Der Mond im See - Utta Danella - E-Book + Hörbuch

Der Mond im See Hörbuch

Utta Danella

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Beschreibung

Frühsommer in den Sechzigerjahren. Nach 3 aufregenden Jahren in Indien sehnt sich der Schweizer Ingenieur Walter Ried nach Urlaub, nach seiner Heimat. Seine Jugendliebe Isabelle de Latour, das „schönste Mädchen der Welt“, hat er nie vergessen. Tante Hille, bei der er nach dem Tod der Eltern aufgewachsen ist, bringt ihn auf den neuesten Stand: Annabelle ist geschieden und lebt vorübergehend wieder auf dem elterlichen Schloss, das nun ein Luxushotel ist. Ihr Vater, der dem Glück der beiden vor 10 Jahren im Weg stand, lebt nicht mehr. Darf Walter auf eine zweite Chance bei der kapriziösen Isabelle hoffen? „Wenn Der Mond im See schwimmt, kommt die Liebe oder der Tod“ sagt man in dem kleinen Ort Wilberg am See. Als überraschend eine Leiche auftaucht, wird aus Walters Urlaub ein gefährliches Abenteuer …

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Zeit:11 Std. 23 min

Sprecher:Marko Formanek

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Utta Danella

Der Mond im See

Roman

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Utta Danella: Der Mond im See. Roman

Copyright ©2016 by Erbengemeinschaft Utta Danella vertreten durch AVA international GmbH, Germany

Die Originalausgabe ist 1965 im Schneekluth Verlag, Darmstadt erschienen.

Überarbeitete Neuausgabe ©2020 by hockebooks gmbh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von Dmitry Finkel/shutterstock.com

ISBN: 978-3-957-51354-0

www.ava-international.de

www.uttadanella.de

Tante Hille erschien mir erstmals wieder im Traum. Ich will nicht gerade sagen, dass es ein Albtraum gewesen wäre. Aber immerhin ein Angsttraum.

Ich war, wie ehedem, ein kleiner Junge, ich stand auf einem der grünen Sessel im grünen Salon und haschte verzweifelt nach dem Flieger, der mit lautem Surren unerreichbar hoch über mir seine Kreise zog. Den Flieger hatte ich aus der Ernennungsurkunde von Urgroßpapa Gemeindepräsident gebastelt, und es war mir klar – im Traum, versteht sich –, dass das eine unerhörte Missetat war und dass ich das Ding fangen, auseinanderfalten, sorgfältig glattstreichen und wieder an seinen angestammten Ehrenplatz hinter Glas auf der Nussbaumvitrine unterbringen musste. Aber ich konnte das verflixte Ding nicht fangen. Mitten in mein Bemühen hinein platzte Tante Hille, was ganz selbstverständlich war, denn es war mir nie, fast nie, gelungen, irgendeine strafbare Handlung zu begehen, ohne von ihr früher oder später dabei ertappt zu werden. Ich stand auf dem Sessel, sie davor, klein, drahtig, energisch, die Stirn über den klaren braunen Augen unheilvoll gerunzelt.

»Was ischt das?«

Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, fest entschlossen, nicht zu gestehen, dass es sich um ein ehrwürdiges Dokument handelte, das da oben unter der Zimmerdecke immer schneller, immer lauter seine Kreise zog. Sssss! Sssss! Wenn sie entdeckte, was es war, setzte es unweigerlich ein oder mehrere Datscherli, wie sie es nannte, wobei es sich keineswegs um Datscherli handelte, sondern um ausgewachsene Ohrfeigen von einer recht kräftigen Hand.

Damit war sie sehr freigebig. Als ich klein war, begann ich jedes Mal lauthals zu plärren, später dann schluckte ich, ballte die Fäuste und verzog mich, je nach Jahreszeit, entweder in die hinterste Ecke des Gartens oder in das Apfelkammerli unter der Treppe. Und hasste Tante Hille eine Weile aus tiefstem Herzen. Bis Maman mich fand, in die Arme schloss, küsste und streichelte und liebevolle Worte dabei murmelte. Was ich als größerer Junge ebenso wenig leiden mochte wie die Datscherli.

Aber zurück zum Traum. Tante Hille starrte zur Decke hinauf, dann auf mich, dann wieder zur Decke, und voilà, wie konnte es anders sein, da hatte sie den leeren Fleck unter Glas entdeckt und messerscharf kombiniert, dass es die Urkunde war, die da oben surrte.

»Du bischt ein ganz ungezogener Bub! Jetzt gib acht, wie es dir ergeht.« Sie zog mich am Arm energisch vom Sessel herunter, holte aus – und ich erwachte.

Im ersten Moment war ich erleichtert. Als dreißigjähriger Mann hat man es nicht gern, von einer alten Tante geohrfeigt zu werden, nicht einmal im Traum. Dann hörte ich, dass das Surren immer noch da war. Natürlich – da hatte sich wieder so ein Biest unter das Netz verirrt. Darum also der Schreckenstraum. Und heiß war es wieder! Nahm dieser Monsun nie ein Ende? So widerlich wie diesmal war er mir noch nie vorgekommen. Mein Körper war schweißnass, die Luft im Zimmer schwer von Feuchtigkeit.

Mit einem Fluch sprang ich aus dem Bett und machte mich daran, den Moskito zu erschlagen. Dann tappte ich hinaus in die Pantry, um mir etwas Kaltes aus dem Kühlschrank zu holen. Der Doktor sagte zwar immer, man solle nicht so viel trinken, das erhöhe nur den Schweißausbruch, aber hol’s der Teufel, ich war kein Märtyrer, und wenn mir die Zunge am Gaumen klebte, dann trank ich eben.

Ich zündete mir eine Zigarette an, wohl wissend, dass es ebenfalls sehr ungesund war, mitten in der Nacht zu rauchen. Aber was bedeutete Trinken und Rauchen gegen dieses verfluchte Klima hier. Das war bestimmt das Ungesündeste von allem. Wieder wie so oft bewunderte ich im Stillen die Briten, die es hier so lange ausgehalten hatten, ohne Aircondition, ohne Kühlschränke, ohne – mochte der Himmel wissen, was es in ihrem prächtigen Kolonialreich im vergangenen Jahrhundert alles nicht gegeben hatte.

Ich lauschte gewohnheitsmäßig in die Nacht hinaus. Tiefe Stille. Friede. Oder zumindest scheinbarer Friede. Seit dem Aufstand und den bösen Schlachten zwischen Mohammedanern und Hindus vor einigen Monaten traute ich dem Frieden nicht mehr. Irgendwo schnitten sie sich immer die Kehlen durch. So wie sie Tahoj, meinem Lieblingsboy, die Kehle durchschnitten hatten. Tahoj, sanftäugig, gutwillig, fleißig, immer bemüht, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen – und dann lag er am Morgen vor meiner Schwelle, ausgeblutet und stumm. Den Anblick konnte ich nicht vergessen. Sein einziger Fehler: Er hatte in den Augen der anderen die falsche Religion gehabt. Religionskämpfe im zwanzigsten Jahrhundert! Aber hier war eben kein zwanzigstes Jahrhundert, auch wenn wir ihnen ein Stahlwerk nach den modernsten und fortschrittlichsten Erkenntnissen des zwanzigsten Jahrhunderts aufgebaut hatten. Tagelang hielt das Morden in der Siedlung an. Den Europäern geschah nichts, obwohl wir das Schlimmste befürchteten. Wir hatten die Frauen und Kinder im Club und in einigen größeren Bungalows untergebracht und bewachten sie Tag und Nacht. Bis Regierungstruppen kamen und die Ordnung wiederherstellten. Oder jedenfalls so etwas Ähnliches wie Ordnung. Die Produktion wurde wiederaufgenommen. Wir betranken uns einige Tage lang im Club, um die furchtbaren Bilder zu vergessen. Ich bekam einen neuen Boy. Es herrschte Ruhe bis zum nächsten Mal.

Indien! Was für ein Land! Viel zu groß, um es zu begreifen. Viel zu groß, um es zu kultivieren. Und wir hier in Rourkela, was taten wir – was konnten wir tun? Unsere Arbeit, sonst nichts. Unsere Arbeit, für die man uns hierhergeschickt hatte und großzügig bezahlte. Wenn meine Zeit zu Ende sein würde, in zwei bis drei Jahren – Himmel und Hölle – freute ich mich auf Europa!

Und es würde gar nicht so lange dauern, bis ich es wiedersah. Ein paar Monate noch, dann hatte ich Urlaub. Viele, viele lange Wochen Europaurlaub. Aber dann –

Die Welt würde mir gehören. Oder zumindest Europa. – Komisch, dieser Traum. Wie lange hatte ich nicht mehr an Tante Hille gedacht? Wie lange ihr nicht mehr geschrieben? Zu Weihnachten das letzte Mal. Es war eine Schande. Ihren Geburtstag hatte ich auch vergessen.

Und nun nicht mehr im Traum, sondern bei klarem Bewusstsein, sah ich die alte Dame deutlich vor mir. Bis zur Schulter ging sie mir jetzt. Ihr Haar war weiß gewesen, als ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Vielleicht lebte sie gar nicht mehr. Hatte ich am Ende deswegen von ihr geträumt, weil sie gestorben war? Spukte sie jetzt in meinen Nächten herum? Das traute ich ihr ohne Weiteres zu. Da wäre also der letzte Mensch gestorben, der zu mir gehörte. Mein Vater im Krieg gefallen, ich kannte ihn nur als vage Erinnerung. Maman gestorben, als ich fünfzehn war. Ausgelöscht wie ein müdes kleines Flämmchen.

