, weil ich zu wissen meine, was richtig ist und not tut.» Denn die Vernunft zeige – und nur sie! –, was einem hohen Herrn zu tun frommt.

Der Gastgeber erwidert: «Vielleicht sollte ich Euch abraten. Es ist ein blutiges Handwerk, das Staatsgeschäft. Jedenfalls – unterbringen kann ich Euch nicht, ich habe keine Macht mehr, schon gar nicht beim Kurfürsten zu Mainz, dem Kanzler des Reiches. Aber ich kann Euch sagen, wie Ihr es anstellen müsst, dorthin zu gelangen. Und mir liegt, wenn ich offen sprechen darf, daran, Euch zugleich als Helfer zu gewinnen für meine hiesige Bibliothek. Ich habe auch sonst genug für Euch zu tun. Und es wird, wenn Ihr dort am Hof zu Mainz unterkommt, kein Nachteil für mich sein, in dieser Festung einen Vertrauten zu haben. Ja, geht an den Hof zu Mainz! Es braucht dabei ja niemand zu wissen, dass wir uns kennen, solange ich im Reich noch eine ‹persona non grata› bin. Alle Welt glaubt, ich wäre mit der Familie nach Köln gezogen, weit weg, an einen anderen kurfürstlichen Hof. Aber wie Ihr seht, habe ich hier zu Frankfurt noch eine verschwiegene Behausung, incognito, bis ich wieder in Gnaden angenommen bin. Das scheint nicht unmöglich. Dann werde ich mich offen zu Euch bekennen können. Und werde Euch bei meinem Nachfolger empfehlen, dem neuen Mainzer Obermarschall.»

Leibniz soll von seiner Kindheit und Jugend sprechen und erzählt, wie er den Vater schon mit sechs verloren, die Mutter auch vor nun schon vier Jahren, und dass er sich das meiste selbst beigebracht habe. Sonderbar, er verwendet das ganz ungebräuchliche Wort Autodidakt dafür. Ein Mann zu sein, den kein Lehrer prägte, ein Mann des eigenen Nachdenkens und Erfindens, auf diesen Eindruck kommt es ihm an. Boineburg fragt, warum er denn von der Universität Leipzig für die Doktorprüfung zur Nürnberger Universität nach Altdorf gezogen sei? «Eine lächerliche Sache», sagt Leibniz. Er habe sich im Hause des Dekans der Juristenfakultät zu Leipzig seiner Promotion wegen vorstellen wollen. «Ich habe an die Stube gepocht, darauf ist die Frau Dekanin herausgekommen und hat mich gefragt, was ich bei ihrem Mann wolle. Da hab ich nun geantwortet, wie ich gesonnen sei, mich zum Doktorat anzugeben; darauf hat jene versetzt: Ich solle mir erst den Bart wachsen lassen. Das hat mich dergestalt verdrossen, dass ich sogleich fortgegangen und nicht wiedergekommen bin.»

Dieser Begabte, denkt Boineburg, fühlt sich leicht zurückgesetzt, und er versichert: «In Mainz am Hofe des Kurfürsten sollt Ihr nicht abgewiesen werden, es gibt geschickte Wege, dort auf Anhieb zu reüssieren.» – «Ganz ohne Fürsprache?» fragt Leibniz und bekommt zur Antwort: «Ihr werdet eine gelehrte Ausarbeitung schreiben, die praktischen Nutzen hat, lasst sie drucken und zwar mit einer gross prangenden Widmung an seine kurfürstlichen Gnaden, den Bischof zu Mainz. Damit begehrt Ihr vorgelassen zu werden, und man wird Euch vorlassen! Wie der Kurfürst dann zu nehmen ist, das sage ich Euch, wenn wir so weit gekommen sind.» – «Hohen Herren muss man mit einer Widmung schmeicheln, das ist ein guter Rat», sagt Leibniz, «aber was dann, was folgt?» – «Wir gehen noch einen anderen Weg», beruhigt ihn Freiherr von Boineburg, «da gibt es am Hof einen Juristen namens Lasser, der arbeitet für den Kurfürsten daran, das römische Recht neu zu ordnen. Dort könnt Ihr Euch ebenfalls bewerben. Er sucht einen Helfer. Und damit ist auch klar, wovon Eure Schrift mit der Widmung zu handeln hat: Von der Reform des Rechts! Unfehlbar werdet Ihr binnen sechs Monaten ein Bediensteter des Hofes sein.» Der Gastgeber erhebt noch einmal das Glas und meint, die Arbeit in seinen privaten Diensten könne gleich beginnen. «Das Salär wird darin bestehen, dass Ihr meine Protektion und meinen guten Rat habt, das wird genügen.» Beim Abschied geloben sich beide Verschwiegenheit, dann erscheint wieder der Diener mit der Fackel und führt Leibniz zurück durch die Nacht.

Ob sich die Begegnung genau so abgespielt hat, weiss man nicht, denn die Zeit, die Leibniz in Frankfurt war, liegt im Dunkeln. Getroffen haben sich beide gewiss, doch sie haben später mit gutem Grund geschwiegen über den Beginn dieses Paktes, durch den Boineburg einen Vertrauten in Mainz einschleuste und Leibniz frei blieb von dem Geruch, Gefolgsmann eines Verstossenen zu sein. So konnte er mit gewissem Recht später beteuern, in Mainz ohne Protektion angenommen worden zu sein.

Er tat, wie es vereinbart war. Bald schrieb er die Schrift ‹Nova Methodus …› (Eine neue Art, Jura zu lernen und zu lehren), liess sie mit grosser Widmung drucken, überreichte sie dem Kurfürsten, und die Rechnung ging auf: Er bekam eine Anstellung bei der Arbeitsstelle zur Neuordnung des Rechts. Glück kam hinzu. Überraschend schnell versöhnte sich der Kurfürst mit dem verstossenen Boineburg, denn des Kurfürsten Neffe, Melchior Friedrich von Schönborn, wünschte ausgerechnet Boineburgs Tochter Sophie zu heiraten. Nun können sich auch Leibniz und Boineburg zueinander bekennen. Am Ende dieses für uns dunklen halben Jahres, im April 1668, sendet Boineburg an einen der bekanntesten Juristen der Zeit, Hermann Conring, die Schrift von Leibniz mit der wirksamen Widmung und schreibt: «Ich kenne den Autor sehr genau … Auf meine Anregung schickt er sich an, die Grundlagen des Rechts sorgfältiger, als es gewöhnlich geschieht, aufzubereiten. Er ist bestimmt ein Mann von grosser Gelehrsamkeit, treffsicherem Urteil und erheblicher Arbeitskraft. Er wohnt jetzt in Mainz, nicht ohne meine Fürsprache.»

