Der Schatten des Adlers - Utta Danella - E-Book + Hörbuch

Der Schatten des Adlers Hörbuch

Utta Danella

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  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Wien in den 70er-Jahren. Severin Lanz hat wegen Totschlag zwei Jahre im Gefängnis verbracht. Ein Moment des Zorns, als er erfuhr, dass sein Freund nicht nur Geld der gemeinsamen Firma unterschlagen hat, sondern auch ein Verhältnis mit seiner Frau hatte. Josy, seine Schwester, die immer zu ihm gehalten hat, ist froh, als er durch die Vermittlung seines Anwalts eine Stelle bei Otto Kaiser, dem „Holzkaiser“, erhält. Er soll das Sägewerk, das unterhalb des Schlosses des Grafen Solmassy im Glainzer Tal liegt, wieder auf Vordermann bringen. Im Schneetreiben auf der Fahrt in die steirischen Alpen begegnet er einer geheimnisvollen Frau … und bei seiner Ankunft im Tal ist Otto Kaiser tot. Wer war der reiche Otto Kaiser, dessen wechselvolle Geschichte in den Kriegs- und Nachkriegsjahren sich nach und nach offenbart, und welche Rolle spielt das verschwundene Messer mit dem Adlerkopf?

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Zeit:10 Std. 12 min

Sprecher:Björn Boresch

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Utta Danella

Der Schatten des Adlers

Roman

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Utta Danella: Der Schatten des Adlers. Roman

Copyright ©2016 by Erbengemeinschaft Utta Danella vertreten durch AVA international GmbH, Germany

Die Originalausgabe ist 1971 im Schneekluth Verlag, Darmstadt erschienen.

Überarbeitete Neuausgabe ©2020 by hockebooks gmbh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von Matyas Rehak/shutterstock.com

ISBN:978-3-957-51351-9

www.uttadanella.de

www.ava-international.de

Der Schatten des Adlers

Es wurde Nachmittag, bis ich die Stadt verließ. Eigentlich hatte ich vorgehabt, vormittags so gegen elf zu starten, und nun hatte ich den halben Tag mit Abschiednehmen vertrödelt. Als ich über die Wiedner Hauptstraße aus Wien hinausfuhr, hatte ich alle Mühe, das sentimentale Gefühl zu bekämpfen, das mir da irgendwo zwischen Herz und Kehle rumorte. Früher hatte ich mich für einen ziemlich harten Burschen gehalten, zumindest war ich nie rührselig gewesen. Aber heute – das war einfach zu viel Gefühl geworden; schon am Morgen, als Josy geweint hatte, und dann als ich das Jannerl zum letzten Mal auf dem Arm hielt, war mir nach Heulen zumute. Kaum zu glauben so was.

Dass es so schwer war, sich selbst wiederzufinden! Aber wusste ich denn überhaupt noch, wer ich war, was von mir übrig geblieben, wo ich den Mann suchen sollte, der ich früher einmal war? Ein verfluchtes Gefühl, wenn man sich in so einem Nirgendwo befand, in einer Art Niemandsland, wenn man an gestern nicht mehr denken wollte und es doch immer tun musste, und an morgen nicht denken konnte, weil es kein Morgen gab.

Stopp. Das stimmte nicht mehr. Ein Morgen gab es, und eben begann es. Es würde gut sein, sich darauf einzustellen, vorwärtszuschauen und nicht mehr zurück.

Überhaupt bestand im Grunde für düstere Gedanken gar kein Anlass. Man hatte mir so viel Anteilnahme und Freundschaft entgegengebracht in den vergangenen Monaten, dass ich fairerweise von mir aus jetzt die Zuversicht aufbringen musste, mein Leben weiterzuleben und mit dem Rest etwas anzufangen. –

Es musste mir einfach gelingen, an so etwas wie eine Zukunft zu glauben. Ich war nicht mehr der Mann, der vor vier Monaten nach Wien zurückkehrte; der war uralt gewesen, erstarrt, vereist, für den gab es kein normales Leben, keine Hoffnung, keine Zukunft. Der war eigentlich schon tot. – – –

Heute war es doch anders. Ich lebte wieder, ich konnte denken, fühlen, sogar planen. Oder ich versuchte es zumindest. Natürlich gab es keine Verbindung mehr zu dem Mann, der ich früher einmal gewesen war. Über diesen Abgrund führte keine Brücke.

Es regnete ein wenig, der Himmel über Wien war trüb. Aber wenn man nur wollte, konnte man hinter dem dunklen Himmel das Licht des Frühlings ahnen. Oben auf dem Semmering öffnete sich der Himmel wirklich, ein paar blaue Flecken zunächst, die Wolken zerflossen, und dann war auf einmal die Sonne da. Sie schien hier auf mich gewartet zu haben, um mich in das neue Leben zu begleiten.

Ich hielt an, stieg aus und blickte auf die Berge, die klar gezeichnet vor dem blassen Märzhimmel standen. Und auf einmal dachte ich etwas, was ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte: Diese Erde ist schön.

Nicht das Leben ist schön. Nein – das konnte ich wohl nie mehr denken, nicht von meinem Leben. Aber dass die Welt schön war, die Erde, der Himmel, die Berge, der Frühling – das konnte ich wieder empfinden. Es würde gut sein, dort allein in den Bergen und Wäldern zu leben, eine Arbeit zu haben.

»Werd mir net spinnert dort in der Einöd«, hatte Karl heute Morgen beim Abschied gesagt. »Such dir ein Mädchen, so eine Dralle, Unkomplizierte aus den Bergen, das ist das Gesündeste, was ein Mann haben kann.«

»Schau, dass du weiterkommst, aber g’schwind«, hatte Josy darauf gesagt, »sonst schick ich dich nächstens auch in die Berg, damit du was Dralles, Unkompliziertes kriegst. Dein dummes Gesicht möcht ich sehn, wenn du so was als Umgang hättest.«

Karl – schon unter der Tür – schnitt eine Grimasse. »Wär grad die richtige Abwechslung. Wo ich doch mit so einer gescheiten Frau verheiratet bin.«

»Filou!« rief Josy ihm nach. Dann war Karl weg, der Abschied von ihm war der kürzeste gewesen, denn er musste um halb neun im Büro sein.

Dann sah die Josy mich an, das Lachen verschwand aus ihrem Gesicht, und ein wenig später weinte sie sogar. »Ich lass dich so ungern weg. Du bist noch nicht …«

»Was, Josy? Was bin ich noch nicht?«

»Ich mein halt, du könntest mich noch brauchen.«

»Ich bin euch lang genug auf die Nerven gefallen. Und auf den Geldbeutel.«

»Ach geh, hör doch auf damit. Das Thema wird langsam fad.«

»Also gut, sagen wir, du hast lange genug Mutterliebe an mich verschwendet. Du warst doch auch immer der Meinung, dass ich nichts dringender brauch als Arbeit und eine neue Umgebung.«

»Freilich. Aber gleich so weit weg …«

Ich musste lachen und legte den Arm um die Schultern meiner Schwester.

»Josy, ich fahr nicht nach Amerika, sondern in die Steiermark. So groß ist Österreich ja nun wirklich nicht.«

»Gott sei Dank. Und ich schau nach dir, sobald ich Ferien hab, darauf kannst du dich verlassen. Magst noch einen Kaffee?«

Sie schenkte noch einmal ein und strich mir ein zweites Kipferl dick mit Butter.

Das Jannerl, dessen große braune Augen sich auch mit Tränen gefüllt hatten, als es seine Mutter weinen sah, vergaß seine Milch und fragte kläglich: »Muss der Onkel Severin heute fort?«

»Geh, Schatzi, wein du nicht auch noch. Er fährt ja gar nicht weit fort, nur ein kleines Stück«, beruhigte Josy ihre kleine Tochter und bewies damit, dass sich auch gescheite Frauen gelegentlich widersprechen.

Der Abschied von Josy dauerte fast noch zwei Stunden. Sie musste heute erst um halb elf in ihrer Schule sein. Ich musste mir eine Menge guter Ratschläge anhören, und meine schon gepackten Koffer wurden noch einmal inspiziert.