Was für blödsinnige Nachtgedanken! Ich war wirklich reif für den Urlaub. Ich schenkte mir noch einen doppelten Whisky ein, und dann wollte ich schlafen. Ohne Moskitos, ohne Urkunde, an der Decke kreisend, und ohne Tante Hille.

Immerhin wirkte der Traum so nach, dass ich einige Tage später einen Brief an Tante Hille schrieb. Mir gehe es gut, kommendes Frühjahr hätte ich Urlaub, und dann würde ich sie besuchen. – Doch, das hatte ich mir fest vorgenommen. Acht bis zehn Tage würde ich bei ihr bleiben. Das genügte. Denn ich hatte viel vor in meinem Traumurlaub. Erst nach München zur Firma, dann einen flotten kleinen Wagen kaufen, und dann, gut, bitte schön, würde ich in die Schweiz fahren zu Tante Hille, in das komische alte Haus, in dem ich den größten Teil meiner Kindheit verbracht hatte.

Aber dann – dann ging das große Leben los. Zuerst vielleicht zum Genfer See, dann in einem Rutsch zur französischen Riviera und dort ein paar großartige Wochen verbracht. Ehe die große Hitze kam. Darauf legte ich keinen Wert. Hitze hatte ich hier genug genossen. Wieder nach Norden, mal eben schnell nach Paris, dann vielleicht an die holländische Küste, möglicherweise auch an die Nordsee. Wir hatten einen jungen Ingenieur vor ein paar Monaten herbekommen, der erzählte tolle Geschichten von der Insel Sylt. Wer dort etwas auf sich hielt, lief nackt herum. Und gelegentlich seien ein paar gut gewachsene Mädchen darunter, die das Anschauen wert seien. Das durfte ich mir nicht entgehen lassen.

Überhaupt Mädchen! Frauen! Europäische Frauen mit langen Beinen und heller Haut, möglichst blond und blauäugig. Am besten fuhr ich gleich nach Schweden weiter, da gab es so was massenhaft. Ein Urlaub würde das werden!

Abends im Club schwärmte ich davon. Meine jungen Kollegen bekamen träumerische Augen. Und gaben sehr realistische Kommentare dazu. Thaler, der Leiter vom Kraftwerk, ein stämmiger Mann Ende fünfzig, lächelte nachsichtig.

»Dann sehe ich Sie schon mit einer Ehefrau hier ankommen. Passen Sie auf, Ried, das geht schnell.«

»Bei mir nicht. Ich heirate erst, wenn ich hier unten fertig bin. Wenn ich ganz wieder zu Hause bin und einen großartigen Job bei der Firma habe. Und dann suche ich mir ein Mädchen!« Ich blickte schwärmerisch zur Decke, wo ich das Wundermädchen schweben sah. »Das schönste Mädchen der Welt. Zart und schlank, blond und süß, mit zärtlichen blauen Augen, so ein Mädchen muss es sein.«

Komisch, was da vor meinen inneren Augen schwebte, glich aufs Haar Annabelle. Blond und zart, schutzbedürftig, zärtlich – hatte ich je ein Mädchen gesehen, das mir besser gefiel als sie? Nie!

Nie.

Nun, das war lange vorbei. Annabelle hatte längst geheiratet. Und dass sie für mich unerreichbar war, das hatte man mir ja damals deutlich genug zu verstehen gegeben. Annabelle de Latour, die Tochter vom Schloss. Solange sie ein Kind war, durfte ich mit ihr spielen. Später nicht mehr.

Die Kollegen hatten inzwischen den Faden aufgenommen und malten weiter an dem Bild des Mädchens, das ich mir vorstellte. Der eine wollte sie mit großem, der andere mit kleinem Busen haben. Einer bestand auf einem Grübchen in der Wange, und der kleine Sanders meinte frech, er finde ein Grübchen am Popo viel reizvoller.

Thaler hörte sich das geduldig an und nibbelte langsam an seinem Whisky.

»Und sonst, Ried? Sonst soll sie gar nichts sein? Nur schön und zärtlich?«

»Reich natürlich auch«, quakte Tillessen dazwischen. »Das ist besonders wichtig.«

Ich winkte ab. »Mit reichen Mädchen ist es schwierig.«

»Ich könnte mir noch ein paar andere Eigenschaften vorstellen«, meinte Thaler.

Ich sah ihn an und wusste, was er meinte.

»Klug«, sagte ich. »Und ein guter Kamerad.«

»Ja.« Thaler nickte bedächtig. »Ein Freund. Versteht ihr? Ein echter Freund, in guten und in bösen Tagen. Ob sie dann einen großen oder kleinen Busen hat und ein Grübchen hier oder dort, spielt gar keine Rolle. Daran gewöhnt man sich. Aber das andere, das ist viel wichtiger.«

Er konnte gut reden. Es war keine Theorie. Er hatte so eine Frau. Karin Thaler war die Frau, die mir außer Annabelle in meinem Leben am besten gefallen hatte. Keine Übertreibung. Es spielte keine Rolle dabei, dass sie gut zehn Jahre älter sein mochte als ich. Tatsache war, dass ich Thaler um diese Frau beneidete. Sie musste einmal ein bildschönes Mädchen gewesen sein. Und sie sah immer noch blendend aus, obwohl sie zu Hause in Deutschland drei Kinder hatte. – Schlank, hochbeinig, ein schmales rassiges Gesicht mit großen graublauen Augen, hellblondes Haar, und das Lächeln eines jungen Mädchens. Die beiden führten eine glückliche Ehe, das merkte man, ohne dass ein Wort darüber gesprochen wurde. Sie waren – nun ja, eben nicht nur ein Ehepaar, sondern Freunde. Und das Schlimmste, das sie erlebt hatten, hatte sie nur enger aneinander gebunden.

Ich wusste ja nur einiges über ihr Leben, was man eben so im Laufe der Zeit erfuhr. Er hatte den ganzen Krieg mitgemacht, war schwer verwundet worden, und dann in russischer Kriegsgefangenschaft. – Zwei Kinder hatte sie damals schon, sie lebte in der Sowjetzone. Als er dann kam, war er kein junger Mann mehr. Und das Leben war schwer für sie. Vor fünf Jahren waren sie in die Bundesrepublik gekommen, er nun schon ein Mann in den Fünfzigern, mit der schweren Aufgabe, ganz neu anzufangen. Unsere Firma hatte ihn angestellt, aber nur in verhältnismäßig bescheidener Position. Die großen Posten gehörten heute den Jungen.

Und darum war er nach Rourkela gegangen. Hier bekam er eine leitende Position, hier verdiente er viel mehr, und man hatte ihm zugesagt, wenn er noch fünf Jahre Indien machte, würde er dann in der Heimat eine gute Position bekommen. Es war wichtig für ihn. Die beiden Ältesten brauchten eine gute Ausbildung, der Große studierte schon, soviel ich wusste. Der kleine Nachkömmling benötigte noch lange Zeit, bis er erwachsen war.

Sie hätte daheimbleiben können. Gemütlich in Deutschland, in einer hübschen Wohnung, bei ihren Kindern, Geld war ja nun da, sich pflegen, noch ein bisschen was vom Leben haben, ehe sie alt wurde.

Aber sie war mit ihm gegangen. Der Mann war so viel allein gewesen, hatte sie so lange entbehren müssen. Er war nicht mehr gesund, das Klima bekam ihm nicht. Sie wusste, dass es für ihn leichter sein würde, wenn sie bei ihm war.

Freunde! Ja. Das war es wohl.

Ich nickte Thaler zu. »Sie haben recht. Wieder einmal ganz genau auf den Punkt. Ich werde daran denken, wenn es so weit ist.«

Ach, du lieber Himmel! Ich ahnungsloser Narr. Woran würde ich noch denken, wenn ich Annabelle wiedersah? An nichts, an gar nichts. Nur daran, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen und festzuhalten. Sie zu besitzen. Ja, ganz klar herausgesagt, sie endlich besitzen. Annabelle, die längst die Frau eines anderen war.

»Noch einen«, sagte ich mürrisch zu dem Boy und gab ihm mein leeres Glas.

Nach einer Weile kam Karin Thaler aus dem Nebenraum von ihrer Bridgerunde.

»Fertig für heute?« fragte ihr Mann.

Sie nickte. »Ja. Ich kann mich sowieso nicht konzentrieren. Diese Luft …«

Sie sah schlecht aus, müde und älter als sonst, ein paar Linien im Gesicht, die ich noch nie gesehen hatte. Aber sie lächelte mir zu. »Na, Walter, so nachdenklich?«

»Er macht im Geist Europa unsicher und trifft gerade seine Wahl unter den Töchtern des Landes«, mokierte sich Thaler.

»Hoffentlich nicht gerade während seines Urlaubs«, meinte sie. »Da wählt man meist daneben. Die Zeit ist zu kurz und der Eifer zu groß. Das haben wir hier schon öfter erlebt.«

»Na, du musst es ja wissen«, meinte ihr Mann trocken. »Ich habe dich ja schließlich auch während meines ersten Fronturlaubs kennengelernt.«

Sie stand neben seinem Sessel, legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte auf ihn hinab. Ein warmes, zärtliches Lächeln. Auf einmal sah sie wieder viel jünger aus.