Nach mehr als zwei Jahren wurde Leibniz im Rang eines Hofrats zum Richter am obersten Gericht des Kurfürsten ernannt. Nebenbei jedoch blieb er Boineburgs vertraute Hilfskraft, lebte teilweise in Frankfurt, ordnete weiter die Bibliothek seines Herrn und beriet ihn juristisch. Er verfasste, genau nach Anweisungen, politische Denkschriften, die als Boineburgs eigene galten, wurde von ihm in die grosse Politik hineingezogen und lernte die damals üblichen Schliche, Intrigen und Verstellungen kennen. Ja, es scheint im Nachhinein, als habe er sich mit diesen Künsten nur allzu willig vertraut gemacht. Boineburg, der immer noch heimlich in Frankreichs Sold stand, warb mit einigen dieser Denkschriften, die Leibniz zu schreiben hatte, weiterhin für eine Beschwichtigungspolitik gegenüber Ludwig XIV., obwohl der die Reichsgrenzen immer heftiger bedrohte.

In einem dieser Memoranden, die Leibniz schreiben musste, hat er im Jahre 1670 einen eigenen Gedanken geäussert: Es wäre doch ratsam, dass Ludwig XIV. im Nahen Osten Eroberungen machte. «Wenn der König von Frankreich Konstantinopel und Kairo hätte, würde das ganze türkische Reich zugleich erobert sein.» (Konstantinopel, heute Istanbul, war die Hauptstadt des türkischen Reiches, zu dem auch Ägypten gehörte.) Die Idee, Frankreichs Aggression, die gegen das Reich gerichtet war, auf den Nahen Osten zu lenken, sollte drei Ländern Vorteile bringen. Frankreich hätte ein neues Einflussgebiet am Mittelmeer, Österreich wäre die Türkenheere, die auf seinem Gebiet vordrangen, los, und das von Frankreich als Erstes bedrohte Holland könnte zunächst einmal aufatmen. Die Idee muss Leibniz selbst so überzeugend erschienen sein, dass er sich wunderte, wieso noch niemand darauf gekommen war. Gleich beginnt er, seinen Einfall dem französischen König in einem Brief darzulegen. Der Richter am Hof eines deutschen Kurfürsten wendet sich persönlich an den Sonnenkönig – so etwas schien diesem jungen Mann offenbar naheliegend. Er hat den Brief allerdings nicht vollendet.

Als ein Jahr später, Ende 1671, die geheime Nachricht aus Frankreich nach Mainz gelangt, der König plane einen Überfall auf Holland, will Leibniz handeln und legt den Gedanken, jetzt ausgebildet zu einem Plan, seinem Gönner und Meister Boineburg vor, der gleich begeistert zustimmt. Beide überlegen, ob ein Brief oder ein mündlicher Vortrag in Versailles besser wäre. In Boineburgs Kopf verbindet sich dabei der Plan mit eigenen Interessen. Er möchte nämlich schon lange nach Paris, um dafür zu sorgen, dass endlich die Gelder wieder fliessen, die ihm von Frankreich auf Lebenszeit zugesagt worden waren. Doch so sehr es Boineburg nach Paris zieht, er kann nicht fahren, denn gerade bewirbt er sich beim Kaiser in Wien um einen neuen Posten. Da müsste es Anstoss erregen, wenn er in jenes Land reiste, von dem das Reich militärisch bedroht wird. Ebenso wenig würde ihm sein misstrauischer Kurfürst die Reise erlauben. So schreibt Boineburg, der immer noch glaubt, in Frankreich hohes Ansehen zu geniessen, am 20. Januar 1672 direkt an den französischen König und deutet einen grossen militärischen Plan an, den er gern vortragen wolle und der allen Seiten nur Vorteile bringe. Erreichen will Boineburg damit eine persönliche Einladung durch Seine Majestät, weil in solch einem Fall selbst sein Kurfürst einzusehen hätte, dass man reisen muss.

Auch Leibniz zieht es nach Paris, nämlich zu den führenden Gelehrten dort. An die Pariser Akademie der Wissenschaften hat er sogar schon eine physikalische Arbeit geschickt, die dort tatsächlich diskutiert worden ist; er hat den Plan zu einer Rechenmaschine im Kopf, könnte ebenso mit Lösungen zu philosophischen Streitfragen aufwarten und hat auch schon Briefe an bedeutende Gelehrte geschrieben, denen er sich nun auch persönlich bekannt machen möchte. Also beschliessen Boineburg und Leibniz, sie sollten gemeinsam fahren. Wenn nur bald eine Einladung vorläge!

Zur gleichen Zeit beginnt Leibniz, von Boineburg gedrängt, den Text auszuarbeiten, den man in Versailles vortragen und überreichen will. Er tut sich damit schwer, denn er möchte einen Stil entwickeln, der sofort Neugier weckt. Nebenbei soll Gelegenheit sein, viel Scharfsinn und Gelehrsamkeit auszubreiten, weil er den Sonnenkönig nicht nur für den Plan, sondern auch für seine Person gewinnen will. Endlich wählt er als Form einen Roman, der hundert Jahre später spielt und in dem rückblickend von einer glücklichen Expedition nach Ägypten berichtet wird. Leibniz gibt den Versuch auf und wagt einen neuen Anlauf, diesmal wählt er eine Form, bei der alle seine Behauptungen logisch aus Begriffen abgeleitet werden, etwa der empfohlene Feldzug aus dem Volkscharakter der Franzosen. So sonderbar diese Logik heute wirkt – mit Staunen liest man, wie Leibniz dabei vorschlägt, einen Kanal zu bauen, der das Mittelmeer mit dem Roten Meer verbindet. Und schon hätte man, schreibt er, den Handelsweg nach Asien in der Hand. Die Holländer, diese Monopolisten des Welthandels, wären mit ihrem Weg über das Kap der Guten Hoffnung weit abgeschlagen, und Russland mit seinem überlangen Landweg, der Seidenstrasse, keine Konkurrenz mehr. Damit bricht auch dieser Entwurf ab.

Boineburg ist immer noch ohne Post aus Paris, doch die Zeit drängt, denn der Ausbruch des Krieges gegen die Niederlande wird allgemein erwartet, und so schreibt er nochmals an den König. Endlich kommt Antwort von Aussenminister Pomponne. Dem König habe er über die Briefe soeben Bericht erstattet und könne melden, Seine Majestät werde den Autor des Plans (er war ungenannt geblieben) gern empfangen. Von einer Einladung an Boineburg stand nichts da, was ihn sehr enttäuscht haben muss. Nun soll Leibniz also allein reisen, doch er wehrt den Gedanken ab. Alles sei ihm unbekannt: die Menschen, die Sprache und die Art, in der man solche Verhandlungen zu führen pflege. Es fehle ihm an Ansehen und Vertrauenswürdigkeit. Deshalb erwägt Leibniz, Boineburg und er könnten beide, ohne dass der Kurfürst es erfahren müsste, heimlich nach Paris reisen.