»Hast du wirklich alles, was du brauchst?«

»Bestimmt.«

»Du schreibst, wenn was fehlt. Oder du telefonierst. Ich schick dir’s. Da drinnen kriegst bestimmt nix zu kaufen.«

»Gar so hinterm Mond werden s’ da auch nicht sein.«

»Sie sind’s, du wirst’s sehen.«

So redeten wir. Josefine, meine Schwester, Mittelschulprofessorin, war bestimmt eine kluge Frau, eher resolut als zaghaft, aber an diesem Morgen meiner Abreise bestand sie nur aus Zärtlichkeit und Besorgnis, und immer wieder hatte sie Tränen in den Augen, ein Zustand, den ich an ihr gar nicht kannte.

Gewiss, damals vor vier Monaten, als ich an einem grauen Mittag im November bei ihr eingetroffen war, da hatte sie auch geweint. Aber seither nicht wieder. Es stimmte auch, was ich zuvor gesagt hatte, das von der Mutterliebe. Sie war zwar fünf Jahre jünger als ich, aber sie hatte mich behandelt wie eine Mutter ihren heimgekehrten Sohn, einen verletzten und geschlagenen Sohn, den man mit Liebe und Behutsamkeit wieder an das Leben gewöhnen musste.

Wir hatten uns immer gut verstanden, Josy und ich. Aber wir waren einander nie so nahe gewesen wie seit meinem Unglück und am allermeisten in den vergangenen Monaten. Es bedurfte dazu gar nicht vieler Worte. Die meisten Worte machte sie heute beim Abschiednehmen.

Dann kam Josys Schwiegermutter, um das Jannerl zu holen. Sie wohnt auch im sechzehnten Bezirk und kümmert sich um die Kleine, wenn Josy Schule hat. In den letzten Monaten allerdings hatte ich mich viel mit dem Jannerl beschäftigt, und die Oma meinte, es wäre wirklich schade, dass ich fortginge, so ein gutes Kindermädchen bekämen sie nicht so schnell wieder. So waren es nun also drei weibliche Wesen verschiedener Altersklassen, die mich verabschiedeten, das Jannerl schluchzte bitterlich, als ich es auf den Arm nahm und zum Abschied küsste, die Josy weinte, und die Schwiegermama hantierte auch mit dem Taschentuch herum.

Ich war richtig froh, als ich endlich im Wagen saß und losfahren konnte. Innerlich war ich ganz aufgeweicht von dem ganzen Abschiedsschmerz. Ich biss die Zähne zusammen und dachte: so was Albernes. Ich trete eine Stellung an, es ist keine weite Entfernung, und wo, bitte, ist da ein Grund zum Heulen. Das Jannerl verstand das natürlich nicht, aber Josy hätte wirklich vernünftiger sein können. Sie brauchte ja bloß daran zu denken, wie es war, als ich das letzte Mal von ihr Abschied nahm.

Ich hatte versprechen müssen, noch in der Kanzlei von Dr. Saß vorbeizuschauen, ehe ich Wien verließ, und das tat ich treu und brav. Da ging es weiter mit dem Abschiednehmen. Dr. Saß war noch nicht vom Gericht zurück, und so fiel ich erst mal seinen Damen in die Hände. Ich sagte zwar: »Na, dann geh ich wieder, grüßen Sie ihn schön von mir«, aber damit kam ich nicht durch; Fräulein Malwine bugsierte mich in den bequemsten Sessel und rief: »Aber nein, das dürfen S’ dem Herrn Doktor doch nicht antun. Er will Sie unbedingt noch sprechen.«

Darauf kochte sie Kaffee, und den trank ich zusammen mit ihr und dem Fräulein Krüger und der kleinen blonden Christi, die ganze Arbeit blieb liegen, und dann kam auch noch der Bürovorsteher Lachner dazu, und alle redeten auf mich ein, und die blonde Christi himmelte mich an.

Das hatte sie schon getan, als ich das erste Mal herkam, geradeso, als sei ein entlassener Sträfling genau der Mann, von dem sie immer geträumt hatte. Sie war achtzehn, süß und blond, mit einem ganz kurzen Minirock, aber die Zeiten waren vorbei, wo ich mir so etwas näher anschauen durfte. Abgesehen von den zwanzig Jahren Altersunterschied war ich ein vorbestrafter Mann und ein gebranntes Kind.

In der Kanzlei vom Dr. Saß betrachteten sie mich als eine Art Adoptivkind. Sie waren sehr stolz darauf, dass ihr Doktor mich schon nach zwei Jahren wieder aus dem Kerker geholt hatte. Für die Damen war ich ein hochinteressanter Mann, zwar so was wie ein Mörder, aber auch wieder nicht richtig. Die blonde Christi hatte mir mal versichert, sie möge überhaupt nur einen Mann, der ein richtiger Mann sei und schon etwas erlebt habe. Sicher, erlebt hatte ich was. Ob man es allerdings als Empfehlung für die Qualitäten eines Mannes ansehen durfte, daran zweifelte ich.

Frauen – das war so ein Kapitel für sich. Wenn einer zwei Jahre eingesperrt war, die Untersuchungshaft und die Verhandlung dazugerechnet, waren es fast drei, also dann ist das natürlich so, dass man gelegentlich an Frauen denkt. Trotzdem hätte ich nicht gewusst, wie ich mich auf normale und unbefangene Weise einer Frau hätte nähern sollen. Verlieben, soviel war sicher, verlieben würde ich mich sowieso nie wieder. Anfang des Jahres war ich einmal mit einem Mädchen gegangen, das ich auf der Kärntner Straße traf. Sie war gar nicht übel, wirklich ganz fesch. Es hatte sein müssen, nur damit ich wusste, wie es sein würde. Aber es war ein Krampf; es beschämte mich irgendwie, und ich tat es nicht wieder. So etwas hatte ich nie gewollt. Na schön – man kann auch ohne das leben. Jetzt konnte ich es.

Dann kam endlich Dr. Saß, und wir gingen hinunter in sein kleines Stammcafé, bisserl was gabeln, wie er sagte. Und mit Saß war es einigermaßen sachlich. Ich bedankte mich noch einmal für alles, was er für mich getan hatte, die Verteidigung im Prozess, die Hartnäckigkeit, mit der er mich so bald aus der Strafanstalt geholt hatte, und nicht zuletzt dafür, dass er mir zu dem Job verholfen hatte, den ich nun antreten wollte.

»Schon gut, schon gut«, sagte Saß, »hoffentlich gefällt’s Ihnen da drinnen, und es klappt alles einigermaßen.«

Doch dann kam der Herr Blansinger, dem das Kaffeehaus gehörte, und die Frau Blansinger und Ferdl, der alte Ober, und alle wünschten mir Gutes, so viel Gutes, und ich sollte ja vorbeischauen, wenn ich wieder nach Wien käme.

Und ich floh abermals vor guten Worten und Wünschen und teilnahmsvollen Blicken, ganz gerührt von so viel Anteilnahme und Freundschaft, die man mir entgegenbrachte. Hatte es eigentlich je so viele wohlmeinende Leute in meinem Leben gegeben, ehe ich einen Menschen umbrachte?

Als ich zu meinem Wagen ging, lachte ich vor mich hin. Das tat ich, um nicht zu heulen. Als letzte Station meiner Abschiedstour hatte ich einen Besuch am Opernring vorgesehen, wo mein neuer Boss regierte. Ich wollte hören, ob er da sei, oder ob ich ihn im Tal treffen würde. – Aber inzwischen war es Mittag geworden, und in keinem Büro sah man es gern, wenn einer in der Mittagspause aufkreuzte. Ich überlegte kurz, und dann ließ ich den Wagen stehen, ging den Graben hinunter, über die Kärntner Straße zum Franziskanerplatz. Auf einen Abschied mehr oder weniger kam es nun auch nicht mehr an, und es wäre unrecht, dem alten Steingruber nicht Adieu zu sagen. Die stillsten und besinnlichsten Stunden der letzten Monate hatte ich bei ihm verbracht. Vielleicht hatte er mir am meisten geholfen, mich aus meiner Verbitterung und Erstarrung zu lösen.

»Schau, Bub«, hatte er gesagt, »bei keinem geht das Leben so glatt, wie er sich’s wünschen tät. Die Welt ist voller Unglück und voller Jammer. Aber sie ist auch immer wieder voller Hoffnung und voller Freude. Du bist nicht der Einzige, dem was Böses passiert ist. Man hat dich betrogen und verraten, das ist ein Schicksal, das du mit vielen teilst. Du hast auf heftige Art und Weise darauf geantwortet, das hat wiederum dich ins Unrecht gesetzt und hat viel zerstört an dir und deinem Leben. Aber es ist niemand damit geholfen, dass du dich nun weiter zerstörst. Du lebst, du bist noch jung – du kannst neu anfangen.«

Einen Moment blieb ich vor dem niedrigen Schaufenster stehen, in dem die gleichen Bücher lagen, die bereits vor vier Monaten darin gelegen hatten. Jedenfalls kam es mir so vor. Ob der Steingruber jemals etwas verkaufte in seinem Antiquariat? – Wovon lebte er eigentlich?