Er schaute zu ihr hinauf und lächelte auch. Und war nicht mehr ein müder, früh verbrauchter Mann, dem das Leben wenig Chancen geboten hatte. Er war, so schien es mir, ein glücklicher Mann.

»Gehen wir?«, fragte sie.

Er nickte und stand auf.

Ich erhob mich ebenfalls, und als sie mir die Hand gab, beugte ich mich hinab und küsste ihre Hand. Eine schmale feste Hand mit langen sensiblen Fingern. Sie hob überrascht die Brauen und errötete sogar ein wenig. Wir waren sonst keine besonderen Kavaliere hier draußen.

Als sie fort waren, setzte ich mich nieder und machte mich über den neuen Whisky her. Die anderen waren in eine laute Debatte vertieft. Ingenieur Schneider führte das große Wort. Sein Lieblingsthema. Was für ein Unsinn es sei, Indien die Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts aufzuzwingen, da es geistig noch im fünfzehnten lebte.

»Sie können die Zeit nicht überspringen. Sie müssen sich entwickeln wie alle anderen. Wir haben auch Jahrhunderte gebraucht, bis wir moderne Menschen waren. Vor dreihundert Jahren haben wir auch noch wegen der Religion Kriege geführt. Und haben Hexen verbrannt. Und Zauberformeln gelernt. Es braucht seine Zeit. Auch ein Kind ist nicht in drei Jahren erwachsen.

Solange sie sich umbringen, weil sie an verschiedene Götter glauben – solange sie diese scheußlichen Bräuche und diesen furchtbaren Aberglauben haben, auch die Gebildeten unter ihnen, auch die, die etwas gelernt haben, solange sind wir einfach lächerlich mit unserer Technik hier.«

Und Tillessen dagegen: »Die Erde ist zu klein geworden. Die Technik reicht überallhin, man kann keinen Fleck aussparen und warten, bis er sich nachentwickelt. Wir müssen ihnen helfen bei dieser Entwicklung. Wir müssen sie beschleunigen. Das ist unsere Aufgabe. Und nicht nur, soweit es die Technik betrifft.«

»Sie haben ja gesehen, wie weit wir damit gekommen sind. Hier im Schatten von einem der modernsten Stahlwerke, das die Welt kennt, haben sie sich noch vor einigen Wochen hingemetzelt. Und dass sie uns nicht auch massakriert haben, wundert mich heute noch. Aber dann vielleicht beim nächsten Mal.«

Ich kannte diese Gespräche. Ich hatte mich oft genug daran beteiligt. Drei Jahre war ich jetzt hier. Aber Indien blieb mir so unverständlich wie am ersten Tag. Man konnte es vielleicht beherrschen, wie Großbritannien es beherrscht hatte. Aber man konnte es nicht verstehen.

Heute hatte ich keinen Spaß an der Diskussion. Mich interessierten weder die indischen noch die deutschen Religionskriege. Ich dachte an meinen Urlaub. Und seit dem Traum vor ein paar Tagen an Tante Hille. Und an Annabelle.

Ja. Am meisten an Annabelle.

An einem kühlen Tage Anfang Mai landete ich auf dem Flugplatz München-Riem. Es regnete in Strömen. Ich fröstelte in meinem dünnen Trenchcoat, aber ich fand den Regen und die Kühle herrlich. Als ich mein Gepäck hatte, trug ich es vor das Portal, setzte es dort nieder und ging – die Hände in den Taschen – einige Mal vor dem Flughafengebäude hin und her, ohne Hut, das Gesicht nach oben gekehrt, damit es möglichst viel von dem wundervollen Nass abbekam.

Mitteleuropäischer Regen, kühl, sanft, geradezu wohlschmeckend, wie ich mit der Zungenspitze feststellte. Herrlich!

Darüber fuhr der Bus weg, und ich musste ein Taxi nehmen. Der Taxichauffeur, als er mein nasses Gesicht und mein tropfendes Haar sah, meinte kummervoll: »So a Sauwetter, so a greisliches!«

»Das Wetter ist einfach großartig«, sagte ich, »könnte gar nicht schöner sein.«

Er warf mir einige misstrauische Blicke zu, während er mein Gepäck verstaute. Also beeilte ich mich, nachdem ich mich neben ihn gesetzt hatte, ihm zu erläutern, dass ich aus den Tropen käme, dass es dort entweder irrsinnig heiß sei, oder wenn es regnete, sich um Monsun handle, der auch warm sei, wild und wütend, und keine Erholung und Erfrischung biete.

»Mei«, sagte er, »dös is arg. Dös siech i ein. Ja, wann’s so is, nachher kemmans’ hier grad recht. Bei uns regnets seit acht Tag. Und koit is grad gnua. Grad heizen muaß ma no.«

Dann wollte er wissen, wo ich hin wolle.

»In ein erstklassiges Hotel«, sagte ich und nannte einige Namen, denn schließlich hatte ich in München studiert und kannte mich aus. Und ich hatte beschlossen, in diesem Urlaub nicht auf die Kopeken zu sehen. Das Beste war mir gerade teuer genug.

Aber mein Fahrer schüttelte zweifelnd den Kopf. »Da siech i schwarz. Wanns’ net bestellt ham – Wissens’, in München is immer was los. Zurzeit hammer – Wartens, ob i’s zsammbring – also wir ham erschtens die Nahrungsmittelexperten hier, dann eine Delegation aus dem Sudan, dann die Chirurgen und – was war jetzt dös no – ah ja, richtig, den Unternehmerfachverband. Und a Ausstellung hams’ a eröffnet.«

»Was heißt das, sie haben die hier?«

»Mei, die tagen halt. In München tagens’ alleweil. Zwei oder drei mindestens. Und drum sind a unsere Hotels alleweil besetzt. Da müssens’ Eahna anmelden. Lang vorher scho.«

»München hat schließlich Hotels genug. So schlimm wird’s schon nicht sein«, meinte ich leichtsinnig.

Jedoch, es war so schlimm. Nachdem wir »Bayerischer Hof«, »Königshof«, »Excelsior«, »Deutscher Kaiser«, »Continental« und schließlich noch die »Vier Jahreszeiten« abgeklappert hatten, auf der Suche nach einem Bett für mich, sehr zum Entzücken meines Fahrers, denn es war mittlerweile später Nachmittag, die Straßen brodelnd von Verkehr, wir kamen langsam vorwärts, und die Taxameteruhr stieg in astronomische Höhen, hielten wir ratlos vor der Anfahrt der »Vier Jahreszeiten«.

»Ja mei«, sagte mein Fahrer. »Was dean ma jetzt?«

Ich hätte ja bloß meine Firma anzurufen brauchen. Erstens hatten die, soviel ich wusste, ein Gästehaus. Zweitens würden sie vielleicht auch ein Hotelzimmer für mich auftreiben. Aber erstens war es schon ziemlich spät und vielleicht schon Büroschluss, und zweitens wollte ich nicht schon am ersten Abend Bibiana in die Hände fallen.

Ja, sie hieß wirklich so, war ein prächtiges Mädchen, die Sekretärin meines ehemaligen Chefs in der Firma und, ehe ich nach Indien gegangen war, längere Zeit meine große Liebe. Oder ich die ihre, wie man’s nimmt. Nur mit Millimeterbreite war ich am Standesamt vorbeigekommen, und was Bibiana mir auf die Reise mitgab, war alles andere als ein Segenswunsch. Es war mir nie ganz begreiflich gewesen, warum sie mich partout heiraten wollte. Sie wär viel zu schade für mich, das hatte ich ihr immer wieder klarzumachen versucht, so hübsch und so tüchtig, groß und kräftig gewachsen, mit schönen Beinen und einem gut entwickelten Busen, ungemein energisch, sehr selbstbewusst und außerordentlich tonangebend, wo immer sie sich auch befand. Sei es in ihrem Bereich in der Firma, sei es in unserem gemeinsamen Freundeskreis oder auch im Zusammenleben mit mir. Vor einer Ehe mit Bibiana hatte ich mich, ehrlich gestanden, gefürchtet. Sie war mir zu tüchtig, zu selbstbewusst, zu tonangebend. Ich kam mir neben ihr immer wie ein kleiner dummer Junge vor, dem man gleich auf die Finger klopfen würde. Das war ungerecht von mir gewesen. Sie hatte mich geliebt, ganz bestimmt, und sie war eine ebenso leidenschaftliche wie sorgsam auf mein Wohl bedachte Geliebte gewesen. Und hätte zweifellos eine großartige Ehefrau abgegeben. Neben ihr konnte ein Mann gar nichts anderes machen als Karriere, so viel war sicher. Aber ich hatte immer schon etwas gegen allzu viel Perfektion gehabt. So ein Mädchen wie Annabelle zum Beispiel, gar nicht tüchtig, verspielt, wechselnd in Stimmung und Laune, unberechenbar, also das war … Hinter uns hupte es.

