Der blaue Vogel - Utta Danella - E-Book
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Utta Danella

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Beschreibung

Christine musste als kleines Mädchen miterleben, wie ihre geliebte Mutter ermordet wurde. Diese schreckliche Erfahrung warf tiefe Schatten auf ihr ganzes Leben. Auf Breedenkamp, dem Gut ihres Großvaters in Schleswig-Holstein, findet Christine schließlich Heimat und Geborgenheit. Doch auch Jahre später glaubt sie noch immer, dass Liebe nur Leid und Tod mit sich bringt – auch, als sie den Journalisten Julian kennenlernt. Wird er es schaffen, Christine vom Gegenteil zu überzeugen?

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Utta Danella

Der blaue Vogel

Roman

I In den Hügeln von Vermont

Das Kind erwacht von dem Schrei. Ein hoher, heller Schrei, der jäh abbricht, ein Poltern, dann wieder die helle Stimme: »Nein! Nein!«

Dann ein Schuss.

Das Kind hat sich aufgerichtet, starrt mit weit aufgerissenen Augen ins Dunkel, lauscht, springt aus dem Bett, und während es zur Tür läuft, fällt der zweite Schuss.

Auf der schmalen Holzstiege, die hinabführt in den Wohnraum, bleibt das Kind vor Schreck erstarrt stehen.

Zwei Menschen liegen auf dem Boden. Die Frau liegt auf dem Gesicht, sie hat die Arme weit ausgebreitet, so wie sie sich schützend vor den Mann geworfen hat, dem der Schuss gegolten hat. Darum hat der erste Schuss sie getroffen. Sie ist vornüber gestürzt. Ihr blondes Haar ist wie ein Schleier auf dem Boden auseinandergefallen.

Man sieht kein Blut, keinen Einschuss.

Sie hatte ihr Haar an diesem Abend gewaschen. In einem blauseidenen Morgenrock saß sie auf einem niedrigen Hocker vor dem Kamin und trocknete ihr Haar. Das Kind durfte es kämmen. Und der Mann, der jetzt gekrümmt, die Beine angezogen, das Gesicht verzerrt, den Mund noch wie zum Schrei geöffnet, auf der Seite liegt, hatte mit dem Haar gespielt. Er kniete hinter ihr, ließ es durch die Finger gleiten, nahm eine Strähne zwischen die Lippen, und schließlich hatte er sich ihr Haar, das noch ein wenig feucht war, über das Gesicht gebreitet.

»Like a golden rain«, hatte er gesagt.

Wie ein goldener Regen. Frederike hatte es für das Kind übersetzt, denn es spricht noch kaum Englisch.

Dann hatte sie mit einem Lachen das Haar in den Nacken geworfen. »Geh ins Bett, Liebling, es ist schon spät.«

»Och …«

»Wir gehen auch bald schlafen. Ich bin müde.«

Mit einer vorsichtigen, schwebenden Bewegung hatte sie ihren schweren Leib berührt, erst geseufzt, dann gelächelt. Und er, der Mann, der jetzt tot ist, hatte ebenfalls ihren Leib berührt und zärtlich geflüstert: »And that's your golden secret.«

Christine wusste, dass ihre Mutter ein Kind erwartete. Der Gedanke an die kleine Schwester, die sie bekommen würde, tröstete sie über das Heimweh hinweg. Denn sie war bisher nicht heimisch geworden in dem fremden Land. Sie vermisste die Welt, in der sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Es war besser geworden, seit sie in den Wäldern lebten. Die große Stadt war dem Kind verhasst gewesen, die enge, düstere Wohnung war ihm wie ein Käfig vorgekommen. Das Blockhaus am See war besser. Nicht so groß wie das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Aber es war dennoch heimatlich. Und heimatlich waren Wald, Wiesen und See, waren Bäume, Blumen und Vögel. Es war das Leben, das das Kind kannte.

»Du bekommst keine Schwester«, sagte der Mann immer. »It will be a boy.«

Christine schüttelte dazu den Kopf. »No. A girl.«

Frederike hatte nur gelacht zu dem Streit zwischen den beiden. Ihr war es egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein würde. Sie wollte nur ein Kind. Es war neun Jahre her, seit sie ein Kind geboren hatte, ihre Tochter Christine. Und nichts zuvor im Leben hatte sie so glücklich gemacht, wie ein Kind zu haben. So sollte es wieder sein.

Jetzt liegt sie da unten. Man sieht ihr Gesicht nicht, nicht den gewölbten Leib, nur ihren Rücken, in leuchtend blaue Seide gehüllt. Über dem Blau das helle Haar. Ihre Beine sind gespreizt, das eine seltsam verdreht. Man sieht kein Blut. Aus seinem Körper läuft das Blut in einem breiten, eiligen Strom über den Boden, helles Blut, das Bärenfell vor dem Kamin färbt sich langsam rot, es sieht aus, als wäre der Bär gerade geschossen worden.

Christine steht regungslos, unfähig zu begreifen, was sie sieht. Alles endet in diesem Augenblick: ihr Lachen, ihre Unschuld, ihre Kindheit. Dann sieht sie den Fremden im Halbdunkel. Da steht einer, in der herabhängenden Hand die Waffe, steht so regungslos, so entsetzt wie das Kind auf der Treppe. In der Ferne bellt laut und wütend ein Hund. Sonst ist es totenstill. Die Nächte in den Hügeln von Vermont sind immer totenstill.

Plötzlich gibt der Mann einen Ton von sich, ein verzweifeltes Stöhnen. Er beugt sich über die Frau, kniet neben ihr nieder, hebt ihren Körper auf und dreht ihn herum. Nun sind seine Hände voll Blut. Ihr Blut fließt langsam, wie zögernd, als dürfe es diesen Leib, der so voll Leben ist, nicht im Stich lassen.

»Frederike!«, stöhnt der Mörder. »Frederike!«

Frederike hört ihn nicht mehr. Sieht ihn nicht mehr. Frederike stirbt, das Gesicht schon leichenblass, Schatten an den Schläfen, nur ihr Blut lebt noch, ihr Blut und ihr Haar.

Das Kind auf der Treppe erkennt den Fremden.

»Vater!«, flüstert Christine.

Der Mörder blickt auf. Auf der schmalen Treppe, bloßfüßig, im langen, weißen Nachthemd, einen kleinen, weißen Stoffhund fest an sich gepresst, steht seine Tochter.

Erst langsam beginnt er zu begreifen, was geschehen ist. Er richtet sich auf, dann steht er, wendet hilflos den Kopf von einer Seite zur anderen. Sein Gesicht ist so blass wie das der beiden, die auf dem Boden liegen. Er macht ein paar schwankende, unsichere Schritte zur Treppe hin, streckt dem Kind bittend die Hände entgegen. Das Kind weicht zurück. Da springt er die Treppe hinauf und reißt das Kind an sich.

»Komm! Komm!«

Christine strauchelt, er hält sie fest, hebt sie hoch und trägt sie – doch mitten im Raum lässt er sie auf die Erde gleiten, beugt sich wieder über Frederike, versucht, sie aufzurichten. Frederike stöhnt. Blut tritt auf ihre Lippen, ihr Kopf sinkt zurück, dabei öffnen sich ihre Augen weit.

Sieht sie ihn an?

Er flieht vor diesem Blick, fasst das Kind mit beiden Armen, trägt es aus dem Haus. Christine wehrt sich nicht, rührt sich nicht, sie liegt wie tot in seinen Armen.

Der Hund bellt noch immer, hoch und schrill. In dem Farmhaus, das oben am Wiesenhang liegt, werden zwei Fenster hell, hinter denen sich Umrisse eines Menschen abzeichnen. Er stopft das Kind in das Auto, das vor dem Blockhaus steht, blickt nicht mehr zurück, Panik hat ihn erfasst, er klemmt sich hinter das Steuer, startet, und holpernd schlingert der Wagen auf dem unebenen Weg davon.

Hinter ihnen, unbewegt und schweigend, bleibt die grausilberne Fläche des Sees zurück.

Jim, der Farmer, blickt angestrengt in die Nacht hinaus. »Das hörte sich an wie Schüsse«, murmelt er.

»Unsinn!«, sagt seine Frau. Aber sie hat sich auch im Bett aufgesetzt und lauscht.

»Ich sage dir, da hat wer geschossen. Und hör doch mal den Hund!« Das Bellen des Hundes überschlägt sich.

»Da! Ein Auto! Da fährt ein Auto! Hörst du es nicht?«

»Ich höre nichts.«

Jim fährt in die Jeans, streift sein Hemd über den Kopf. »Ich geh' mal nachsehen.«

»Bleib doch hier! Wenn es ein Überfall ist …«

»Unten im Blockhaus ist Licht.«

»Ach die!«, sagt seine Frau wegwerfend. »Die haben immer Licht bis spät in die Nacht.«

Jim geht hinaus und lässt den Hund von der Kette. Der rast den Hang hinab, auf das Blockhaus zu.

Jim kehrt noch einmal ins Haus zurück und nimmt sein Gewehr von der Wand, entsichert es.