Aber er war so bescheiden, er brauchte nicht viel zum Leben; ein Glaserl Wein, seine Würstl, eine Semmel, das genügte ihm. Schlafen und wohnen tat er in dem kleinen Hinterzimmer vom Laden. Sein einziger Sohn war im Krieg gefallen, seine Frau kurz darauf gestorben, vor Kummer und Gram vermutlich. Seitdem lebte er allein.

Ich hatte ihn in den Nachkriegsjahren kennengelernt, als ich noch in die Schule ging. Auch später dann, als ich an der TH studierte, suchte ich mir bei ihm Bücher zusammen. Damals wollte ich Architekt werden, aber die Zeiten waren schwer, ich musste dann anfangen praktisch zu arbeiten, um Geld zu verdienen. Ich trat in eine Baufirma ein, bis ich dann auf die Idee kam, mich selbstständig zu machen, mit dem, wovon ich am meisten verstand: Holz.

Ich kam gerade zurecht, um am Steingruber seinem Gabelfrühstück teilzunehmen. Mein Einwand, dass ich mit dem Dr. Saß schon einen Imbiss gehabt hatte, nützte nichts. Und dann hörte ich also noch einmal gute Wünsche und Ratschläge, und am Schluss, als ich ging, ein paar Bücher unterm Arm, sagte der Steingruber noch: »Es wird schon recht werden, Severin. In ein paar Jahren, du wirst sehen, denkst du nicht mehr an das, was einmal war.«

Ich hätte ihn fragen können, ob er nicht mehr an seinen toten Sohn dächte, aber ich unterließ es, nickte nur und ging dann.

Fräulein Mellinger, die hochnäsige Sekretärin meines neuen Chefs, die in der prachtvollen Etage am Opernring die Honneurs machte, war die Erste an diesem Tage, die alle Gefühle beiseiteließ. Sie teilte mir nur kurz mit, dass der Herr Direktor noch nicht nach Wien zurückgekehrt sei, aber aus Mailand angerufen habe, er werde von dort aus direkt ins Tal fahren und mich dort erwarten, um mich in meinen neuen Wirkungskreis einzuführen.

Fräulein Mellinger ließ unter langen getuschten Wimpern einen abschätzenden Blick über mich gleiten und fügte kühl hinzu: »Der Herr Direktor hatte sowieso die Absicht, in diesem Monat ins Glainzer Tal zu fahren. Er kümmert sich stets selbst um die Außenbetriebe.«

»Ich weiß«, sagte ich ebenso kühl.

Ich verstand sehr gut, dass die junge Dame mir mitteilen wollte, ich solle mir ja nicht einbilden, der große Boss fahre extra meinetwegen ins Tal, um mich höchst eigenhändig persönlich in Empfang zu nehmen.

Gerade aber das wollte er tun. Otto Kaiser, der Holzkaiser, wie man ihn in Wien nannte, war lange nicht so vornehm und kühl wie seine Vorzimmerdame. Als ich vor einer Woche das letzte Mal bei ihm war, hatte er gesagt: »Wenn ich es irgendwie einrichten kann, bin ich dort, wenn Sie kommen, Herr Lanz. Der Betrieb ist so verschlampt, dass Sie allein kein klares Bild gewinnen können. Schon deswegen nicht, weil keiner da ist, der vernünftig mit Ihnen reden kann. Der Burger ist schon recht, aber er ist schon ein bisschen vertrottelt. Und der Junge – also der Junge ist in Ordnung, aber er muss noch viel lernen. Grunski, der Werkmeister, der ist der beste Mann da draußen, an den müssen Sie sich halten. Bisschen schwierig zu behandeln. Aber tüchtig. Auf jeden Fall ist es besser, wenn ich da sein werde. Die sollen gleich merken, dass Sie mein Mann sind. Und da muss ich zunächst einmal allen kräftig auf die Zehen steigen.«

Ich bezweifelte insgeheim, ob das die richtige Methode sein würde, mich bei meinen künftigen Mitarbeitern beliebt zu machen. Aber schließlich war der Holzkaiser ein mächtiger und erfolgreicher Mann, also musste seine Methode wohl funktionieren. Besser, man stellte sich gleich darauf ein. »Er kümmert sich um alles selbst«, hatte Saß gesagt. »Ich weiß nicht, wie der Mann das macht. Seine Millionen kann er vermutlich nicht mehr zählen. Aber was in seinen Betrieben los ist, weiß er immer ganz genau. Er muss ein gutes Spionagenetz haben. Den führt keiner an der Nase herum. Ein typischer Selfmademan, hart wie ein Stein. Wer’s ihm nicht recht macht, der fliegt. Erbarmungslos. Aber wer sich bewährt, der hat bei ihm eine Lebensstellung. Und den lässt er auch verdienen. Ich kenne den Leiter einer seiner Papierfabriken, er hat ihn beteiligt, und der hat’s selber schon zu einer Million gebracht.« Mich konnte das nicht schrecken. Ich wollte arbeiten. Ich würde glücklich sein, arbeiten zu dürfen. Ob der Holzkaiser ein netter und umgänglicher Mann war oder nicht, kümmerte mich nicht.

Abgesehen davon, bisher war er nett und umgänglich gewesen. »Ihre Vergangenheit ist mir egal, Herr Lanz. Ich kann mich gut an Ihren Prozess erinnern, damals waren ja alle Zeitungen voll davon. Ich kann mich aber noch aus der Zeit vorher an Sie erinnern. Ordentlicher kleiner Betrieb, den Sie da aufgebaut hatten. Gute Arbeit war das. Sie waren doch auch Kunde bei mir?«

»Ja.«

»Eben. Weiß ich noch. Sie haben das Gefühl für Holz. So was lernt man nicht, das hat man. Und das ist wichtig für mich. Sie sind in einem Sägewerk aufgewachsen, nicht wahr?«

»Ich war acht Jahre alt, als mein Vater verkaufen musste.«

»Und was war mit Ihrem Onkel?«

Erstaunlich, was er alles wusste. – Ein gutes Spionagenetz, genau wie Saß gesagt hatte. Es reichte sogar in die Vergangenheit. Dieser Mann, der irgendwann, von irgendwoher kommend, in Wien aufgetaucht war und hier ein Holzimperium aufgebaut hatte – ihm gehörten große Waldungen, ihm gehörten Sägewerke, Papierfabriken, und nicht zuletzt war er einer der größten Holzexporteure Österreichs –, dieser Mann wusste sogar Dinge aus der Vergangenheit. Wusste, dass mein Vater ein kleines Sägewerk in Niederösterreich besessen hatte, das in den schlechten dreißiger Jahren ständig am Rande der Pleite herumlaborierte und das dann im achtunddreißiger Jahr, als die Nazis kamen, von einem Parteigenossen für ein Butterbrot gekauft wurde. Und er wusste auch, dass mein Patenonkel Severin ein großes Sägewerk im Böhmischen besessen hatte. Das nahm man ihm weg, als die Nazis gingen.

Immerhin – es stimmte, ich war wirklich in Sägewerken aufgewachsen. In meiner ersten Kindheit war es das meines Vaters gewesen, und später dann verbrachte ich alle meine Ferien in dem großen gutgeführten Betrieb meines Onkels, der während des Krieges florierte.

»Sie sind genau der Mann, den ich brauche«, meinte der Holzkaiser zufrieden. »Der Saß ist doch ein verdammt kluger Hund.«

Und jetzt stehe ich hier auf dem Semmering und schaue die Berge an. Ich schaue, ich atme, ich lebe. Ich bin ein freier Mann. Ich soll vergessen, was hinter mir liegt. Das hat noch jeder gesagt in der letzten Zeit.

Vergessen?

Nein. Vergessen kann man es nicht.

Ich bin ein Mann, der sich selbst aus der Gemeinschaft der anderen Menschen ausgeschlossen hat. Denn ich habe einen Menschen getötet. Im Schatten dieses Todes stehe ich, und da führt kein Weg hinaus ins Licht.

