Der schwarze Spiegel - Utta Danella - E-Book
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Der schwarze Spiegel E-Book

Utta Danella

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Beschreibung

Schloss Grottenbrunn im Spessart in den 80er-Jahren. Der wohlhabende Fabrikant Karl Ravinski lebte hier seit Kriegsende mit seiner von allen geliebten Frau Dorothea und den Kindern. 5 Jahre nach dem Tod der warmherzigen Dorothea heiratete er die junge, exzentrische Cora, mit der die 4 Kinder nie warm werden. Nach dem Tod des Vaters erbt Cora auch noch das Schloss und die Firma, von der seine Kinder mit ihren Familien leben. Bei einem Familientreffen eröffnet sie ihnen, dass sie alles verkaufen will … und wird am nächsten Morgen erschossen aufgefunden. Dass Kommissar Graf aus Frankfurt die Familienmitglieder verdächtigt, ist nicht verwunderlich. Irene kann nicht glauben, dass ihre Geschwister den Mord verübt haben sollen. Sie findet den alten schwarzen Spiegel wieder, der laut ihrer Mutter immer die Wahrheit sagte … auch dieses Mal?

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Seitenzahl: 324

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Utta Danella

Der schwarze Spiegel

Roman

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Utta Danella: Der schwarze Spiegel. Roman

Copyright ©2016 by Erbengemeinschaft Utta Danella vertreten durch AVA international GmbH, Germany

Die Originalausgabe ist 1987 im Heyne Verlag, München erschienen.

Überarbeitete Neuausgabe ©2020 by hockebooks gmbh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von Imfoto/shutterstock.com

ISBN: 978-3-957-51348-9

www.ava-international.de

www.uttadanella.de

Coras Abschied

Im Osten schimmerte das erste Sonnenlicht über dem Wald, als sie das Schloss verließ. Sie schlich lautlos wie eine Katze, blieb an der Tür stehen, blickte sichernd umher, lauschte, alles war still, nichts rührte sich.

Keiner hatte sie gesehen und gehört, sie schliefen wohl alle noch. Es war spät geworden am Abend zuvor, das Essen zog sich lange hin, Rosine hatte ihr Bestes getan, denn sie wusste um die gespannte Atmosphäre im Haus und hoffte wohl, durch eine ausgedehnte und üppige Tafel die Gesellschaft friedfertig zu stimmen. Viel genützt hatte es nicht. Zwar saßen sie nach dem Essen noch zusammen in der Halle, die Stimmung blieb gedrückt, das Gespräch war mühsam. Jochen hatte vorgeschlagen, nach Hause zu fahren, aber seine Frau widersprach. Wenn Irene schon einmal hier sei, dann wolle sie auch den Rest des Abends mit ihr verbringen. Aber dann fiel ihr doch nichts anderes ein, als Irene mit dem Gejammer über ihre Kinder zu langweilen, das die anderen schon zur Genüge kannten. Dass das Gespräch nicht ganz erstarb, war Gisela zu verdanken, sie war klüger und geschickter als Hella, verstand es gut, kleine spöttische Bemerkungen anzubringen und direkte Fragen elegant zu servieren. Aber von Irene war nicht viel zu erfahren, sie wirkte abwesend, schon während des Essens hatte sie kaum gesprochen, dann schwieg sie überhaupt, blätterte in einer Zeitschrift, nippte an ihrem Whisky.

Jochen und Bert unterhielten sich leise über geschäftliche Angelegenheiten, solche nebensächlicher Art. Über die Gesellschafterversammlung, die an diesem Tag stattgefunden hatte, würden sie erst sprechen, wenn sie allein waren. Felix setzte sich immer wieder vor das Radio und drehte daran, fand er eine Musik, die ihm zusagte, drehte er auf volle Lautstärke, bis jemand Einspruch erhob.