Doch dann wird Leibniz ganz entschieden: Wenn alle anderen Wege nicht gangbar seien, müsse er eben alle Last und alle Gefahren auf sich nehmen und allein fahren. Das gebiete das religiöse Gewissen, das Wohl des Vaterlandes und ganz Europas, schliesslich auch der eigene Nutzen. Und die Aussichten schienen sogar wieder günstig, redet er Boineburg und sich selbst ein: Der König wird Einsicht genug haben, dem Plan zuzustimmen, und dann wird er seine Grossherzigkeit und Dankbarkeit dadurch beweisen, dass er den Urhebern des Planes auch einen Teil der Durchführung überträgt. Glorreiche Taten, Ruhm, Ehre und Wohlstand müssen Leibniz in diesem Augenblick zum Greifen nahe erschienen sein.

Am 4. März (1672) schreibt Boineburg in grosser Hast an Pomponne, der Autor des Planes werde allein kommen. Damit blieben Leibniz gerade zwei Wochen, die endgültige Fassung niederzuschreiben. Uns kann die Breite nur wundern, die das Werk annimmt, bis auch dieser fünfte Versuch aufgegeben wird. Die Zeit drängt nun immer mehr. Im letzten Augenblick ist dann doch die endgültige Fassung des ‹Ägyptischen Plans› entstanden. Obwohl man sich gut vorstellen kann, wie der erfahrene Boineburg hie und da noch kürzend eingegriffen hat, ist der Umfang fast so gross wie der aller bisherigen Entwürfe zusammen. Boineburgs Sekretär Münch wird beauftragt, die Reinschrift anzufertigen, doch sehr weit ist er damit nicht gekommen, den Rest gibt es nur in Leibnizens flüchtiger Handschrift. Alles ist schwer lesbar, die Stoffmassen sind ungebändigt, es fehlen Einleitungen oder Überschriften. Das Ganze hatte Leibniz, der kaum Französisch konnte, notgedrungen auch noch auf Latein abgefasst, nicht gerade die Sprache der Diplomaten und Könige. In diesem Zustand hätte er den Plan niemandem offiziell übergeben können. Wahrscheinlich nahm ihn der junge Reisende sowieso nur in der Hoffnung mit, alles mündlich vortragen zu dürfen. Aber es waren schier unendlich viele Blätter, weit über hundert! An eine Wirkung war nicht zu denken.

Der Krieg begann, schon hatte England, Frankreichs Verbündeter, die Niederlande zur See angegriffen. Leibniz musste, wollte er die Pläne des Sonnenkönigs noch ändern, sofort abreisen, obwohl noch immer keine Einladung aus Versailles vorlag. Boineburg schrieb für ihn am 18. März (1672) eine Empfehlung: Er sei ein Mann, der trotz seines unscheinbaren Äusseren imstande sein werde, sehr wohl das zu leisten, was er verspreche. Bedenken gegen den Plan könne er widerlegen. Der Autor reise allein, nur von seinem Diener begleitet, und sei nicht in der Lage, die Kosten seines Aufenthaltes selbst zu bestreiten. Deshalb habe er, Boineburg, sie ihm vorgeschossen und er dürfe wohl darum bitten, dass sie ihm ersetzt würden. Ausserdem gab Boineburg seinem Mitarbeiter eine Vollmacht mit, weil der sich um die heimliche ‹Rente› bemühen sollte, die nicht mehr gezahlt worden war. Am 19. März reiste Leibniz, der bei seinem Kurfürsten unbezahlten Urlaub genommen hat, von einem Diener begleitet, ab in die Hauptstadt der modernen Welt.

Ein Rückblick auf seine Jugend Während Leibniz zum ersten Mal seine deutsche Heimat verlässt, ist Gelegenheit, einen Blick zurück auf seine frühen Jahre zu werfen. Geboren ist er in Leipzig am 21. Juni 1646, wenn man den alten Kalender zugrunde legt, der damals in protestantischen Ländern noch gültig war; nach moderner Rechnung war es der 1. Juli. Sein Vater, ein Notar der Universität Leipzig und Professor der Moral, war schon betagt und sprach bald so ungeniert von einer grossen Zukunft seines Kindes, «dass er sich dadurch oft den Spott seiner Freunde zuzog», erinnerte sich der Sohn später. Seine Mutter war 24 Jahre jünger als ihr Mann, eine Professorentochter, von der Leibniz später recht wenig gesprochen hat. Aus der ersten Ehe seines Vaters hatte er einen Halbbruder, Johann Friedrich, aus der zweiten eine jüngere Schwester, Anna Catharina.

Schon auf der Schule fiel seine Begabung auf, so konnte er etwa in wenigen Stunden ein lateinisches Gedicht von dreihundert Hexametern verfassen und verblüffte seine Lehrer auch, als er scheinbar mühelos die gängigen Lehrsätze der Logik erweiterte. Recht früh, schon mit 14 Jahren, besuchte er die Universität in Leipzig und wählte Jura; das Studium begann damals jedoch immer mit geisteswissenschaftlichen Fächern. Am ehesten verbunden fühlte er sich dem Nachfolger seines Vaters, dem Moralphilosophen Jacob Thomasius, dessen Sohn Christian später berühmt werden sollte als ein anderer grosser Erneuerer in Deutschland neben Leibniz. Nur ein Semester hat er woanders studiert, in Jena, wo er bei dem eigenwilligen Denker Erhard Weigel in die Mathematik und die neue Philosophie eingeführt wurde. Als er seinen Doktor an der Nürnberger Universität Altdorf machte, war er gerade noch zwanzig Jahre alt und damit auffallend jung.

Über seine Jugend- und Studienzeit weiss man allzu wenig, es ist, als hätte er über sie geschwiegen und sie vergessen machen wollen. Unter seinen Gleichaltrigen hatte er keine Freunde oder jedenfalls keine, die ihm geblieben wären, und seine Heimatstadt bedeutete ihm später ebenso wenig wie seine Verwandtschaft. Man weiss aber auch deshalb nur so schlecht über seine frühen Jahre Bescheid, weil kaum Briefe und Aufzeichnungen aus dieser Zeit erhalten geblieben sind. Mit dem Beginn der Berufsjahre aber hat er sich allmählich angewöhnt, Abschriften seiner Briefe ebenso aufzubewahren wie alle seine Notizzettel – und nur dieser Nachlass ist es, der uns heute sein Leben anschaulich macht. Aus diesen Dokumenten entsteht er vor uns als ein schon Fertiger, der aus eigenem Geist lebt, als habe er sich selbst geschaffen.

