Der Tanz auf dem Regenbogen - Utta Danella - E-Book
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Der Tanz auf dem Regenbogen E-Book

Utta Danella

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Beschreibung

50er-Jahre, Weihnachten in München. Von ihrem geliebten Vater bekommt Elisabeth das teure „Regenbogenkleid“ – dabei leben die Kriegsflüchtlinge aus Danzig nach schweren Jahren in einfachen Verhältnissen. Bei einem Verkehrsunfall lernt sie den umschwärmten Schauspieler Veit Gregor kennen. Aus einer Laune heraus kümmert sich der exzentrische Lebemann um Elisabeth: eine neue Rolle für den Filmstar. Die unscheinbare scheue Frau passt so gar nicht in seine glitzernde Scheinwelt, doch er hält an ihr fest – und aus ihrer Dankbarkeit wird Zuneigung. Doch seine unberechenbaren Gefühle – zwischen zärtlicher Leidenschaft und kalter Gleichgültigkeit – belasten Elisabeths neues Leben zunehmend. Nur in seinem Haus am Tegernsee fühlt sie sich wohl, begegnet dort dem Arzt Michael. Findet sie bei ihm die ersehnte Liebe … und kann sie sich von Veit Gregor lösen?

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Seitenzahl: 751

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Utta Danella

Tanz auf dem Regenbogen

Roman

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Utta Danella: Tanz auf dem Regenbogen. Roman

Copyright ©2016 by Erbengemeinschaft Utta Danella vertreten durch AVA international GmbH, Germany

Die Originalausgabe ist 1962 im Schneekluth Verlag, München erschienen.

Überarbeitete Neuausgabe ©2020 by hockebooks gmbh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von brickrena/shutterstock.com

ISBN: 978-3-957-51353-3

www.uttadanella.de

Arc-en-ciel

Der alte Mann steht reglos vor dem breiten Schaufenster, das seine strahlende Lichterflut verschwenderisch über ihn ergießt. Der kalte Winterwind zerrt an seinem schäbigen Mantel, nasse Schneeflocken, silbern aufglänzend im Licht, wirbeln um seine schmächtige Gestalt, der Asphalt zu seinen Füßen ist von Schneematsch bedeckt. An ihm vorbei hasten die Menschen; die Köpfe geneigt, die Kragen hochgeschlagen, eilen sie durch die abendliche Straße, die jetzt zu dieser Stunde gedrängt voll ist.

Es ist so kalt und ungemütlich, dass selbst die Frauen, die sonst an keinem Schaufenster vorbeigehen können, vor dem Modehaus Tavern nicht stehenbleiben. Die eleganten Damen, die hier kaufen, sind bei diesem Wetter sowieso nicht unterwegs. Sie sitzen beim Tee, beim Bridge oder fahren allenfalls in einem der lautlosen Wagen vorbei.

Auch die Mädchen, die aus den Büros der Umgebung kommen, verlangsamen ihre Schritte nicht. Höchstens werfen sie einen kurzen Blick in die Auslage. Sie kennen das Kleid. Es liegt schon seit fünf Tagen da. Zum Wochenende wird Tavern seine Auslage wechseln, dann kann man wieder einmal stehenbleiben, kann einen langen, sehnsüchtigen Blick auf unerfüllte Träume werfen. Bei einem Monatsgehalt von 400 oder bestenfalls 600 Mark kauft man nicht bei Tavern.

Nicht einer der Vorübergehenden nimmt das seltsame Bild wahr. Dieses ungleiche Paar: der alte Mann vor dem Fenster und hinter der Scheibe das glitzernde, schimmernde Märchenkleid. Zwei Welten. Es führt kein Weg von solch einem Kleid zu diesem Mann. Nicht einmal die Brücke der Phantasie kann diese zwei verbinden. Aber sie sehen sich dennoch an, der alte Mann und das Kleid. Das Kleid hochmütig, fern, uninteressiert. Es ist aus zartfarbenem Duchesse. Schwer zu bestimmen, was das für eine Farbe ist. Es ist nicht Blau und nicht Grau und nicht Rosé, es ist eine Mischung aus allem, wie ein ganz blasser Frühlingsabendhimmel sieht es aus, von irgendwoher noch überflogen von einem letzten Sonnenschimmer. Auf den gebauschten Rock und auf die linke Brustseite sind kleine Perlen in einem losen Bogen aufgestickt. Darum sprüht das Licht der Schaufensterbeleuchtung regenbogenfarbig von dem Kleid zurück. Neben dem Kleid liegt wie zufällig ein Ohrgehänge aus Opalen, schwermütige Tropfen, ein wenig seitlich steht ein Paar helle Seidenpumps mit schwindelnd hohen Absätzen. Und im Hintergrund des Schaufensters, so als hätte sie jemand dort aus Versehen liegengelassen, ganz flüchtig hingeworfen, findet sich noch eine breite, glänzende Wildnerzstola.

Alles natürlich ohne Preis.

Es ist ein typisches Tavern-Schaufenster. Ohne Preise und immer nur ein oder zwei kostbare Stücke. Die Frauen, die hier kaufen, fragen nicht nach dem Preis. Erst wenn sie das Scheckbuch aus der Tasche ziehen.

Der alte Mann betrachtet das Kleid fasziniert, mit großen andächtigen Augen. Mit geradezu liebevollen Augen sieht er es an. Nicht heute zum ersten Mal. Er hat es gestern betrachtet und am Tag zuvor auch schon.

Dazwischen ist er noch vor anderen Geschäften stehengeblieben. Es glitzert auch in anderen Schaufenstern. Aber nicht so wie hier. Woanders glitzert es billig. Hier ist eine Kostbarkeit zur Schau gestellt. Den Unterschied bemerkt der alte Mann sehr wohl. Er weiß auch, dass Tavern ein teurer Laden ist. Er hat zwar noch nie ein Damenmodengeschäft betreten, kein billiges und kein teures, aber er kennt den Unterschied dennoch.

So wie er die Stadt kennt. Er hat ja Zeit und geht viel spazieren. Früher hat er dabei nie die Auslagen solcher Geschäfte betrachtet. Aber nun, seit einigen Wochen, seit die fünf neuen, sauberen Hundertmarkscheine in seiner Brieftasche stecken, bleibt er vor den Schaufenstern stehen. Vor Schaufenstern, in denen solche Kleider liegen.

Heute ist er zum dritten Mal hier. Vorgestern hat er flüchtig gedacht: Das ist es. So eines müsste es sein. Gestern hatte er das Kleid wie einen guten Bekannten begrüßt. Und heute hat er Angst gehabt, es könnte nicht mehr da sein. Jetzt, in der Woche vor Weihnachten, verschwinden schöne Kleider manchmal schnell aus den Schaufenstern. Als er es wiedersah, hat er erleichtert gelächelt, es eine Weile betrachtet, aber dann doch nicht den Mut gehabt, den Laden zu betreten.

Langsam, in tiefes Nachdenken versunken, ist er eine Viertelstunde lang durch die umliegenden Straßen gelaufen. Soll er oder soll er nicht? Es gibt so vieles, was wichtiger ist als solch ein Kleid. Genaugenommen ist es ein Wahnsinn. Nein. Kein Wahnsinn. Ein Märchen. Und Märchen müssen manchmal wahr werden. Man kann nicht immer nur mit der Wirklichkeit leben.

Er, ja, er kann es. In seinem Kopf und in seinem Herzen sind Märchen und Wirklichkeit längst eine glückliche Verbindung eingegangen. Er ist alt und in seinem Herzen ist Frieden eingekehrt. Seine Wirklichkeit ist seit Langem mit vielen Märchen der Phantasie herausgeputzt. Es lebt sich gut damit. Aber sie – sie lebt nur mit der harten Wirklichkeit. Man sieht es ihren Augen an und dem müden Zug von Resignation um ihren Mund. Für sie hat es nie ein Märchen gegeben. Und wenn keiner ihr ein Märchen schenkt, dann will er es tun. Ihre Augen sollen strahlen, ihr Mund lächeln. Er glaubt ihr leises, verwundertes »Oh!«, zu hören, er sieht vor sich ihr fassungsloses Staunen, mit dem sie das Kleid betrachten wird. »Für mich?«, wird sie fragen. »Das kann doch nicht möglich sein.«

Ein zärtliches Lächeln tritt auf seine Lippen. Das Kleid im Fenster gewinnt Leben, er sieht ihre Schultern darin, den schlanken Hals, das zarte, schmale Gesicht darüber. Dieses ernste, müdgewordene Gesicht.

Er geht zur Tür, fasst entschlossen nach der Klinke, und betritt, immer noch das Lächeln um den Mund, den Laden.

Eine schlanke, junge Dame lehnt gelangweilt an einem Chippendale-Tischchen und sieht einer zierlichen Blondine zu, die vor einem Spiegel steht und die gebauschte Locke über ihrer Stirn etwas tiefer zieht.

Im Hintergrund bei den Ankleidekabinen sind die Direktrice und eine dritte junge Dame um eine Kundin bemüht, die ein schwarzes Wollkleid probiert und sich prüfend von der Seite im Spiegel betrachtet.

»Um die Hüften ist es ein wenig eng, nicht?«, sagt sie, gerade als Tobias Ohl seinen Fuß auf den dezent gemusterten, weichen Teppich des Verkaufsraumes der Firma Tavern setzt.