Ihr wütender Blick hatte schließlich die beiden jungen Männer aus der Halle verscheucht, die mit gekreuzten Beinen vor dem Kaminfeuer saßen, leise miteinander flüsterten und hin und wieder albern kicherten. Die Familie beachtete sie nicht, genauso wenig wie diese einen Blick an sie verschwendeten. Als die Jungen verschwunden waren, fragte Hella ungeniert: »Sag mal, schläfst du eigentlich mit beiden, oder treiben die es nur miteinander?«

Jochen sagte verärgert: »Bitte!«, und blickte seine Frau strafend an.

Gedacht hatten sie das wohl alle, und Felix meinte sanft: »Aber lass sie doch. Das sind doch wirklich zwei niedliche Typen. Die könnten mir auch gefallen, wenn ich auf so was stünde.« Das war deutlich genug, sie merkte, wie die Wut in ihr hochstieg. Dieser Nichtstuer, dieser hochnäsige Fixer, der noch nie im Leben eine eigene Mark verdient hatte, wagte es, hier in ihrem Haus den Mund aufzumachen.

Irene blickte von ihrer Zeitschrift auf und sah ihren Bruder nachdenklich an, dann seine Frau, die still und stumm neben ihm saß in ihrem albernen Schlabberkleid, die langen Wimpern über die farblosen Augen gesenkt.

Dann stand Irene plötzlich auf, warf die Zeitschrift auf den Sessel und sagte, an niemanden gerichtet, dass sie müde sei, und ohne noch jemand anzusehen, ging sie lässig durch die Halle und stieg langsam die Treppe hinauf. Das war Irenes Art, ihre Ablenkung, ihren Verdruss an der ganzen Situation merken zu lassen.

Cora hatte Irene nachgesehen. Wenn es einen Menschen in dieser Familie gab, zu dem sie sich hingezogen fühlte, dessen Freundschaft sie gern gewonnen hätte, so war es Irene. Aber sie hatte nie eine Chance gehabt, Irene näherzukommen. Sie hatte sich mit Hella oft gestritten, es gab bissige Auseinandersetzungen mit Gisela, mehr oder minder notwendige Gespräche mit den Männern, eine wechselvolle Beziehung zu Felix, je nachdem, in welcher Stimmung er sich gerade befand, er war launisch wie ein Kind, manchmal liebenswürdig, ja zutraulich, doch dann wieder gereizt und verdrossen.

Eins nur stand fest: Jeder Mensch in dieser Familie hasste sie. Mochte es anfangs nur Abneigung, Ablehnung gewesen sein, mit der Zeit war es Hass geworden.

Sie empfand es so, fühlte es geradezu körperlich, und darum war es Zeit, sich zu lösen, fortzugehen. Sie würde nie zu ihnen gehören, und das, wonach sie verlangt hatte, ein wenig Liebe und Geborgenheit, würde sie hier nie bekommen. Aber nun war es vorbei. Sie hatte ihnen gesagt, was sie tun würde, und danach konnte ihr die ganze Sippe gestohlen bleiben.

Als sich endlich alle zurückgezogen hatten, war sie hinaufgegangen in ihr Zimmer, hatte eine Weile nur so dagesessen, hatte geistesabwesend ihre Lippen nachgezogen, die Nase gepudert und gedacht: Warum haben sie mir nie geglaubt, dass ich Karl wirklich gern hatte. Er gab mir, was ich nie besessen hatte, Liebe und Geborgenheit, und darum liebte ich ihn. Nicht nur, weil er Geld hatte.

Ach, zum Teufel mit diesen sinnlosen Gedanken!

Schluss jetzt. Vorbei.