»Steh auf!«, ruft er seiner Frau zu. »Schließ die Tür zu. Aber pass auf, wenn ich zurückkomme, dass ich schnell hereinkann.«

Frederike Kamphoven lebt noch, als man sie vorsichtig in den Wagen des Sheriffs bettet. Sie stirbt während der Fahrt, kurz bevor sie die kleine Stadt erreichen.

Der Arzt zögert, als sie vor ihm auf dem Operationstisch liegt, er überlegt. Eine Fremde. Eine junge Frau, im achten, wenn nicht schon im neunten Monat schwanger.

Ein Überfall, hat man ihm gesagt. Er legt die Hand auf ihren Leib, überlegt noch einmal.

»Wir versuchen es«, sagt er widerwillig. »Wir machen einen Kaiserschnitt.«

Das Kind im Leib der toten Frau lebt.

Es ist ein Mädchen.

Magnus denkt nicht an Flucht. Nicht gleich. Er denkt gar nichts. Er steht unter einem schweren Schock. Er fährt.

Er fährt durch die Nacht, mechanisch wie ein Automat, fährt von dem steinigen Pfad, der zum Blockhaus führt, auf die schmale Landstraße, biegt bei der nächsten Kreuzung in eine breitere Straße ein, immer so weiter, bis er zum Highway kommt. Er sitzt vornübergebeugt, er fährt, er schaltet, er sieht kaum etwas, nur den Lichtkegel, den der Scheinwerfer ins Dunkel wirft, er fährt ihm nach, das Haar hängt ihm in die Stirn, die Stirn ist feucht, auch seine Haare werden langsam feucht, dann seine Hände. Er umklammert das Steuerrad. Die Straßen sind leer. Er fährt. Irgendwann redet er.

»Sie ist nicht tot. Ich wollte sie nicht töten. Ich wollte euch nur holen. Christine! Verstehst du? Christine! Ich wollte euch nur holen. Ihr sollt doch mit mir nach Hause kommen.« Christine liegt hinten im Wagen, ein armseliges, kleines Bündel, sie ist kalt und starr, es ist kaum noch Leben in ihr, kein Gefühl, kein Gedanke. Nur eine leere Hülle ist übrig, ein Körper, der atmet.

»Ich konnte euch nicht finden, Christine. Ich wusste nicht, wo ihr wart. Keiner wollte es mir sagen. Keiner wollte mit mir reden.«

Er kannte die Leute ja gar nicht. Erst war er in New York, dann in Boston. Keiner wollte mit ihm sprechen. Keiner ließ ihn auch nur ins Haus. So etwas war er nicht gewohnt. Mit Zorn war er gekommen, mit gerechtem Zorn. Der Zorn wandelte sich in Wut, in Hass.

Schließlich war er bei dem Uralten in Boston gelandet. Der ließ ihn zunächst auch hinauswerfen. Aber dann plötzlich ließ er ihn hereinbitten. Ganz formell.

Er war sehr höflich, der Alte. Saß da im Rollstuhl, die Augen zusammengekniffen, das kleine, geschrumpfte Gesicht eine Maske aus Pergament. Hinter dem Rollstuhl stand der Diener.

»Lassen Sie sie doch in Ruhe!«, sagte der Alte. »Was wollen Sie denn noch. Es ist schon öfter vorgekommen, dass eine Frau ihrem Mann weggelaufen ist. So eine Frau taugt nichts. Der Junge taugt auch nichts. Lassen Sie sie doch!«

»Sie haben meine Tochter entführt. Ich will meine Tochter wiederhaben.«

»Ich weiß nicht, wo sie sind«, sagte der Alte. »Sie hatten eine Wohnung hier in Boston. Ich weiß gar nicht wo. Ich wollte sie in meinem Haus nicht haben. Keiner von der Familie will sie haben.«

»Meine Tochter …«

»Ja, ja, ich habe es gehört.« – Ein scharfer Blick aus den rot geränderten Augen.

»Kann sein, sie sind im Blockhaus. In unserem alten Blockhaus in Vermont. Vor ein paar Monaten war er das letzte Mal hier. Im Mai war es, glaube ich. Ich habe ihm gesagt, meinetwegen könnten sie in das Blockhaus ziehen. Mir ist es egal. Ich komme sowieso nie mehr hin. Von den anderen kommt auch keiner hin. Zu primitiv. Früher war ich gern dort. Als kleiner Junge war er ein paarmal dort. Vielleicht sind sie da.« Es hatte lange gedauert, bis er das Blockhaus fand. Heute erst. Im Dorf unten am See hatte einer genickt auf seine Fragen. Hinter dem Wald, am anderen Ende des Sees, da ist das Blockhaus der Claytons. Sieht so aus, als ob es bewohnt sei.

Er stand vor dem Drugstore, wo er die Auskunft bekommen hatte, und merkte, dass sie ihn durch die Scheibe beobachteten.

In diesem Moment dachte er, dass es am besten wäre, wegzufahren, weit wegzufahren. Konnte sein, sie waren dort. Ging es ihn noch etwas an? Hatte der Alte in Boston nicht recht gehabt – Was wollen Sie denn noch?

Er ging langsam zurück zu seinem Wagen und fuhr fort aus dem Dorf. Nicht ans andere Ende des Sees. Er fuhr zurück zur Straße – weg vom See. Er musste darüber nachdenken. Er war ein schwerfälliger Mensch, einer, der immer erst überlegte, ehe er handelte.

Mal angenommen, sie waren dort. Was dann?

Frederike hatte ihn verlassen.

»Ich liebe ihn«, hatte sie gesagt, damals, ehe sie fortging. »Ich kann nicht mehr bei dir bleiben.«

Hatte sie ihn denn nicht geliebt? Hatte sie je gesagt: Ich liebe dich?

Nein. Das hatte sie nie gesagt. Es war ihm nur nicht aufgefallen. Weil er sie so sehr liebte, dachte er, sie liebe ihn auch.

Inzwischen wusste er es besser. Das mit der Liebe – das war wohl alles nur Einbildung.

Aber Christine durfte sie nicht mitnehmen. Sie hatte kein Recht, ihm seine Tochter wegzunehmen. Christine gehörte nach Hause, nicht nach Amerika, nicht zu Fremden, die sie gar nicht haben wollten. Sie wollten Frederike nicht, sie wollten diesen Mann nicht, der irgendwie zu dieser Familie gehörte. Und bestimmt wollten sie auch Christine nicht. Er hatte die Wohnung gefunden in Boston, in der sie zuvor gelebt hatten. Eine schlechte Gegend, ein altes Haus. Es ging ihnen nicht gut. Und jetzt lebten sie hier in der Einsamkeit. Sicher hat Frederike längst genug von diesem Abenteuer. Sicher kam sie gern mit ihm nach Hause.

Er war ganz ruhig. Überlegte gründlich, was er tun würde. Jetzt, da er am Ziel war, eilte es ihm nicht mehr. Heute musste er nicht mehr hingehen, er konnte es morgen tun. In einem Motel übernachten, morgen früh die Strecke zurückfahren, zum See, durch den Wald, das Haus würde er schon finden.

Hingehen würde er. Natürlich – darum war er ja hergekommen. Darum hatte er diese Reise, diese mühselige Suche auf sich genommen. Er würde ganz vernünftig mit ihr reden, würde ihr klarmachen, dass er Christine mitnehmen musste, denn sie gehörte nicht hierher. Das musste sie einsehen.

Aber er belog sich selbst. Er wollte nicht nur sein Kind, er wollte auch sie. Frederike – seine Frau. Vielleicht war sie froh, wenn er kam und sie holte. Vielleicht würde sie fragen: ›Kannst du mir denn verzeihen?‹

Es sah ihr ähnlich, so eine Frage zu stellen. Sie war immer ein wenig sentimental gewesen.

Natürlich konnte er nicht verzeihen. Nicht verzeihen und nicht vergessen. Niemals. Aber das änderte nichts daran, dass sie ihm gehörte.

Sie war gerade erst achtzehn geworden, als er sie heiratete. Sie war noch nicht neunzehn, als sie seine Tochter gebar, selbst noch ein Kind, schmal und zart mit dem scheuen Mund und den verträumten Augen. Es war kaum vorstellbar, dass ein Mann sie je berührt hatte. Sie war keine Geliebte gewesen, nur ein staunendes Kind, das etwas mit sich geschehen ließ, was es kaum begriff. Wenn er auf Urlaub kam von der Front, fand er sie unverändert vor, verträumt, unschuldig, unberührt, an ihrem Leben hatte sich nichts geändert, sie lebte mit ihren Büchern, mit ihrem Hund, sie spielte Klavier. Und sie hatte das Baby. Sie war so zärtlich zu dem Kind, manchmal war er fast eifersüchtig. Mit ihm sprach sie niemals so. Aber es war ja gut, dass sie das Kind hatte. Er war nicht da. Für irgendwelche Arbeit auf dem Gut war sie nicht zu gebrauchen. Sie lebte in einer Traumwelt, eine kleine Prinzessin, fern jeder Wirklichkeit.