»Eine Kleinigkeit, gnädige Frau«, antwortet die Direktrice. »Wir richten Ihnen das sofort. Übermorgen haben Sie das Kleid.«

»Und das blaue auch, nicht wahr? Wir fahren am zweiten Feiertag nach Pontresina. Da brauche ich sie beide. Eigentlich müsste ich noch ein neues Cocktailkleid haben. Ich weiß nicht, mir werden jetzt alle Sachen zu eng, Es ist schrecklich, wenn man älter wird. Wo kommen bloß diese verflixten Polster her?«

»Aber gnädige Frau! Bei Ihrer Figur! Sie können sich doch nicht beklagen. Seit Sie bei uns kaufen, hat sich Ihre Figur nicht im Geringsten geändert«, ruft die Direktrice beschwörend.

Die Dame lächelt dankbar. »Wirklich?«

Sie streift mit einem Seitenblick die Direktrice, die man gut und gerne als mollig bezeichnen kann. Da ist sie allerdings schlanker. Wenn sie aber Tilly, die Verkäuferin, ansieht – die Dame seufzt wieder. Keinen Kuchen, kein Konfekt in Zukunft. Und von der Weihnachtsgans auch nur ein paar Bissen.

Die Direktrice hat natürlich den Eintretenden wahrgenommen. Ein flüchtiger Blick hat ihr genügt. Nicht nötig, dass sie sich darum bemüht. Vermutlich irgendjemand, der sammeln kommt. Wenn man es nicht Betteln nennen will. Jetzt vor Weihnachten hat das wieder schrecklich überhandgenommen.

Die junge Dame mit dem kurz geschnittenen braunen Pagenkopf hat sich lässig von dem Chippendale-Tischchen gelöst und ist Tobias Ohl einen Schritt entgegengegangen. Auch sie hat mit einem Blick erkannt, dass es sich hier um keinen Kunden handelt.

»Bitte?«, fragt sie kühl, ohne zu lächeln.

Tobias’ Brille hat sich beschlagen, als er ins Warme kam. Und er ist auf einmal schrecklich verlegen. Er nimmt die Brille ab, putzt sie umständlich, wozu er ein großes, weißes Taschentuch aus der Hosentasche zieht, räuspert sich, blickt aus blauen, kurzsichtigen Augen auf das blasse Marmorgesicht vor sich, das er nur verschwommen sieht, und sagt schließlich: »Ich komme – eh, wegen … ja, das Kleid.«

Nun ist die Brille klar. Er setzt sie umständlich wieder auf, lächelt die junge Schönheit schüchtern an und fügt eilig hinzu: »Das Kleid im Fenster.«

Der Pagenkopf zieht fragend die Brauen hoch. Die Blonde vor dem Spiegel dreht sich um und mustert den komischen Mann, der offenbar doch ein Kunde ist, erstaunt.

»Das Kleid im Fenster?«, wiederholt der Pagenkopf und kommt einen Schritt näher.

»Ja«, sagt Tobias, nun etwas entschiedener. »Das Abendkleid. Ich möchte es kaufen.«

»Oh!« Ein Lächeln, etwas mühsam und gequält. »Bitte sehr. Sie meinen dieses hier?«

Das Mädchen schiebt den silbergrauen Vorhang beiseite, der die Auslage vom Verkaufsraum trennt.

Tobias nickt. »Ja. Dieses.«

»Ein sehr elegantes Kleid«, sagt die junge Dame gewohnheitsmäßig. »Aus unserer neuen Kollektion. Sie wollen es als … als Weihnachtsgeschenk?«

Tobias lächelt. »Ja«, sagt er, seine Stimme klingt weich und warm, »für meine Tochter.«

Der Pagenkopf lächelt auf einmal auch. Es geht so etwas Warmherziges, Gütiges von dem alten Mann aus, erweckt eine ferne, vage Erinnerung. Er sieht fast aus wie Papa, denkt das Mädchen. Wenn Papa noch lebte, wäre er jetzt auch so alt. Ob er mir auch ein Kleid kaufen würde? Mein Gott, wovon? Es hat ja meist nicht einmal für neue Schuhe für uns gereicht.

Die junge Dame und der alte Mann lächeln sich eine Sekunde lang an wie alte Freunde. Alle mondäne Tünche scheint von dem Mädchen abgefallen.

»Ein schönes Geschenk«, sagt sie. »Da wird sich Ihre Tochter freuen.«

Tobias nickt. »Das hoffe ich. Wissen Sie, sie hat noch nie ein so schönes Kleid gehabt. Selber würde sie es sich ja nie kaufen. Aber wenn ich es ihr schenke – dann muss sie es auch anziehen.«

»Natürlich«, sagt das Mädchen lächelnd. Und sie denkt: ob er eine Ahnung hat, was das Kleid kostet?

Die Direktrice, die die Unterhaltung nicht ganz verstanden hat, aber immerhin begreift, worum es geht, ist herangekommen. Sie beugt sich zu den beiden, die immer noch in das Fenster blicken, und sagt geschmeidig: »Der Herr interessiert sich für das Modell Arc-en-ciel?«

Tobias dreht sich leicht erschreckt um. Aber er ist nun nicht mehr schüchtern. Er ist im Laden, er hat fünf neue Hunderter in der Tasche, und die junge Dame ist sehr freundlich.

»Arc-en-ciel?«, wiederholt er geläufig und mit tadelloser Aussprache. »Regenbogen? Was für ein schöner Name für das Kleid. Jetzt gefällt es mir noch besser als vorher.« Und vollends ungeniert fragt er nun: »Was kostet es denn?«

Die Direktrice denkt: Er wird es sowieso nicht kaufen. Was der sich wohl vorstellt? Immerhin, man kann nie wissen. Vielleicht einer, der aus Snobismus so herumläuft. Heutzutage ist alles möglich. Die Gräfin Canigan trägt prinzipiell bei jedem Empfang ihr altes Samtkleid aus der Vorkriegszeit. Darüber allerdings einen Chinchilla. Die Leute sind manchmal komisch. Das Kleid liegt seit fünf Tagen im Fenster. Wir haben wenig Kunden für so ein Modell. Vielleicht mal eine Schauspielerin. Die Frauen, die sonst zu uns kommen, brauchen schmale, geschickte Kleider, die sie schlank machen. Die Ballsaison kommt zwar erst. Es war überhaupt zu früh, das Kleid ins Fenster zu legen. Aber Tavern wollte es. Er sagte, es gäbe ihm ein weihnachtliches Gefühl. Und es käme überhaupt nicht auf das Kleid an, sondern dass jemand die Nerzstola kauft, wir haben sie noch vom vorigen Winter. Aber wenn ich das Kleid jetzt draußen hatte, kann ich es im Januar nicht wieder legen. Wenn der Alte es nimmt, haben wir die Losung heute wesentlich verbessert. War ein schlechter Tag. Weihnachtsgeschäft war bei uns noch nie viel.

Während ihr das alles durch den Kopf fährt, lächelt sie, zieht fünfzig Mark ab und sagt: »Vierhundertzwanzig.«

Der Pagenkopf blickt gespannt in das Gesicht des Mannes, der ihrem Vater ähnlich sieht. Jetzt wird er wohl einen Schreck bekommen, etwas Entschuldigendes murmeln und den Rückzug antreten.

Aber Tobias lächelt fröhlich und sagt: »Na, das geht ja. Dann packen Sie es mir mal ein.«

Der Pagenkopf lässt ein leises, glückliches Lachen hören. Sie ist in diesem Moment direkt glücklich darüber, dass die Tochter von dem netten alten Mann das Kleid kriegen soll.

»Aber wird es Ihrer Tochter auch passen?«, fragt sie eifrig.

»Ach so«, meint Tobias. »Stimmt. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

»Sie entschuldigen mich«, sagt die Direktrice. »Ich habe eine Kundin, die auf mich wartet. Fräulein Monika wird Sie weiter bedienen.«

»Aber bitte sehr«, erwidert Tobias höflich, »lassen Sie sich nicht aufhalten.« Ganz sicher nun, mit den Allüren eines Mannes von Welt, nickt er der Direktrice zu. »Vielen Dank.«

Unwillkürlich neigt die Direktrice ihren Kopf ein wenig tiefer als beabsichtigt. Dieser komische Alte scheint dennoch ein Herr zu sein. Französisch kann er auch. Nun ja, man weiß nie, wen man vor sich hat. Vielleicht ein alter Diplomat, der auf dem Lande lebt. So was gibt es. Mit einem Lächeln wendet sie sich wieder dem schwarzen Wollkleid zu, das nach Pontresina will.

Der Pagenkopf Monika ist inzwischen aus den Schuhen geschlüpft, steigt nun in die Auslage und löst den Regenbogen vorsichtig vom Boden.

»Ein entzückendes Kleid«, sagt sie und hält es in die Höhe, als sie wieder vor Tobias steht.

»Ja«, sagt er. »Ein sehr hübsches Kleid. Es wird Elisabeth sehr gut stehen.«

»Was hat Ihre Tochter für eine Figur?«

Tobias legt den Kopf ein wenig zur Seite und überlegt. »Eine sehr gute Figur. Sie ist schlank und ziemlich groß.« Er lässt seinen Blick über Monika gleiten und fügt hinzu: »Eigentlich so eine Figur wie Sie.«

Monika lächelt erfreut. »Dann wird es ihr passen.«

Und plötzlich, ganz von selbst, nur um dem alten Mann eine Freude zu machen, fragt sie: »Wollen Sie es mal angezogen sehen?«

»Aber ich bitte Sie«, sagt Tobias etwas verlegen, »ich will Ihnen keine Mühe machen.«

Die Blonde, die hinter Tobias’ Rücken steht, tippt mit dem Finger an ihre Stirn. Diese Monika hat wohl einen Stich. Wozu denn das? Es ist zehn Minuten vor Ladenschluss. Der Alte nimmt das Kleid auch so.