»Also was dean ma?«, fragte mein Fahrer und startete. »Hier koa i net stehen bleiben über Nacht.«

»Ja«, meinte ich unentschlossen, »dann müssen Sie mich eben in einem Lokal absetzen, wo ich telefonieren kann.«

»I wüsst Eahna was. Freili woaß i net, ob die an Platz frei ham. In Schwabing drunt, da kenn i so a kloans Hotel. Is mehr a Pension, aber sehr nett. Dös is ganz in der Näh, wo i wohn.«

»Gut. Fahren wir dahin. Und dann sind Sie wenigstens gleich zum Abendessen zu Hause.«

»Eben. Dös hab i mir a denkt.«

Das kleine Hotel in Schwabing, das eigentlich eine Pension war, hatte wunderbarerweise ein Zimmer für mich frei. Sogar ein sehr schönes großes Eckzimmer mit Schreibtisch, Radio und danebenliegendem Badezimmer. Überraschend hatte einer abreisen müssen. Die Wirtin, eine ältere rundliche Frau, schien sich außerordentlich zu freuen, dass ich bei ihr gelandet war. Sie schickte mir ein eiskaltes Bier aufs Zimmer und ein hübsches blondes Mädchen, das mir beim Auspacken half. Und zum Schluss kam noch eine Vase mit drei roten Tulpen, die man mir auf den Tisch stellte. Ich war gerührt. Genauso hatte ich mir das Heimkommen vorgestellt. Ich badete, rasierte mich und setzte mich dann in einen tiefen Plüschsessel und döste gemütlich vor mich hin. At home! Das konnte nur der verstehen, der fortgewesen war.

Noch am Abend machte ich die Bekanntschaft von Erika. In einem Lokal in der Leopoldstraße hatte ich zu Abend gegessen – es gab hier mehrere neue Lokale, die ich noch nicht kannte – und war dann gemütlich durch einige Schwabinger Kneipen gebummelt. Das war eigentlich wie früher. Harte Stühle, Rauch und Lärm, tanzende Paare, junge Künstler von wildem Aussehen, ein paar Provinzonkels dazwischen.

So ein Provinzonkel saß bei »Gisela« am Nebentisch, Anfang sechzig etwa, dick und rotgesichtig, die Sektflasche auf dem Tisch. Neben ihm ein schlankes, hochbeiniges Reh, silberblonde lange Mähne, himmelblaue Augen mit langen Wimpern. Jung und unschuldig sah sie aus. Gar nicht übel. Vielleicht die Tochter von dem Alten. Wir wechselten ein paar Blicke von Tisch zu Tisch, ich wagte ein Lächeln, sie lächelte zurück. Dabei kaute sie gelangweilt an ihrem Strohhalm. Na ja, war sicher nicht sehr unterhaltend für die Kleine, mit dem Papa hier zu sitzen. Ob ich mal – na klar, warum nicht?

Als die Trompete schmetternd den nächsten Tanz anblies, erhob ich mich. Ich hatte zwar keine Ahnung, was das für ein Tanz war, aber das spielte keine Rolle, auf der Tanzfläche war sowieso wenig Platz, da kam es nicht darauf an, wie man sich dort herumdrückte.

Ich machte die zwei Schritte zum Nebentisch, produzierte eine tadellose Verbeugung, fragte den Alten: »Sie erlauben?«, und wandelte hinter der Blonden, die eilig aufgestanden war, zur Tanzfläche. Es ging ganz gut. Sie schmiegte sich weich in meinen Arm, tanzte sehr sicher und graziös, lächelte ein paar Mal unter halb gesenkten Lidern zu mir auf, sagte »au«, als ich ihr auf den Fuß trat, sagte »macht nix«, als ich mich entschuldigte, und dann brachte ich sie zu ihrem Vater zurück, bedankte mich bei beiden und setzte mich wieder vor meinen Whisky.

Na, siehst du, mein Junge. Ist gar nicht so schwer mit der Zivilisation. Übrigens schien der Papa nicht sehr erfreut gewesen zu sein, dass ich mit dem Töchterchen getanzt hatte, kein Blick, kein Lächeln, nicht mal ein Nicken auf mein höfliches Tanzstundengebaren hin. Da sagte man immer, die junge Generation hätte keine Manieren. Die Alten schon gar nicht.

Ich ließ einen Tanz aus. Beim übernächsten stellte ich mich wieder in der Nachbarschaft ein.

Als wir tanzten, sagte die Blonde mit einem Blick zu ihrem alten Herrn hin: »Jetzt ist er sauer.«

»Warum?« fragte ich erstaunt.

»Sehen Sie, jetzt winkt er der Kellnerin. Jetzt will er zahlen.«

»Warum?«, fragte ich wieder.

»Na, weil ich mit Ihnen tanze. Das ist doch klar.«

»Hat Ihr Herr Vater denn etwas dagegen, wenn ich mit Ihnen tanze? Warum geht er dann mit Ihnen hierher?«

Der Blick, den sie mir zuwarf, war voll abgrundtiefer Verachtung.

»Mein Vater! Na Mensch, Sie sind wohl reichlich behämmert. Wo kommen Sie denn her? Aus dem Urwald?«

Sie hatte es fast getroffen.

Ich nickte. »So etwas Ähnliches. Nicht Ihr Vater also. Onkel auch nicht? Eine Art väterlicher Freund demnach.«

»So was Ähnliches«, wiederholte sie meine Worte und kicherte.

»Und die Gefühle, die seine Brust erfüllen, wenn Sie mit mir tanzen, sind dann wohl so etwas wie Eifersucht?«

»So was Ähnliches.«

»Ja, was machen wir denn da? Ich möchte dem alten Herrn nicht das Leben vergällen. Da werde ich Sie wohl zurückbringen müssen.«

»Ich tanze aber gern mit Ihnen.«

Das tat mir gut. »Ganz meinerseits«, sagte ich. Das stimmte. Sie war weich und zart und zierlich in meinem Arm, ich spürte ihre kleinen Brüste ein wenig, sie roch gut, ihr silberblondes Haar kitzelte mich manchmal an der Nase. Es war einfach ein hübsches Gefühl, so einen jungen Mädchenkörper nahe bei sich zu haben. Schließlich hatte ich lange genug davon geträumt. Sicher, es musste vielleicht nicht gerade die sein. Und die Geschichte mit dem alten Herrn störte mich etwas. Aber so sehr auch wieder nicht. Ich kam zwar aus dem Urwald, aber nicht vom Mond, ich hatte lange genug in München gelebt und kannte Schwabing bestens. C’est la vie, so ist das Leben nun einmal. Spendable alte Herren waren für süße junge Mädchen zeitweise ganz brauchbar und nützlich. Die zahlten ein neues Kleidchen und ein paar schicke Schuhe, vielleicht sogar mal ein Armbändchen, wenn’s hochkam einen Pelzmantel, und viel Unheil konnten sie nicht mehr anrichten, die alten Herren. An den jungen Mädchen wurde nichts Wichtiges abgenutzt, und zu ihrer Zeit wurden brauchbare kleine Ehefrauen aus ihnen. Kein Grund zur Aufregung.

Jetzt war die Kellnerin am Tisch bei Vati. Er zahlte.

»Schade«, seufzte die Kleine. »Die Flasche ist noch halb voll. Und ich trinke so gern Sekt.«

»Ja, wir könnten ja dann vielleicht morgen«, sagte ich, »oder heute noch? Was passiert denn, wenn Sie jetzt gehen? Sind Sie – ich meine, bleiben Sie zusammen?«

»Was glauben Sie denn? Er bringt mich heim, und dann muss er auch nach Hause. Er ist schließlich verheiratet.«

»Na dann! Ist doch ganz einfach. Wir müssen ihn ja nicht ärgern. Er sieht eigentlich recht lieb aus.«

»Doch«, gab sie zu, »ist er auch.«

»Also, dann lassen Sie sich schön nach Hause bringen, und nachher treffen wir uns wieder und trinken noch eine Bottle. Ist doch ganz einfach. Mir ist auch noch nicht nach Schlafengehen zumute. Wissen Sie, ich bin seit drei Jahren das erste Mal wieder in München. Heute erst angekommen.«

»Heute erst?«, staunte sie. »Woher denn?«

»Aus Indien«, sagte ich und ließ es möglichst bescheiden und alltäglich klingen. Aber es machte sich gut.

Und verfehlte auch seine Wirkung nicht.

»Ui«, machte sie, »ist ja toll. Das müssen Sie mir erzählen. Sie wollen also wirklich noch heute …?«

»Ja. Falls Sie nicht zu müde sind.«

»Nö. Ich bin nicht müde. Also, dann passen Sie mal auf …«, die Musik dudelte die letzten Akkorde, und sie flüsterte mir hastig zu, in welchem Lokal in welcher Straße ich sie in einer halben Stunde erwarten dürfte.

Dann lieferte ich sie bei ihrem väterlichen Freund ab, machte eine tiefe Verbeugung, bedankte mich bei ihm mit gewählten Worten. Diesmal nickte er kurz und ungnädig, legte ihr, nachdem sie sich gesetzt hatte, besitzergreifend die Hand auf den Arm. Und fünf Minuten später brachen sie auf. Sie hatte nicht einmal mehr zu mir hergeschaut, gab mir auch keinen Abschiedsblick. Dafür hatte sie eifrig dem Alten gelauscht, verständig genickt, als er auf sie einsprach, ihm liebevoll zugelächelt. Ach, Mann Gottes, geh nach Hause zu deinem dir angetrauten Eheweib, ehe sie sich noch mehr graue Haare deinetwegen anärgert, sei nett zu ihr und finde dich mit deiner Altersklasse ab.