Auch wenn ich jetzt hier in der jungen Frühlingssonne stehe. Es ist kalt hier oben. Auf den Bergen liegt noch Schnee. Aber es ist Frühling. Die Erde lebt und atmet wieder, sie wird sich öffnen, der Sonne und dem Regen, sie hat es gut. Sie kann jedes Jahr aufs Neue beginnen. Sie wird älter dabei, aber niemals alt.

Was ist ein Mensch gegen sie? Was ist er denn mit seinem winzigen Stückchen Leben, das zu sterben beginnt, kaum dass es entstanden ist?

Habe ich ein Recht, hier zu stehen, zu leben, zu atmen, zu schauen?

Rainer ist tot. Weil ich ihn getötet habe.

Die Toten sind stark. Einer, den man selbst getötet hat, ist stärker als alles Leben ringsum. Er macht den Himmel dunkel, lässt die Kälte aufsteigen, bis sie einem ins Herz dringt. Vertreibt den Frühling.

Ich stieg ein und fuhr weiter, die flüchtige Freude war vergangen. Und auch die Sonne hatte sich nach einem kurzen Gruß wieder verborgen.

Dicke dunkle Wolken drängten über die Berge, kein Regen – Schnee. Erst waren es kleine Flocken, die eilig und rasch gegen die Windschutzscheibe stoben und mir die Sicht nahmen, und dann wurde das Schneegestöber so dicht, dass ich praktisch nichts mehr sehen konnte. Die nasse Straße gefror, und ein paar Mal rutschte mir der Wagen weg. Als ich durch Standen kam, erwog ich flüchtig, die Fahrt zu beenden und hier zu übernachten, denn dunkel war es mittlerweile auch geworden. Aber noch wollte ich es erzwingen und fuhr stur weiter.

Aber es war unsinnig. Ich war zu spät von Wien abgefahren und würde sowieso zu keiner vernünftigen Zeit mehr im Glainzer Tal ankommen. Außerdem hatte Otto Kaiser mir gesagt, dass die Zufahrt schwer zu finden sei. Und die Straße wurde immer schwieriger. Was hatten sie schließlich von einem neuen Sägewerksdirektor, der im Straßengraben verröchelte, ehe er seinen Bestimmungsort erreichte.

Es war ein verhältnismäßig kleines Dorf, in dem ich endlich haltmachte. Aber es gab einen ganz ansehnlichen Gasthof, jedenfalls so viel ich von ihm sehen konnte. Er befand sich auf einem Platz gegenüber der Kirche, durch die Fensterscheiben sickerte mattes Licht in das Schneetreiben heraus. Vielleicht hatten sie hier ein Abendessen und ein Bett für mich.

Nach der Unwirtlichkeit draußen fand ich die Gaststube warm und gemütlich, obwohl sie nur einfach eingerichtet war, mit Holzbänken und buntgedeckten Tischen.

An einem runden Tisch neben der Theke saßen ein paar Männer beim Kartenspiel, sonst war das Lokal leer.

Der Wirt, ein schon ziemlich alter kleiner Mann, kam mir entgegen, offensichtlich erstaunt über den unerwarteten Gast. Ich fragte, ob ich übernachten könne, das Wetter sei mir zu schlecht, um weiterzufahren.

Der Wirt nickte. Ja, das Wetter sei arg schlecht, und er habe es den ganzen Tag schon gewusst, dass es Schnee geben würde. Ein Mädchen namens Marie wurde aus der Küche gerufen, sie führte mich hinauf und zeigte mir die Zimmer. Es waren drei Stück im Ganzen, alles Doppelzimmer, alle gleich eingerichtet, und Marie meinte, ich könnte haben, welches ich wollte, bitt schön, sie seien alle drei frei. Nun – es war egal, ich entschied mich für das erste an der Treppe. Marie drehte die Heizung an, half mir beim Herauftragen meines Gepäcks, dann wusch ich mir die Hände und ging hinunter zum Abendessen.

Ein paar Männer waren mittlerweile noch gekommen, sie blickten zwei- oder dreimal zu mir hin, und dann kümmerten sie sich nicht mehr um mich. Ich bekam eine reichliche Portion Gulasch mit Nockerl, und nachdem ich gegessen hatte, saß ich einfach so da, rauchte, trank ein Viertel Wein und fühlte mich eigentlich ganz behaglich.

Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass ich so ganz mir selbst überlassen war. In Wien hatten sie mich selten allein gelassen, absichtlich natürlich. Josy und auch Karl hatten dafür gesorgt, dass immer etwas los war, dass ich zu tun hatte, beschäftigt mit Einkäufen, Besuchen oder sonstigen Aufträgen. Und wenn sie sich nicht um mich kümmerten, taten es die Oma oder Freunde des Hauses, von denen sie jede Menge besaßen, und vor allem natürlich war das Jannerl immer da gewesen, das sich sehr zärtlich und sehr anspruchsvoll an mich angeschlossen hatte, ein richtiges kleines Frauenzimmer mit ihren fünf Jahren, das es genoss, einen ständig zur Verfügung stehenden Kavalier zur Hand zu haben.

Allein war ich nur in den Nächten gewesen, in dem kleinen Zimmer, das Josy liebevoll für mich hergerichtet hatte. Da lag ich im Bett, starrte ins Dunkel und grübelte. Wie und warum das alles gekommen war. Und warum ich getan hatte, was ich tat.

Dann beschloss ich, mit dem sinnlosen Denken aufzuhören, und begann zu lesen. Ich las die halben Nächte durch, bis ich mit brennenden Augen einschlief. Ich las alles, was mir in die Hände geriet, Bestseller und Fachbücher, Josys umfangreiche Bibliothek rauf und runter, Klassiker und Kriminalromane, und seltene Altertümer holte ich mir beim Steingruber. Ich sollte ja vergessen, das sagten alle. Und so floh ich vor dem, was geschehen war, verdrängte es, verscheuchte es aus meinen Gedanken.

Aber an diesem Abend in der bescheidenen Gaststube in dem kleinen steirischen Dorf ließ ich die eingesperrten Gedanken und Erinnerungen frei. Nichts war da, was mich ablenkte, kein Gespräch, kein Buch, kein Fernsehen, da waren nur die wortkargen Männer an ihren Tischen, der Schneewind, den man manchmal um das Haus fauchen hörte, die Geborgenheit des warmen Raumes, der still getrunkene Wein – die rechte Stunde, um wieder einmal nachzudenken.

Heute begann ein neues Leben. Oder besser gesagt, morgen würde es beginnen. Also war es vielleicht ganz gut und ganz nützlich, heute noch einmal alles zu bedenken, um es dann – nein, nicht zu vergessen, aber es zu vergraben, tief und für keinen anderen mehr sichtbar.

Und wie ich da so saß, das Kinn in die Hand gestützt, kroch es wieder in mir empor, es war wie Eis in meinem Innern, das mich gefrieren ließ, und ich wusste, dass ich ein Fremder, ein anderer geworden war. Nicht für die Männer hier in dieser Gaststube – die kannten mich nicht. Für die war ich ein düsterer, ungeselliger Gast, der blicklos in die Gegend starrte.

Aber für jeden, der mich früher gekannt hatte, musste ich ein Fremder geworden sein.

Am 12. November hatte man mich aus der Strafanstalt Stein an der Donau entlassen. Nach nur zwei Jahren. Dass ich nach so kurzer Zeit wieder ein freier Mann sein konnte, verdankte ich Dr. Saß. Er hatte sich mit allen Mitteln für mich eingesetzt. Auch die Sympathie, die mir von allen Seiten entgegengebracht worden war, angefangen vom Direktor der Strafanstalt bis zur sogenannten öffentlichen Meinung, hatte dazu geholfen, dass ich so früh wieder frei kam. Zwei Jahre sind keine lange Zeit, wenn man sie lebt. Verbringt man sie als Gefangener, dauern sie länger als ein Menschenleben. Nicht, dass man mir meine Strafzeit schwergemacht hätte – ich hatte eine Einzelzelle, ich arbeitete in der Schreinerwerkstatt, ich hatte alle Vergünstigungen, die ein Mann in meiner Lage haben konnte. Meinerseits hatte ich auch keinem das Leben schwergemacht. Ich war ein stiller, umgänglicher Gefangener gewesen.

Ich war erstarrt, innerlich und äußerlich erstarrt von der Tatsache, dass ich einen Menschen getötet hatte.

Die Tatsache blieb, auch wenn man mir zugebilligt hatte, dass ich Rainer nicht töten wollte. Ich schlug ihn nieder im Zorn, und er starb an den Folgen dieses Schlages. Eine Gehirnblutung.