Aber Monika lässt sich nicht beirren. Weil es kurz vor Weihnachten ist? Oder weil der Mann ihrem Vater ähnlich sieht? Sie mag ihn, sie weiß auch nicht, warum.

»Das ist keine Mühe«, sagt sie liebenswürdig. »Und es ist bei uns üblich, den Kunden die Kleider vorzuführen. Nehmen Sie einen Augenblick Platz. Ich bin gleich wieder da.«

Sie weist auf einen der zierlichen Stühle und verschwindet im Hintergrund, das Kleid über dem Arm.

Tobias setzt sich. Interessiert blickt er sich um. So sieht es also aus in so einem Geschäft. Hübsch. Hier kaufen sicher nur reiche Leute. Und jetzt kauft er hier. Ein Kleid für Elisabeth. Was sie wohl sagen wird? Sie wird sprachlos sein. Noch fünf Tage bis Weihnachten. Er kann es kaum erwarten.

Sein Blick streift das blonde Mädchen, das ein Stück entfernt von ihm steht und ihn neugierig betrachtet. Sie hat zu runde Lippen, und die Unterlippe lässt sie hängen.

Eine Gans, denkt Tobias. Das sieht man gleich. Aber diese Monika ist nett. Und sehr hübsch. So hübsch könnte Elisabeth auch aussehen, wenn sie sich etwas zurechtmachen würde. Und hübsche Kleider tragen würde. Aber sie hat nie Geld gehabt für hübsche Kleider. Sie malt sich die Lippen ein bisschen rot, das ist alles. Und sie ist immer so ernst. So … so bedrückt. Es ist auch kein Wunder bei dem Leben, das sie führt.

Wie schon sooft überkommt ihn tiefe Traurigkeit bei dem Gedanken an Elisabeths unerfülltes Leben. Keinen Mann, keine Kinder, kein Glück. Sie ist jetzt vierunddreißig. Und sie hat resigniert. Sie sucht nicht mehr nach dem Glück. Sie wartet nicht mehr darauf. Sie hat verzichtet. Und daran war Anna schuld, sie hat Elisabeth immer unterdrückt, gequält, ihr jedes Selbstvertrauen genommen. Mir ja auch, denkt er. Mir auch, ein ganzes Leben lang. Und nun ist sie tot. Wir sind frei von ihr. Mein Leben ist vorbei. Ich beklage mich auch nicht. Aber für Elisabeth soll es nicht vorbei sein. Und darum schenke ich ihr das Kleid.

Es ist albern, von einem Kleid soviel zu erwarten. Er weiß es selbst. Kann das Kleid vielleicht Elisabeths Leben ändern, den täglichen eintönigen Trott, das stumpfsinnige Einerlei, kann es ihr die verlorene Jugend wiedergeben? Kann es Paul wieder lebendig machen, das Kind? Aber es durfte einfach nicht zu Ende sein für Elisabeth. Zu Ende, ehe es begonnen hat. Manchmal geschehen ganz unerwartete Dinge. Manchmal werden Märchen eben doch wahr.

Wann Elisabeth das Kleid tragen soll, daran denkt er nicht.

Jetzt tritt Monika im Hintergrund zwischen dem Vorhang heraus. Und wie sie kommt, gleicht sie einer unwirklichen Märchengöttin, die sich auf die Erde verirrt hat. Eine hübsche, moderne junge Frau war sie zuvor gewesen. Jetzt ist sie eine Prinzessin. Sie kommt langsam, mit dem schiebenden Schritt des Mannequins, auf Tobias zu. Ihre nackten Schultern schimmern seidig, sie trägt den Hals stolz und gerade, und die Perlen auf dem hellen Untergrund der Seide reflektieren vielfarbig das Licht der Lampen.

Kurz vor Tobias bleibt sie stehen, dreht sich dann in rascher Wendung, geht einige Male vor ihm auf und ab, wendet dann den schlanken Körper lässig aus der Hüfte und lächelt ihn an.

»Nun?«, fragt sie, »zufrieden?«

»Wunderbar«, sagt Tobias hingerissen. »Wunderbar. Sie sehen großartig aus.«

»Nicht ich. Das Kleid.«

»Sie auch. Es steht Ihnen großartig.«

»Hoffen wir, dass es Ihrer Tochter auch so steht. Und falls irgendetwas nicht ganz passt, soll sie bitte herkommen, wir ändern das.«

Tobias blickt ihr stumm nach, bis sie hinter dem Vorhang verschwindet. Auf einmal erfüllt tiefe Verzagtheit sein Herz. Das ist ja Wahnsinn, was ich tue. Was soll Elisabeth mit dem Kleid? Sie passt nicht hinein. Sie wird niemals so gehen und stehen können. Und sie muss ja auch Schuhe dazu haben. Und die Frisur müsste anders sein. Sie müsste sich schminken. Und … und … überhaupt. Und endlich kommt ihm auch der naheliegende Gedanke: Und wann soll sie es eigentlich anziehen?

Als Tobias nach Hause kam, war Elisabeth schon da. Er hatte damit gerechnet. Schloss deshalb ganz leise die Tür auf, steckte horchend den Kopf vor und schlich dann rasch in sein Zimmer, wo er den umfangreichen Karton erst mal unter sein Bett schob.

Dann kehrte er in den Korridor zurück, schloss geräuschvoll die Haustür, hüstelte unternehmungslustig und zog den Mantel aus.

Elisabeth steckte den Kopf zur Küchentür heraus. »Aber Vater«, sagte sie vorwurfsvoll, »so spät? Bei dem Wetter und diesem schrecklichen Verkehr. Warum kommst du denn nicht früher heim?«

Tobias rieb sich vergnügt die Hände. »Scheußliches Wetter, ja. Und die Straßenbahn war wieder voll. Aber ich hatte noch zu tun. Jawohl. Ich hatte in der Stadt zu tun.«

»So?«, sagte Elisabeth lächelnd, angesteckt von seiner Heiterkeit. »Und ich dachte, du würdest drüben bei Herrn Mackensen Schach spielen.«

»Keine Zeit«, meinte Tobias gewichtig, »jetzt vor Weihnachten kann man nicht den ganzen Nachmittag mit Schachspielen verplempern. Man muss sich umsehen draußen. Kann sein, dass einem das Christkind begegnet. Kann immerhin sein.«

Elisabeth lachte. »Ich glaube kaum, dass das Christkind bei diesem Wetter in der Stadt spazierengeht. Und wie es scheint, suchst du es schon mehrere Tage. Herr Mackensen sagte mir, dass du in dieser Woche jeden Tag in die Stadt gegangen wärst.«

Tobias folgte seiner Tochter in die Küche, schnupperte nach dem Herd hin, wo es in der Pfanne verheißungsvoll brutzelte.

»Mein lieber Freund Mackensen ist ein altes Tratschweib«, sagte er. »Du hast ihn also über mich ausgehorcht?«

Elisabeth wendete das Fleisch mit der Gabel und erwiderte: »Was bleibt mir anderes übrig? Von dir erfahre ich ja nicht, was du treibst. Ich war drüben, um dich zu holen. Und er sagte mir: ›Liebes Fräulein Elisabeth, Ihren Herrn Papa habe ich seit Tagen nicht gesehen. Jeden Nachmittag sehe ich ihn zur Straßenbahn traben, und dann kommt er erst nach Hause, kurz ehe Sie kommen. Und heute nicht mal das. Ich fürchte, er hat sich eine Freundin angelacht.‹«

Tobias gluckste vor Vergnügen. »Hat er das gesagt? Das sieht ihm ähnlich. Spioniert mir vom Fenster aus nach. Muss viel Zeit haben, der Gute.«

»Wenn keiner mit ihm Schach spielt …«, sagte Elisabeth. »Erkältet ist er auch. Er sagte, er hätte sich eine Flasche Rum gekauft und hätte vorgehabt, heute Nachmittag mit dir einen Grog zu trinken.«

Tobias winkte großzügig ab. »Den Grog bekomme ich morgen auch noch. Er wird nicht die ganze Flasche heut’ auspicheln. Und nun«, er legte den Kopf schief und hob bedeutungsvoll den Zeigefinger, »nun muss ich auch nicht mehr in die Stadt.«

»Nein?«

»Nein. Heute habe ich das Christkind nämlich getroffen. Justament heute lief es mir über den Weg.«

»Wirklich?« Elisabeth stellte die Teller auf den Tisch. »Wir können essen.«

»Moment, ich muss mir nur die Hände waschen.« Immer noch strahlend über das ganze Gesicht, verschwand Tobias aus der Küche.

Elisabeth blickte ihm lächelnd nach. Doch während sie die Bratkartoffeln und das Gemüse in die Schüsseln tat, glitt das Lächeln von ihrem Gesicht und machte einer leisen Melancholie Platz.

Wie sich der Vater auf Weihnachten freute! Wie ein Kind. Er lief in der Stadt herum, um etwas für sie einzukaufen. Wie immer hatte er sich wohl ein paar Mark zusammengespart und überraschte sie dann mit einem Geschenk. Irgendeine Kleinigkeit, ein neuer Schal, eine Schachtel Pralinen, ein Buch. Viel konnte er nicht kaufen. Und es war ganz überflüssig, dass er überhaupt etwas kaufte.

Weihnachten! Was bedeutete das schon. Weihnachten, das war ein Tag, den sie fürchtete. Ein Tag, an dem man mehr nachdachte, als gut war.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte man von Weihnachten gar keine Notiz genommen. Aber das duldete Tobias nicht. Er wollte einen kleinen Weihnachtsbaum haben, ein festliches Essen, dann las er die Weihnachtsgeschichte vor, und früher hatte er sogar verlangt, dass man Weihnachtslieder singen sollte.