Sie stand rasch auf, ging über den Gang in Roys Zimmer, und wie nicht anders erwartet, war der Neunzehnjährige bei ihm, sie saßen auf dem Boden und spielten mit Würfeln. Ohne weitere Einleitung warf sie Roy die Puderdose, die sie noch in der Hand hielt, an den Kopf, der Puder stäubte über sein Gesicht, sein Hemd und auf den Teppich. »Hatte ich nicht angeordnet, dass ihr verschwunden sein sollt, wenn die Familie hier eintrifft? Habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?«

»Angeordnet!« Roy klopfte sich den Puder von seinem reinseidenen Hemd. »Bella mia! Was für Töne! Sind wir hier beim Militär?«

»Du machst mich lächerlich. Zwei von mir ausgehaltene Schwule, die hier auf dem Schloss herumschmarotzen, das ist ein fabelhafter Eindruck, den ich auf die mache.«

»Das kann dir doch egal sein. Es ist dein Schloss, dein Zaster, deine Fabrik. Die können froh sein, dass du sie mal einlädst und in dem Laden wurschteln lässt. Wenn du willst, kannst du sie alle an die Luft setzen. Das hast du doch neulich erst gesagt. Dir gehört die Mehrheit der Firma. Wenn du dein Geld rausziehst, können sie sich ihre Küchen an den Hut stecken.«

»Halt dein dummes Maul, du miese Schwuchtel, was verstehst du denn davon?«

»Für ’ne feine Dame hast du ja komische Ausdrücke. Erinnert dich an frühere Zeiten, wie? Und was hast du auf einmal an mir auszusetzen? Warst du mit meinen Diensten unzufrieden?«

»Wenn ich gewusst hätte, dass du von der Sorte bist –«

Roy grinste unverschämt. »Na, das weißt du ja nun schon eine ganze Weile. Begabt muss man eben sein. Es gibt Leute, die können sowohl dies wie das.«

Der blonde Junge lag rücklings auf dem Teppich und blickte zur Decke. Er war schön wie ein Engel. In seinen Augen standen Tränen.

»Ich wünschte, du würdest es mit ihr nicht tun«, flüsterte er. Die Wut erstickte sie fast. Sie war selbst schuld daran, sie hatte geduldet, dass Roy diesen sogenannten Freund mitbrachte, und hatte mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, dass ihr Liebhaber eine echte Doppelbegabung war.

Sie spuckte alles aus, was sie auf dem Herzen hatte, und sie tat es nicht auf feine Weise, es wurde ein lauter heftiger Streit, sie ohrfeigte Roy, er ohrfeigte sie ebenfalls, der blonde Junge schluchzte verzweifelt, umklammerte Roys Knie, sie trat nach ihm mit voller Wucht. Ermattet gab sie auf.

»Ihr frühstückt auf dem Zimmer, dann steigst du in deine Karre, und ihr verschwindet, so schnell es geht. Ohne dass euch einer sieht. Das ist keine Anordnung, das ist ein Befehl.«

»Sehr wohl, Geliebte. Und wann sehen wir uns wieder?«

»Gar nicht.«

Mit einer geschmeidigen Bewegung legte Roy die Arme um sie, seine Lippen berührten ihre Schläfe. »Aber Bella! Bellissima! Das kann dein Ernst nicht sein. Was tust du ohne mich?«

Der Blonde heulte auf, und nun trat Roy mit dem Fuß nach ihm.

»Sei still, du Esel. Wovon willst du eigentlich leben?«

Unwillkürlich musste sie lachen. »Du bist wenigstens ehrlich. Aber ich würde sagen, die Talente, die er hat, kann man ja wohl auch zu Geld machen.«

»Du willst mich wirklich nicht wiedersehen?«

»Nein. Und wage es nicht, hier noch einmal aufzukreuzen. Ich werde wieder heiraten. Und zwar einen richtigen Mann. Einen, der mir die ganze verdammte Sippe vom Leib hält.«

»Hast du schon einen in petto?«

»Klar.«

»Aha. Darum kannst du dich so leichten Herzens von mir trennen.«

»Das wäre mir noch nie schwergefallen.«

»Und das Wägelchen darf ich behalten? Wirklich? Nicht, dass es nachher heißt, ich hätte es geklaut.«

»Ich habe es dir geschenkt«, sagte sie kurz.