Er liebte sie über alles, so, wie sie war. Keine Geliebte für ihn, keine Gefährtin. Das machte nichts, das würde später kommen, wenn der Krieg zu Ende war, wenn er endlich bei ihr sein konnte … Dass einer kommen würde – vor ihm –, der sie aus dieser Traumwelt der Kindheit herausreißen würde, daran hatte er nicht gedacht. Nie hätte er so etwas für möglich gehalten, so viel Fantasie besaß er nicht.

Und er begriff es nicht – bis zu diesem Abend, als er sie wiederfand in einem Blockhaus in Vermont, wo sie mit diesem Mann lebte, den sie liebte. Von dem sie ein Kind erwartete. Es hatte ihn sprachlos gemacht, als er es sah.

Erst am Abend hatte er sich entschlossen, doch noch zurückzufahren zum See.

Es war bereits dunkel, ein Abend im September, es war kühl, über dem See stand Nebel.

Das Haus war größer, als er es sich vorgestellt hatte. Aus dicken, runden Stämmen gezimmert, es sah fest und solide aus. Hinter den Fenstern war Licht.

Da lebte sie …

Es war eine schöne Landschaft, er hatte das am Tag schon gedacht. Eine unberührte stille Landschaft, Wiesen, Wälder, Hügel, dazwischen der See. Die Landschaft schien ihm vertraut zu sein.

Es war fast wie daheim.

Sehr seltsam, dass sie jetzt hier lebte. Damals – ehe sie fortging, hatte sie gesagt: »Ich habe es satt, immer auf dem Land zu leben. Ich möchte einmal etwas anderes sehen als Kühe und Wiesen und Bauern. Ich komme in kein Theater, höre keine Musik, ich will dieses Leben nicht mehr.«

Jetzt lebte sie hier viel einsamer als zuvor.

Als er sich schließlich entschloss, ins Haus zu gehen, war er ganz ruhig, ganz gelassen. So entsprach es seinem Wesen, er war niemals heftig, niemals unbeherrscht.

Zuerst blickte er durch ein Fenster. Vielleicht kam da seine Ruhe schon ins Wanken.

Ein großer Raum, sparsam möbliert. Sie saßen vor dem Kamin auf einem Fell. Er konnte ihre Gesichter nicht sehen. Sie blickte ins Feuer, hatte den Kopf zurückgeneigt, der Mann saß hinter ihr, hatte beide Arme um sie gelegt und sein Gesicht in ihr Haar gepresst.

Magnus wandte sich heftig ab und ging zur Tür. Sie war nicht verschlossen. – Als er ins Zimmer trat, saßen beide in der gleichen Stellung vor dem Kamin, blickten sich lässig um, gar nicht erschrocken. Dies war eine friedliche Gegend.

Doch als sie ihn erkannte, erschrak Frederike. Das dauerte einen Moment. Die tanzenden Flammen hatten sie geblendet. Da stand einer im Halbdunkel unter der Tür. War es Jim, der Farmer? Dann sagte sie mit ihrer hellen, immer erstaunt klingenden Stimme: »Du?«

Es klang kindlich verwundert.

Doch gleich darauf, dunkler, erschreckt: »Magnus!«

Er fährt und fährt durch die Nacht.

Er weiß nicht, wohin er fährt.

Manchmal redet er vor sich hin. Manchmal schweigt er. Er erlebt alles noch einmal.

»Du?«

»Magnus!«

Hinter ihm ist es still. Das Kind ist starr vor Kälte und Entsetzen. Es liegt nicht mehr, es hat sich aufgerichtet und in eine Ecke gedrückt, es zittert. Aber es weint nicht, es schreit nicht, es spricht nicht. Es sieht immer nur eines. Immer das gleiche Bild. Die beiden Menschen, die auf der Erde liegen. Das Blut, das über die Erde fließt und das Bärenfell rot färbt. Als er sah, dass sie schwanger war, verstummte er. Alles, was er hatte sagen wollen, erstickte.

Ihr Blick war hochmütig. Mit kalten Augen sah sie ihn an. Er war ein Fremder, ein lästiger Eindringling.

»Was willst du denn hier? Lass mich doch in Ruhe! Ich bin hier und bleibe hier. Ich komme nie zurück. Nie, hörst du!« Neben ihr dieser Junge mit seinem hübschen, glatten Gesicht. »Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich die Mühe gemacht haben, herüberzukommen. Erstaunlich überhaupt, dass Sie ein Visum bekommen haben, Sie als deutscher Offizier.«

Daran hatten sie offenbar nicht gedacht, dass er kommen würde. Sie hatten ihn vergessen, beiseitegeschoben. Er war für sie nicht mehr auf der Welt.

Bis in die Stirn fühlte er die Wut, sein Kopf hämmerte, sein Gesicht war bleich.

»Ich will Christine mitnehmen.«

»Nein«, sagte Frederike entschieden. »Christine bleibt bei mir.«

»Ich gehe von hier nicht weg ohne Christine.«

»Ein Kind gehört zur Mutter. Christine bleibt bei mir. Es gefällt ihr hier sehr gut. Und sie versteht sich sehr gut mit Michael.«

»So ist es«, sagte Michael und lächelte verlegen. »Christine hat es gut bei uns. Sie können ganz beruhigt sein.«

»Christine kommt mit mir. Wo ist sie?«

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Frederike kalt.

Sie ging langsam an ihm vorbei durch den Raum, schwerfällig. Vor einer Tür blieb sie stehen, wandte sich um. »Sei doch vernünftig, Magnus. Sie hat es in Amerika viel besser, in Deutschland kann man doch nicht mehr leben. Michael wird eine große Karriere machen. Christine ist dann die Tochter eines berühmten Künstlers, sie wird ein wundervolles Leben haben. Es ist herrlich, in Amerika zu leben.«

»Hier?«, fragte Magnus und blickte sich um.

»Wir waren den Sommer über hier. Gefällt es dir nicht? Es ist eine hübsche Gegend. Nächste Woche reisen wir sowieso ab. Zurück nach Boston. Bei mir ist es bald so weit. Christine freut sich sehr, einen kleinen Bruder zu bekommen.« Und dann eindringlich, bittend: »Magnus, bitte, mach es uns doch nicht unnötig schwer. Gib es auf. Reiche die Scheidung ein. Du kannst mich nicht zwingen, bei dir zu bleiben. Es ist nun einmal so. Ich wollte dir bestimmt nicht wehtun. Aber ich wusste doch nicht …« Sie stockte, dann lächelte sie, »ich wusste nichts vom Leben, Magnus, begreifst du es nicht? Wir haben doch kaum zusammen gelebt. Wir waren kaum verheiratet, da begann der Krieg. Zusammengerechnet waren es ein paar Wochen.«

»Und die letzten Jahre?«, fragte er heiser.

»Da … da war es zu spät. Du wirst eine andere Frau finden. Eine, die besser zu dir passt.«

»Ich nehme Christine mit.«

»Nein. Und ich will auch nicht, dass sie dich hier sieht. Das belastet sie nur.«

»Willst du damit sagen, dass ich meine Tochter nie wiedersehen soll?«

»Vielleicht später. Wenn sie älter ist. Jetzt ist es für sie besser so, wirklich.«

»Ich gehe nicht ohne Christine. Wo ist sie?«

»Sie schläft. Und ich denke nicht daran – Magnus!«

Er schob sie beiseite, um zu der Tür zu gelangen, vor der sie stand, weil er dachte, hinter dieser Tür sei das Kind. Es war ein Schlafzimmer, zwei Betten darin. Aber nicht Christine. Er riss alle anderen Türen auch noch auf. Die Küche, das Bad, eine Kammer.

»Wo ist sie?«

Er trat vor Frederike und packte ihre Handgelenke. »Wo ist das Kind? Ich lasse sie von der Polizei holen. Du hast kein Recht …«

Frederike lachte.

»Kein Recht? Eine Mutter soll kein Recht auf ihr Kind haben? Du wirst in diesem Lande keinen finden, der dir das glaubt. So barbarisch sind sie hier nicht.«

»Lassen Sie sie los!«, rief Michael mit hoher, aufgeregter Stimme. »Sie haben überhaupt keine Rechte hier.«

Er riss ihn zurück, stieß ihn in den Rücken. »Lassen Sie sie los, lassen Sie meine Frau los!«

»Ihre Frau!« Magnus wandte sich um, holte aus und schlug den anderen rechts und links ins Gesicht. Jetzt hatte alle Überlegung aufgehört, die Erregung machte sie blind, alle drei.

Michaels dunkle Augen funkelten, sein Gesicht war gerötet. »Immer noch die gleichen Nazimethoden!«, schrie er. »Hier in meinem Haus!«

Er stürzte an Frederike vorbei ins Schlafzimmer, kam zurück mit einer Waffe in der Hand. Eine deutsche Offizierspistole. Frederike sagte erregt: »Sei nicht albern, Mischa! Du bist nicht in der Oper.«

Noch war sie Herrin der Situation, kein verträumtes Kind mehr, auf einmal eine erwachsene, sehr bewusste Frau.

Michael zielte mit der Waffe auf Magnus. »Verschwinden Sie, sofort! Sie sind hier überflüssig. Get out! Get out!«

Magnus war größer, stärker und gewandter. Es kostete ihn nur eine Bewegung, und die Pistole flog in hohem Bogen aus Michaels Hand. Magnus bückte sich und hob die Waffe auf. Er wusste nicht, ob sie geladen war.