Aber das hatte Anna sich verbeten. In den ersten Nachkriegsjahren, als sie noch zu dritt in einem Zimmer wohnten, zusammen mit vielen Menschen in einer alten hässlichen Wohnung, da war sowieso keine Weihnachtsstimmung aufgekommen. Das Leben war zu trist, zu schwierig.

Aber als sie dann vor vier Jahren die kleine bescheidene Wohnung hier erhalten hatten – zugewiesen vom Wohnungsamt und hauptsächlich deswegen, weil Anna krank war, gelähmt schon seit Jahren –, hatte Tobias in aller Naivität erklärt: »Dieses Jahr werden wir wieder einmal richtig Weihnachten feiern.«

Elisabeth erinnerte sich noch gut an den verächtlichen Blick, mit dem ihre Mutter ihn angesehen hatte.

»Feiern?«, hatte sie mit ihrer harten, klanglosen Stimme gesagt, »ich wüsste nicht, wieso wir Grund zum Feiern hätten.«

Aber Tobias hatte sich nicht beirren lassen. Er brachte einen kleinen Christbaum mit, schmückte ihn liebevoll und hatte auch seine Geschichte vorgelesen. »Und es begab sich zu der Zeit …«

Als er geendet hatte, mit einem nachdrücklichen »… und den Menschen ein Wohlgefallen«, hatte er erst seine Frau angesehen und dann Elisabeth.

Elisabeth hatte ihm zugelächelt, dankbar, voller Liebe und ein wenig traurig.

Anna aber hatte starr vor sich hin geblickt. Weder Mann noch Tochter sah sie an, auch nicht den Christbaum. Ihre Lippen waren zusammengepresst und ihre Augen dunkel vor Gram. Nur ein Mensch, der so harmlos war wie Tobias, konnte es fertigbringen, dann noch zu sagen: »Und nun wollen wir ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ singen.«

Anna hatte sich böse aufgerichtet in ihrem Stuhl und ihn heftig angefahren. »Sei still! Hör auf mit dem Unsinn. Singen! Für uns gibt es kein Weihnachten mehr. Hast du vielleicht vergessen, dass Johannes fehlt?«

Tobias zog den Kopf zwischen die Schultern und schwieg bestürzt. Alle drei saßen noch eine Weile stumm vor dem leuchtenden Baum.

Elisabeth erinnerte sich an diesen Abend, als sei es gestern gewesen. Wie sie mit blicklosen Augen in die Kerzenflammen gestarrt hatte, Verzweiflung im Herzen, ungeweinte Tränen in der Kehle, und dabei gedacht hatte, immer wieder die gleiche bange Frage: Wird es immer so sein? Wird keiner von uns mehr glücklich sein können?

Über zehn Jahre war es her, dass Johannes tot war. Johannes, ihr Bruder. In Russland gefallen. Johannes, der Liebling seiner Mutter, der einzige Inhalt ihres Lebens, der einzige Mensch, den sie je geliebt hatte. Und dessen Tod sie nicht vergessen konnte. Und nicht verzeihen. Nicht Gott, nicht den Menschen, nicht den beiden, die ihr geblieben waren.

Manchmal dachte Elisabeth: Wenn ich doch gestorben wäre! Wenn ich tot wäre und Johannes lebte, dann wäre alles gut.

Im vergangenen Jahr hatte sie allein mit ihrem Vater Weihnachten gefeiert. Anna war im November zuvor gestorben. Schwer und lange war sie gestorben. Trotz allem Hass und Widerwillen, den sie gegen das Leben empfand, hatte sie sich nur schwer davon gelöst.

Es war eine harte Zeit für Elisabeth gewesen. All die Jahre zuvor schon war sie die Krankenpflegerin ihrer Mutter gewesen, neben ihrer Arbeit im Büro und im Haushalt. Und zuletzt, als Anna im Bett lag, von Schmerzen gepeinigt, von Unruhe, von Schlaflosigkeit geplagt, hatte es auch für Elisabeth keine Ruhe, keine Entspannung, keinen Schlaf gegeben.

Und dazu Annas dunkle Augen, die ihr ständig folgten. Die bösen Worte, die Kränkungen – bis zuletzt.

»Schön bist du nie gewesen. Nur leichtsinnig. Leichtsinnig und dumm. Was aus dir werden soll, wenn ich tot bin, das wissen die Götter. Du und dein Vater, zwei Träumer, zwei Toren, beide nicht imstande, mit dem Leben fertig zu werden.« Es war nicht nur eine schwere Pflicht, es war auch demütigend, Anna zu dienen. Es stahl Elisabeth den letzten Rest ihrer Jugend, das letzte Lachen, es machte ihre Schultern müde, ihre Augen düster.

Es war eine Erleichterung, als Anna endlich tot war, eine Erleichterung für beide, für Vater und Tochter. Sie sprachen es nicht aus, aber jeder wusste vom anderen, was er dachte und fühlte. Und ihre Zuneigung, ihre zärtliche Bindung aneinander war noch enger, noch liebevoller geworden.

Das Weihnachtsfest war darum auch nicht erfreulicher geworden. Der kleine Christbaum, die Weihnachtsgeschichte, ein Glas Punsch. Vom Singen sprach Tobias nicht mehr. Später kam Herr Mackensen herüber, der Nachbar, und brachte sein Schachbrett mit.

Das war eine Neuerung. Solange Anna lebte, hatte er sich gehütet, die Wohnung seines Freundes Ohl zu betreten. Tobias stahl sich gelegentlich zu ihm hinüber. Er wusste, dass Anna diese Ausflüge missbilligte.

Die beiden alten Herren spielten Schach, und Elisabeth saß allein vor dem Christbaum, starrte in die Flammen und dachte wie früher auch: Und nun? Das ist alles? Bleibt es immer so?

Anna hatte recht gehabt. Sie war nicht fähig gewesen, ihr Leben zu meistern. Sie lebte neben dem Leben her. Aber es war ganz unwichtig, wie sie lebte. Keiner fragte danach.

Doch, ihr Vater! Er war das einzige, was sie besaß auf der Welt. Wenn sie daran dachte, dass er nun auch schon 71 war und sie vielleicht eines Tages verlassen würde, wurde ihr kalt. Erst dann würde ihre Einsamkeit vollkommen sein.

Elisabeth erwartete auch von dem diesjährigen Weihnachtsfest nichts Besonderes. Es würde sein wie im vergangenen Jahr. Mit Punsch, Schach und Herrn Mackensen. Dass ihr Vater so geheimnisvoll tat und immer aufgeregter wurde, je näher der 24. Dezember kam, bereitete sie keineswegs auf die Überraschung vor, die ihr bevorstand.

Tobias war ein Mensch, der immer sehr intensiv lebte, ein Mensch, der sich über die winzigste Kleinigkeit freuen konnte. Nicht einmal die Ehe mit Anna hatte seinen Optimismus, seine Lebensfreude zerstören können.

Dann war der große Abend da. Er begann wie immer. Elisabeth kam schon am frühen Nachmittag aus dem Geschäft, die Arme voller Einkäufe. Am Nachmittag machte sie die Wohnung sauber, wobei sie erstaunt feststellte, dass ihr Vater den Kleiderschrank, der in seinem Zimmer stand, abgeschlossen hatte.

»Ich muss mich aber umziehen«, sagte sie.

»Sag mir, was du brauchst, ich gebe es dir heraus«, erwiderte Tobias eifrig.

»Was hast du denn für Schätze da drin?«, fragte Elisabeth, nun doch ein wenig neugierig.

»Weiter nichts, weiter nichts. Nur eine Kleinigkeit!«, rief er vergnügt. »Eine winzige Kleinigkeit. Aber du sollst es nicht sehen.«

Elisabeth lächelte. »Also gut, dann gib mir das blaue Kleid heraus.«

Das blaue Kleid war das beste Stück. Sie besaß es seit drei Jahren.

Sie musste aus dem Zimmer hinausgehen, als Tobias den Schrank aufschloss. Seine Augen glitzerten geradezu vor spitzbübischer Freude, als er ihr das Kleid durch den Türspalt reichte.

»Ein hübsches Kleid, dieses blaue«, sagte er dabei, »es steht dir gut.«

»Hm«, machte Elisabeth nicht sehr überzeugt. Sie war fest entschlossen, sich diesmal im Ausverkauf ein neues Kleid zu kaufen. Irgendwie würde sie es schon herauswirtschaften.

Als dann der Christbaum brannte, blickte sie neugierig nach dem runden Tisch, wo sie dem Vater seine Kiste Zigarren, die Flasche Kognak und ein Paar neue warme Hausschuhe aufgebaut hatte. Für sie lag nichts da.

Tobias konnte seine Ungeduld kaum bezähmen. Er las die Weihnachtsgeschichte wie immer. Aber wie es Elisabeth schien, hatte er es heute sehr eilig damit. Er las recht schnell.

Und kaum war er fertig, sprang er auf und rief: »So! Und nun …«

An der Tür blieb er stehen, wandte sich um und sagte bedeutungsvoll: »Jetzt wollen wir mal sehen, was mir das Christkind für dich gegeben hat. Wollen mal sehen, ob was da ist.« Elisabeth blieb regungslos sitzen. Was es wohl sein mochte, dass er gar so wichtig damit tat? Lieber Gott, hoffentlich konnte sie sich wirklich darüber freuen. Nun, sie würde sich freuen, auf jeden Fall, und wenn es das Unmöglichste war, was er erstanden hatte.

Aber als er dann zur Tür hereinkam, langsam und feierlich, und am ausgestreckten Arm das Kleid trug, das auf einem Bügel hing, war sie so sprachlos, so erstaunt, dass sie nichts sagte und sich nicht rührte.