Dann verließ sie das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Es war drei Uhr morgens, und sie war betäubt von Ärger und Müdigkeit.

Das Wägelchen, einen fast neuen Porsche, hatte sie ihm wirklich geschenkt. Sie mochte nicht mehr darin fahren, seitdem sie auf der Autobahn die Herrschaft über den Wagen verloren hatte und beinahe verunglückt wäre.

Als sie in der Morgenfrühe aus dem Haus schlich und hinüberging zum Stall, war sie trotz der Müdigkeit voll von wilder Entschlossenheit.

Endlich wusste sie, was sie tun würde. Fortgehen. Schluss machen mit allem hier. Sie hatte so oft daran gedacht, aber nun war es so weit. Viel zu lange hatte sie sich die Unverschämtheiten dieser Leute gefallen lassen.

Gesellschafterversammlung! So ein Blödsinn. Sie konnten ihr erzählen, was sie wollten, was verstand sie schon von der Fabrik? Aber sie würde heiraten und ihnen einen Mann vor die Nase setzen, der sehr wohl verstehen würde, wie die Geschäfte liefen. Und vor allem musste sie das alte Gemäuer loswerden. Schloss! Lächerlich. Eine Bruchbude war es, in die sie nicht hineinpasste. Das unter anderem hatte sie ihnen heute in aller Deutlichkeit erklärt. Die Familie hatte es schweigend hingenommen.

Sie blickte dem Hund nach, der vor ihr herlief. Es würde ihr schwerfallen, sich von ihm zu trennen, ebenso von den Pferden. Wenn es ihr so beliebte, konnte sie die Tiere mitnehmen.

Wer sollte sie daran hindern? Alles gehörte ihr.

Das waren törichte Gedanken. Sie würde reisen. An die schönsten und teuersten Orte, die es auf der Welt gab. Und irgendwo auf diesen Reisen würde sie auch den Mann finden, den sie brauchte. Was ging die Fabrik sie an? Total überflüssig, dass sie gestern dabei gewesen war.

Und Felix ebenso, er hatte sich seinen Anteil in bar auszahlen lassen und längst verpulvert.

Sie öffnete leise die Stalltür, und sofort wieherte Gero, als habe er nur auf sie gewartet.

»Pst! Sei still! Ich kann jetzt keinen hier gebrauchen.« Erleichtert stellte sie fest, dass Hartwig noch nicht da war. Das hatte sie befürchtet, denn er stand immer sehr früh auf. Aber für ihn war es gestern auch spät geworden, er liebte den leichtsinnigen Felix und vor allem die stolze Irene, und wenn sie im Schloss war, was lange nicht vorgekommen war, wollte er keine Minute versäumen, in der er sie sehen oder gar mit ihr sprechen konnte. Hartwig war der Einzige, dem Irene zulächelte, wenn er durch die Halle ging. Und Felix hatte gestern lange bei den Hartwigs in der Küche gesessen und ihnen seine herrlichen Lügengeschichten erzählt. Das tat er immer, wenn er da war.

Sie schob Gero die Trense ins Maul, strich ihm über den glatten seidigen Hals, legte ihm dann den Sattel auf und zog den Gurt fest. Die Stute bekam nur ein Halfter mit der Schnur dran, Geros Halfter hängte sie sich um den Hals.

»Ich habe keinen Zucker dabei, entschuldigt. Aber dazu war keine Zeit mehr. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Und es durfte keiner merken, dass ich zu euch komme.«

Sie trug auch keine Reithosen, nur Jeans und weiche Slipper. »Ihr kriegt wunderbares Gras. Ich bringe euch auf die obere Koppel hinter dem Wald, da könnt ihr grasen und seid ganz ungestört.«

Denn das fehlte gerade noch, dass es einem von denen einfiel, auf den Pferden herumzujuckeln. Sollten sie sich selbst Pferde halten, wenn sie reiten wollten.