Gern erzählte er, wie er sich mit sieben Jahren Latein beigebracht habe, indem er in Büchern las, die sein Vater ihm hinterlassen hatte. Schon mit fünfzehn Jahren wollte er sich klar werden, welche Richtung in der Philosophie er einleuchtender fände, wobei die Scholastik zur Wahl stand und das neue Denken von René Descartes. Er erinnerte sich, die Entscheidung habe er ganz allein getroffen auf einem Spaziergang im Rosental, einem Wäldchen bei Leipzig. Dabei wählte er die moderne Richtung, doch später lag ihm alles daran, das Alte und das Neue zusammenzuführen. Es wurde für ihn zur Lebensaufgabe.

Die Arbeit, mit der er seine philosophischen Studien abgeschlossen hat, behandelte die Kombinatorik, eine alte Lehre über die Möglichkeiten, Zahlen und andere Grössen zu kombinieren. Diese Kunst wurde von ihm erweitert und veranschaulicht am Orgelregister, an Farbkombinationen und anderen Beispielen. Er glaubte, dass er damit die Mathematik kenne, aber man war in Deutschland nur noch nicht auf dem Stand anderer Länder. Diese Schrift ist gleich gedruckt worden, erregte Aufsehen und konnte nach Jahren, wenn auch nicht wegen ihrer Mathematik, selbst vor den Augen des alten Leibniz bestehen. Auch seine juristische Doktorarbeit über fast unlösbare Rechtsfälle wurde bestaunt und ist noch nach Jahrzehnten neu gedruckt worden.

Als junger Doktor der Rechte wusste er zwar, dass er als Berater von Fürsten in den Staatsdienst wollte, hat aber in Nürnberg noch ein halbes Jahr einer Alchemistischen Gesellschaft als Sekretär gedient. Die Alchemie war halb eine Wissenschaft, und damit eine Vorläuferin der Chemie, halb eine Geheimwissenschaft, die den ‹Stein der Weisen› suchte oder ein Rezept, Gold zu machen. Später schrieb er über seinen kurzen Versuch, zu den Eingeweihten zu gehören: «Es reut mich nicht, in der Jugend gelernt zu haben, was mich als Mann vorsichtig werden liess. Denn später bin ich oft zu derartigen Studien gedrängt worden. Ich habe gesehen, wie andere Leute Schiffbruch erlitten, während sie mit dem günstigen Winde ihrer Alchemistenträume zu segeln glaubten.» Doch hat ihn die Idee vom Goldmachen immer mächtig gereizt, und auf dem Totenbett noch wird er davon in einem Tagtraum erzählen.

Dann geriet er, und das ist schon erzählt worden, auf irgendwelchen Wegen vertraulich an den Freiherrn von Boineburg, dessen Anleitung ihn wiederum an den Mainzer Hof und zum Titel eines Rats führte. Jetzt ist er, nach weiteren vier Jahren, wirklich ein Mann der Politik geworden, wie er es wollte, sogar betraut mit einer geheimen Mission.

Die Weltstadt Paris mit ihrem Prunk und ihrem Wohlstand muss auf Leibniz einen tiefen Eindruck gemacht haben. Hier war er im Zentrum von Wissenschaft und Wirtschaft, von Macht und Kultur.

Kein leichter Anfang Ende März 1672 trifft er in Paris ein. Doch um den Aussenminister aufzusuchen – oder auch nur einen Beamten –, dazu fehlt ihm zunächst der Mut. Lieber will er erst einmal unter die Leute, um die Landessprache besser zu lernen und die eigene Unsicherheit zu überwinden. Man kann sich denken, dass er sodann zu den Menschen gegangen ist, für die er Empfehlungsschreiben hatte. Bevor wir ihn dabei begleiten, soll aber noch erzählt werden, wie sich der Geheimplan weiter entwickelte. Boineburg schreibt ihm bald, niemand in Mainz wisse, wo er sei und was er treibe. Zwei Monate später entschliesst sich der Freiherr doch noch, seinen Kurfürsten wenigstens halbwegs in den Plan einzuweihen, der bislang hinter dessen Rücken betrieben worden war, und sagt im Gespräch, am besten wäre es, wenn man Frankreich dazu bringen könnte, jenseits des Mittelmeers gegen die Türken zu kämpfen. Dazu besitze er, lässt er durchblicken, einen detaillierten Plan.

Von dieser Idee geradezu erregt, bat der Kurfürst und deutsche Kanzler den französischen Gesandten am 4. Juni (1672) zu sich und eröffnete ihm den höchst christlich gemeinten Vorschlag, einen Krieg gegen die Ungläubigen zu beginnen. Das Stichwort ‹Ägypten› fiel nicht, der Kurfürst erwähnte aber seinerseits den angeblich fertigen Plan. Dessen Verfasser im fernen Paris, der viel mit seinem Gönner korrespondiert, erfährt durch Boineburg immerhin auch ein wenig vom Fortgang der Sache. Der schreibt ihm, der Kurfürst kenne den Plan nun in Umrissen und habe die Sache beifällig aufgenommen. Vielleicht hat Leibniz die Nachricht mit Erleichterung gehört, weil er damit von der drückenden Last befreit schien, den Plan auf seinen schmalen Schultern allein zu tragen. Soll sich, mag er gedacht haben, nun das amtliche Mainz offiziell an Versailles wenden!

Doch wie hatte sich der Plan, der von Leibniz politisch gemeint gewesen war und eigentlich nur den Holländern (und auf weite Sicht dem Reich) helfen sollte, verändert! Der französische Gesandte, durchaus selbst entflammt, berichtete seinem König und überhöhte dabei den Plan des Kurfürsten zu einem «Heiligen Krieg». Dieser Bericht aus Mainz wurde dem Sonnenkönig nachgesandt, der in den Niederlanden der vorrückenden Front mit seinem ganzen Hofstaat gefolgt war, um glanzvolle Siegesfeste zu feiern. Bei ihm weilte sein Aussenminister, der von dort am 21. Juni (1672) seinem Gesandten nach Mainz zurückschrieb, er habe dem König Bericht erstattet. Ohne von Seiner Majestät zu einer Antwort beauftragt zu sein, könne er selbst nur feststellen, dass «Heilige Kriege» seit Ludwig dem Heiligen aufgehört hätten, Mode zu sein.