Tobias trat vor sie hin und sagte mit vor Erregung zitternder Stimme: »Das ist für dich, Elisabeth!«

Elisabeth starrte stumm das Kleid an, dann ihn. Dann wieder das Kleid. Die helle Seide glänzte. In den Perlen spiegelten sich vielfarbig die Lichter des Weihnachtsbaums.

»Das ist für mich?«, fragte sie schließlich tonlos.

»Ja«, bestätigte Tobias eifrig. »Ein Abendkleid. Oder ein Cocktailkleid, wie man heute sagt. Es ist ein Modell von Tavern. Du kennst doch Tavern, nicht?«

Elisabeth nickte stumm.

»Ein Modell«, wiederholte Tobias nachdrücklich. »Und es wird dir bestimmt passen. Und wenn nicht, sollst du hinkommen, sie ändern es. Du musst zu Fräulein Monika gehen, die ist sehr nett. Sie hat mir das Kleid vorgeführt. Es sieht herrlich aus. Wirklich. So auf dem Bügel wirkt es natürlich nicht. Du musst es anziehen, Elisabeth.«

»Ich?«, fragte Elisabeth erstickt.

Sie streckte die Hand aus, um das Kleid zu berühren. Doch ihre Hand blieb in der Luft hängen. Sie sah, dass das Kleid teuer, dass es kostbar war. Sie wusste, dass Tavern einer der elegantesten Läden der Stadt war.

Und für sie ein Kleid von Tavern. Ein Abendkleid! Mein Gott, wozu? Warum? Wofür?

»Aber …«, begann sie und blickte hilflos ihren Vater an.

»Du hast noch nie ein schönes Kleid gehabt«, erklärte Tobias eifrig. »Noch nie. Du bist eine junge Frau und musst auch einmal etwas Besonderes haben. Wenn du ausgehst …«

»Wenn ich ausgehe …«

»Ja.« Tobias wurde unsicher, als er ihr starres Gesicht sah.

»Ins Theater oder so. Das blaue Kleid hast du lange genug getragen. Du kannst es jetzt ins Büro anziehen. Aber das hier, das wirst du anziehen, wenn du ausgehst.«

»Aber ich …« Elisabeth spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, »ich gehe ja nicht aus. Wohin denn? Und mit wem? Und das muss doch furchtbar viel Geld gekostet haben?«

Tobias machte eine wegwerfende Bewegung mit der linken Hand. Das Kleid, das er immer noch in der rechten hielt, schwankte ein wenig mit.

»Hübsche Sachen kosten immer Geld. Es heißt ›Regenbogen‹, das Kleid. Modelle haben immer einen Namen. ›Arc-en-ciel‹ heißt es. Ist doch ein hübscher Name, ›Regenbogen‹, findest du nicht? Und er passt gut zu dem Kleid. Siehst du, wie die Steine glitzern? In allen Farben.« Seine Stimme war leiser geworden, unsicher. Und plötzlich wusste er, dass er etwas ganz Törichtes getan hatte.

»Regenbogen«, wiederholte Elisabeth leise, und eine erste Träne glitt aus ihrem Augenwinkel.

»Aber woher … woher hattest du das Geld?«

Tobias lachte. Es klang unfrei, ängstlich. »Das weißt du nicht. Das kannst du ja nicht wissen. Ich habe im Toto gewonnen. Vor vier Wochen. Und ich habe es dir nicht gesagt. Aber ich habe mir gleich vorgenommen, dir etwas Hübsches zu Weihnachten zu schenken. Etwas Besonderes, etwas, was du noch nie gehabt hast. Ein Abendkleid.«

»Ein Abendkleid«, flüsterte Elisabeth. »Ein Abendkleid für mich.« Ihr Kopf sank vornüber. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Sie weinte so verzweifelt, wie sie noch nie in ihrem Leben geweint hatte. Viele Jahre Einsamkeit flossen in diesen Tränen mit. Alle Liebe, die sie nicht empfangen, alle Zärtlichkeit, die es für sie nie gegeben hatte, alle Freuden der Jugend, die sie nie zu spüren bekommen hatte, beweinte sie mit diesen Tränen.

Es war ein rapider Ausbruch jämmerlicher Verzweiflung, der ihr alle Besinnung raubte. Und den ein Kleid mit dem Namen Regenbogen verursacht hatte.

Tobias stand fassungslos. Er legte das Kleid vorsichtig auf einen Stuhl, trat zu Elisabeth und schlang beide Arme um sie.

»Aber Kind«, sagte er unglücklich, »aber Kind, was hast du denn?«

Doch Elisabeth konnte so schnell nicht aufhören zu weinen. Obwohl sie sich verzweifelt bemühte, sich zu beherrschen, obwohl sie wusste, wie bitter sie ihren Vater enttäuscht hatte, gelang es ihr nicht, die Fassung wiederzugewinnen.

Doch schließlich wurde sie ruhiger. Das Gesicht in seinem Arm verborgen, flüsterte sie: »Verzeih mir, Vater. Verzeih mir …«

Tobias streichelte über ihr weiches, dunkelblondes Haar.

»Elisabeth«, sagte er, »mein kluges, braves Mädchen. Was hab’ ich angerichtet! Mein Gott, Elisabeth, ich wusste ja nicht, dass du so unglücklich bist.«

Elisabeth befreite sich behutsam aus seinem Arm, stand auf, ging zum Fenster, starrte einen Augenblick auf die Gardine, putzte sich dann energisch die Nase und drehte sich um.

»Ich bin nicht unglücklich, Vater«, sagte sie mit noch bebender Stimme. »Nur … nur albern.«

Sie zwang sich zurückzugehen, trat vor den Stuhl, auf dem das Kleid lag, sah es an, hob es dann am Bügel hoch und sagte: »Ein wunderschönes Kleid, Vater. Wirklich, ganz wunderschön. Nur für mich … was soll ich damit?« Das wusste Tobias jetzt auch nicht mehr zu sagen. Aber er wusste, dass er alles falsch gemacht hatte. Das war es, was Anna immer gesagt hatte. Du bist ein Phantast, ein Träumer. Du hast überhaupt keinen Sinn für die Realitäten des Lebens.

Ja, Anna hatte recht gehabt. Das zeigte sich jetzt wieder.

Er schenkte seiner Tochter ein Modellkleid für 420 Mark. Seiner Tochter, die mit ihm in dieser bescheidenen Wohnung lebte, weder einen Mann noch einen Freund besaß, für 500 Mark im Monat als zweite Buchhalterin in einem kleinen Betrieb arbeitete, womit sie ihn und sich ernährte. Und dazu ein Modellkleid von Tavern.

Arc-en-ciel.

Regenbogen.

Bis eine halbe Stunde später Herr Mackensen mit dem Schachbrett unter dem Arm aufzog, hatte Elisabeth sich beruhigt. Tobias war sehr still und sehr kleinlaut geworden. Der »Regenbogen«, hing am Haken an der Tür. Die Kerzen am Christbaum waren gelöscht. Und die Hängelampe mit dem lachsfarbenen Schirm, ein altmodisches Ding, die über dem runden Tisch hing, konnte ihm kein Geglitzer entlocken. Seltsam tot und fad wirkte Herrn Taverns beschwingte Schöpfung in dieser Umgebung, in die sie nicht hineingehörte. Das Kleid spürte es wohl selbst. Es sah leblos aus, farblos, schon angepasst der kleinbürgerlichen Umgebung. Ein Geschöpf, das seine Bestimmung verfehlt hatte.

Flüchtig hatte Elisabeth daran gedacht, dass sie es ihrem Vater zuliebe einmal anziehen müsste. Aber sie brachte es nicht über sich. Nicht heute.

Und Tobias, der diese erste Anprobe im Geist sooft erlebt hatte, dachte auch nicht mehr daran. Vielmehr überlegte er, ob man das Luxusding nicht zurückbringen konnte. Ein peinlicher Weg würde es sein. Fräulein Monika würde sich wundern. Und das hochnäsige blonde Ding ein spöttisches Gesicht machen. Und erst die Direktrice. Nein, dazu fehlte ihm der Mut.

Elisabeth konnte das vielleicht besser. Wenn sie hinging und sagte: »Wissen Sie, mein Vater ist ein bisschen vertrottelt. Ich brauche dieses Kleid nicht.«

Ob er ihr das vorschlug? Nicht heute. In den nächsten Tagen vielleicht.

Sie saßen beide verlegen herum, redeten ein bisschen hin und her. Tobias durchblätterte die Zeitung, die er schon gelesen hatte, und Elisabeth rauchte hintereinander mehrere Zigaretten, was sie sonst nie tat.

Herrn Mackensens Erscheinen wurde daher lebhaft von beiden begrüßt. Da Elisabeth sich inzwischen die Augen ausgewaschen und die Nase gepudert hatte, bemerkte er nichts von vergossenen Tränen. Aber natürlich sah er das Kleid. Schließlich hatte ihm Tobias genug davon erzählt.

»Oh!«, sagte Herr Mackensen. »Ah! Donnerwetter. Was für ein Prachtstück, Fräulein Elisabeth. Da werden Sie wie eine Königin auftreten.«

Herr Mackensen, groß und breit und dick, mit seinem runden, roten Gesicht, den schütteren weißen Haaren und der Andeutung eines Kropfes, stand bewundernd vor dem »Regenbogen«, wagte aber nicht, daran zu rühren.

»Da haben Sie sich aber gefreut, was?«

»Ja«, sagte Elisabeth und konnte schon wieder lächeln.

»So einen Vater muss man haben. Da ist man fein heraus. Passt es denn nun auch?«

»Ja, passt großartig«, sagte Tobias eilig, um Herrn Mackensens Vorschlag, Elisabeth möge das Kleid anziehen, zuvorzukommen.