»Also gut«, sagte er grimmig zwischen den Zähnen. »Dann also auf diese Weise. Wer hier überflüssig ist, sind Sie. Frederike und Christine kommen mit mir. Sofort!«

Die beiden Männer starrten sich hasserfüllt an.

»Frederike geht nicht mit Ihnen, Frederike gehört zu mir. Und mein Kind wird in Amerika geboren.«

Magnus entsicherte die Waffe.

»Los! Hol Christine! Und dann gehen wir.«

Michael machte eine Bewegung auf Magnus zu, Magnus hob die Pistole, und Frederike sah ihm an, dass es ernst war. Sie schrie. Mit dem Fuß stieß sie einen Stuhl um. »Nein! Nein!« Sie warf sich vor Michael, da krachte der Schuss.

So war es.

Ich wollte nicht schießen – ich wollte nicht schießen. Ich wollte sie nur holen.

»Christine! Ich wollte euch holen. Ihr solltet mit mir nach Hause kommen. Christine, hörst du?«

Er blickte über die Schulter, sieht die stumme weiße Gestalt, die weit geöffneten Augen, das erstarrte Gesicht.

Er fährt an den Straßenrand und hält. Es ist die erste normale Regung seit Stunden.

»Du frierst ja. Du hast bloß ein Nachthemd an!«

Er steigt aus, nimmt seinen Mantel und will das Kind darin einwickeln. Mit einem erstickten Laut weicht es vor ihm zurück.

»Du wirst dich erkälten, Christine, bitte …«

Seine Stimme bricht ab.

Alles ist aus, alles ist verloren. Die Besinnung kehrt zurück. Er hat alles verloren – die Frau, das Kind, sein Leben.

»Komm, nimm den Mantel. Hast du Hunger? Willst du etwas trinken?« Hilflose, dumme Fragen.

»Vielleicht kannst du ein bisschen schlafen. Wir fahren weit fort von hier. Du wirst das vergessen, Christine, du …«

Da steht er auf der Landstraße, irgendwo in den Vereinigten Staaten von Amerika. Im Bundesstaat Vermont.

Es ist September. Man schreibt das Jahr 1949. Und alles ist zu Ende. Christine rührt sich nicht, ihre Augen sind starr wie die einer Toten, sie zittert. Vorsichtig deckt er sie mit dem Mantel zu. Streckt die Hand aus, um sie zu berühren, zieht sie zurück.

Die Hand des Mörders.

Auf einmal denkt er an seinen Vater. An Zuhause. An das Gut. Und dann denkt er: Flucht.

Natürlich – er muss fliehen. Die Richtung ist ganz falsch, er muss nach Norden fahren, zur kanadischen Grenze. Dieses Land ist so groß, da kann man Tage und Wochen fahren, es ist wie in Russland. Man fährt und fährt und fährt …

Kanada also!

Aber als er weiterfährt, bleibt er in der alten Richtung. Er weiß, dass er keine Grenze überschreiten kann. Er hat eine Grenze überschritten in dieser Nacht und hat sich damit selbst gefangen gesetzt. Die Freiheit, mit der er sich jetzt noch bewegt, ist ein Betrug, das weiß er. Sie werden die Toten finden, heute, morgen, vielleicht haben sie sie schon gefunden. Oben auf dem Hügel stand ein Haus, da war Licht in den Fenstern, ein Hund hat gebellt. Er hatte nichts gesehen und gehört, jetzt eben stellt sich heraus, er hat es doch gesehen, doch gehört.

Amerika ist groß. Hier kann sich jeder verstecken, jahrelang, ein Leben lang. Das hat man oft schon gelesen. Man muss nur weiterfahren, immer weiter. Aber er weiß, dass für ihn selbst Amerika nicht groß genug ist. Dass er sich nicht verstecken kann.

Als der Morgen dämmert, hält er wieder an, steigt aus. Er steht am Straßenrand, zündet sich eine Zigarette an. Er ist der einsamste Mensch auf der Erde. Verlassen, ausgestoßen. Er hat alles verloren, nur das Leben noch nicht. Und das braucht er nicht mehr. Wieder denkt er an seinen Vater. Er möchte nicht mehr an ihn denken, nie mehr. Der letzte Sohn. Einer starb als Kind. Der andere fiel im Krieg.

Nur er ist übrig geblieben. Gestern noch. Heute ist er mehr als tot. An die Toten kann man denken. Man kann um sie trauern, um sie weinen, für sie beten. Sein Vater wird nicht um ihn weinen, nicht um ihn trauern, nicht für ihn beten. Wird er an ihn denken? Nicht, wenn er es verhindern kann. Der alte Kamphoven gebietet so vielen, er kann auch seinen Gedanken gebieten.

Seine Mutter hätte geweint, gebetet und an ihn gedacht. Wie gut, dass sie tot ist. Wie gut, dass sie starb, im Winter nach dem Krieg. Wie war er unglücklich über den Tod seiner Mutter. Er hat sie nicht wiedergesehen; als er zurückkehrte aus der Gefangenschaft, war sie gestorben. Wie dankbar ist er jetzt, dass sie gestorben ist.

Im Wagen regt sich das Kind. Es schläft.

Und noch einmal, zum letzten Mal, denkt er an Flucht.

Er hat doch Christine. Sollte er um ihretwillen nicht doch versuchen, zu fliehen, sich zu verstecken. Und was dann? Wo soll er bleiben mit ihr? Einfach immer weiterfahren, immer tiefer nach Amerika hinein? Sie würde seine Flucht nur behindern. Ein Mann und ein Kind, man würde sie schnell finden.

Er wird sie irgendwo zurücklassen, bei einer Tankstelle, in einem Lokal, und dann allein weiterfahren. Den Wagen an eine Wand, an einen Pfeiler, in einen Abgrund lenken. Besser wäre es gewesen, die Pistole mitzunehmen.

Das alles sind nur Gedanken, er weiß bereits, was er tun wird. Er kriecht in den Wagen und beugt sich über Christine. Ihr Atem ist kurz und schnell, ihre Wangen sind heiß.

Ganz behutsam schiebt er die Arme unter ihren Rücken, hebt sie hoch und legt sein Gesicht an das heiße, fieberglühende Gesicht seiner Tochter. Er wird sie nie wiedersehen.

Er ist am Ende, in seinen Augen stehen Tränen. Warum, warum?

Christine erwacht, sie weiß nicht, wo sie ist, aber jemand hält sie im Arm, das tut gut.

»Christine«, sagt eine Stimme an ihrem Ohr, »du musst allein nach Hause fahren. Du gehst zum Großvater und du sagst ihm …« Seine Stimme bricht ab. »Du musst nach Hause fahren, Christine, hörst du!«

»Ja«, murmelt das Kind schlafbenommen, »ich will nach Hause.« Sie öffnet die Augen. »Wir fahren nach Hause, Papi …«

»Ich nicht. Nur du, Christine. Ich komme nie wieder nach Hause.« Er wickelt sie wieder fest in den Mantel, legt sie vorsichtig zurecht, dann fährt er weiter.

Bei der nächsten Abzweigung, die zu einem Ort führt, biegt er ab. Die Sonne scheint, es ist Tag geworden. Er achtet nicht darauf, wie das Städtchen heißt.

Am Straßenrand steht ein Molkereiwagen.

Er hält an und fragt den Milchmann nach der Polizeistation.

II In den Hügeln von Holstein

An der Koppel

Jon Hinrich Kamphoven blieb stehen, als er aus dem Waldstück trat, und schloss vor der Flut des Lichts die Augen. Wie eine leuchtende Woge stieg vor ihm der Rapsschlag hügelan, stieß an das Blau des Himmels, spiegelte im Gelb der Blüten das Sonnenlicht wider. Raps, so weit das Auge reichte.

Langsam ging Jon den schmalen Grasweg aufwärts, der am Waldrand entlangführte. Auf der Höhe des Hügels endete der Wald, doch nicht das Rapsfeld, es zog sich leicht gewellt talwärts bis zum Knick. Jon blieb unter der mächtigen Rotbuche stehen, die wie ein vorgeschobener Wachtposten, etwa zwei Meter entfernt vom Waldsaum stand, und blickte mit prüfenden Augen über den Schlag. Der Raps stand gut; hohe, kräftige Stängel, an denen die Blüten fast bis zum Boden reichten. Dies war sein größter Schlag, und er begann zu rechnen, wie viel Leute er für die Ernte brauchen würde. Auf jeden Fall musste er bis dahin einen neuen Schlepper haben. Besser zwei.

Der ganze Maschinenpark war erneuerungsbedürftig. Ohne den Polen wären die Geräte schon lange nicht mehr bewegungsfähig. Doch er hatte einen sechsten Sinn für Maschinen und Motoren, er reparierte auch noch das älteste Fahrzeug; stundenlang, mit unendlicher Geduld flickte er an den alten, klappernden Fahrzeugen herum. Irgendwann kam er dann strahlend über das ganze Gesicht zu Jon: »Geht es sich wieder, Chef, geht es sich gutt.«

Der Pole – er hieß Boleslaw, und darum nannten sie ihn Bole, woraus jedoch meist einfach Pole wurde – war jedes Mal gekränkt, wenn man ihn einen Polen nannte.