Das war ein spöttisches, ein hartes Wort, aber es galt nicht dem Plan, den Leibniz entwickelt hatte. Andererseits ist es fraglich, ob dessen Ideen, wären sie der französischen Regierung bekannt geworden, anders beurteilt worden wären. Am selben Tag schrieb Pomponne auch an Boineburg nach Mainz, versicherte ihm jedoch nur, der König sei voller Huld gegen ihn, er dürfe sich Hoffnungen auf eine günstige Regelung seiner finanziellen Angelegenheiten machen. Das war alles. Über die verlockend angedeuteten Pläne, die ein gewisser «Autor» überbringen sollte, stand da kein Wort. Trotz dieses beredten Schweigens hoffte Boineburg weiterhin auf eine Aufforderung durch Aussenminister Pomponne, den eigentlichen Plan vorzulegen. Aber es kam kein weiterer Brief in Mainz an, und in Paris traute sich Leibniz noch immer keinen Vorstoss beim Aussenministerium zu.

Es gab hier schliesslich noch anderes zu tun, und Leibniz hatte es gut vorbereitet. Pierre de Carcavy, der Direktor der königlichen Bibliothek, war dabei seine erste Adresse gewesen. Schon von Mainz aus hatte er sich an ihn empfehlen lassen und dem hohen Herrn etwas hochtrabend mitgeteilt, er habe eine neue Rechenmaschine entwickelt, die vielleicht auch den königlichen Minister Colbert (er war, wie man heute sagen würde, Wirtschafts- und Wissenschaftsminister) interessieren könne. Carcavy hatte im Juni 1671 geantwortet: Wenn Leibniz seine Maschine, die wahrscheinlich interessant und nützlich sei, nach Paris schicken wolle, so würde er sich darum bemühen, dass Minister Colbert sie in Augenschein nehme.

Diese Aussichten hatten Leibniz beflügelt, und er versicherte anderen, er sei bereits durch den königlichen Bibliothekar an den mächtigen Minister Colbert empfohlen worden, und dieser habe ihn mit dem Bau einer Rechenmaschine beauftragt. Leibniz wagte es daher, mehr zu erbitten, und übersandte Carcavy den Vorschlag, Colbert solle ihm die Stellung eines Korrespondenten der Akademie der Wissenschaften bewilligen, denn er sei bereit, aus Deutschland über neueste Ergebnisse zu berichten. Man erkennt daran gut, wie treuherzig Leibniz mit dem Wohlwollen seiner Mitmenschen rechnete. Carcavy hatte ihn in einer recht unverblümten Antwort vor solchen Hoffnungen gewarnt. Aber Leibniz glaubte Erfindungen zu besitzen, mit denen er sich in Paris beweisen werde: seine Rechenmaschine, optische Entdeckungen und seine philosophisch-physikalischen Gedanken darüber, wie die neuerdings von einigen Wissenschaftlern bestrittene Eucharistie (die Wandlung der Hostie und des Weins) doch noch erklärt werden könnte. Gerade von diesem Nachweis versprach sich Leibniz viel Aufsehen und Anerkennung in Paris. Als er abreiste, glaubte er wohl, den erstrebten Posten eigentlich nur noch antreten zu müssen. Indem er allen erzählte, er werde sich in Paris den grossen Gelehrten vorstellen, wollte er zugleich verdecken, dass er auch einen Geheimplan vortragen sollte.

Die Rechenmaschine, die er überall erwähnt hatte, als sei sie fertig, brachte er nur in Umrissen mit. Leibniz beschreibt in Paris einmal, wie er auf diesen Plan gekommen war: «Als ich vor einigen Jahren zum ersten Male ein Instrument sah, mit dem man seine eigenen Schritte, ohne zu denken, zählen kann, kam mir sogleich der Gedanke, es liesse sich die ganze Arithmetik durch eine ähnliche Art von Werkzeugen fördern …» Eben durch eine Maschine, die weit mehr als nur zählen kann. Dabei glaubte er, so etwas habe es noch nie gegeben, denn von den Vorgängern (Wilhelm Schickard oder Blaise Pascal) wusste er zunächst fast nichts. Noch in Mainz hatte er die ersten Notizen über eine «lebendige Rechenbank» niedergeschrieben.

Der Gedanke war folgender: Man dreht mit einer Kurbel einen Stift, den Leibniz gewöhnlich einen «Zylinder» nennt. Dieser Zylinder trägt Zähne, die zusammen ein Zahnrad bilden. Dreht man nun z.B. einen Zylinder mit 7 Zähnen, so wird die Zahl 7 addiert. Setzt man den Zylinder an anderer Stelle in der Maschine ein, so können seine 7 Zähne auch für die Zahl 70 oder für 700 stehen. Das jedenfalls ist der Gedanke: Die Anzahl der Zähne steht für die entsprechende Ziffer und sie wird durch Drehen auf andere Zahnräder übertragen. Das Prinzip ist einfach, doch, wie es so oft ist, ergaben sich bei der Ausführung Schwierigkeiten, die andere wohl entmutigt hätten.

Seine Maschine brauchte als Zubehör sehr viele solcher Zylinder, die jeweils passend zur Rechenaufgabe einzubauen waren – es waren 162! Bis die richtigen davon ausgewählt und gesteckt wären, hätte man das Ergebnis auch im Kopf oder auf Papier errechnen können. Um diese Umständlichkeit zu vermeiden, machte Leibniz eine geniale Erfindung, er konstruierte nämlich einen Zylinder, der verschiedene Zahnkränze hintereinander trägt. Nun konnte man diesen Zylinder tiefer in die Maschine hineinschieben oder etwas herausziehen, je nachdem, welcher Zahnkranz wirksam werden sollte. Weil solch ein Zylinder gleichsam «gestaffelt» hintereinander unterschiedliche Zahnkränze trägt, nennt man ihn auch «Staffelwalze». Diese Erfindung war so bedeutend, dass sie sich über Jahrhunderte gehalten hat und in den meisten mechanischen Rechenmaschinen verwendet worden ist – bis zum Siegeszug der elektronischen Rechner.

Mehr Mühe hat Leibniz mit der sogenannten ‹Zehnerübertragung› gehabt. Es ist nämlich schwer zu erreichen, dass eine mechanische Maschine auch nur das Ergebnis von 9 + 1 anzeigt, weil dabei im Resultat-Werk eine Zehnerübertragung fällig wird. Noch lange musste sich Leibniz damit plagen, seine Maschine so zu konstruieren, dass sie beispielsweise zur gegebenen Zahl 999.999 die 1 sicher hinzuzählen konnte. Es ergab sich gewöhnlich nur 999.100 oder etwas ähnlich Falsches. Aber diese Schwierigkeiten waren noch nicht erkannt, als Leibniz nach Paris kam. Er hatte nur sein Prinzip im Kopf und glaubte, es werde sich schnell in die Tat umsetzen lassen, sobald er erst einen guten Mechaniker gefunden hätte. Wenn er seine Erfindung dennoch gleich propagiert hatte, so war das nicht so sehr Leichtfertigkeit oder gar Hochstapelei, nein, hier zeigte sich eine Eigentümlichkeit seines Denkens, der wir noch oft begegnen werden. Was er logisch entwickelt hatte, das hielt er für leicht ausführbar, weil er voraussetzte, die Welt selbst sei logisch aufgebaut und alle logischen Ideen würden sich daher leicht in die Wirklichkeit einfügen lassen.