Aber Herr Mackensen fragte dennoch: »Kriege ich es auch mal vorgeführt?«

Elisabeth lächelte hilflos.

»Sicher«, sagte Tobias ruhig. »Aber nicht heute. Elisabeth muss sich erst die richtigen Schuhe dazu kaufen. Und was sonst eben noch dazu gehört.« Er machte eine vage Bewegung über den »Regenbogen« hin, um die Accessoires anzudeuten, die noch vonnöten waren.

Ja, natürlich, dachte Elisabeth, Schuhe, eine Abendtasche und irgendetwas darunter. Ein Mieder oder so etwas. Zumindest ein trägerloser Büstenhalter, denn die Schultern würden ja nackt sein. Das alles müsste man dazukaufen.

Was für ein Unsinn! Jetzt zog sie das Kleid im Geiste schon an. Sie betrachtete es schon als Eigentum. Ihr Kleid. Und gerade eben, ehe Herr Mackensen kam, hatte sie darüber nachgedacht, ob sie es vielleicht umtauschen könnte. Wenn sie zu Tavern ging …

Sie brauchte nötig einen neuen Wintermantel. Oder wenigstens ein einfaches Kleid. Vielleicht bekam man beides für das Geld.

Herr Mackensen fasste nun doch mit spitzen Fingern nach dem Rock des Kleides und hob ihn ein wenig hoch.

»Wunderbarer Stoff«, sagte er. »Wie geschaffen zum Tanzen. Wann werden Sie es denn zum ersten Mal ausführen?«

Elisabeth seufzte leise und erwiderte geduldig: »Ich weiß noch nicht. – Darf ich Ihnen ein Glas Punsch einschenken, Herr Mackensen?«

»Natürlich, mein Kind, schönen Dank.« Herr Mackensen platzierte liebevoll sein Schachbrett auf den Tisch und setzte sich schnaufend. Aber mit seinem Thema war er noch nicht fertig.

»Sie haben da doch immer ein Betriebsfest bei Ihrer Firma. Das wäre doch eine gute Gelegenheit, nicht?«

Tobias hob rasch den Kopf und schaute angeregt zu Elisabeth hinüber. Das Betriebsfest, natürlich. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Das war doch bald wieder fällig. Vielleicht konnte sie es wirklich bei dieser Gelegenheit anziehen. Da wurde auch getanzt. Und Elisabeth konnte ihren Kollegen einmal zeigen, wie ein Kleid von Tavern aussah.

Elisabeth blickte von Herrn Mackensen zu Tobias. Sie sah ihm an, was er dachte. Auch, dass er sich von seinem Schreck zu erholen begann und neue Hoffnung schöpfte.

»Das ist eine gute Idee«, sagte sie. »Zum Betriebsfest also.«

Keiner der beiden Männer hörte die Ironie in ihrer Stimme.

Das Betriebsfest fand alljährlich am 1. Februar statt. Denn an einem 1. Februar vor etlichen Jahren war die Firma gegründet worden. Der Seniorchef, der sich vor zwei Jahren zur Ruhe gesetzt hatte, kam aus diesem Anlass immer von seinem Häuschen am Chiemsee in die Stadt hinein. Der Juniorchef, der auch schon ein reifer Mann war, tat alles, um den Abend zu einem gelungenen Fest zu machen. Jedenfalls was er sich so darunter vorstellte. Er war ein Spießer und durchaus nicht geneigt, mehr auszugeben, als unbedingt nötig war.

Seit Jahren schon mietete man das Nebenzimmer in einem bürgerlichen Gasthaus, ein paar Luftschlangen und drei oder vier Lampions bildeten die Dekoration, getanzt wurde nach dem Plattenspieler. Es gab ein kräftiges Essen und für jeden einen Liter Bier oder zwei Viertel Wein. Was darüber hinausging, musste jeder selbst bezahlen.

Wenn Elisabeth sich vorstellte, dass sie bei dieser Gelegenheit in dem »Regenbogen«, auftreten sollte, musste sie lachen. Nicht mehr weinen. Lachen jetzt. Mit dem Weinen war sie fertig geworden. Schon am nächsten Tag war es ihr möglich, das Rührende und Gutgemeinte an des Vaters Geschenk zu sehen.

Herr Bossert, der Inhaber des mittleren Elektrogroßhandels, der ihr Chef war, würde vor fassungslosem Staunen vom Stuhl kippen, wenn sie in dem Modellkleid erscheinen würde. Seine Frau würde sie vermutlich den ganzen Abend schneiden. Die Kolleginnen würden tuscheln. Nackte Schultern, ein glänzendes, schimmerndes Gewebe, glitzernde Perlen. Bisher hatte es das blaue Kleid abwechselnd mit einem glatten schwarzen Jerseykleid, dem anderen Höhepunkt ihrer Garderobe, getan. Und nun dies. Es war unvorstellbar. Der alte Herr, der schon ein bisschen verkalkt war, aber immerhin Humor besaß, würde vielleicht seinen Spaß daran haben. Und natürlich Felix Lenz, der treue Felix, er würde sie bewundernd anstarren. Aber das tat er ja immer. Dazu war kein »Regenbogen«, nötig.

Felix Lenz, erster Buchhalter bei Bossert und Sohn und damit ihr unmittelbarer Vorgesetzter, war der einzige Verehrer, den Elisabeth seit Jahren besaß. Sie arbeiteten zusammen in einem Zimmer, saßen sich täglich an den beiden Schreibtischen gegenüber, und es bestand wohl kein Zweifel daran, dass Herr Lenz sie liebte.

Er hatte es nie gesagt. Aber er fand alles wunderbar, was sie tat und sagte. Er kochte mehrmals am Tage Kaffee für sie beide – er tat das, und Elisabeth musste sich von ihm bedienen lassen. Im Frühling fand sie manchmal ein Veilchensträußchen und im Sommer eine Rose auf ihrem Schreibtisch. Das war alles. Wenn man Herrn Lenz’ bewundernde Blicke nicht zählen wollte, die Elisabeth folgten, wo sie ging und stand.

Die Mädchen und Frauen in der Firma hatten ihren Spaß daran. Und Lissy, die kecke Sekretärin von Herrn Bossert, hatte einmal zu Elisabeth gesagt: »Warum heiraten Sie den Felix eigentlich nicht?« Sicher, Herr Lenz war Witwer. Wenn Elisabeth ihm einen Heiratsantrag machen würde, konnte sie möglicherweise mit seinem Jawort rechnen. Herr Lenz seinerseits hatte sich nie erklärt. Und würde es wohl auch nicht tun. Er war 58, mehr als zwanzig Jahre älter als Elisabeth. Und zudem hatte er ein zages Herz und eine schüchterne Seele. Er fand Elisabeth schön. Er fand sie überwältigend. Er würde es nie wagen, das erste Wort zu sprechen. Beim Betriebsfest saß er immer neben ihr, das war Tradition. Und sie tanzten öfter zusammen. Besonders Walzer tanzte Herr Lenz hervorragend, rechtsherum, linksherum, wie man es haben wollte. Und manchmal verstieg er sich dazu, Elisabeth nach dem Tanz die Hand zu küssen. Es war zu komisch, sich vorzustellen, dass sie beim Betriebsfest in dem Modellkleid von Tavern auftreten würde. Aber Herr Mackensen sprach im Laufe des Januar öfter davon, und auch Tobias hatte sich mit dem Gedanken vertraut gemacht. Elisabeth hatte nicht das Herz, ihn zu enttäuschen. Sie hatte das Kleid inzwischen angezogen, es passte wirklich.

Der Januar verging. Elisabeth hatte ihr Vorhaben, zu Tavern zu gehen und einen Umtausch zu versuchen, immer noch nicht ausgeführt. Sie verschob es von einem Tag auf den anderen. Dagegen kaufte sie sich wirklich eines Tages einen trägerlosen Büstenhalter und probierte das Kleid, noch einmal in aller Heimlichkeit an, abends, als der Vater nebenan beim Schachspielen war.

Das Kleid passte. Und es veränderte sie auf geheimnisvolle Weise. Sie drehte sich vor dem Spiegel im Korridor, in dem sie sich nur halb sehen konnte. Ihre Schultern waren gerade und gut geformt. Sie raffte das Haar, das sie halblang und glatt trug, über den Ohren ein wenig hoch, schob eine Welle in die Stirn. So. Dann beugte sie sich nahe zum Spiegel und betrachtete prüfend ihr Gesicht.

Es war schmal und ein wenig blass. Die Nase gerade und schmalrückig, der Mund groß und weich gekurvt. Am schönsten waren vielleicht die Augen. Schmalgeschnittene Augen von einem samtenen Grau.

Sie hatte sich nie gefallen. Langweilig sah sie aus. Vielleicht glaubte sie das auch nur, weil ihre Mutter es immer gesagt hatte.

»Ich war ein schönes Mädchen. Und Johannes war schön. Schon als Kind. Du siehst langweilig und fad aus. Du gehst nach deinem Vater, schon als Kind warst du langweilig.«

So etwas haftet.

Und ihre Figur? Wenn ein Modellkleid von Tavern ihr wie angegossen passte, konnte die Figur nicht schlecht sein. Woran lag es bloß, dass sie nicht so reizvoll war wie andere Frauen? Woran lag es, dass kein Mann sie ansah, dass keiner sie hatte haben wollen?

Nur Paul. Der hatte sie geliebt. Und er hatte sie schön gefunden. Aber damals war sie jung. Jung und glücklich. Das machte wohl den ganzen Unterschied aus.