»Ich Deitscher. Vater Deitscher auch. Ich Deitscher wie ihr.« Seine Mutter war Polin gewesen. Er stammte aus der Gegend von Thorn und hatte von Jugend an in der Landwirtschaft gearbeitet, genau wie sein Vater auch. Gelegentlich schwärmte er von dem großen Gut, auf dem er aufgewachsen war. »War sich großes Gutt, groß wie hier. Noch greßer.«

Die deutsche Wehrmacht hatte bereits sein Talent für Motoren entdeckt, bei einer Pioniereinheit musste er eine Art Mädchen für alles beim Fahrzeugpark gewesen sein, und zusammen mit dieser Truppe war er vor den Russen geflüchtet. Auf abenteuerlichen Wegen war er nach Schleswig-Holstein gelangt, als hätte ein Instinkt ihn geleitet, um dahin zu kommen, wo er hingehörte, was ihm seit je vertraut war: die geschlossene, in sich vollkommene Welt eines Gutsbesitzes.

Er konnte so ziemlich alles, was man auf dem Lande können musste, er arbeitete unermüdlich, zählte nicht die Stunden, noch fragte er nach freiem Wochenende. Am wichtigsten jedoch für das Gut war seine Fähigkeit, die Fahrzeuge einigermaßen in Gang zu halten. Unmengen von Bier und Schnaps konnte er vertragen, aber auch wenn er betrunken war, blieb er so gutmütig wie zuvor, er war weder streitsüchtig noch bösartig, höchstens traurig wurde er. Besonders dann, wenn man ihn einen Polen nannte. Er wollte dazugehören zu dem Land, in dem er jetzt lebte, zu dem Gut, zu den Menschen hier.

Annemarie nannte ihn Polly. Und das hatten die Kinder übernommen. Die Kinder liebten ihn sehr; vor allem Winnie und der Flüchtlingsjunge waren meist da zu finden, wo der Pole war.

Pollys Zuneigung aber gehörte vor allem Christine. Wie viel er begriffen hatte von dem, was geschehen war, wusste niemand. Auf dem Gut wurde darüber nicht gesprochen. Niemals. Von keinem Mitglied der Familie und auch nicht von dem angestammten Personal. Falls sie untereinander davon sprachen, dann nie so, dass ein Außenstehender oder einer von den Neuen es gehört hätte.

Tatsache war, dass Polly das Kind Christine so behandelte, als sei es eine Prinzessin und er ihr Diener.

Für sie tat er alles.

Immerhin war er der erste, zu dem Christine gesprochen hatte. Und das räumte ihm zusätzlich eine Sonderstellung auf dem Gut ein, ohne dass je darüber ein Wort verloren worden wäre.

Die Sonne stand noch hoch an diesem Nachmittag Ende Mai, als Jon Kamphoven am Rande der gelben Flut abwärtsging. Jetzt kam die Zeit der kurzen, hellen Nächte, die er immer geliebt hatte. Die Sonne versank erst spät hinter den Hügeln von Ost-Holstein, der Tag schien kein Ende zu nehmen. Der Himmel war hoch, weit und hell, in den nächsten Wochen dunkelte er kaum.

Jenseits des Knicks waren Jährlinge auf der Koppel. Es waren nur drei in diesem Jahr, drei kleine Hengste, ein Schwarzbrauner und zwei Füchse. Es war in diesem Jahr kein Fohlen gefallen, es gab auch nur noch zwei Stuten auf dem Gut. Golda, die Fuchsstute, hatte Jon im vergangenen Jahr an den Friedrichshagener verkauft, was er inzwischen sehr bereute. Ihr Sohn hatte sich gut herausgemacht. Aber zuvor hatte sie zweimal verfehlt, und im letzten Jahr war sie güst geblieben.

Da der Friedrichshagener sie partout wollte und einen guten Preis bot, hatte Jon sich von ihr getrennt. Sie hatten in Friedrichshagen einen eigenen Deckhengst, angeblich sollte sie tragend sein. Blieb abzuwarten, ob es diesmal gut ging.

Andererseits – was sollte die Pferdezucht noch. Kein Mensch kaufte heute Pferde, es war unnötiger Luxus. Nur brachte es Jon nicht fertig, sich von den Pferden zu trennen. Der Friedrichshagener auch nicht.

»Kömmt all wedder«, sagte der immer. »Ohne Pferd kann der Mensch nicht lewwen.«

Eine Weile sah Jon den jungen Hengsten zu, die eben dabei waren, einen erbitterten Kampf um die Vorherrschaft auf der Koppel auszutragen. Der Dunkle war der kräftigste von den dreien und würde wohl Sieger bleiben. Doch dieser kleine Fuchs mit dem weißen Stern, Goldas Sohn, war ein Teufelskerl, wendig und schnell wie der Blitz. Immer wieder gelang es ihm, einen Biss oder einen Schlag anzubringen. Und ehe ihn einer erwischte, war er fort. Goldblitz hatten sie ihn getauft, der Name passte gut zu ihm.

Jetzt hatte Goldblitz ihn entdeckt, er unterbrach das Kampfspiel mit den anderen und kam auf seinen hohen, noch ungelenken Beinen angaloppiert. Der Mensch da am Koppelzaun erregte seine Neugier, vielleicht ließ es sich mit dem auch gut spielen.

Jon hatte beide Arme auf den Zaun gelegt, also knabberte Goldblitz erst einmal an den Ärmeln seiner Jacke, doch ehe es ihm gelang, ein Stück herauszureißen, gab Jon ihm einen leichten Klaps auf die Nase. Das war für den kleinen Hengst eine Aufforderung zu einem neuen Spiel. Wie ein Verrückter hopste er am Zaun entlang, warf den Kopf hoch, schnaubte vor Begeisterung und warf die Beine in die Höhe.

Jon Kamphoven verzog den Mund. Früher hätte er vielleicht gelächelt. Heute lächelte er nicht mehr. Sein Gesicht war versteinert wie sein Herz. Der andere Fuchs kam nun auch neugierig herbei. Nur der Schwarzbraune nicht. Der trollte sich hinüber zum Knick und steckte dort die Nase ins Gebüsch.

Jon kniff die Augen zusammen. Da war doch was …

Kaum sichtbar in dem dichten Bewuchs, verborgen zwischen den Hecken, eine kleine, schmale Gestalt. Christine!

Der Schwarzbraune schien zu wissen, dass sie dort war, er machte den Hals lang, bis er mit den Nüstern das Kind erreichte und schnoberte zärtlich an seiner Schulter herum. Christine merkte, dass sie entdeckt worden war. Sie hatte sich tiefer ins Gebüsch verkrochen, als sie ihren Großvater auftauchen sah. Aber nun hatte Cornet sie verraten. Sie stand auf und streichelte das Pferd.

»Geh zurück auf die Koppel«, sagte sie. »Du wirst hier im Gestrüpp hängen bleiben.«

Polly, der Pole, war der erste Mensch gewesen, zu dem sie gesprochen hatte. Mit den Tieren sprach sie schon länger.

Sie ging langsam den Knick entlang auf ihren Großvater zu. Jon ging ihr entgegen, an der Ecke der Koppel trafen sie zusammen. Jon, groß und hager, straff in den Schultern, ungebeugt, blickte auf sie hinab, ohne eine Miene zu verziehen. Und Christine blickte mit der gleichen unbewegten Miene zu ihm auf.

Sie wussten beide immer noch nicht, wie sie zueinander standen. Es gab niemanden im Leben von Jon Kamphoven, den er liebte. Keinen mehr. Wenn er einen hätte lieben können, dann vielleicht dieses Kind. Aber er konnte nichts mehr fühlen. Christine fürchtete sich ein wenig vor ihm. Aber es gab dennoch eine eigenartige Verbindung zwischen ihnen seit damals, seit er sie selbst in Amerika abgeholt hatte.

Es war der erste Flug seines Lebens gewesen.

Seinen Sohn wollte er nicht sehen. Auch Magnus Kamphoven hatte nicht den Wunsch geäußert, seinen Vater zu sprechen. Sie wollten einander die Scham und den Schmerz ersparen, das wussten sie voneinander ganz genau, auch wenn die anderen Menschen sie nicht verstanden.

Dafür hatte Jon mit dem Staatsanwalt gesprochen, mit der Untersuchungsbehörde, und hatte knapp und ohne Beschönigung alles gesagt, was zu diesem Fall zu sagen war. Dann hatte er sich einen Rechtsanwalt empfehlen lassen, einen bekannten und teuren Strafverteidiger, und hatte ihn mit der Verteidigung seines Sohnes beauftragt. Der Anwalt hatte den geforderten Vorschuss bekommen und auch nach dem Prozess umgehend die gesamte Summe, die ihm zustand. Das war unter anderem der Grund, warum auf dem Gut noch keine neuen Maschinen angeschafft worden waren.