Noch im Stall schwang sie sich auf Gero, nahm das Seil der Stute in die Hand. Unter dem Stalltor musste sie sich ducken. Jetzt kamen ein paar gefährliche Schritte, denn der Boden vor dem Stall war gepflastert, die Eisen klickten laut durch die Morgenstille. Doch gleich danach begann ein weicher Feldweg, der jeden Pferdeschritt verschluckte.

Natürlich würde Hartwig schimpfen, weil sie die Pferde mit Eisen auf die Koppel brachte, aber die beiden taten sich bestimmt nichts, und die Koppel würde es überleben. Er würde auch sagen, es sei zu früh im Jahr, das Gras noch zu jung, es war erst Mitte Mai. Aber das Gras war gut gewachsen in diesem Frühling, und auf der oberen Koppel hinter dem Wald war es sowieso am bekömmlichsten, das hatte Karl immer gesagt.

Erstmals seit langer Zeit dachte sie an ihren Mann. Besser gesagt an den Mann, der sie geheiratet und von heute auf morgen in ein Luxusleben versetzt hatte.

Na ja, Luxus. Das alte Schloss, das Land, das dazu gehörte, die florierende Firma – es gab bestimmt eine ganz andere Art von Luxus auf dieser Welt. Für sie aber war es ein ungeheurer Aufstieg gewesen, und viel mehr als seine Kinder hatte sie selbst sich darüber gewundert, dass er sie geheiratet hatte.

»Liebe!«, sagte sie laut, sie sprach zu den Pferden, »Liebe kann man das nicht nennen. Er hätte ja mein Vater sein können. Aber ich werde euch etwas sagen, er war von allem, was ich zuvor erlebt hatte, und das war nicht wenig, das Beste. Es kam dem, was man so Liebe nennt, vielleicht am nächsten. Sie denken alle, ich habe ihn nur aus Berechnung geheiratet. Habe ich, ist ja klar. Aber ich habe ihn lieb gehabt. Und er mich auch. Für ihn war ich –«

Was war sie für ihn? So etwas wie dieser Frühlingsmorgen, der jetzt den Wald durchdrang mit goldenem Licht. Und es war egal, was sie vorher getan hatte und was sie vorher gewesen war. Ein Mädchen, das man kaufte. Das hatten die anderen getan, das tat er. Aber da war ein großer Unterschied.

Irgendwie hatte es doch mit Liebe zu tun, eine Art Liebe, die sie nie zuvor kennengelernt hatte.

»Heute Nachmittag«, erzählte sie den Pferden, »hole ich euch wieder. Dann sind alle weg, und auch die zwei Schwulen. Ich muss verrückt gewesen sein, mir einen halbschwulen Liebhaber anzuschaffen. Früher wäre mir so etwas nicht passiert. Er hat den Wagen. Damit ist er ausreichend bezahlt.«

Die Pferde schritten lautlos über weichen Waldboden, es ging ein Stück aufwärts, dann abwärts, der Weg bog bei der großen Blutbuche nach Westen. Sonnenlicht sickerte durch die Stämme, ein Stück entfernt verharrten zwei Rehe, trollten sich dann ohne Eile in den Wald. Der Hund war stehen geblieben, stand vor, witterte. Aber er rührte sich nicht von der Stelle. Er war abgerichtet und gut erzogen, er würde niemals selbstständig auf Jagd gehen. Gero schnaubte zufrieden, die Stute lief, den Kopf neben seinem Hals, geduldig mit. Es hätte des Seils nicht bedurft, sie wäre auch von selbst mitgelaufen.

Der Wald wurde dichter, der Weg schmaler, dann senkte er sich, die Bäume ließen Raum, blieben zurück. Vor ihnen, im vollen Sonnenlicht, lag die obere Koppel.