Mitte Januar ging Elisabeth zum Friseur und ließ sich Dauerwellen machen und dabei die Haare ein wenig kürzer schneiden. Es machte sie jünger. Und schließlich, wenige Tage vor dem Betriebsfest, erstand sie im Ausverkauf ein Paar silberne Abendschuhe. – Sie nannte sich selbst verrückt, als sie die Schuhe anprobierte. Natürlich würde sie sie nicht kaufen. Bloß mal anprobieren. Aber dann, als sie ihren Fuß im Spiegel sah, graziös und schmal auf dem hohen Absatz, kaufte sie die Schuhe doch.

Für Tobias war es inzwischen eine feststehende Tatsache, dass sie das Kleid behalten und zum Betriebsfest zum ersten Mal anziehen würde. Nachher konnte man vielleicht einmal ins Theater gehen. Gelegentlich leisteten sie sich das.

Das Betriebsfest fiel auf einen Samstag. An diesem Tag wurde nicht gearbeitet, und Elisabeth ging vormittags zum Friseur. Zu einem teuren Modefriseur in der Stadt. Der junge Mann, der sie bediente, fragte höflich: »Und wie wünschen Sie die Frisur, gnädige Frau?«

Elisabeth blickte ratlos in den Spiegel. »Oh, ich weiß nicht. Irgendwie ein bisschen …, ein bisschen besonders. Ich gehe heute Abend aus.«

Als sie nach Hause kam, war ihr Vater entzückt.

»Warum lässt du dich nicht immer so frisieren? Du siehst reizend aus.«

Sie gefiel sich selber. Die Haare waren leicht gebauscht, fielen in weichen Wellen über das halbe Ohr, und zwei kurze Spitzen ragten in die Stirn.

In der Kunst des Make-up war sie nicht bewandert. Aber sie hielt sich dennoch heute länger als gewöhnlich vor dem Spiegel auf, puderte sich, zog die Lippen tiefrot nach und dunkelte auch die Augenbrauen.

Und dann, immer noch ungewiss, ob sie es wagen sollte oder nicht, zog sie den »Regenbogen«, an und die neuen Schuhe. »Siehst du«, sagte Tobias tief befriedigt, als sie sich ihm präsentierte, »ich habe es ja gewusst. Du machst zuwenig von dir her. Ein richtiges Kleid und ein bisschen Drum und Dran und schon bist du eine ganz andere Frau. Siehst du jetzt, dass ich recht habe?«

Elisabeth lachte unsicher und ein wenig glücklich.

Tobias ließ es sich nicht nehmen, Herrn Mackensen herbeizuzitieren, und der brachte auch noch seine Frau Berger mit, die ihm den Haushalt führte und sowieso längst neugierig darauf war, das berühmte Kleid zu sehen.

Von den drei alten Leuten eskortiert und mit bewundernden Ausrufen bedacht, verließ Elisabeth die Wohnung, halb im Traum, halb von Angst gepeinigt. Ihr einfacher, dunkler Wintermantel nahm sich seltsam aus über dem Märchenkleid. Und erst die silbernen Schuhe dazu.

Als sie unten auf der Straße stand, empfangen von einem eiskalten Wind, war sie jäh ernüchtert. Lieber Himmel, dieses Kleid, die silbernen Schuhe. Und dazu das Nebenzimmer des Gasthauses. Herr Bossert. Die Kollegen. Frau Bossert. Es war unmöglich, in dieser Aufmachung dorthin zu gehen.

Langsam ging sie bis zur Straßenbahnhaltestelle, schauernd vor Kälte. Das Kleid war ein Nichts. Und ihr Mantel nicht sehr warm. Über dieses Kleid gehörte ein Pelz.

Den Mantel bis zum Hals zugeknöpft, stieg sie in die Straßenbahn. Sie hatte das Gefühl, jedermann starrte auf ihre Schuhe. Sie hätte für den Weg ein Paar andere Schuhe anziehen sollen. Aber ihre Sorgen waren überflüssig. Es war Ballsaison, Fasching. Sie entdeckte ein junges Paar, das offensichtlich zu einem Kostümfest ging. Das Mädchen trug auch silberne Schuhe. Und unter ihrem Mantel sah man die glänzende rote Seide ihres Kostüms.

Am Stachus musste Elisabeth umsteigen. Als die Straßenbahn kam, glaubte sie darin zwei ihrer Kolleginnen aus dem Büro zu erkennen. Sie wich zurück und ließ die Bahn fortfahren. Und auf einmal wusste sie ganz genau, dass sie in diesem Aufzug nicht zu dem Betriebsfest gehen konnte.

Morgen würde sie ihrem Vater und Herrn Mackensen erzählen, dass es sehr nett gewesen sei, dass sie sich sehr gut amüsiert habe und alle ihr Kleid sehr bewundert hätten.

Sie verließ die Insel der Straßenbahn, überquerte den Platz und ging die Neuhauser Straße entlang, mit schnellen Schritten, als hätte sie ein Ziel.

Aber sie hatte keins. Was sollte sie tun? Sie konnte nicht vor zwölf Uhr nach Hause kommen. Nein, das war auch zu früh. Sie war sonst nie vor ein Uhr nach Hause gekommen. Wo sollte sie so lange bleiben?

Schließlich rettete sie sich in ein Kino. Sie sah nicht viel von dem Film, ganz erfüllt wieder von schwermütigen Gedanken. Das zaghafte Glücksgefühl, das sie empfunden hatte, als sie sich anzog und schön machte, war vergangen.

Das teure Kleid. Die Schuhe, die hübsche Frisur. Wozu das alles? Für sie war es lächerlich. Für sie gab es das alles nicht. Sie musste sich damit verstecken.

Schwierig wurde es, als das Kino zu Ende war. Nachdem die Leute sich verlaufen hatten, war die Straße ziemlich leer. Vorübergehende Männer sahen sich nach ihr um, lächelten ihr zu. Schließlich rettete sie sich in ein Espresso-Café, das noch geöffnet war. Sie bestellte Kaffee, saß bewegungslos, den Mantel fest um sich gezogen. Hier saßen meist junge Leute, Paare, die ungeniert miteinander flirteten. Man beachtete sie weiter nicht.

Zwischen halb zwölf und zwölf wurde es leer in dem Lokal. Sie blickte auf die Uhr. Konnte sie es wagen, nach Hause zu gehen? Es war zu früh. Der Vater ging nie zeitig schlafen, er würde noch auf sein. Was sollte sie sagen, was erzählen? Würde sie es fertigbringen, ihm ungeniert ins Gesicht zu lügen? Sie hatte keine Übung im Lügen.

Eine Weile lief sie wieder durch die Straßen. Es war inzwischen bitterkalt geworden, und es fing an zu schneien. Die Schneeflocken tanzten anmutig im Licht der Straßenlampen, setzten sich ihr ins Haar. Die neue Frisur würde verderben. Aber was lag daran. Es war alles egal.

Sie kam sich verlassen und ausgestoßen vor wie nie in ihrem Leben. Sie war allein.

Annas höhnische Stimme: Du bist nicht schön. Du bist langweilig. Immer gewesen. – Und der Vater schenkte ihr ein Märchenkleid. Ein Kleid für das arme Aschenbrödel. Aber sie war viel ärmer als Aschenbrödel. Es gab keinen Ball, auf den sie gehen konnte, und ein Prinz begegnete ihr auch nicht.

Arc-en-ciel!

Für sie gab es keinen Regenbogen, um darauf zu tanzen. Nur die graue, nüchterne Wirklichkeit. Ein Platz hinter dem Schreibtisch. Zahlenreihen. Das bescheidene Heim. Und natürlich der Vater. Sie durfte nicht undankbar sein. Solange er lebte, war sie nicht allein. Nicht ungeliebt. Aber wenn er sie verlassen würde, dann würde die Einsamkeit vollkommen sein. Für immer würde sie dann allein bleiben.

»Nun, mein Fräulein, ganz allein?«

Erschreckt blickte sie auf. Dicht neben ihr, sich zu ihr neigend, ein gelbliches, grinsendes Männergesicht. Verhangene Augen unter öligem Haar.

Auch das noch. Natürlich, eine Frau, die um diese Zeit allein durch die Straßen lief, ohne Ziel, ohne Eile, ließ nur eine Deutung zu.

Sie machte hastig kehrt und eilte in entgegengesetzter Richtung weiter.

Wie töricht! Sie hätte natürlich geradeaus weitergehen müssen. Durch ihr Kehrtmachen bewies sie ja, dass sie kein Ziel hatte. – Sie rutschte. Die Straßen waren glatt geworden, der dünn fallende Schnee gefror auf dem Pflaster, und in den silbernen Schuhen ließ es sich schlecht laufen.

Dann merkte sie, dass der Mann ihr nachkam. Sie beschleunigte ihren Schritt, rutschte wieder, wäre beinahe gestürzt.

Da war der Kerl wieder da.

»Warum denn so eilig? Es ist glatt, Sie werden hinfallen. Wollen wir nicht irgendwo einen Schnaps trinken? Das wärmt so schön. Falls uns nicht etwas Besseres einfällt, wie wir uns wärmen könnten, wie?«

Er lachte meckernd, griff nach ihrem Arm.

Elisabeth hatte ihn mit einem erschreckten Seitenblick gestreift. Vor seiner Hand wich sie zur Seite, und ohne sich umzusehen, lief sie auf die Fahrbahn, um auf die andere Seite der Straße zu gelangen.

Sie hörte das Quietschen der Bremsen, spürte den harten Stoß an ihrem Körper, der sie umwarf. Es war keine Zeit mehr, um zu schreien. Aber merkwürdigerweise dachte sie: Regenbogen!