Rainer war mein bester Freund gewesen. Oder jedenfalls hatte ich ihn dafür gehalten. Immer wieder fragte ich mich, ob ich ihn vielleicht wirklich hatte töten wollen und ob der Schlag deshalb so hart ausgefallen war. Sein Tod hatte meinen Hass ausgelöscht. Den Hass auf ihn und den Hass auf Anschi. Anschi war meine Frau, sie hatte sich scheiden lassen, während ich im Kerker war. Das hatte sie sowieso vorgehabt. Sie hatte mich mit Rainer betrogen, schon längere Zeit. Als ich es endlich erfuhr, war sowieso alles vorbei.

Rainer und ich waren Teilhaber der kleinen Firma, die ich gegründet hatte, kurz nachdem ich Anschi geheiratet hatte. Wir bearbeiteten und vertrieben Edelhölzer, Profilbretter, Wand- und Deckenverkleidungen und Ähnliches.

Ich war der Holzfachmann, leitete die Werkstatt, war unterwegs auf Einkaufsreisen. Rainer führte das Büro, die Bücher und was alles sonst dazu gehörte … Er machte das so, dass die Firma bankrottging, nicht wegen schlechtem Geschäftsgang, sondern er ruinierte sie durch Unterschlagungen, Steuerhinterziehungen und Auslandstransfer von Betriebsgeldern. Anschi, die im Büro mitarbeitete, hatte davon gewusst. Sie betrieben das beide ganz zielbewusst und planmäßig, denn sie wollten später ins Ausland gehen, und dazu brauchten sie Geld. Ich hatte ihnen vertraut. Weil Anschi meine Frau war und Rainer mein Freund.

Als Anschi das Kind bekam, freute ich mich sehr. Rainer freute sich auch. Erst später, als alles herauskam, erfuhr ich, dass er der Vater des Kindes war. Nicht ich!

Für mich war das alles unfassbar. Ich war ein Mensch, der kein Misstrauen gekannt hatte. Und nun kam alles auf einmal: die Firma pleite, der Freund ein Verräter, die Frau eine Betrügerin. Daher kamen Wut und Hass – das ließ mich zuschlagen.

Es gab da noch etwas, das meine Enttäuschung ins Ungemessene steigerte, obwohl es gar nichts damit zu tun hatte. Vor Jahren, zu Beginn unserer Zusammenarbeit, hatte ich Rainer einmal in einer üblen Situation beigestanden. Spät in der Nacht, ziemlich betrunken, hatte Rainer in der Nähe des Hauses, das wir gemeinsam bewohnten, einen Mann umgefahren. Er kam totenbleich und sagte: »Severin, du musst mir helfen, ich hab einen totgefahren. Drunten an der Ecke liegt er. Du musst mir helfen, ihn wegzuschaffen.« Der Mann war nicht tot, nur schwer verletzt. Ich rief die Polizei und sagte, dass ich am Steuer gesessen hätte und der Mann mir ins Auto hineingelaufen sei. Da wir damals nur gemeinsam einen Wagen besaßen, gab es keine Komplikationen. Günstig war, dass der Überfahrene ebenfalls betrunken war, so passierte mir nicht viel.

Rainer wusste damals gar nicht, was er vor Dankbarkeit tun sollte. Es ginge eben nichts über eine echte Freundschaft, und er werde mir das nie vergessen und so weiter und so weiter.

Anschi hatte das alles miterlebt. Sie hatte es zugelassen, dass ich die Schuld auf mich nahm. Vielleicht liebte sie Rainer damals schon. Er war ein gutaussehender, sehr charmanter Mann mit liebenswürdigen Umgangsformen, sehr gewandt – aber auch ein wenig leichtsinnig. Sein Frauenverbrauch war immer beachtlich gewesen.

Als ich Anschi kennenlernte und mich in sie verliebte, sie war noch sehr jung und ging in die Handelsschule, war Rainer noch verheiratet. Später ließ er sich scheiden. Rainer und Anschi verstanden sich von Anfang an sehr gut, und ich freute mich darüber.

Anschi sagte: »Ist ein charmanter Bursch, der Rainer. Aber du gefällst mir besser. Du bist ein richtiger Mann.« Sie war sehr hübsch und ich so glücklich und blind, wie es nur ein verliebter Mann sein kann.

Rainer hatte gesagt: »Nett, die Kleine. G’fallt mir besser als die fade Nocken, mit der du bisher gangen bist. Hab ich eh net verstanden, was du an der gefunden hast.«

Die fade Nocken hieß Rosmarie und war eine Freundin meiner Schwester, ein liebes braves Mädchen, und ich hatte sie eigentlich sehr gern gehabt. So lange, bis ich Anschi kennenlernte.

Rosmarie war warmherzig und sehr fraulich. Und dabei gebildet und interessiert an vielen Dingen. Wir gingen zusammen ins Theater, in die Oper, in Ausstellungen. Sie verstand von all diesen Dingen viel, und ich lernte es von ihr. Josy hatte es gern gesehen, wenn ich Rosmarie geheiratet hätte, dagegen mochte sie Anschi von Anfang an nicht leiden. Als alles vorbei war, sagte meine Schwester nicht: »Siehst du, ich habe es gleich gesagt.« Sie sagte: »Ich bin immer für dich da, Severin.« Jeder sagte, dass es ein Glück sei, dass ich diese Schwester hätte. Auch der Direktor der Strafanstalt, mit dem ich am Tage vor meiner Entlassung ein längeres Gespräch hatte. »Ich weiß, die erste Zeit ist schwer. Sie müssen versuchen, darüber hinwegzukommen. Sie sind jung genug, um sich selbst zu retten. Ich bin froh, dass Sie Ihre Schwester haben. Eine sehr patente Frau, Ihre Schwester. Es ist wichtig, dass man nicht allein ist in einer solchen Situation.«

Am nächsten Morgen holte mich dann Dr. Saß ab. Er redete keinen Unsinn, ich stieg in seinen Wagen, und wir fuhren los.

»Ich müsste mich wohl bei Ihnen bedanken«, sagte ich nach einer Weile.

»Das haben Sie schon getan, erst unlängst. Ich bin mit mir selber sehr zufrieden, dass ich Sie heraußen hab. Und wenn Sie mir danken wollen, dann führen Sie sich jetzt wie ein vernünftiger Mensch auf. Keine nachträglichen Psychosen, bitte. Heraus aus den Baracken da und hinein ins Leben. Eine Weile sollten Sie sich erholen und an das normale Leben gewöhnen, und dann müssen Sie arbeiten. Das ist die Hauptsache.«

Er sagte so ziemlich dasselbe wie der Direktor von der Strafanstalt. Beide sprachen zweifellos aus Erfahrung. Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf die regengraue Novemberstraße und nahm mir vor, nicht schwierig zu sein, mich an das normale Leben zu gewöhnen und dann zu arbeiten.

In der Stadt parkte Saß seinen Wagen in einer der engen Gassen um den Graben und meinte beiläufig:

»Trinken wir einen Schwarzen?«

»Haben Sie keine Termine?«

»Ich hab mir freigenommen. Ich wollte mit Ihnen noch ein bisserl reden.«

Wir gingen in ein kleines düsteres Kaffeehaus, das ich nicht kannte. Saß war hier bekannt und offenbar auch seine Klienten. Selbst die, die er eben aus der Haft geholt hatte und die noch nie hier gewesen waren.

»Ah, der Herr Doktor«, sagte ein weißhaariger Ober und schob uns die Stühle zurecht, »und der Herr Lanz! Na, da gratulier ich auch, Ihnen beiden.«

»Danke, Ferdl«, erwiderte Saß. »Zwei Schwarze und zwei Kirsch.«

Als der Ober weg war, sagte er entschuldigend: »Mich kennen s’ halt hier. Und meine Fälle auch. Meine Kanzlei ist im Nebenhaus.«

»Und es geniert Sie nicht, mit einem Mörder hier zu sitzen?«

»Es geniert mich nicht. Zumal wann’s gar kein Mörder ist.«

»Na gut, dann eben ein Totschläger.«

»Wann S’ partout wollen, können S’ sich so nennen, Herr Lanz. Die Anklage lautete auf Körperverletzung mit Todesfolge. Aber bitt schön, ganz wie’s beliebt. Ich hab Sie gewarnt, fangen Sie jetzt nicht mit Komplexen an. Das hilft keinem, und Ihnen schadet’s. Sie müssen versuchen, sachlich zu sein. Hier sitzen Sie, ein freier Mann, für den ein neues Leben beginnt. Was gewesen ist, ist gewesen.«

»Ist es wirklich so?«

»Es kann so sein, wenn Sie mitspielen. Ich will Sie keineswegs mit Predigten und Ratschlägen langweilen, ich glaube, ich kenne Sie ganz gut. Sie haben Haltung und Verstand bewiesen bei der Verhandlung und auch in der Zeit, die hinter Ihnen liegt, es wäre sehr dumm, beides jetzt zu verlieren.« Der Ober kam und brachte den Kaffee und die Schnäpse, sagte »Zum Wohl, die Herren« und benahm sich ganz normal, starrte mich weder neugierig an noch lag in seinem Ton eine unechte Beflissenheit. Er tat so, als sei es ein ganz alltäglicher Vorgang, dass einer aus dem Kerker kam und hier seinen Schwarzen und seinen Kirsch trank.