Na ja, ich hatte gut reden. Erst mal abwarten, wie ich mich in dreißig Jahren benehmen würde.

Mit Erika, das wurden hübsche Tage in München. Und Nächte. Sie war wirklich ein süßes Kind. Lauschte mit großen Augen meinen indischen Erzählungen, fand mich schick und kolossal aufregend – so ihre eigenen Worte –, ließ sich von mir ein neues Frühjahrskostüm schenken, denn es hörte schließlich auf zu regnen, und eine wunderbare Frühlingssonne ließ die Kastanien aufblühen, dann den Flieder und machte die Vöglein zwitschern. Wir gingen Hand in Hand im Englischen Garten spazieren, küssten uns sehr häufig, bummelten des Tags und des Nachts die Leopoldstraße entlang, sahen den Malern zu, die dort ihre Produkte ausstellten, als es wärmer wurde, wir tanzten in den kleinen Schwabinger Lokalen, tranken jede Menge Sekt, und schließlich kam sie auch mit, mein hübsches Zimmer in der Pension zu besichtigen. Es gefiel ihr so gut, dass sie gleich die ganze Nacht dablieb. Ich hatte ein wenig Angst wegen der Wirtin. Aber die schien nichts zu sehen und zu hören, kein Mensch beschränkte mein Wirken in diesen Münchner Frühlingstagen.

Alle meine weiteren Reisepläne gerieten in Vergessenheit. Natürlich war ich bei meiner Firma gewesen, dort wurde ich sehr freundlich empfangen, ich frühstückte mit meinem Chef, er ließ sich berichten, und – was mein Gemüt sehr fröhlich stimmte – ich erfuhr, dass Bibiana geheiratet hatte und gerade vor einem Monat einem gesunden Jungen das Leben geschenkt hatte. Ich schickte ihr einen Brief und einen großen Blumenstrauß, bekam einen Anruf von ihr und die Einladung, sie gelegentlich zu besuchen.

Ach ja, und einen Wagen kaufte ich mir auch, einen flotten kleinen Flitzer, mit dem ich Erika nach Starnberg und nach Garmisch kutschierte. Alles bestens. Erstklassig geradezu.

Tante Hille hatte ich wieder mal ganz vergessen.

Ich dachte erst wieder an sie, als Erika meinte, ich müsse sie nun aber unbedingt einmal besuchen und ihre Mama kennenlernen. Die fände es natürlich komisch, dass sie so oft des Nachts nicht nach Hause käme, und fände es daher an der Zeit, dass ich mich einmal präsentiere.

Hm. Na ja. Der gute alte Thaler fiel mir ein, und was er gesagt hatte. Und auch, was seine Frau gesagt hatte. Gar so eilig hatte ich es wieder nicht. Denn mit Erika, das war natürlich süß und nett und ganz bezaubernd, aber mehr auch nicht. Ich müsste unbedingt und ganz dringend jetzt mal in die Schweiz, sagte ich, da sei ich zu Hause, und da sei meine Familie, und die warteten nun schon so lange auf mich. Aber ich bliebe nicht lange, und in spätestens vier Wochen sei ich wieder da. Und dann müsse man mal darüber nachdenken, wohin man in Urlaub fahren könnte.

»Du bist Schweizer?« fragte Erika erstaunt.

»Halb. Meine Mutter war Schweizerin, mein Vater Deutscher. Aber ich bin in der Schweiz auf gewachsen.«

»Das ist schick«, fand sie wieder mal.

Darüber konnte man geteilter Meinung sein. Vieles konnte man dem Leben in der Schweiz nachsagen, viel Gutes, aber nicht gerade, dass es schick sei.

»Und du kommst wieder?«

»Bestimmt«, sagte ich und schämte mich ein bisschen, weil es gar nicht so bestimmt war, ob ich wiederkommen würde.

»Und dann verreisen wir?«

»Klar. Vorausgesetzt, dein väterlicher Freund erlaubt es.«

»Ach der«, machte sie wegwerfend.

»So sollst du auch nicht sein«, ermahnte ich sie. »Er meint es schließlich gut mit dir.«

»Der ist sauer, weil ich so wenig Zeit für ihn habe.«

»Dann ist es ja ganz gut, wenn du jetzt wieder etwas mehr Zeit für ihn hast. Man sollte gute Freunde nicht vor den Kopf stoßen.« Sie sah mich groß an und verstand wohl.

»So ist es eben«, sagte sie traurig.

Ja, so war es eben. Wie gesagt, ich schämte mich. Und vielleicht würde ich ja auch wiederkommen. Vielleicht aber auch nicht. Das kam ganz darauf an … Worauf kam es an? Auf Annabelle etwa? Ich hatte sie damals nicht bekommen. Ich würde sie jetzt nicht bekommen. Sie war verheiratet, hatte sicher schon Kinder. Na und überhaupt.

Aber Annabelle oder nicht Annabelle, eins wusste ich eigentlich ziemlich genau: Erika war nicht das, was ich mir erträumt hatte. Süß, jung und blond und liebevoll, gewiss, das alles. Und trotzdem – wenn man sich das nur immer vorher richtig klarmachen würde.

»In ein paar Wochen sehen wir uns wieder«, sagte ich heiter. »Überleg dir mal inzwischen, was wir dann unternehmen.«

Und dann fuhr ich also nach Hause.

Nach Hause! Wie das klang. Aber ich hatte ein Zuhause, wenn ich es auch im Verlauf der vergangenen Jahre oft vergessen hatte. Damals, als ich fortging von Tante Hille und dem Gutzwiller-Haus, ging ich gern und wünschte mir, nie wiederzukommen. Neunzehn Jahre war ich alt. Und hatte schon ein zerstörtes Leben. Ein gebrochenes Herz. Ja, das war es, und ich glaubte, ich würde nie darüber hinwegkommen, von Annabelle getrennt zu sein. Ihr Vater hatte mir unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass seine schöne Tochter nicht für mich gewachsen sei. Es stand schon fest, welchen Mann Annabelle heiraten würde, in zwei oder drei Jahren. Den hatte der Graf de Latour sorgfältig ausgesucht. Nicht dass es unbedingt ein Adliger sein musste, schließlich war die Schweiz ein demokratisches Land, und obwohl Roger de Latour zweifellos so etwas wie Standesdünkel besaß – außer seinem guten Aussehen so ziemlich das Einzige, was ihm seine vornehmen französischen Ahnen vererbt hatten –, war er doch ein guter Schweizer Bürger. Und als solcher wusste er, worauf es ankam. Nämlich vor allem darauf, dass endlich einmal Geld in die Familie Latour kam. Und das sollte dieses Juwel von Tochter, das er sich da großgezogen hatte, durch eine reiche Heirat herbeischaffen.

Schließlich waren es immer die hübschen Töchter gewesen, die der Familie Latour ein Stück weitergeholfen hatten. Annabelles Großmutter war es gewesen, die den Latours zu dem repräsentativen Schloss verholfen hatte. Bis zu ihrer Zeit nämlich hatten die Latours, arrogant bis zur Halskrause, aber arm wie die Kirchenmäuse, in Genf gelebt, wo der erste Latour mit seiner Familie auf der Flucht vor Katharina von Medici und ihrem Hugenottenmetzeln vor annähernd vier Jahrhunderten gelandet war. Es lebten viele ihresgleichen dort. Sie wurden Schweizer mit der Zeit, blieben Franzosen im Grunde ihres Herzens, waren hochmütig, adelsstolz, arm und verkehrten am liebsten mit ihresgleichen.

Annabelles Großmutter jedoch heiratete in unseren biederen Nordschweizer Kanton, in das Wilberger Schloss, diesen wuchtigen alten Feudalsitz, älter vielleicht und von besserem Wuchs als die gesamte Familie Latour. Es lag am Ufer unseres Sees, eingebettet in die sanften grünen Hügel dieser lieblichen, ganz undramatischen Landschaft.

Das Fräulein de Latour aus Genf erwies sich als siegreiche Eroberin. Zart, zerbrechlich und ewig kränklich, war sie doch weitaus stärker als der urwüchsige, bärenstarke Wilberger, der sie abgöttisch geliebt haben musste. Das nämlich erzählten noch die berühmtesten ältesten Leute, das war Legende bei uns im Kanton. Er konnte ihr keinen Wunsch abschlagen. Und ihr größter Wunsch bestand darin, möglichst ihre zahlreiche Sippe um sich versammelt zu haben. So kamen also die Latours aus Genf immer wieder angereist, nacheinander, miteinander, bis sie übereinander das Schloss bevölkerten. Groß genug war das Schloss, weit genug Land und Wälder, die dazugehörten, dass die Latours sich darin tummeln konnten. Ein Kind, das sich der Wilberger so sehnlich wünschte, gebar ihm die Genfer Komtesse nicht. Aber Familie immerhin bekam er durch sie in rauen Mengen. Und als er nach siebenjähriger Ehe auf der Jagd tödlich verunglückte, war das Geschlecht der Wilberger mit ihm ausgestorben, und die Familie de Latour erbte Schloss, Land und Wälder mit allem, was darin kroch, hüpfte und fleuchte, und war damit auf die einfachste Art wieder standesgemäß sesshaft geworden.