Ihr Kopf schlug hart auf den Bordstein, dann ein dunkles Gewölk, ein jäher Schmerz, der ihren Körper wie ein Messer durchfuhr, und dann wirklich ein Regenbogen. Schimmernd und vielfarbig spannte er sich in den schwarzen Himmel hinein. Und sie glitt über ihn hinweg, tanzte auf ihm entlang und stürzte ins Dunkel.

Gregor

Der große Wagen stand still. Zwei erschreckte Gesichter starrten durch die Windschutzscheibe. Von allen Seiten kamen auf einmal Leute herbei. Nicht viele, aber es sammelte sich doch eine kleine Gruppe, magnetisch angezogen von dem Unfall. Der Kerl mit dem gelblichen Gesicht verdrückte sich eilig, hastete in eine Nebenstraße.

Der Mann, der am Steuer des Wagens saß, schreckerstarrt für einen kleinen Moment, stieg aus. Als er sich über die bewusstlose Frau am Straßenrand beugte, fiel ihm das dunkle Haar in die Stirn.

Die Leute, die herumstanden, betrachteten ihn neugierig. Und dann wurde er erkannt.

Eine Mädchenstimme rief erstaunt: »Der Gregor!«

Der Mann schien es nicht zu hören.

Die Frau, die noch im Wagen saß, öffnete jetzt die Tür und fragte ängstlich: »Was ist los? Ist ihr was passiert?«

Veit Gregor gab keine Antwort. Er kniete auf der Straße. Behutsam hob er den Kopf der bewusstlosen Frau etwas an. Schwer und leblos hing er in seiner Hand.

Die Leute redeten wirr durcheinander.

»Ein Arzt muss her!«

»Besser nicht anrühren!«

»Sie ist mit dem Kopf auf die Bordsteinkante geschlagen!«

Und eine gehässige Stimme: »Man muss eine Blutprobe machen.«

Alle starrten den Mann an. Die verunglückte Frau war nicht interessant. Aber Veit Gregor kniete im Straßenschmutz. Sein Mantel war auseinandergefallen, man sah den Smoking darunter.

Ist sie tot? dachte Gregor. Nein, das kann nicht sein. Ich habe sie bloß gestreift. Der Stoß hat sie umgeworfen. Bin ich zu schnell gefahren? Sie ist mir direkt in den Wagen gelaufen. Sie kam von seitwärts und war plötzlich, da.

Er hob den Kopf und sah in neugierige Augen, die ihn anstarrten, begierig, erwartungsvoll.

»Veit Gregor!«, flüsterte wieder die Mädchenstimme, andächtig und bewundernd.

Es fehlt noch, dass sie mich um ein Autogramm bitten, dachte Gregor. Sie tun es immer und überall, warum nicht auch jetzt. Der arrogante Zug erschien um seinen Mund, mit dem er sich vor den Menschen schützte. Seine Stimme klang herrisch, als er sagte: »Ein Arzt! Wohnt hier ein Arzt in der Nähe?«

»Die Funkstreife muss her«, das war wieder die gehässige Stimme.

»Natürlich«, erwiderte Gregor kalt. »Kann man hier irgendwo telefonieren?«

Man konnte. Wenige Schritte entfernt war ein kleines Weinlokal. Der Mann mit der gehässigen Stimme steuerte gewichtig darauf zu. Und gleich darauf strömten die Gäste des Lokals auch auf die Straße. Die Menschengruppe um die Verunglückte war nun recht ansehnlich.

Die Frau im Wagen schob einen Fuß heraus, einen schmalen Fuß in einer winzigen Brokatsandalette. Als sie die nasse Straße sah, zog sie ihn schnell wieder zurück. Vor den neugierigen Augen verbarg sie sich im Dunkel des Wagens. Aber man hatte sie bereits ebenfalls erkannt. Sonja Markov, die junge Nachwuchsschauspielerin, das Starlet. Gerade in dieser Woche war auf einer Illustrierten ein Titelfoto von ihr zu sehen. Schmale grüne Nixenaugen unter einem Hügel wilder, roter Haare. Wer die Zeitung las, wusste, dass sie seit einiger Zeit die ständige Begleiterin von Veit Gregor war. So jedenfalls nannten es die Zeitungen.

»Was ist denn?«, rief sie jetzt verärgert aus dem Wagen. »Greg! Ist es etwas Ernsthaftes?«

Gregor wandte sich nicht zu ihr um. Er hielt immer noch den Kopf der Frau. Er hätte sich gern niedergebeugt, um an ihrer Brust zu lauschen, ob das Herz noch schlug. Aber es würde eine so pathetische Geste sein. All die neugierigen, die bösartigen, die feindlichen Augen um ihn hielten ihn davon ab. Schließlich fasste er nach dem Puls der Frau.

Er konnte nichts fühlen. Er war selbst zu aufgeregt. Sein Herz schlug rasend. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken. Das muss mir passieren, ausgerechnet mir. Was für Scherereien! Habe ich viel getrunken heute Abend? Drei oder vier Whisky. Das ist für mich so gut wie gar nichts. Kommt darauf an, wie die Polizei es sieht. Für sie ist es immer ein gefundenes Fressen, jemanden wie mich in die Finger zu kriegen. Dass ich viel trinke, weiß jeder. Es steht oft genug in der Zeitung. Sie werden sagen, ich war betrunken.

Der Skandal mit Sonja war noch keine Woche her. Breit und ausführlich hatte die Presse über seine Auseinandersetzung mit ihr berichtet. Dass er sie geohrfeigt und sie ihm den Sekt aus ihrem Glas ins Gesicht geschüttet hatte. In aller Öffentlichkeit.

Es war nicht so wichtig, solche Szenen waren zwischen ihnen an der Tagesordnung. Nur eben, dass die Außenwelt davon erfuhr, sein Publikum, das war lästig. In einer Situation wie der heutigen schadete ihm das. Zum Teufel mit dieser Person! Sie war ihm direkt in den Wagen gelaufen.

Er kniete immer noch auf dem Boden und kam sich lächerlich vor. Eine komische Rolle, die er da spielte. In keinem Drehbuch würde die Szene so lange dauern. Die Überfahrene, blass und ohnmächtig, und dann Großaufnahme, das Gesicht Veit Gregors, wie er sich über sie neigt, bestürzt, Schreck und Erbarmen im düsteren Gesicht. Aus. Abblenden! Hier war es anders. Hier musste er bleiben, eine andauernde Großaufnahme, und in seinem Gesicht waren weder Schreck noch Erbarmen, nur Ärger und Verdruss. Und dieser verdammte Pöbel stand herum und starrte ihn an. Diese Gans, diese Sonja rief dazu nach ihm aus dem Wagen. Sie sollte endlich ihren dummen Mund halten. Er konnte jetzt nicht aufstehen und den Kopf der Frau wieder in den Schneematsch legen, das hätte schlecht ausgesehen.

Erstmals betrachtete er das Gesicht der Frau genauer. Ein schmales, sanftes Gesicht, nicht mehr jung, aber gut geformt. Ihr Haar war nass und verwirrt. Unter dem Mantel sah er helle, schimmernde Seide. Offensichtlich war die Frau auf dem Weg oder auch auf dem Heimweg von einer Gesellschaft. Warum lief sie da auf der Straße herum? Jeder vernünftige Mensch setzte sich in ein Taxi.

Endlich. Die Funkstreife. Erleichtert legte Gregor den Kopf der Frau wieder auf die Straße und stand auf. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich der Kreis der Neugierigen noch vergrößert hatte. Waren die Journalisten schon da? Sicher doch. Gleich würde der erste ihn anquatschen. Veit Gregor verursacht Unfall in der Innenstadt. Veit Gregor überfährt eine Frau. – Was für herrliche Überschriften.

Gut, dass er nicht mehr getrunken hatte. Sonja konnte das bezeugen. Ach was, Sonja. Sie war als Zeugin nicht zu gebrauchen. Und vermutlich hatte sie mehr getrunken als er. Sie würde die Sache nur noch schlimmer machen. Aber tot konnte die Frau nicht sein. Keinesfalls. Seine Räder hatten sie nicht berührt. Nur der Kotflügel hatte sie zur Seite geschleudert. Davon starb man nicht.

Dann nahm alles seinen sachlichen Verlauf. Die Fragen der Polizisten, seine Bremsspur, ein Arzt, schließlich ein Krankenwagen. Die Frau war noch immer bewusstlos.

Sie war ihm in den Wagen gelaufen. Zeugen? Nein, bedaure, Zeugen hatte er nicht. Die Leute waren erst später gekommen.

Ärgerlich blickte Gregor den fragenden Beamten an: »Sie müssen mir schon so glauben. Sie lief ganz plötzlich, ohne sich umzublicken, auf die Fahrbahn. Mir direkt vor den Kühler.«

Der Beamte war sehr höflich. Natürlich kannte auch er den berühmten Schauspieler. Er wandte sich an die umstehenden Leute. Zwar bekam er allerhand Meinungen zu hören, aber keine präzisen Angaben … Keiner hatte den Unfall aus der Nähe gesehen.

»Der Wagen fuhr sehr schnell. Ich würde sagen, schneller als 50«, das war wieder die gehässige Stimme.

Gregor schoss einen scharfen, bösen Blick zu dem Sprecher hin. Ein schmalbrüstiger, älterer Mann, typischer Miesmacher. Einer von denen, für die Schauspieler und vornehmlich Filmschauspieler zur Ausgeburt der Hölle gehörten.

Auch an Sonja wurden einige Fragen gerichtet. Aber sie benahm sich unpassend wie immer. »Es ging so schnell«, hauchte sie. »Ich habe gar nicht richtig gesehen, wie es passiert ist. Ich sprach gerade mit Herrn Gregor und achtete nicht auf die Straße.«