Ich hatte irgendwie zusammengeduckt dagesessen, die Finger im Schoß verkrampft. Jetzt richtete ich mich langsam auf, löste meine Hände und sah mich vorsichtig um. Das kleine Kaffeehaus war zu dieser Vormittagsstunde wenig besucht, nur ein paar Leute saßen da, und keiner beachtete uns. Ich dachte, dass Saß wohl absichtlich mit mir hergegangen sei. Damit ich mich wieder an das normale Leben gewöhnte, wie er es genannt hatte; an die Stadt, an ein Kaffeehaus, an einen freundlichen alten Ober und an einen Schwarzen mit Kirsch.

Dann ging ein junges Mädchen durch den Raum. Ihr Rock war sehr kurz, man konnte den halben Oberschenkel sehen.

»Das ist der Minirock«, sagte Saß. »Vielleicht haben Sie davon gelesen. Wenn eine hübsche Beine hat, so wie die hier, dann geht’s ja. Manchmal kann es auch fürchterlich sein. Soll aber wieder aus der Mode kommen, wie ich gehört habe.«

Unwillkürlich musste ich an Anschi denken. Sie hatte auch sehr hübsche Beine gehabt.

Saß konnte offenbar Gedanken lesen. Er sagte: »Sie wissen ja, dass Ihre verflossene Frau nicht mehr in Wien ist. Sie ist nach Deutschland gegangen.«

»Ja, meine Schwester hat es mir erzählt. Sie hat wieder geheiratet.«

»Es ist die beste Lösung. Finden Sie nicht auch?«

Ich nickte.

Sie habe in München den Besitzer von einem kleinen zweitklassigen Nachtlokal geheiratet, hatte Josy mir kurz mitgeteilt und hinzugefügt: »Da passt sie hin.«

Das war die einzige gehässige Bemerkung, die Josy jemals über Anschi gemacht hatte.

Wir tranken noch einen Kaffee und noch einen Kirsch, und Saß redete über alles Mögliche, über Politik und Wirtschaft, über den neuesten Wiener Klatsch und die letzten Inszenierungen der Theater.

»Sie sind ja immer gern ins Theater gegangen, wie ich gehört habe. Das sollten Sie bald wieder einmal tun.«

Gegen Mittag fuhren wir dann hinaus in den XVI. Bezirk zu Josy. Ich begriff nun auch, warum er mich so lange in der Stadt festgehalten hatte. Sicher hatte er zu Josy gesagt: »Gehen Sie in Ihre Schule wie immer, kommen Sie nach Haus wie immer, nur nix Besonderes, nur keinen großen Auftritt. Ich bring ihn dann grad recht zum Mittagessen.«

Und Josy bemühte sich dann auch, alles so undramatisch wie möglich zu gestalten. Sie küsste mich, sie weinte zwar ein bisschen, aber dann rief sie: »Ich muss in die Küche, ich hab Kalbsvögerln mit Reis. Bleiben Sie zum Mittagessen, Herr Doktor?«

Aber Saß meinte, er hätte schließlich noch was anderes zu tun, und ging. Josy hantierte in der Küche, und ein kleines braunhaariges Mädchen betrachtete mich interessiert und fragte: »Bist du der Onkel Severin?« Das war meine Nichte Jannerl. Als ich sie das letzte Mal sah, konnte sie gerade laufen …

So begann es, das normale Leben. Und es war einerseits leichter, als ich erwartet hatte, aber andererseits auch sehr schwer.

Alle waren lieb und nett, keiner machte Schwierigkeiten: mein Schwager Karl, die Oma, die Nachbarn im Haus, der Greißler an der Ecke, die Milchfrau, alle waren sie freundlich und unkompliziert; keiner sprach von dem, was geschehen war. Es kam natürlich daher, dass ich immer die Sympathie der Leute gehabt hatte, schon während des Prozesses. Ein verräterischer Freund, eine treulose Ehefrau und ich das arme Opfer, das hatten die Zeitungen weidlich ausgeschlachtet, und so etwas bewegt das Publikum.

Jannerl erwies sich übrigens als große Hilfe bei der Wiedereingliederung in das sogenannte normale Leben. Sie war ja gänzlich unbelastet von lästigem Wissen, für sie war ich der neue Onkel Severin, der viel Zeit für sie hatte, der mit ihr spielte, mit ihr spazieren ging, mit ihr in den Stadtpark fuhr und ihren Schlitten hinter sich herzog, nachdem Schnee gefallen war.

Anfangs dachte ich manchmal an das Kind, das Anschi damals zur Welt gebracht hatte, und das ungefähr jetzt so alt sein musste wie Jannerl. Es war ein Bub gewesen, und ich hatte gedacht, es sei mein Sohn. Es war nicht mein Sohn, und seinen Vater hatte ich getötet.

Das waren so Gedanken, die natürlich immer wiederkamen. Aber meine Umgebung tat alles, damit ich nicht viel zum Denken kam. Einladungen, Besuche, Theater, Fernsehen, ein sehr lebhafter Betrieb an Weihnachten, eine große Party an Silvester, und zum Denken kam ich immer erst nachts im Bett. Ja. So war das gewesen in den vergangenen vier Monaten. Und nun saß ich also hier in einem kleinen Gasthof in einem weltverlorenen Dorf in der Steiermark. – Ob ich noch ein Viertel Wein trank? Warum nicht? Umso besser würde ich schlafen können.

Morgen fing es an. Einer der reichsten Männer Österreichs hatte mir eine Stellung angeboten, die vermutlich meine ganze Kraft und meinen ganzen Verstand beanspruchen würde: ein heruntergewirtschaftetes Sägewerk, inmitten großer Wälder gelegen, zu einem lukrativen Betrieb umzugestalten. »Ich habe die Wälder da herum vor zwei Jahren gekauft«, hatte der Holzkaiser gesagt. »Wunderbares, gesundes Holz, kaum genutzt bisher. Das Sägewerk im Glainzer Tal gehörte mehr oder weniger dazu. Zuvor hat es dem Grafen Solmassy gehört. Alte Familie, sie haben dort so eine Art Stammschloss. Auch eine runtergewirtschaftete Bude. Aber wunderbar gelegen. Überhaupt eine herrliche Gegend, kein Fremdenverkehr, kein Rummel, nichts.

Erst habe ich gedacht, ich löse den Betrieb auf. Aber dann dachte ich mir, es ist schade drum. Die Glainz flößt bei gutem Wasserstand das Holz bis an das Werk heran. Arbeitskräfte gibt’s genug dort, und sie sind billig. Es wäre zum Lachen, wenn der Laden nicht wieder auf die Beine zu bringen wäre. – Ich meine, diese Aufgabe müsste einen Mann doch reizen.« Doch. Diese Aufgabe konnte einen Mann reizen.

Ich war also zu der Entscheidung gekommen, dass ich noch ein Viertel trinken würde. Der Wein war gut, ich war nicht müde, und der besinnliche Abend in dieser ländlichen Gaststube hatte etwas Wohltuendes für mich.

Zuvor aber – so dachte ich – würde ich noch einmal nach dem Wetter schauen. Ob es immer noch schneite, ob der Winter am Ende ernsthaft zurückgekehrt war.

Gerade als ich aufgestanden war, um zur Tür zu gehen, wurde diese geöffnet. Ein neuer Gast kam herein.

Eine Frau!

Eine Frau, die in einem Luxushotel Aufsehen erregt hätte, ihr Erscheinen an diesem Ort wirkte ebenso faszinierend wie befremdend.