Das Unglück mit dem Wilberger ereignete sich in einer Vollmondnacht, und das war ganz in Ordnung. Schlimme Sachen passieren bei uns immer bei vollem Mond. Wenn der Mond im See schwimmt, kommen die Liebe und der Tod. So sagt man bei uns. Mein Großvater allerdings meinte, so sei der Spruch falsch zitiert. Es müsse heißen »oder«. Kommt die Liebe oder der Tod. Wahr ist, dass Maman in einer Vollmondnacht starb. Und ich bildete mir später ein, es sei in einer dieser hellen Nächte gewesen, eine Nacht mit dem Silbermond inmitten des Sees, dass mir zum ersten Mal klar geworden war, ich liebe Annabelle.

Was nun den Wilberger betrifft, so gibt es eine dunkle Sage bei uns in der Gegend, die ich vom Gretli erfahren habe, eine Sage, die wissen wollte, der Schuss habe sich nicht von selbst aus seinem Gewehr gelöst, als sein Pferd scheute, sondern sei aus dem Hinterhalt gekommen, und das dazugehörige Gewehr habe sich in den Händen des Bruders der Schlossherrin befunden. Er soll der Meinung gewesen sein, sie würden viel gemütlicher auf dem Schloss leben können, wenn der grobschlächtige Mann seiner zärtlich geliebten Schwester nicht immer störend darin herumtrampeln würde.

Wie gesagt – ein Gerücht. Damals hatte man den Fall nicht untersucht, heute war es nichts weiter als eine hübsche Gruselgeschichte. Immerhin residierte seither die Familie Latour auf dem Schloss. Standesgemäß, sehr feudal, wundervoll eingerichtet, aber immer ein bisschen knapp bei Kasse. Mit dem Arbeiten hatten es die Latours nie gehabt. Und Annabelles Vater, ein schöner, eleganter Mann, von mir immer heimlich bewundert, obwohl er mich kaum beachtete, hatte weiter vom Grundbesitz der Wilberger verkauft, was noch zu verkaufen war. Ein bisschen Schlosspark musste schließlich bleiben. Das Geld von den Verkäufern wurde schneller ausgegeben, als es hereinkam.

Tante Hille missbilligte zeitlebens das Verhalten der Familie Latour. Sie war eine echte sparsame Schweizerin, immer bedacht darauf, Besitz zu vermehren. Und das sinnlose Leben Roger de Latours gefiel ihr ganz und gar nicht, genauso wenig, wie es meinem Großvater gefallen hatte.

Man bekam Roger kaum zu Gesicht, er lebte in Paris, an der Riviera, in Rom, und erst der Krieg brachte ihn in die Heimat zurück. Er heiratete ein zweites Mal, eine resolute Hotelierstochter aus Zürich, die zu retten versuchte, was nicht mehr zu retten war. Geld war nicht vorhanden. Aber wenigstens verhinderte sie, dass der kostbare Besitz von Möbeln und Bildern veräußert wurde, sie ließ den Schlosspark wieder pflegen, einen Gärtnereibetrieb anlegen, Obstbäume pflanzen, züchtete Geflügel und fuhr selbst mit dem Boot auf den See, um zu fischen.

Tante Hille mochte die neue Gräfin Latour. Die Madame vom Schloss, wie sie sie immer nannte. Das war eine Frau nach ihrem Geschmack. Auch Tante Hille pflegte und hegte ihren großen Garten, zog das prächtigste Gemüse und die herrlichsten Blumen, und unsere Hühner legten die größten Eier in ganz Wilberg, daran war nicht zu zweifeln.

Tante Hille und die Madame vom Schloss tauschten gern und ausführlich ihre Erfahrungen in all diesen praktischen Dingen aus. Ich spielte derweil mit Annabelle, der Tochter aus des Grafen erster Ehe.

Als sie fünfzehn war und ich siebzehn, bemerkte ich zum ersten Mal ein Stirnrunzeln bei Roger de Latour, als er uns, auf dem Pferd sitzend, vom Ufer aus zusah, wie wir im See herumalberten. Da war der Krieg schon vorbei, es muss so etwa im Jahre 52 gewesen sein, der Graf wieder viel auf Reisen, aber nicht mehr so ausschließlich wie früher. Von da an bemühte er sich, Annabelle von mir zu trennen.

Als sie siebzehn war und ich neunzehn, wussten wir dennoch, dass wir einander tief und heiß liebten, ewig und für alle Zeiten.

Was für eine Liebe! Ich lief herum wie betrunken. Ich rannte nachts im Wald umher und stammelte ihren Namen vor mich hin, küsste die Luft um mich her, unterhielt mich mit dem Mond. Ich schwamm über den ganzen See und hoffte zu ertrinken, denn ich wusste natürlich, dass der Graf nie seine Einwilligung geben würde zu einer Heirat. Ich ließ sie schwören, dass sie ihrem Vater trotzen und auf mich warten würde. Sie lächelte süß, ihre Augen waren blau wie der Sommerhimmel, wie die Kornblumen auf den Feldern, und ich wollte so gern ewige Treue in ihnen finden.

Ich glaubte damals schon nicht recht daran, obwohl sie bereitwillig schwor, was ich hören wollte. Aber sie heiratete mit neunzehn Jahren, als ich gerade im vierten Semester an der TH in München studierte. Den sehr, sehr reichen Mann, den ihr Vater für sie ausgesucht hatte. Ein Fabrikant aus Winterthur, ein recht netter Mann, wie Tante Hille mir ungerührt nach München berichtete, Anfang vierzig, mit einem großen Automobil und in recht guten Verhältnissen lebend. So drückte es Tante Hille sanft untertreibend aus.

Der also bekam Annabelle. Ihre Jugend, ihre Schönheit, die blauen Augen und die süßen, zärtlichen Lippen, die ich so gern geküsst hatte. Er bekam all das, was ich nicht bekommen hatte. Und Annabelles Vater, der Teufel möge ihn holen, bekam seinen Anteil am Vermögen des Schwiegersohns.

Darauf kehrte ich nicht mehr nach Hause zurück. Nur einmal noch, zu einem ganz kurzen Besuch, ehe ich nach Beendigung meines Studiums auf ein halbes Jahr nach England ging. Tante Hille zuliebe. Dem Gretli zuliebe. Aber sonst hatte ich an diesem Ort nichts mehr verloren.

Na ja, die Zeit vergeht. Gar so schlimm, wie ich anfangs gedacht hatte, war es auch nicht mit meinem Liebesschmerz. Es gab andere Mädchen, es gab – ich erzählte schon davon – vor allem Bibiana, die in allem und jedem das genaue Gegenteil von Annabelle war. Es gab die Fremde, die weite Welt, meine Arbeit und die Lust am Leben.

Aber ich hatte Annabelle nicht vergessen.

Ich litt nicht mehr. Es würde mir möglich sein – heute –, ihr lächelnd gegenüberzutreten, wenn sie mit ihrem Mann und ihren Kindern käme, zu sagen: »Wie geht’s? Erzähl mir von dir.«

Immerhin war es möglich, wenn ich jetzt nach Hause fuhr, dass sie einmal zu einem Besuch übers Wochenende auftauchen würde. So einer Begegnung fühlte ich mich ganz und gar gewachsen.

Ach ja, und dass ich es nicht vergaß. Ihr Vater, Roger de Latour, lebte nicht mehr, er war vor zwei Jahren gestorben, das hatte Tante Hille in einem Brief geschrieben. Ich hatte ihm keine Träne nachgeweint.

Wäre vielleicht noch ganz kurz von mir zu berichten. Meine Mutter, Barbli Gutzwiller, heiratete, was nun wieder mein Großvater sehr missbilligte, einen jungen deutschen Ingenieur. Die Familie war gegen diese Heirat, aber da ich es sehr eilig gehabt hatte, diese Welt mitzubevölkern – ich kam bereits sieben Monate nach der Eheschließung zur Welt, ohne ein Siebenmonatskind zu sein –, hatten sie schließlich nichts dagegen machen können.

Mein Vater war Ingenieur gewesen – genau wie ich es geworden bin –, und sie müssen sich sehr geliebt haben. Das sagte Maman immer, sie kam nie über seinen Tod hinweg, an Heiraten dachte sie nicht wieder. 1935 bin ich geboren, 1940 fiel mein Vater in Norwegen. Großvater holte sofort seine Tochter und den kleinen Enkel in die sichere Schweiz. Das war damals noch möglich.

Und da blieben wir. Maman verließ ihr Vaterhaus nicht wieder. Sie starb, als ich fünfzehn war, an Leukämie. Und sie war schon zuvor viele Jahre krank gewesen. Meine Erziehung hatte hauptsächlich in den Händen des Großvaters und nach seinem Tode in den Händen von Tante Hille gelegen.

Viel mehr ist eigentlich darüber nicht zu erwähnen. Höchstens über Wilberg, über das Land und den See. Und natürlich über das Gutzwiller-Haus. Aber darauf komme ich noch zu sprechen.

Nach Hause fuhr ich also, nachdem ich vier Wochen in München mit der silberblonden Erika auf sehr reizvolle Weise verbummelt hatte. Damit war wohl, um es einmal so sachlich auszudrücken, mein erster Urlaubskoller abgeklungen, Europa hatte mich wieder, und ich sah mich gewappnet, Tante Hille und dem Schweizer Landleben für – na, sagen wir mal, für acht bis zehn Tage ins strenge Auge zu blicken.