So trat er mit fast leeren Händen vor Pierre de Carcavy, den königlichen Bibliothekar, dem er von Mainz aus die fertige Maschine angekündigt hatte. Wir wissen nicht, wie peinlich dem Ankommenden sein Offenbarungseid war, aber Carcavy scheint bald bereit gewesen zu sein, ihm das Innere der Pascalschen Rechenmaschine zu zeigen, die er hütete und von der Leibniz bislang nur wenig gehört hatte. Diese Maschine des grossen Mathematikers und christlichen Denkers Blaise Pascal, der schon Jahre zuvor gestorben war, hatte kaum eine Verwendung gefunden. Leibniz hat, als er das Instrument sehen durfte, auf das er ausserordentlich gespannt gewesen sein muss, den Aufbau hastig skizziert. Er notierte vieles, auch die Art der Zehnerübertragung, und erkannte, dass sein eigener Entwurf noch nicht gut genug war. Zwar liess sich Leibniz von der Art, wie Pascal die Zehnerübertragung hatte lösen wollen, anregen, hat anschliessend aber umso länger gebraucht, bis er von dem allzu komplizierten Vorbild wieder loskam. Auch bei anderen Details stützte er sich von da ab auf das Pascalsche Modell.

So bessern sich seine eigenen Entwürfe in Paris schnell. Schon nach einem Monat glaubt er den Durchbruch geschafft zu haben und beginnt mit zwei Handwerkern, ein hölzernes Modell zu bauen. Einem Pariser Gelehrten schreibt er, wohl schon im Sommer (1672): «Sollten Sie morgen oder ein andermal in die Akademie gehen, so bitte ich Sie, mich bei Herrn de Carcavy zu entschuldigen, dass ich mich fast einen Monat – es kommt mir wie ein Jahrhundert vor – nicht habe bei ihm sehen lassen. Ich habe es mir aus eigenem Entschluss, wenn auch ungern, versagt, den Umgang und die Unterhaltung der vielen Gelehrten zu geniessen, mit denen Paris gesegnet ist. Ich habe mir ein selbstgewähltes Einsiedlerdasein auferlegt, ja, ich spreche, obwohl ich mitten unter so vielen bedeutenden Männern weile, kaum mit jemandem ausser zwei Handwerkern. Ist das nicht wie das Schicksal des Tantalus? Doch meine Aufgabe verlangt den ganzen Menschen, und da ich ohne Hilfe bin und jeden Tag auf tausend Kleinigkeiten achtgeben muss, von denen eine einzige alles zunichte machen kann und mich zwingen würde, die ganze Arbeit von neuem zu beginnen, weiss ich mir keinen anderen Rat. Man gibt sich nämlich nicht mit einem überzeugenden Beweis, an dem sich nichts auszusetzen findet, zufrieden, sondern will die Anwendung an einem Modell sehen. Wir sind bald damit zu Ende, und ich hoffe, dass Herr de Carcavy im Falle des Erfolges, an den wir mit den besten Gründen glauben dürfen, der Sache zur verdienten Achtung verhilft und dafür sorgt, dass das Geheimnis gewahrt bleibt. Ich bitte Sie herzlich, ihm all das ans Herz zu legen und mit niemandem darüber zu sprechen.»

Warum wollte er diese Erfindung überhaupt machen? Natürlich, die Sache schien nützlich und sie versprach Ruhm. Doch wollte Leibniz auch zeigen, dass der menschliche Geist mechanisierbar ist – eine aufregende Hypothese. Und noch etwas: Er konnte durchaus selbst Hilfe beim Rechnen brauchen, denn er machte oft Flüchtigkeitsfehler, vielleicht weil er die Mathematik nicht von Jugend auf gewohnt war.

Das Wohlwollen steigt Von den Pariser Gelehrten hatte Leibniz geschrieben, dass deren Unterhaltungen ihm fehlten. In diese Kreise hineinzukommen war ihm nicht leichtgefallen. Die Gelehrten sprachen hier nicht mehr wie in Deutschland untereinander sein geliebtes Latein, sondern redeten französisch, und das konnte er noch nicht gut. Überhaupt war er gehemmt. Der erste Eindruck, den die Leute von ihm hätten, so klagte er einmal, sei ungünstig, weil es ihm an sicherem Auftreten fehle. Hier war es nämlich selbst in Gelehrtenkreisen Mode, sich als kraftvoller Geniesser zu geben oder als Aristokrat, der Hoheit und Ruhe ausstrahlt. Beides konnte Gottfried Wilhelm Leibniz nur schlecht imitieren.

Hinzu kam, dass er mit seinen neuen Ideen weit weniger Aufmerksamkeit erregte, als gehofft. Man war hier verwöhnt. Doch erste Anerkennung fand er bei Henri Justel, einem Rat und Sekretär des Königs. Dieser weltoffene Protestant – damals durfte man in Paris noch Protestant sein – lud Leibniz zu seinen Zusammenkünften ein, wo er andere ungewöhnliche Geister traf. Justel hatte Verbindungen zu den bedeutendsten Gelehrten Europas und wurde mit seiner Korrespondenz alsbald für Leibniz zum Vorbild. Diesen Alleswisser vor Augen, entwickelte er damals die Idee, man müsse nur eine laufende Chronik schreiben, in der alles Wissenswerte über Sitten, Gebräuche, Entdeckungen, Geldwesen, Handel, Handwerk, Luxus, Laster und Krankheiten notiert wäre, und schon würde sich ein getreues Bild der Zeit ergeben. Bald entstünde daraus sogar ein wahres Abbild der Weltgeschichte. In diesem Plan erkennen wir schon früh eine Idee, von der Leibniz sein Leben lang gefesselt sein sollte: Man müsste eigentlich ständig das Wissenswerte sammeln und auswerten, denn wer ein solches Archiv besässe, wüsste fast alles.

Sinn für den umständlichen, schnell verlegenen Deutschen hatte früh auch der schrullige Priester Pierre Daniel Huet, dem Leibniz bei Justel begegnet war. Er schrieb und sprach immer noch am liebsten Latein, weswegen er sich wohl auch mit Leibniz sofort gut verstand, und lebte mit Büchern. Davon hatte er so viele um sich gestapelt, dass einmal sein Haus darunter zusammenbrach. Pierre Daniel Huet spielte eine Rolle bei der Erziehung des französischen Kronprinzen Louis, des Dauphins, und war im Besonderen zuständig für dessen lateinische Lektüre. Dazu wollte Huet antike Werke für den Prinzen – «ad usum delphini», in einer für den Dauphin bereinigten Fassung – herausgeben und zog alsbald Leibniz hinzu, zweifellos ein Zeichen für dessen wachsendes Ansehen. Doch musste Leibniz die Mitarbeit aufkündigen, wegen zu vieler anderer Dinge, die ihn beschäftigten.