Ein Doppelmord blieb ein Doppelmord – auch der beste Verteidiger konnte daran nichts ändern. Er konnte aus dem Mord einen Totschlag machen und mit der Vorgeschichte an das Mitgefühl der Geschworenen appellieren. Genau besehen war Magnus Kamphoven mit zwanzig Jahren gut weggekommen. Der Krieg war noch nicht lange her, die Deutschen genossen wenig Sympathien in den Vereinigten Staaten. Aber Magnus Kamphoven machte einen guten Eindruck auf die Geschworenen, er hatte sich selbst gestellt, gab alles zu, er war weder verbockt noch arrogant. Man sah ihm an, wie er litt unter dem, was geschehen war. Aber nun war er jedenfalls so gut wie tot.

Für seinen Vater ganz gewiss.

Jon fand das Kind in einem Heim für nervengestörte Kinder. Zuerst war es in einem Krankenhaus gewesen, dann – nachdem keiner imstande gewesen war, ihm auch nur ein Wort zu entlocken – hatte man es in dieses Heim gebracht.

Man hatte Jon vorbereitet, es war ein Dolmetscher geholt worden, der mit den Fachausdrücken der Psychotherapeuten vertraut war und der ihm den ganzen Fall verdeutschte.

Was das Kind gesehen und erlebt hatte, wusste man nur von Magnus, nicht von dem Kind selbst. Das Kind schwieg.

Es bewegte sich wie eine Marionette, stumm und starr, und auch das nur, wenn man es dazu zwang. Anfangs hatte man es künstlich ernährt, denn es wollte nicht essen. Später ließ es sich wenigstens füttern, und als einen großen Fortschritt bezeichneten es die Ärzte, als es selbst aß, wenn auch lustlos und nur wenig.

Man hatte eine Deutsch sprechende Pflegerin ins Heim geholt, später sogar ein Deutsch sprechendes Kind, weil man hoffte, dadurch Christines Schweigen zu brechen. Es blieb erfolglos. Eine jahrelange Behandlung würde wohl nötig sein, meinten die Ärzte, bis man das Kind einigermaßen stabilisieren könne. Vielleicht aber war der Schock so nachhaltig, dass die Sprach- und Nervenhemmung für immer zurückbleiben würde. Man müsse abwarten.

Jon hatte sich das alles angehört, starr und schweigend wie das Kind. Dann hatte er gesagt, er habe verstanden, und nun wolle er seine Enkeltochter sehen und mitnehmen nach Deutschland.

»Mitnehmen?«

»Mitnehmen – selbstverständlich. Was sonst?«

Der Blick seiner grauen Augen war voll Kälte und so voll Abwehr, dass keiner mehr etwas sagte.

Genau genommen waren sie ja auch nicht scharf drauf, dieses kranke Kind zu behalten, ein deutsches Kind zudem, das Kind eines Doppelmörders, und bezahlt werden musste schließlich auch für die Behandlung. Obwohl der Fall natürlich ganz interessant war.

Als man Christine brachte, benahm sie sich genauso, wie man es Jon geschildert hatte. Immerhin schien sie ihn zu erkennen, denn sie sah ihn an. Und er merkte sofort, dass ihr Ausdruck zwar starr, aber nicht stumpf war. Sie war auch sehr gewachsen, war groß für ihr Alter, und furchtbar dünn. Aber sie sah nicht krank aus. Das dunkelblonde Haar hatten sie ihr mit einem Band am Hinterkopf zusammengebunden, das machte das kleine, magere Gesicht noch blasser und schmaler.

Jon versuchte nicht, ein Gespräch zustande zu bringen, er stellte keine Fragen, beugte sich nicht einmal hinab zu dem Kind, berührte es nicht, er sagte nur in gelassenem Ton: »Komm, wir fahren nach Hause, Christine!«

Und es geschah, was die Ärzte in tiefes Erstaunen versetzte: Das Kind sprach zwar auch jetzt kein Wort, aber es nickte. – Es nickte, und sein Blick war nicht mehr so leer.

Der Flug über den Atlantischen Ozean verlief im tiefsten Schweigen, was die Stewardessen außerordentlich irritierte. Die beiden Passagiere aßen und tranken zwar, was man ihnen vorsetzte, der Alte sagte wenigstens ›danke‹, das Kind sagte gar nichts. Miteinander sprachen sie kein Wort, blickten sich kaum an.

Jon hatte das Schweigen des Kindes akzeptiert und übernommen. Er dachte sich folgerichtig, dass man in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder und in quälender Weise auf das Kind eingesprochen hatte, aber alle Versuche, es zum Sprechen, zum Leben zu bringen, waren erfolglos geblieben – also besser, man ließ es zunächst in seinem Käfig und in Ruhe. Keineswegs aber dachte er daran, das Kind wieder in psychiatrische Behandlung zu geben, wie die Ärzte in Amerika ihm eindringlich nahegelegt hatten. Davon hielt er gar nichts.

Entweder sie würde geheilt auf Breedenkamp und von Breedenkamp oder sonst vermutlich nirgends und von niemandem. Das war seine Ansicht. Sie war richtig.

Natürlich beteiligten sich die anderen auf dem Gut nicht an ihrem Schweigen.

Annemarie, lebhaft, gesprächig – schwatzhaft nannte es Jon –, redete sowieso, wo immer man sie traf, sie redete laut und viel und lachte oft. Was Jon ihr übel nahm, denn es gab auf Breedenkamp keinen Grund mehr zum Lachen. War nicht ihr Mann gefallen? Ihr Schwager in einem amerikanischen Zuchthaus?

All das konnte Annemarie das Lachen nicht abgewöhnen, und Winnie war genau wie sie. Alwine, ihre und Henning Kamphovens Tochter, lachte und schwatzte wie ihre Mutter. Ein bildhübsches, unbekümmertes Kind mit hellblondem Haar und blauen Augen; zu der Zeit, als Christine heimkehrte, gerade sechs Jahre alt.

Jedermann auf dem Gut liebte Winnie. Die Leute im Dorf liebten Winnie ebenso wie die Leute in Lütjenburg, sogar die Leute in Eutin und in Malente, ganz egal, wo Winnie hinkam, sie gewann jedes Herz. Und sie kam viel in der Gegend herum, denn Annemarie hatte viele Freunde und Bekannte, sie war genauso beliebt wie ihre Tochter, und so oft es sich ermöglichen ließ, entfloh sie der tristen Atmosphäre des Guts. Winnie war immer dabei, immer der verhätschelte und gestreichelte Mittelpunkt, ein Sonnenkind, ein Glückskind, der geborene Liebling, und das sollte sie ihr Leben lang bleiben. Fast immer.

Die schweigsame, ernste Christine war ihr ein wenig unheimlich, aber sie war noch zu klein, als dass man ihr hätte erklären können, was ihrer Cousine widerfahren war. Winnie gewöhnte sich daran, von Christine keine Antwort zu bekommen, nach einiger Zeit störte es sie nicht mehr. Die Tiere, von denen Winnie, wo sie ging und stand, umgeben war, sprachen schließlich auch nicht. Sie waren stumm wie Christine, aber deswegen liebte man sie doch.

Annemarie hatte gesagt: »Du musst sehr, sehr lieb sein zu Christine. Christine war krank, weißt du. Sie ist manchmal traurig. Und darum musst du immer lieb zu ihr sein.«

Man hätte das Winnie nicht zu sagen brauchen. Sie war sowieso lieb zu jedem. Sie schleppte alles herbei, von dem sie glaubte, es könne Christine erfreuen – ihre Spielsachen, den Kuchen, den man ihr in der Küche zusteckte, das erste reife Obst, sogar das Kleid, das sie am liebsten anzog. Und natürlich die Tiere; sie brachte die jungen Kätzchen, den großen dicken grauen Kater, auch der ließ sich widerspruchslos von ihr herumschleppen, obwohl sie ihn kaum tragen konnte, er plumpste ihr immer wieder durch die Arme, denn er war viel zu schwer, sie brachte Potz, den alten Boxer, und die beiden Promenadenmischungen, die auf dem Hof herumtobten, sogar Basso, den Jagdhund ihres Großvaters, obwohl es ihr strikt verboten war, ihn anzufassen und ihrer Menagerie einzuverleiben. Und sie brachte die schwarze Stute Corona, die sich von der winzigen Person willig am Halfter führen ließ.

All das tat sie zu Christines Unterhaltung und Aufheiterung. Der erste Fortschritt war, dass Christine die Tiere streichelte. Dass sie mitging, wenn Winnie die Stute in den Stall zurückbrachte. Dass sie mit hineinkroch in die kleinen Boxen der Kälber oder zusammen mit Winnie die rosigen quiekenden Ferkel kraulte.

Niemand quälte Christine. Man sprach zu ihr, drängte sie jedoch zu keiner Antwort. Sie lebte das Leben der anderen mit, aß mit ihnen und mit der Zeit – das beobachtete Annemarie mit großer Befriedigung, und auch Jon registrierte es – aß sie mehr und offensichtlich mit Appetit.