Es fing schon mit Hindernissen an, das hätte mich stutzig machen sollen. Statt wie geplant in früher Morgenstunde von München zu starten und in flotter Fahrt so am späten Nachmittag in Wilberg einzutreffen, was ohne Weiteres zu machen war, verließ ich die bayerische Hauptstadt erst in den frühen Nachmittagsstunden.

Nicht die süße Erika war schuld daran, mit ihr hatte ich am Abend zuvor ausgiebig und mit einigen Tränchen ihrerseits Abschied gefeiert. Die stärkste Frauenpersönlichkeit – außer Tante Hille, versteht sich –, die mir je im Leben begegnet war, verhinderte meine pünktliche Abreise: Bibiana.

Just als ich beim Kofferpacken war, rief sie an. Was denn wäre mit dem versprochenen Besuch. Als sie hörte, dass ich am folgenden Tage abreisen wollte, schimpfte sie und beorderte mich energisch für halb elf vormittags zu sich.

Was blieb mir anderes übrig? Um es kurz zu machen: Bibiana war so vollkommen wie immer. Sie hatte wohlhabend geheiratet, sah sehr attraktiv aus, der neugeborene Knabe – elf Monate nach der Eheschließung zur Welt gekommen, wie sie ausdrücklich betonte – war ein ausnehmend wohlgelungenes, wohlgerundetes Kind, ihre Wohnung mit Geschmack und sogar einem gewissen Luxus eingerichtet. Sie war eine überaus tüchtige Sekretärin gewesen, eine wunderbare Geliebte und würde zweifellos eine vollendete Gattin und erstklassige Mutter sein. Der Mann, der sie bekommen hatte, war zu beneiden. Ich sagte ihr das, und sie nickte zustimmend mit dem Kopf.

»Tut es dir leid?«, fragte sie dann.

Als höflicher Mann antwortete ich: »Ja. Sehr.«

Sie lächelte ein wenig spöttisch. »Du schwindelst. Aber es ist nett, dass du es tust. Ja, damals war ich sehr böse auf dich. Das weißt du ja. Ich hatte mir eingebildet, du müsstest es sein. Heute bin ich froh, dass du nicht wolltest und lieber nach Indien ausgerückt bist. Hermann war eine weitaus bessere Partie als du. In jeder Beziehung. Nicht nur finanziell.«

Ich schluckte. Hart, wenn man so was gesagt bekam von einer Frau, die man immerhin zwei Jahre lang geliebt hatte. Und von der man sich vor allem innigst und lebenslang geliebt glaubte. Aber von Frauen verstand ich wohl noch nicht sehr viel. Sie waren auf jeden Fall immer das stärkere Geschlecht. Allein deswegen, weil sie sachlicher, realistischer denken können als wir.

»Erzähl mir, wie du ihn kennengelernt hast. War es bald, nachdem ich fort war?«

Sie lächelte wieder, diesmal ein wenig zärtlich. »Nicht so bald. Ein halbes Jahr später.«

»Früh genug«, brummte ich ärgerlich.

»Ein halbes Jahr Liebeskummer ist genug. Ich wette, du hast nicht einmal so viel zusammengebracht.«

»In meinem Leben hat es seither keine Frau gegeben«, erwiderte ich pathetisch.

»Oh!«, sagte sie. Eine Weile betrachtete sie mich prüfend, nahm einen kleinen Schluck von dem Ginfizz, den sie uns gemixt hatte, und meinte dann entschieden: »Das glaube ich dir nicht.«

»Aber es ist so. Wo sollte ich eine Frau hernehmen? Du weißt, dass ich nicht mit jeder ersten besten so ohne Weiteres –, na, du weißt schon. Schließlich war ich dir doch zwei Jahre lang treu. Ich habe keine andere angesehen, solange du bei mir warst.«

Das rührte sie. »Wirklich? Ja, ich glaube, du warst mir wirklich treu.«

Was mit mir passiert wäre, wenn ich es nicht gewesen wäre, daran wage ich heute noch nicht zu denken. Außerdem: wann? Solange Bibiana mein Leben teilte, gab es nicht eine Stunde – ach, was sage ich, nicht eine Viertelstunde darin, die sie nicht kontrolliert hätte. Sogar im Fasching. Wir waren häufig auf Faschingsfeste gegangen. Das spielte sich dann so ab: Wir hatten zwei Plätze an einem Tisch, manchmal waren wir auch ein größerer Kreis, und irgendwann, so nach den ersten beiden Flaschen Sekt und einigen Tänzen, erlaubte mir Bibiana großzügig: »So, jetzt kannst du dich mal selbstständig machen. Im Fasching gibt es freie Partnerwahl. In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier am Tisch.«

Was, so frage ich, soll ein eroberungssüchtiger Mann in einer halben Stunde anfangen? Jede halbwegs flotte Biene war um diese Zeit sowieso in festen Händen. Fand ich noch etwas Annehmbares, so reichte es gerade für zwei Tänze, ein hastiges Glas Sekt an der Bar, dann musste ich mich wieder zur Stelle melden. Zu dem Mädchen zu sagen: Warte hier, in einer Stunde bin ich wieder da, da habe ich wieder frei, war Unsinn. Die wartete nicht.

Wer nur manchmal wartete, das war ich. Auf Bibiana. Sie überschritt gelegentlich die Frist von einer halben Stunde. Aber man konnte sich nie darauf verlassen. Jedoch, sie warten zu lassen, das wagte ich nie. Bibiana in ihrem Zorn war fürchterlich. Das würde Hermann eines Tages auch noch entdecken.

»Nicht verliebt in den zweieinhalb Jahren?«, fragte sie erstaunt.

»In wen denn?«

»Na, es heißt doch, die Inderinnen seien so hübsche Frauen.«

»Bei uns da draußen gibt es nichts, was mich eventuell interessieren würde. Das, was zu haben war – nein, ohne mich. So weit solltest du mich kennen.«

»Das freut mich zu hören«, sagte sie. Und hellsichtig fügte sie hinzu: »Da hast du dich sicher sehr auf deinen Urlaub gefreut.«

»Ja.«

Eine Weile blickten wir uns schweigend an, ich wusste, was sie dachte, und sie wusste, was ich dachte. Angenommen, es gäbe keinen Hermann? Und nicht das nagelneue Kind? Angenommen, ich hätte sie vorgefunden, wie ich sie verlassen hatte, im Vorzimmer meines Chefs, hübsch, stattlich, appetitlich, immer fesch angezogen – Teufel, Teufel! Diesmal wäre ich nicht davongekommen. Sie war ein anderes Kaliber als die kleine Erika. Und als ich das dachte, hatte ich ein großes Verlangen danach, sie in die Arme zu nehmen.

»Das wäre ein Wiedersehen geworden«, sagte sie ein wenig träumerisch, und, wie ich mir einbildete, ein wenig sehnsüchtig.

»Ja«, bestätigte ich. »Da wäre was los gewesen.«

Sie lachte und stand auf. Ging ins Nebenzimmer, nach dem Kind zu sehen, das schlief.

Dann kam sie wieder, setzte sich auf meine Sessellehne, nahm meinen Kopf in ihre Arme und drückte ihn an ihre festen, vollen Brüste. »Fast schade drum, nicht?«

»Du hast mir gerade vorhin gesagt, Hermann war die bessere Partie.«

»Das war er auch.«

»In jeder Beziehung, hast du gesagt.«

»Hm. Na ja, so fast in jeder Beziehung.«

Mir wurde heiß. Sie roch gut, ihre Arme hielten mich fest wie früher auch, und meine Wange lag so weich und warm und – ich war schließlich nicht aus Holz! Das war ausgesprochen gemein von ihr.

»Du wolltest mir erzählen, wie du ihn kennengelernt hast«, sagte ich heiser.

Sie lachte und stand auf. »Ist doch nicht so wichtig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich das interessiert.«

»Doch. Es interessiert mich. Wo und wann und wie? Und vor allem, warum du mich so schnell vergessen hast.«

Ich atmete auf, als sie wieder in ihrem Sessel saß. Wie gut, dass es diesen Hermann gab. Sie machte die Erzählung kurz, sie war keine Frau, die stundenlang ihr Liebesleben vor einem ausbreitete. Wie, wo und wann – kurz und sachlich, und warum sie mich so schnell vergessen hatte? Das hatte sie gewollt. Peng, da hatte ich es.

»Du musst das verstehen«, sagte sie.

Ich nickte. »Ich verstehe es ja.«

Doch dann ließ sie mich nicht weg, ohne dass ich etwas gegessen hatte. »Du hast eine weite Fahrt vor dir. Ich brate dir schnell ein Schnitzel, ich habe Fleisch da.«

»Das ist doch sicher Hermanns Schnitzel.«

»Er bekommt ein anderes. Er kommt erst am Abend.«

Ich bekam also Schnitzel und ein Bier dazu, danach eine Tasse Kaffee, und dann wurde ich entlassen. Mit einem langen, zärtlichen Kuss.