Sie war schlank und hochgewachsen, ihr blondes Haar unbedeckt, Schneeflocken schimmerten darin; sie trug einen Pelzmantel, irgend so ein geflecktes Raubtierfell, und an den Füßen schmale Pumps, die ganz durchweicht waren.

Jeder hatte Zeit genug, das alles ausführlich zu betrachten, denn die Frau blieb an der Tür stehen und machte einen verstörten Eindruck, obwohl ihr schönes blasses Gesicht fast arrogant wirkte. Der Blick, mit dem sie sich umsah, war kühl und abweisend.

Der Wirt, der zuletzt bei den Kartenspielern am Tisch gesessen hatte, stand auf und ging der Fremden entgegen, einige Schritte nur, dann blieb er stehen, und in seinem Gesicht malte sich ein fast kindliches Staunen. – Solch einen Gast hatte er wohl in seinem kleinen bescheidenen Gasthof noch nie gesehen.

Ohne Gruß sagte die Fremde: »Mein Wagen ist steckengeblieben beim Ortseingang. Ich glaube, dass der Tank leer ist.«

Schweigen.

Sie mussten das erst einmal verarbeiten – das Erscheinen dieser schönen hochmütigen Frau, der Klang der dunklen, spröd klingenden Stimme mit dem fremden Akzent; sie stammte nicht von hier, das erkannte jeder sofort.

Der Wirt tat noch einen schüchternen Schritt auf sie zu. »Ihr Wagen …«

»Ja.« Ungeduld und Nervosität flackerten in ihrer Stimme. »Ich bin gerutscht, die Straße ist sehr glatt, ich habe einen Baum gestreift.«

Ihr Blick glitt flüchtig über die Männer ringsum, die ihr stumm lauschten. – »Aber es ist weiter nichts geschehen. Ich glaube, der Wagen fährt nicht, weil kein Benzin mehr drin ist. Wo kann ich hier tanken? Ich habe die Tankstelle nicht gesehen.«

Die Männer blickten mit der lauernden Schwerfälligkeit der Gebirgler einander an, dann wieder die Fremde, dann den Wirt.

»Eine Tankstelle?«, fragte der, als hätte er von solch einer Einrichtung noch nie gehört.

»Mein Gott, ja«, sagte sie gereizt, »das wird es hier ja wohl geben.«

Der Wirt nickte bedächtig. »Ein Zapfhahn ist da.«

»Aber der Wastl is net da«, ließ sich einer vernehmen, »er ist einig’fahr’n nach Standen, zu seiner Tochter.«

Ich hatte der Szene schweigend beigewohnt, so als spiele sie sich auf der Bühne ab. Ich begriff, dass Wastl der Mann war, der das Benzin verkaufte und dem vermutlich auch die Reparaturwerkstatt gehörte. Wastl nicht da – kein Benzin da – das mochte hier noch so sein. Fremdenverkehr gab es in diesem Teil des Landes kaum und bestimmt nicht zu dieser Jahreszeit.

Die Fremde strich sich mit einer fahrigen Bewegung eine Strähne des feuchten Haares aus der Stirn, trat zwei Schritte näher, und da sie jetzt direkt unter der fahlen Beleuchtung der Gaststube stand, konnte ich sehen, wie angespannt und blass ihr Gesicht war und dass ihr Mund sich verzog, als unterdrückte sie einen Ausruf von Ärger oder Schmerz.

Sie betrachtete die anderen nicht, sprach nur zu dem Wirt. »Soll das heißen, dass kein Benzin zu bekommen ist? Und dass niemand nach dem Wagen sehen kann?«

Der Wirt kratzte sich die Wange. »Ja, i woaß net …«

Nun blickte sie zu den anderen Männern, und plötzlich sah sie mich an. Ich stand ja immer noch in meiner ganzen Länge, weil ich gerade im Begriff war, hinauszugehen.

Ihr Gesicht war schön, schmal, mit hohen Backenknochen, aber auf den Wangen lagen tiefe Schatten der Erschöpfung. Sie hatte nichts zu mir gesagt, aber ich fühlte mich dennoch angesprochen.

Ich sagte: »Ich wäre Ihnen gern behilflich, gnädige Frau, aber ich bin selbst fremd hier. Jedenfalls könnte ich nach Ihrem Wagen schauen. Ich verstehe etwas von Motoren.«

»Vielen Dank, mein Herr, das ist sehr liebenswürdig.«

Ihre Stimme klang nicht mehr so herrisch, sie hatte einen verbindlicheren Ton gefunden, ein kleines Lächeln erschien sogar um ihren Mund. »Ich glaube nicht, dass dem Wagen etwas fehlt. Der Rutscher passierte schon vor einigen Kilometern, erst fuhr er noch, dann fing er an zu stottern. Es wird wohl wirklich das Benzin sein. Typisch Frau am Steuer – werden Sie sagen, aber ich bin etwas überstürzt aufgebrochen und habe nicht daran gedacht, zu tanken. Und dazu noch das schreckliche Wetter.«

»Sie wollen heute noch weiterfahren, gnädige Frau?«

»Ja. Nach Wien.«

Ihre Augen waren hell, graugrün, wie es mir schien. Sie war sehr apart – eine interessante Frau.

»Ist das nicht ein wenig leichtsinnig? Ich habe meine Fahrt hier unterbrochen, eben weil das Wetter so schlecht war. Und Sie wollen noch so weit fahren – jetzt in der Nacht?«

Ich sprach unwillkürlich auch bestes Hochdeutsch, und obwohl ich nur sie ansah, spürte ich die Blicke der Männer fast körperlich, empfand ihre Aufmerksamkeit, mit der sie diesem fremdartig klingenden Dialog lauschten.

Sie lächelte nicht mehr, ihr Blick war wieder abweisend. »Das macht mir nichts.«

Ich war geneigt zu sagen: Offenbar doch, sonst wären Sie nicht gegen einen Baum gebumst. Aber ich sagte nur: »Ich weiß ja nicht, wie es jetzt draußen ausschaut. Als ich meine Fahrt vor anderthalb Stunden hier unterbrach, schien es nicht geraten, weiterzufahren.«

»Das Wetter ist seither nicht besser geworden«, teilte sie mir gelassen mit. »Aber ich muss heute noch nach Wien.« Es klang sehr bestimmt und schloss jede weitere Diskussion ab.

Schön, dachte ich, ein wenig verärgert, wie Madame befehlen.

Ich wandte mich an den Wirt. »Wenn ich recht verstanden habe, ist momentan niemand da, der nach dem Wagen schauen kann. Und Benzin gibt es auch nicht.«

»Wenn der Wastl heimkommt …«, begann der Wirt umständlich.

»Wo steht Ihr Wagen, gnädige Frau?«

»Gleich am Ortseingang.«

»An welchem? Östlich oder westlich?«

Sie blickte ein wenig verwirrt, machte dann eine rasche Armbewegung nach rückwärts und stieß gleichzeitig einen kleinen Schmerzensschei aus.

»Da, in der Richtung. Aber ich möchte Sie nicht bemühen …«

»Ich fürchte, es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben. Ich weiß bloß nicht, ob Sie …« Ich blickte auf ihre Füße, auf die durchweichten Pumps, denen man die Spuren des Schneematsches ansah. – »Wenn Sie mir den Wagenschlüssel anvertrauen, werde ich nachsehen gehen.«

Ihre Hand fuhr in die Tasche des Pelzes, kam leer wieder heraus. »Der Schlüssel steckt.«

Es kam mir vor, als sei sie noch blasser geworden, wieder verzerrten sich ihre Lippen, ihre Stimme war sehr leise und stockend, als sie sagte: »Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen …« Und dann taumelte sie, es sah aus, als würde sie umfallen. Ich trat rasch hinzu und griff nach ihrem Arm.

Sie schrie auf und hob abwehrend den rechten Arm. Und da sah ich, dass aus dem Ärmel des Mantels Blut über ihr Handgelenk lief.

»Aber Sie sind ja verletzt!«

Sie zog den Arm hastig zurück und verbarg ihn wie ein Kind hinter dem Rücken.

»Sie sagten, Sie hätten einen Baum gestreift, Sie müssen sich verletzt haben.«

»Es ist nichts«, murmelte sie – es war kaum zu verstehen, denn nun überkam sie eine ernsthafte Schwäche, der letzte Rest von Farbe wich aus ihrem Gesicht, und mit einem leisen Stöhnen sank sie zusammen.