Besuch bei Christiaan Huygens Im Herbst (1672) strebte Leibniz dem Gebäude der Königlichen Bibliothek zu, das er schon gut kannte, doch diesmal hatte er ein wenig Herzklopfen, denn er wollte nicht zu den Büchern. In diesem Gebäude wohnte und arbeitete auch der bedeutendste Mathematiker und Physiker seiner Zeit, der Holländer Christiaan Huygens. Der wollte ihn empfangen – ihn, den Dilettanten aus dem rückständigen Deutschland, ihn wollte ein Huygens, das wichtigste Mitglied der neuen Pariser Königlichen Akademie, vor sich treten lassen! Leibniz muss die Autorität des grossen Forschers gefürchtet haben, hatte andererseits aber eine mathematische Entdeckung gemacht, die er vorlegen wollte und für die er Anerkennung erhoffen durfte, er hatte nämlich eine Regel gefunden, mit der sich die Summe unendlicher Zahlenreihen bestimmen liess.

Als ihm ein Diener die privaten Räume, die zugleich Werkstatt und Laboratorium des grossen Mannes waren, geöffnet hatte, wird Leibniz nach den viel bestaunten Uhren Ausschau gehalten haben, denn Huygens hatte fünfzehn Jahre zuvor die Pendeluhr erfunden, die inzwischen in den Häusern der Vornehmen heimisch geworden war, und arbeitete an ihrer Verbesserung. Leibniz sah ein Exemplar, es hatte, wie damals noch üblich, als Pendel nur einen starken Faden, an dem ein Gewicht hing. Trotzdem hatte sich die Genauigkeit der Zeitmessung mit dieser Erfindung, vielleicht der wirksamsten des Jahrhunderts, fast verhundertfacht. Huygens war es schon in seiner Jugend gelungen, das Fernrohr zu verbessern, so dass er als erster Mensch den Ring um den Saturn hatte erkennen können. Auch Linsen und andere optische Instrumente wird Leibniz, als er sich umblickte und soweit seine kurzsichtigen Augen etwas zu erfassen vermochten, gesehen haben, ebenso Kugeln aus Holz oder Eisen, mit denen Experimente für den sogenannten elastischen Stoss ausgeführt werden konnten. Hier war er, der Bewunderer dieser neuen Wissenschaften, also endlich im Allerheiligsten angelangt.

Heinrich Oldenburg (links), ein gebürtiger Bremer, führte die Geschäfte der Royal Society in London und förderte seinen Landsmann Leibniz, auch wenn ihn das in Verlegenheit brachte. – Der Niederländer Christiaan Huygens (rechts) war der bedeutendste Mathematiker seiner Zeit, er ist auch der Erfinder der Pendeluhr. Dass Leibniz an diesen gütigen Mann geriet, ist vielleicht das grösste Glück seines Lebens gewesen.

Huygens trat ihm mit grosser Freundlichkeit entgegen. Er war ein Mann von 43 Jahren, etwas rundlich, hatte ein weiches, fast weibliches Gesicht und dunkle, leuchtende Augen, die viel Sanftheit und Wohlwollen ausstrahlten. Man darf vermuten, dass Huygens dem jungen Fremden gleich versichert hat, ihn zu kennen. Nicht nur, weil Leibniz ein Jahr zuvor, wie erwähnt, der Pariser Königlichen Akademie eine kleine Abhandlung physikalisch-philosophischen Inhalts eingereicht hatte, die durchaus im Kreise der Mitglieder diskutiert worden war; sondern auch weil der Sekretär der Londoner Schwestergründung, der Royal Society, Heinrich Oldenburg, eine Empfehlung nach Paris geschickt hatte, in der es von Leibniz hiess: «Er scheint kein gewöhnlicher Geist zu sein.»

Huygens mag mit ein paar wohlwollenden Bemerkungen auf die im Jahr zuvor eingereichte Arbeit von Leibniz zu sprechen gekommen sein, denn sie hatte sich ausdrücklich mit den von Huygens soeben veröffentlichten Gesetzen des elastischen Stosses beschäftigt. Diese Gesetze hatte Leibniz keineswegs in Frage stellen wollen. Er hatte nur einen Einwand vorgebracht, der ein wenig an den Widerspruch eines hochbegabten Kindes erinnert: Die Gesetze seien zwar richtig, aber noch nicht bewiesen, jedenfalls nicht streng logisch abgeleitet. Ob Huygens für diese Gründlichkeit mehr als sein menschenfreundliches Lächeln übrig hatte, weiss man nicht.

Er sah einen jüngeren Mann vor sich, der etwas ungeschickt wirkte. Sein Gast war zwar gross, stand aber gebeugt, und seine langen Arme hingen herab, als wüsste er nicht, wohin damit. Er hatte erwähnt, im Auftrag seines Kurfürsten in Paris zu sein, doch eine diplomatische Mission passte wenig zu seiner Erscheinung. Kein Mann, der reiten und fechten konnte, der trinkfest und stimmgewaltig schien. Nur gekleidet war er recht elegant, trug dazu diese modische Perücke. Ehrgeizig wirkte er, aber auch vertrauensvoll, also nicht unsympathisch. Sein Lächeln war sogar gewinnend freundlich.

Noch hatte Leibniz seinen Zettel mit dem mathematischen Kunststück in der Tasche und wird darauf gebrannt haben, es vorzuführen. Aber vielleicht hat Huygens den Juristen aus dem deutschen Mainz zuvor gefragt, was ihn denn nach Paris geführt habe. Richter am obersten Gerichtshof des Kurfürstentums Mainz sei er? Das musste den Holländer Huygens stutzig machen. Denn fast auf den Tag genau, als Leibniz – doch offenbar als Abgesandter dieses deutschen Kanzlers und Kurfürsten – in Paris eingetroffen war, hatte Frankreich seiner Heimat, den Niederlanden, den Krieg erklärt. Das kleine Land, in Wissenschaft und Kunst führend, überaus wohlhabend, aber militärisch schwach, war von allen deutschen Nachbarn im Stich gelassen worden. Hatte der Kanzler seinen Leibniz nach Paris gesandt, um ein weiteres Stillhalten des Reiches zu versprechen? Dem Holländer Christiaan Huygens war seine Heimat keineswegs gleichgültig. Während er, vom französischen König bezahlt, wie in einem goldenen Käfig lebte, gehörten sein Vater, ein bedeutender Dichter und politischer Vordenker der Niederlande, und sein Bruder zu den Männern, die den Widerstand gegen die französische Invasion zu organisieren suchten.