Nur mit dem Schlafen war es schwierig. Vor dem Zubettgehen hatte sie Angst. Ihre Augen wurden immer größer und dunkler und ganz starr, wenn Schlafenszeit war. Man legte die Kinder schließlich zusammen in ein Zimmer, obwohl das Gutshaus groß genug war, sodass jeder sein eigenes Zimmer hätte haben können.

Wenn Annemarie nach den Kindern sehen kam, schlief Winnie fest, den blonden Kopf tief in die Kissen gekuschelt, Christine lag regungslos mit weit offenen Augen. Annemarie versuchte einige Male, ihr etwas vorzusummen, jedoch es schien, als höre sie es gar nicht.

Aber mit der Zeit gab sich auch das, sie schlief leichter ein, die frische Luft, die Bewegung im Freien, das kräftige Essen, halfen dazu. Nur dass sie oft in der Nacht aufwachte und schrie. Schrie, laut und gellend, dass man es im ganzen Haus hörte.

Dann erwachte sogar Winnie aus ihrem Murmeltierschlaf. Instinktiv hatte sie die beste Idee. Sie kroch zu Christine ins Bett, machte »Psch, Psch!« wie sie es von ihrer Mutter gehört hatte, und dann schliefen beide Kinder wieder ein.

Natürlich versuchte immer wieder einer, Christine zum Sprechen zu bringen, so Telse, die Wirtschafterin. Wohl die einzige auf dem Gut, die sich von Jon Kamphoven nicht viel sagen ließ. Schließlich hatte sie alles miterlebt und verstand es viel besser als er. Das war ihre Meinung.

Sie gab sich alle Mühe, Christine ein Wort zu entlocken. Erzählte von früher, als Christine noch ganz klein war, erzählte Geschichten und kleine Begebenheiten, die damals passiert waren, fragte: »Weißt du es nicht mehr, Christinchen?«

Christine hörte zu. Das war schon viel.

Der Pole Polly brachte sie eines Tages zum Sprechen.

Die Kinder sahen ihm gern zu, wenn er die Fahrzeuge reparierte. Auch der Flüchtlingsjunge war dabei, er half mit Begeisterung, kroch mit Polly zusammen unter den Wagen herum und war genauso ölverschmiert wie Polly selbst.

Polly, seine Werkzeuge handhabend wie ein Jongleur, sagte manchmal zu einem der Kinder: »Da! Halt mal!« oder: »Nu gib mich mal den Hammer her, da drieben liegt 'r!«

Einmal suchte er lange nach einem Stück Kabel, fluchte lästerlich, als er es nicht fand, kroch auf dem Boden herum, die Kinder suchten mit, und auf einmal rief Christine ganz natürlich, ganz selbstverständlich: »Da drüben liegt es, unter dem Sack.«

Sie erschraken alle und starrten sie sprachlos an.

Christine selbst war nicht im Mindesten erschrocken über ihre eigene Stimme, sie hatte bereits den Sack angehoben und zerrte das Kabel darunter hervor.

»Nu sieh ok«, staunte Polly, »du kannst ja reden mittemal.« Für Christine war es insofern keine Sensation, weil sie den Klang ihrer eigenen Stimme seit einiger Zeit gewöhnt war, denn sie hatte mit den Tieren schon gesprochen. Mit den Kühen auf der Weide, den Pferden auf der Koppel oder im Stall, mit den Hunden und Katzen. Und mit dem blauen Vogel. Der blaue Vogel war der erste, zu dem sie sprach. Und da war sie wirklich erschrocken, als sie sich selbst hörte.

Dabei war der blaue Vogel nur gemalt. In dem großen Gartenzimmer, in das man gelangte, wenn man die breite, tiefe Diele durchschritt, die die Mitte des alten Holsteiner Gutshauses bildete und von der alle Räume abgingen, befand sich das Bildnis des blauen Vogels. Das Gartenzimmer war nahezu ein Saal, es reichte fast über die ganze Länge des Hauses. Von dort gelangte man auf die Terrasse, auf der man früher an warmen Sommerabenden gesessen hatte – früher – als in diesem Haus noch glückliche Menschen lebten und oft Gäste kamen.

An der kurzen westlichen Seite des Gartenzimmers befand sich das Bild. Es war auf Holz gemalt und sehr alt, ganz nachgedunkelt, wodurch es aber eine geheimnisvolle Tiefe gewonnen hatte, die das naive Bild ehemals kaum besessen haben mochte. Es war eine Landschaftsszene, in grüngoldenen Farben gehalten, die heute einen bräunlichen Ton angenommen hatten: Bäume, Büsche, ein Stück Wiese, allerlei Tiere, Fasanen, Rehe, ein großer Hirsch mit prächtigem Geweih trat gerade aus dem Wald in der rechten Ecke heraus; jedes Detail war sehr genau ausgeführt. Und auf dem herausragenden Zweig eines Busches saß ein blauer Vogel, der die Flügel breitete, als wolle er gerade wegfliegen. Übrigens leuchtete das Blau, in dem der Vogel gemalt war, von allen Farben noch am kräftigsten.

Das Haus war sehr alt, und bevor es die Familie Kamphoven mitsamt dem Landbesitz erworben hatte, war es von einem alten Holsteiner Geschlecht bewohnt worden, den Breedens, das seine Herkunft bis auf Nachkommen der Schauenburger Grafen zurückführte. Es gab eine alte Chronik, die jedoch so verblichen und zerfleddert war, dass eigentlich keiner viel mit ihr anzufangen wusste.

Die Kamphoven waren Bauern, die wenig Wert auf alte Legenden legten, und so war es unterblieben, die Chronik von einem Experten durchforschen zu lassen.

In der Chronik war die Rede von einem blauen Vogel. Sein Erscheinen bedeute Glück und Wohlstand, sein Ausbleiben Kummer und Not, so ungefähr konnte man es entziffern, wenn man sich die Mühe machte, die gewundenen umständlichen Sätze aneinanderzureihen. Halten könne ihn keiner, denn die Sehnsucht treibe den blauen Vogel über Flüsse, Wälder und Meere in die Ferne. Das Heimweh jedoch bringe ihn zurück, irgendwann, und mit ihm kehre das Glück ins Haus zurück. Wie gesagt, es hatte sich nie jemand sonderlich für die alten Kritzeleien interessiert.

Frederike hingegen, die aus einer alten Adelsfamilie stammte, hatte Sinn für diese Dinge. Sie war von der Chronik fasziniert gewesen und hatte sich immer wieder in sie vertieft, stolz, wenn es ihr gelungen war, einige Sätze oder einen ganzen Absatz zu entziffern. Der blaue Vogel hatte es ihr besonders angetan.

Christine war noch ein ganz kleines Mädchen, als ihre Mutter ihr das Bild zum ersten Mal gezeigt und die Geschichte dazu erzählt hatte.

»Der blaue Vogel bringt uns Glück«, hatte Frederike gesagt. »Aber er ist fortgeflogen, weil Krieg ist.«

Christine verstand noch nicht, was Glück war, auch nicht was Krieg bedeutete.

Einmal sagte ihre Mutter: »Die Sehnsucht hat den Vogel fortgetragen, über Flüsse, Wälder und Meere. Wenn er doch nur bald wiederkäme.« Und später dann, als sie den fremden Mann liebte, sagte Frederike: »Ich bin wie der blaue Vogel. Ich habe Sehnsucht – Sehnsucht, ich möchte fortfliegen.«

»Was ist das, Sehnsucht?«, fragte Christine, damals etwa sechs Jahre alt.

»Das kann man nicht erklären, das kann man nur fühlen. Das ist hier – weißt du, hier« – und Frederike legte ihre Hand mit den langen, blassen Fingern auf ihr Herz.

»Du darfst nicht fortfliegen, Mami.«

»Nein, Liebling. Und wenn ich doch fortfliege, nehme ich dich mit, das verspreche ich dir.«

»Wohin fliegen wir?«

»Weit, weit fort, in ein fremdes Land. In einen anderen Erdteil. Da ist ein ganz großes Land, weißt du. Da sind die Menschen immer glücklich, da gibt es keinen Krieg, da sind sie reich.«

»Ist der blaue Vogel dort hingeflogen?«

»Ja, dorthin ist der blaue Vogel geflogen. Ich weiß es ganz genau. Und da möchte ich auch hin.«

»Ich nicht. Ich möchte hierbleiben.«

»Dort wird es dir viel besser gefallen, Liebling. Die Menschen sind dort immer glücklich. Sie haben alles zu essen, was sie wollen. Und schöne Kleider. Und es gibt dort große Städte mit ganz hohen Häusern.«

»Sind das andere Menschen?«

»Ganz andere Menschen. Sie sprechen auch eine andere Sprache. ›Blue bird‹, so heißt der blaue Vogel dort.«

Christine war noch nicht sehr lange wieder in Breedenkamp, da stand sie vor dem Bild, sie war allein, sah zu dem Vogel auf, plötzlich hob sie die Hand, ballte die Faust und schlug wild auf das Bild ein. Sie reichte nicht bis hinauf, wo der Vogel war, sonst hätte sie ihn geschlagen.