Es kam für mich nicht einmal so überraschend, ich hatte es ihr angesehen, und so gelang es mir, sie vorsichtig aufzufangen und zu halten; schwer und reglos hing sie mir im Arm. – In der Gaststube herrschte Totenstille. Dann erhob sich leises Gemurmel. Ich sagte zu dem Wirt: »Kann sich die Dame hier irgendwo hinlegen? Und gibt es einen Arzt im Dorf?«

»Einen Arzt?«, fragte er zurück, restlos verdutzt. – Aber dann kam Bewegung in ihn, er eilte zu einer kleinen Tür neben der Theke, öffnete sie. »Kommen Sie hier herein.« Es war ein kleiner Raum neben der Küche, ein Tisch stand darin, ein paar Stühle und ein altersschwaches Sofa. Die Frau war ohnmächtig. Ich trug sie vorsichtig zu dem Sofa und legte sie behutsam nieder. Ihr Gesicht war wie eine weiße Maske.

Gab es denn eigentlich keine Wirtin in diesem Hause?

»Wo ist denn das Mädchen, das mir vorhin die Zimmer gezeigt hat?« fragte ich ungeduldig, weil der Wirt so schwerfällig war. »Und was ist mit einem Doktor?«

»Einen Doktor haben wir hier net. In Standen – und die Marie – die Marie wird auffigangen sein.«

»Bringen Sie mir Kognak und ein Glas Wasser.«

Er verschwand eilig. Ich beugte mich über die Frau und zog ihr langsam und vorsichtig den Pelzmantel aus. Es ging sehr mühsam, aber sie kam dabei langsam zu sich, ihre Augenlider flatterten, und sie war nicht mehr so schwer und reglos wie ein Stein.

Und dann sah ich ihren rechten Arm. Sie trug einen weißen Pullover aus dünner Wolle, der rechte Ärmel des Pullovers war am Oberarm gerissen und von Blut durchtränkt. Der ganze Pullover war voller Flecken, doch teilweise war das Blut getrocknet, es sah aus, als sei die Verletzung schon vor einiger Zeit geschehen.

Plötzlich schlug sie die Augen auf. Aller herrischer Hochmut war aus ihrem Gesicht verschwunden, es war nur eine Waffe der Selbstverteidigung gewesen, ein verzweifelter Versuch, sich aufrecht zu halten. Jetzt sah sie hilflos und schutzbedürftig aus.

»Was – was ist denn?«

»Ist Ihnen besser?«

»Oh, ich – bin – ich …«

Ihre Augen wurden klarer, der hilflose Ausdruck in dem stolzen, zuvor fast kalten Gesicht rührte mich.

Ich legte meine Hand auf ihre gesunde Linke und sagte beruhigend:

»Schon gut. Sie haben einen Moment schlappgemacht. Ihr Unfall war offenbar doch nicht so eine Bagatelle, wie Sie angenommen haben.«

Sie betrachtete ihren Arm, stöhnte auf und flüsterte: »Um Gottes willen!«

In diesem Augenblick kam der Wirt mit dem Kognak und dem Wasser, und als er das Blut sah, blieb er erschrocken stehen und stammelte: »Jesses Maria!«

Ich nahm ihm den Kognak ab und sagte: »Wir müssen einen Doktor haben.«

»In Standen. Man muss ihm telefonieren.«

Die Fremde versuchte sich aufzurichten. »Ich brauche keinen Arzt. Es ist weiter nichts.«

»Aber, gnädige Frau! Seien Sie doch nicht so unvernünftig.«

»Wirklich, es ist weiter nichts. Ich bin ja auch bis hierher gekommen. Ich habe in Wien einen Arzt.«

»Sie können unmöglich in diesem Zustand bis nach Wien fahren. Jetzt mitten in der Nacht. Wissen Sie überhaupt, wie weit das ist?«

»Ich weiß es, und ich kann fahren.« – Es klang trotzig.

Jetzt wurde ich energisch. »Sie können nicht! Bitte, nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich Sie in diesem Zustand nicht fahren lasse. Sie sind vor einigen Minuten ohnmächtig geworden, zweifellos geschwächt von Schmerzen und Blutverlust. Was ist, wenn Ihnen das am Steuer passiert?« Ich nahm das Glas mit dem Kognak und hob es ihr an die Lippen. »Trinken Sie das!«

Sie blickte mich erstaunt an, aber sie gehorchte und trank langsam die Hälfte von dem Kognak. Und dann sank sie zurück und schloss wieder die Augen.

Der Wirt hatte stumm die Szene verfolgt und blickte mich nun erwartungsvoll an. Er schien froh zu sein, dass ich das Kommando übernommen hatte.

»Was ist mit dieser Marie? Kann man sie nicht wieder herunterholen? Die Dame sollte den Pullover ausziehen, und man müsste die Wunde wenigstens verbinden, bis der Arzt kommt. Es blutet ja immer noch. Haben Sie Verbandszeug im Haus?«

»Könnt schon sein«, meinte der Wirt. »Ich hol’s gleich. Und die Marie hol ich auch.«

Die Patientin schlug die Augen wieder auf. »Lassen Sie diese Marie, wo sie ist. Also gut, ich werde den Pullover ausziehen, und man kann das verbinden.«

Sie sah mich an. »Sie sind selbst schuld, dass ich Ihnen Ungelegenheiten mache. Hätten Sie mich doch gehen lassen.« Sie hatte plötzlich Tränen in den Augen und wandte unwillig den Kopf zur Seite.

»Wohin – Ich denke, Ihr Wagen fährt nicht. Wollen Sie vielleicht nach Wien laufen?«

Sie gab keine Antwort. Ihre Lippen zitterten, sie war jetzt ein hilfloses, verängstigtes Kind, und ich empfand fast so etwas wie Zärtlichkeit. – Ich wusste auch nicht, warum ich es tat – ich strich ihr das blonde Haar aus der Stirn und sagte tröstend: »Regen Sie sich nicht auf, trinken Sie schön den Kognak aus, bleiben Sie ruhig liegen. Dann werden wir den Arm anschauen und verbinden, und dann werden wir weitersehen.«

»Ich hol das Verbandszeug«, bequemte sich der Wirt nun endlich zu einer gewissen Aktivität und verschwand.

Wir waren allein. Sie wandte wieder das Gesicht und sah mich stumm an. »Wer sind Sie eigentlich?«

»Ein Durchreisender. Genau wie Sie, gnädige Frau. Und nun bitte ich Sie, seien Sie nicht weiter so eigensinnig. Ich lasse Sie auf keinen Fall in diesem Zustand weiterfahren.«

»Aber es ist wirklich nichts Schlimmes.«

»Das werden wir ja sehen. Trinken Sie jetzt den Kognak aus, und dann wollen wir versuchen, den Pullover auszuziehen, ja? Oder soll ich den Ärmel einfach aufschneiden?«

Sie richtete sich auf, und ich musste ihr helfen, den Pullover über den Kopf zu streifen, es ging sehr mühselig, denn sie konnte den verletzten Arm kaum heben, wurde wieder totenblass und sank zurück, als es endlich geschafft war. Ich dachte schon, sie sei wieder ohnmächtig geworden. Und dann sah ich ihren Arm.

Es war eine tiefe blutverkrustete Wunde, aus der nun wieder frisches Blut sickerte. –

Eine Stichwunde.

Es war mir unerklärlich, wie sie sich diese Wunde zugezogen haben sollte, als ihr Wagen einen Baum streifte.

Eine Weile später hatte ich die Wunde notdürftig verbunden, meine verwunderte Bemerkung über die Art der Verletzung blieb ohne Antwort. Aber immerhin hörte sie sich widerspruchslos an, wie ich mir den weiteren Verlauf der Dinge vorstellte.

»Oben gibt es leere Zimmer im Hause. Sie legen sich zu Bett, und ich fahre nach Standen und sehe, dass ich einen Arzt erwische, und bringe ihn hierher. Es ist nicht weit, so zwanzig Kilometer etwa. Diese Wunde muss ordentlich versorgt werden. Sie scheint ziemlich tief zu sein und wird weiterbluten. Es könnte eine Ader verletzt sein.«

Sie schwieg. Ihre Augen waren geschlossen.

»Sind Sie einverstanden?«

»Sie lassen mich ja doch nicht tun, was ich will.«

»Gut, dass Sie das einsehen.«

Ich war voller Tatendrang und Energie. Voller Hilfsbereitschaft, Mitleid, Anteilnahme, alle nur möglichen Gründe überschlugen sich geradezu in mir. Ich hatte gar keine Zeit mehr, an mich zu denken. Ich dachte nur noch an sie.