Und was hatte Leibniz wirklich nach Paris gelockt? Sollte Huygens ihn das gefragt haben, so hätte Leibniz vielleicht mit Sätzen geantwortet, die er in einem Memorandum zwei Jahre zuvor niedergeschrieben hatte, Worte der Bewunderung für den zentral regierten, mächtigsten Staat der Welt: «Wie sehr sich nun Frankreich bisher gestärkt, können auch Blinde sehen. Dass es die anderen Länder alle mit ihren eigenen Waffen zwinge, die besten Köpfe an sich ziehe und endlich überall Meister werde.» War nicht Christiaan Huygens selbst das deutlichste Beispiel für diese Politik, von überall das Beste zu holen? Und war es nicht verständlich, dass ihn, Leibniz, den höchst selbstbewussten Gelehrten aus Mainz, der Ehrgeiz ebenfalls hierher getrieben hatte? Das würde gerade ein Huygens verstehen müssen.

Doch nun wurde es Zeit, die eigene mathematische Erfindung vorzutragen. Es ging um unendlich viele Brüche, die addiert werden. Solche Reihen, deren Glieder immer kleiner werden, waren in der Mathematik verbreitet, bekannt etwa war diese:

1/2 + 1/4 + 1/8 + 1/16 + … und so weiter.

Die Summe davon ist Eins. Leibniz aber glaubte, ein Prinzip gefunden zu haben, um die Summe auch weit komplizierterer Reihen angeben zu können. Das behauptete er jedenfalls und schränkte nur ein: «Vorausgesetzt, dass die auftretende Summe überhaupt gegen einen endlichen Wert strebt.» Das Kunststück, solche Reihen zu summieren, begann Leibniz gleich vorzuführen, aber Huygens entschuldigte sich, in der Reihenlehre sei er nicht sehr bewandert, doch die Behauptung mache ihn neugierig. Schon dieses Eingeständnis muss für Leibniz eine unerwartete Bestätigung gewesen sein.

Huygens entsann sich jedoch an eine eigene Erfahrung, und wir können uns vorstellen, dass er zu seinem Besucher sagte: «Vor etwa sieben Jahren bin ich selbst einmal auf solch eine Reihe gestossen, als ich mit meinem Freund Jan Hudde über die Frage disputiert habe, wie es eigentlich mit der Wahrscheinlichkeit bei Glücksspielen steht. Es ging dabei um die Summe der unendlichen Reihe der reziproken Dreieckszahlen.» Huygens schrieb sie auf und überreichte den Zettel seinem Besucher, als sei das nun eine Hausaufgabe, die er ihm mitgeben wollte:

1/1 + 1/3 + 1/6 + 1/10 + …

Es war nicht zu erwarten, dass Leibniz die Aufgabe gleich lösen konnte, obwohl sich vermuten liess, dass die Summe 2 ist, aber das wäre ja erst einmal zu beweisen gewesen. Leibniz versprach, an der Sache nach Kräften zu arbeiten. Christiaan Huygens, dem die Begabung des Mainzer Juristen wohl nicht mehr zweifelhaft war, bat ihn, nur ja bald wiederzukommen, und nannte ihm, da er gemerkt hatte, dass Leibniz ein Autodidakt war, ein paar Mathematikbücher, die sich mit solchen Reihen beschäftigten. Dann geleitete er seinen Gast zur Tür. Eins dieser Bücher, das ‹Opus geometricum› des Gregorius a S. Vincentio, hat Leibniz denn auch gleich aus der Pariser Königlichen Bibliothek – sie war ja in demselben Gebäude untergebracht – entliehen, um sich Auszüge daraus zu machen. Er hat es dann allerdings (das weiss man, weil seine Notizen erhalten sind) nur flüchtig angesehen, denn ihm schmeckte die Umständlichkeit nicht, mit der dort alles erklärt wurde. Auch schien es ihm unbefriedigend, wie Gregorius die Summen besagter Reihen bloss aus Zeichnungen ableitete. Nach kurzem Grübeln erkannte er, wie man die geometrisch gegebenen Strecken auch als Zahlen schreiben und ihre Summe elegant berechnen konnte. Das war typisch für ihn. Er konnte Lehrbücher nur eilig ansehen, ihm fehlte eben die Geduld. Hatte er jedoch etwas verstanden, so überbot er seine Vorlage manchmal ebenso schnell, wie er sie gelesen hatte.

Mit seiner neuen, allgemeinen Methode war die gestellte Aufgabe leicht zu lösen. Er hatte sie sich (in einem ersten Schritt) dadurch vereinfacht, dass er nur halb so grosse Zahlen einsetzte, die dann – wie man plötzlich erkennt – nach einem einfachen Muster als Multiplikation geschrieben werden können:

Die Lösung erreichte man durch Verdoppelung, also war die gesuchte Summe 2. Mit diesem Ergebnis ging Leibniz gleich in der ersten Begeisterung, diesmal wohl unangemeldet, zu Huygens und mag ihm vor Aufregung, sobald es die Höflichkeit zuliess, erklärt haben, dass er fertiggeworden sei und wie er zu seiner Lösung gefunden habe. Huygens muss höchst erstaunt gewesen sein und war selbstlos genug, sich mit Leibniz über das Ergebnis und die neue Methode einfach nur zu freuen. Solch eine Offenheit, ja neidlose Mitfreude war zu jener Zeit unter Wissenschaftlern noch weniger üblich als heute. Huygens, dieser herzensgute Mensch, hat dem Gast ausserdem noch, als wollte er ihn als den besseren Mathematiker ehren, seine eigene frühere Lösung vorgeführt, die weit umständlicher war.

Es war ein einziges Glück für Leibniz, an diesen noblen Mann geraten zu sein. Schon als der seinem Besucher die Aufgabe gestellt hatte, war er taktvoll vorgegangen. Wäre das Problem nur ein wenig schwieriger ausgefallen und Leibniz unlösbar erschienen, hätte Huygens ihm die Lust auf eine Fortsetzung seiner Studien genommen. So aber erlebte Leibniz in diesen Tagen seine wahre Geburt als Wissenschaftler. Vielleicht hat er die Bedeutung dieser Wende selbst gespürt, denn es ergriff ihn fortan eine ungeheure Begeisterung. Seine Stärken, die er hier am Anfang gezeigt hatte, blieben ihm dabei erhalten. Er konnte in dem, was andere Mathematiker halbwegs aufgehellt hatten, das Allgemeingültige erkennen, er fand den einfachen Grundgedanken und brachte zu methodischer Eleganz, was zuvor nur mühsam erreicht worden war.