»Du sollst tot sein, blauer Vogel, tot« … stieß sie hervor, und das waren wirklich die ersten Worte, die sie sprach, seit jener Nacht. Sie erschrak furchtbar vor dem Klang ihrer eigenen Stimme, drehte sich um, rannte fort und verkroch sich im Stall. Damit jedoch war der Bann gebrochen. Da sie sich vor den Menschen schämte, sprach sie zunächst nur zu den Tieren. Bis ihr die eigene Stimme wieder so vertraut war, dass sie eines Tages ganz gelassen sagte: »Da drüben liegt es, unter dem Sack.«

Für die anderen hatte ein Stück Kabel sie von ihrer Stummheit erlöst. Es war ein großes Ereignis. Polly erzählte es Annemarie, die erzählte es Telse und den anderen, und als Jon heimkam, erfuhr er es auch.

Er sagte gleich, man solle nichts weiter daraus machen und so tun, als ob es nichts Besonderes wäre. Das taten sie alle, und so war es wohl richtig. Von da an sprach Christine. Nicht viel, es war immer nur hier und da eine Bemerkung, aber es war doch ein gewaltiger Fortschritt. Sie wussten es alle, und Christine begriff es in gewisser Weise auch.

Es war im Herbst gewesen, etwa ein Jahr nach dem unheilvollen Geschehen in den Hügeln von Vermont. Und nun war es Mai, der Raps blühte. Jon und seine Enkeltochter standen nebeneinander am Koppelzaun, schweigend wie meist, und blickten auf die jungen Pferde. Der Schwarzbraune war Christine gefolgt, mit schönem Schwung, den schmalen Kopf mit der schiefen weißen Blesse hoch erhoben, war er am Knick entlang getrabt, und nun stand er da und blickte mit seinen großen, glänzenden Augen die beiden Menschen an. Goldblitz und Lord, die beiden Füchse, sprangen um ihn herum, bereit, Kampf und Spiel fortzusetzen. Aber Cornet beachtete sie nicht. Die Menschen interessierten ihn mehr.

Überraschend brach Jon das Schweigen. »Jessen möchte den Cornet auch haben. Er meint, der hätte die besten Aussichten, als Zuchthengst gekört zu werden.«

»Nein, Großvater«, sagte Christine schnell.

»Den Goldblitz will er auch nehmen, sagt er.«

»Nein, Großvater«, wiederholte Christine, diesmal in sehr entschiedenem Ton.

»Was heißt nein?« Jon löste den Blick von den Pferden und blickte auf Christine hinab. »Ich brauche keinen eigenen Zuchthengst. Und verkaufen muss ich sie sowieso. Wenn sie gelegt werden, geben sie gute Reitpferde ab, alle drei. Zur Arbeit auf dem Feld sind sie nicht zu gebrauchen. Und wer kauft heutzutage Reitpferde? Kein Mensch. Ein Stutfohlen brauchen wir.«

»Du hast gesagt, Corona bekommt wieder ein Fohlen.«

»Ja, vielleicht. Wenn alles gut geht.«

Golda, die er an Jessen verkauft hatte, und dieser Schwarzbraune hier, wenn der erst so weit war, seinen ersten Sprung zu tun, das musste eine gute Mischung geben. Golda, die zierliche, elegante Stute mit ihrem nervösen Temperament, und dieser ruhige Cornet mit der stolzen Haltung, sie würden schöne Fohlen bekommen, das schien Jon sicher.

Aber das waren müßige Gedanken. Mit der Pferdezucht war es ein für alle Mal vorbei, das sagte jeder. Warum konnte er nicht endlich damit aufhören?

Weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass man in einer Welt ohne Pferde auch leben konnte. Darum.

Weil er einfach in einer Welt ohne Pferde nicht leben wollte. Darum. Wenn Magnus …

Er unterbrach seinen eigenen Gedanken sofort. Dieses herrische Gesetz, das er sich selbst gegeben hatte, hielt er eisern. An Magnus durfte man nicht einmal denken.

Er war gegen alle hart, aber am härtesten gegen sich selbst. Wenn er sich gestattet hätte, an Magnus zu denken, über sein Schicksal nachzugrübeln, sich das Leben auszumalen, das sein ältester Sohn jetzt führte, dann, das wusste er ganz genau, würde es für ihn unmöglich sein, sein eigenes Leben weiterzuleben, seine Arbeit zu tun, das Gut zu bewirtschaften. Denn dann hätte er sich vor allem fragen müssen, für wen er diese Arbeit tue.

Nur ganz selten, in den Nächten, in denen er nicht schlafen konnte, dachte er an Magnus.

Nach einer solchen Nacht stand er noch früher auf als sonst und verschwand mit dem Hund in den Wäldern. Und dann bekam man ihn den ganzen Tag über nicht zu sehen. Oder er nahm den Wagen und fuhr fort. Er fuhr bis nach Kiel. Wo der Mann lebte, der sein einziger Freund war. Falls Jon Kamphoven so einen Ausdruck jemals gebraucht hätte, was er natürlich nicht tat. Dr. Friedrich Bruhns, Rechtsanwalt in Kiel, wusste genau, was der Besuch Jon Kamphovens zu bedeuten hatte. Es war wieder einmal die Stunde gekommen, wo sein Freund vor einer Mauer stand, an der er sich den harten Holsteiner Schädel blutig schlug.

Bruhns wusste auch, dass Jon nicht immer reden wollte.

Manchmal wollte er nur bei ihm sitzen und trinken. Wenn er reden wollte, musste er von selbst anfangen. Auf jeden Fall versuchte Bruhns an so einem Tag so viel Zeit wie möglich für Jon aufzubringen. Er kürzte Besprechungen ab, er schlug seiner Frau vor, Tochter und Schwiegersohn oder eine Freundin zu besuchen.

Hedda Bruhns seufzte, stellte eine kräftige Mahlzeit bereit und ging. Und dann saßen die beiden Männer den Nachmittag, den Abend und manchmal die ganze Nacht zusammen. Sie schwiegen oder sie redeten, und vor allem tranken sie. Über Magnus sprachen sie dennoch selten. Das erste Mal, als Jon aus Amerika zurückkehrte, das zweite Mal, als der Prozess zu Ende und das Urteil gesprochen war. Aber im Grunde genommen – auch wenn der Name fiel, und die Themen ihrer stundenlangen Debatten Gott und die Welt betrafen – sprachen sie immer über Magnus. Das wusste Bruhns sehr genau. Wenn alle Flaschen geleert waren, brachte Bruhns seinen Freund ins Gastzimmer, wo eine Flasche Mineralwasser auf dem Nachttisch stand, sagte: »Na, dann schlaf mal 'n Stück.«

Jons Augen waren gläsern, sonst merkte man ihm die Trunkenheit nicht an.

Hedda Bruhns wachte jedes Mal auf, wenn ihr Mann, meist nicht sehr leise, ins Schlafzimmer kam. Anfangs hatte sie geschimpft. »Lass man, das verstehst du nicht. Das muss sein«, bekam sie dann zu hören. Jetzt sagte sie nichts mehr. Vielleicht musste es wirklich sein. Und es kam ja nicht oft vor. Schon eher erlaubte es sich Jon, an Henning zu denken. Henning, der irgendwo in Russland begraben war. Obwohl es nahelag, wenn man an Henning dachte, auch an Magnus zu denken, denn die Brüder waren einander sehr ähnlich gewesen, jedenfalls äußerlich. Magnus war immer sehr ernst gewesen, ruhig und besonnen, Henning war von heiterem Wesen, unbeschwert, vielleicht gerade darum hatten die beiden sich gut verstanden. Sie ergänzten sich. Gute Reiter waren sie beide gewesen, die Pferde bedeuteten ihnen so viel, wie sie dem Vater bedeuteten.

Darum lag es natürlich nahe, jetzt hier an der Koppel, beim Anblick der jungen Hengste, zu denken: Wenn Magnus …

Und natürlich musste man sich die Fortführung dieses Gedankens sofort verbieten. Denn sonst musste man unweigerlich dazu kommen, sich zu fragen: Wie soll er es ertragen, eingesperrt, festgehalten, verlassen und verloren, keinen Wind auf seinem Gesicht, keine Luft in seinen Lungen und niemals ein Pferd unter sich zu spüren.

»Nein, Großvater«, sagte Christine zum dritten Mal, und es klang geradezu energisch. »Du darfst Cornet nicht verkaufen.«

Ihre kleine Hand lag auf dem Koppelzaun, und der Schwarzbraune hatte seine rosigen, weichen Nüstern daraufgelegt, sie schnoberten verspielt an der Kinderhand herum.

»Was heißt, ich darf nicht? Ich kann weder drei Hengste brauchen noch drei Wallache. Ich kann überhaupt keine Pferde mehr brauchen. Wenn der Friedrichshagener es fertigbringt, dass er gekört wird …«

»Ich züchte weiter«, hatte Jessen vom Gut Friedrichshagen gesagt, der nächste Nachbar von Breedenkamp. Jessens Gut, mit fast 600 Hektar, war noch ein ganzes Stück größer als Breedenkamp. »Keine Pferde mehr? So was gibt's nicht. Menschen ohne Pferde sind Krüppel. Eines Tages werden sie es schon merken. Auf jeden Fall will ich kein Krüppel sein. Und meine Kinder auch nicht.«