»Mach keinen Unsinn mit Mädchen«, sagte sie zum Abschied noch. »Heirate nicht die erste beste. Ich habe es oft genug erlebt, wenn unsere jungen Herren auf Europaurlaub kamen, wie sie an die Falsche gerieten. Nachher ist der Jammer groß.«

»Ich werde an dich denken, wenn es gefährlich wird«, versprach ich.

Ich dachte noch eine Weile an sie, während ich westwärts rollte, über Landsberg am Lech, Memmingen und Mindelheim auf den Bodensee zu.

Hätte ich sie behalten sollen? Beneidete ich Hermann? Eins jedenfalls stand fest: Die kurze Begegnung mit Bibiana hatte genügt, die kleine Erika ganz aus meinem Gedächtnis zu löschen. Es war gemein und undankbar. Vier Wochen hatte ich mit dem Mädchen verbracht, hatte alles bereitwillig in Empfang genommen, was mir geboten worden war, und jetzt hatte ich es schon vergessen. Sie war fast zehn Jahre jünger als Bibiana, war vielleicht auch hübscher. Aber darauf kam es eben nicht an. Nicht im Ernstfall. War vielleicht ganz gut, dass mir das wieder mal vor Augen geführt worden war.

Nichtsdestotrotz – ich beschloss, sobald ich nach Zürich kommen würde, irgendetwas besonders Hübsches und Kostbares für Erika zu kaufen.

Gegen halb fünf war ich am Bodensee. Hoher Frühling, fast schon Sommer, die Luft weich und schmeichelnd, die Ufer des Sees verschwimmend im Schönwetterdunst, die Schweizer Berge grüßten herüber. Alle Wunder der Welt, alle fremde Ferne, die ich gesehen hatte, was waren sie gegen dies hier, gegen dieses alemannische Land, so vertraut, so heimatlich – Vater und Mutter zugleich war es mir, das erkannte ich zu dieser Stunde.

Als ich mich dem Grenzübergang zwischen Lindau und Bregenz näherte, staute sich vor mir eine kleine Schlange. Ein bisschen hatte der sommerliche Reiseverkehr schon begonnen. Hin- und Herüber von Berufsfahrern mochte dazukommen. Und dann entschloss ich mich blitzschnell. Natürlich wäre ich noch nach Hause gekommen, eine Fahrt von drei oder vier Stunden noch. Aber warum eigentlich? Die arme alte Frau durch mein spätes Eintreffen erschrecken? Ich hatte ja nicht geschrieben, an welchem Tag ich kommen würde. Nur von München aus eine Karte, dass es demnächst sein würde.

Und hier gefiel es mir jetzt gerade. Ich rangierte mein Wägelchen vorsichtig aus der Reihe und steuerte zurück nach Lindau. Und dann fuhr ich im späten Nachmittagslicht am Bodensee entlang, gemächlich, ließ die Urlaubsorte liegen, kam durch Friedrichshafen und landete schließlich in Meersburg. Hier entschloss ich mich zu einem Dämmerschoppen. Danach konnte man immer noch sehen, was weiter geschah. Hatte ich mich nicht in all den Jahren auf unseren Wein gefreut? Den guten Schwyzer Wein, herb, jung, frisch und lebendig, einen Wein, wie es keinen zweiten auf der Welt gibt, kein schwerer, alter dicker Saft, der sich einem in den Kopf und in die Glieder setzt und einen schwerfällig werden lässt, sondern einen Wein, der einen hellen Verstand macht, nicht trunken, nur heiter.

Hier am Bodensee bekam ich den ersten Vorgeschmack davon, der Meersburger Weißherbst, spritzig und lebendig, er ähnelte schon ein wenig unseren Weinen. Er machte Hunger. Als ich gegessen hatte, trank ich noch ein Viertele. Und dann beschloss ich, die Reise für heute zu beenden.

Vielleicht hatten sie im »Wilden Mann« ein Zimmer für mich? Sie hatten. Und nun ein Spaziergang durch den Ort, ein Stück am See entlang, zuschauen, wie die Sichel des jungen Mondes sich silbern in den leichten Wellen spiegelte, die ersten Sommerurlauber sorglos einherschlenderten, das letzte Schiff an der Mole festmachte, dann noch ein Viertele, und vielleicht sogar noch eines, und dann schlafen. Nahe der Heimat – vor ihrer Tür gewissermaßen. Und ein wenig aufgeregt deswegen, ein wenig ängstlich. Und tief im Herzen auch – Freude. Eine bange Freude. Wie es sein würde, wenn man heimkäme. Was man finden würde. Was geschehen würde. Denn auf einmal – war es der See, leise gluckernd an der Ufermauer, der es mir zuflüsterte, blitzten es die Sterne herunter, die nach und nach aufleuchteten, raunte mir der Wein es zu, der immer besser schmeckte – auf einmal wusste ich es: Etwas würde geschehen.

Erst am nächsten Tag, so nachmittags gegen vier, langte ich in Wilberg an. Ich hatte das Trödeln nicht lassen können. Lange geschlafen, ein spätes Frühstück, und dann war ich gemütlich um den Bodensee gebummelt. Überlingen, Radolfzell, durchs liebliche Hegau, Schaffhausen, über die Grenze kam ich sogar mehrmals, sie verlief hier in eigenwilligen Bögen, und offensichtlich störte sich kein Mensch daran, ich feierte Wiedersehen mit dem jungen Rhein, speiste ausgezeichnet in einem kleinen Landgasthaus und saß danach noch eine Weile im hellen Sonnenschein neben meinem Wagen am Waldrand.

Albern, wie ich mich benahm. Hatte ich etwa wirklich Angst, nach Hause zu kommen? Vor was eigentlich? Vor wem? Ich war doch kein Junge, der die Schule geschwänzt hatte, sondern ein erwachsener Mann, der ordentliche Arbeit geleistet und gutes Geld damit verdient hatte. Aber ich redete mir ein, ich dürfe nicht zu früh ankommen, dürfe Tante Hilles Mittagsschlaf, der zwischen zwei und drei stattfand – nachdem sie gegessen und das Blättli gelesen hatte –, nicht stören. Das konnte ihr die Laune verderben, wie ich mich gut genug erinnerte.

Dann endlich also war es so weit. Von der Straße, die auf dem Hochufer entlanglief, sah ich den See unten blitzen, groß und weit und das klare Himmelsblau spiegelnd, die Bäume trugen helles junges Grün, in den Gärten der Bauernhäuser blühten die ersten Sommerblumen. Von der Schmalseite des Sees aus konnte ich das Schloss liegen sehen, und hier trat ich noch einmal auf die Bremse, verhielt eine kleine Weile am Straßenrand und blickte hinunter.

Ein schöner Bau, auch heute noch, mit meinen mittlerweile weit gereisten Augen gesehen. Wuchtig, grau und trutzig der alte Teil, die ehemalige Burg, und im rechten Winkel drangebaut die edle, strenge Renaissancefront, die später dazugekommen war. Nichts hatte sich verändert. Absolut nichts. Ich glaubte sogar von hier aus die riesigen Kronen der alten Kastanienbäume im Schlossgarten zu erkennen. Schade, ich kam zu spät, die Blüte war vorüber.

Und hier noch einmal, zum letzten Mal, packte mich der unvernünftige Wunsch, umzukehren, den Wagen zu wenden und zu flüchten. Zu flüchten vor meiner Jugend, meinen Erinnerungen, vor Tante Hilles prüfendem Blick, vor – ja, vor Annabelle, dies vor allem.

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. – Meine Jugend war schön gewesen, ein wenig Liebeskummer gehörte wohl zu jedermanns Jugenderinnerungen, Tante Hille, so uralt inzwischen geworden, würde mich kaum mehr prüfend anblicken, und Annabelle – war gar nicht da.

Einfach lächerlich, wie ich mich benahm.

Ich löste den Blick vom Schloss, peilte stattdessen den spitzen Kirchturm der Dorfkirche von Wilberg an, und weiter ging die Fahrt.

Die Straße, die sich durch den Ort wand, war breiter geworden und asphaltiert, tadellos gepflegt. Ich sah neben Altvertrautem neue Häuser, die ich nicht kannte, ein paar große und mächtig herausgeputzte Läden, und mir begegnete – was mich am meisten verwunderte – eine Anzahl großer Automobile. Sie kamen mir entgegen, überholten mich. War etwa der Fremdenverkehr inzwischen hier eingekehrt? Nicht auszudenken. Als aus einer Seitenstraße ein langbeiniges Girl in weißen Shorts, einen Tennisschläger unterm Arm, lässig angeschritten kam, konnte ich daran nicht länger zweifeln. Sie bestieg einen roten Zweisitzer, der vor mir am Straßenrand hielt und auf den ich vor lauter Erstaunen beinahe aufgebrummt wäre, und brauste flott vor mir her.

Hm. Die neuen Häuser. Vielleicht Landhäuser reicher Leute aus Zürich und Luzern. Aber die hatten dort selber See und Landschaft genug, die waren früher auch nicht zu uns herausgekommen. Und ein vernünftiges Hotel hatte es in Wilberg sowieso nie gegeben. Ein paar gemütliche Gasthäuser, wo man auch wohnen konnte, in weichen sauberen Betten schlafen und vorzüglich essen natürlich, aber kaum doch das, was die Leute, die sich in Shorts und roten Coupés bewegten, als Behausung bevorzugten. Da hatte man wohl ein Hotel gebaut hier irgendwo in der Nähe.