Sie stieg ab, nahm Gero Sattel und Zaumzeug ab, löste das Seil aus dem Halfter der Stute. »Nun lauft!«

Gero stob davon, es war das erste Mal in diesem Jahr, dass sie auf die Koppel kamen. Zunächst interessierte ihn das Gras weniger, mehr die ungewohnte Freiheit.

Die Stute galoppierte ihm nach, ein wenig schnaufend, einzuholen war er nicht. Aber er wartete am anderen Ende der Koppel höflich auf sie, sprang dann mit allen vier Beinen in die Luft und kam zurückgerast, und dann noch einmal das Ganze von vorn. Doch die Stute hatte begonnen zu grasen, er gesellte sich zu ihr und neigte nun auch den weißen Kopf, um das Gras zu kosten. Sie stand am Koppelzaun und sah den Tieren zu. Der Hund saß neben ihr, sein Kopf berührte ihr Knie.

»Du bist zu groß, ich kann dich nicht mitnehmen, du würdest dich auch in einem Hotel nicht wohlfühlen, weißt du, du bist an ein freies Leben gewöhnt. Ich weiß auch noch gar nicht, wohin ich fahren werde.«

Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte in den blauen Himmel hinauf. Das hellblonde Haar fiel ihr über die Schultern. Der leise Wind, der hier oben über die Wiesen strich, ließ es tanzen. »Ich fahre irgendwohin, wo es ganz toll ist. Ich kenne nichts von der Welt. Und ich habe Geld, und ich kann es ausgeben, wie ich mag. Sie müssen mir Geld geben. Und wenn ich die Klamottenburg verkaufe, die mir ganz allein gehört, kriege ich noch viel mehr Geld. Ich fahre an die Côte d’Azur, da ist es im Mai bestimmt sehr schön. Oder nach Rom. Oder gleich nach Amerika. Ich werde in den teuersten Hotels wohnen. Und ich werde so viele Verehrer haben, wie ich nur will.«

Sie wusste, wie schön sie war. Wie effektvoll ihr Auftritt, wo immer sie hinkam. Überhaupt nun, da sie so vieles dazugelernt hatte. Solch ein Streit wie in der vergangenen Nacht, so etwas passte nicht mehr zu ihr. Das würde ihr nie wieder passieren. »Heiraten werde ich nur, wenn ich einen Supertyp finde. Einen, der die ganze verdammte Sippe in die Pfanne haut. Verstehst du?« Der Hund blickte anbetend zu ihr auf. Er verstand nicht, was sie sagte, aber er hörte ihre Stimme, das genügte, um ihn glücklich zu machen.

»Jetzt gehen wir zurück. Sicher sitzt ein Teil der ehrenwerten Familie schon beim Frühstück. Ich werde ihnen Gesellschaft leisten und unerhört charmant sein, zu jedem Einzelnen. Aber zuerst muss ich nachsehen, ob die beiden Typen weg sind. Wenn nicht, gnade ihnen Gott. Sie sind nicht weg, klar. Die pennen sicher noch. Von mir aus zusammen, stört mich nicht, stört mich nicht im Geringsten. Das ist vorbei. Mehr als vorbei. Ich habe Roy schon vergessen. Komm, wir steigen hier quer durch den Wald ab, da sind wir schneller unten.«

Sie schnalzte mit der Zunge, Gero hob zwar den Kopf, kam aber nicht mehr an den Zaun. Das Gras schmeckte zu gut.

Das war auch etwas, was sie Karl Ravinski verdankte. Bei ihm hatte sie reiten gelernt. Vorher hatte sie nie im Leben auf einem Pferd gesessen. Zuerst hatte sie gedacht, sie müsse Angst haben. Aber sie hatte nicht die geringste Angst gehabt. Er setzte sie auf die Stute, die war brav und nicht mehr jung, es war ganz einfach, reiten zu lernen, nicht zuletzt weil sie einen so guten Lehrmeister hatte.

»Geritten bin ich schon viel in meinem Leben, aber noch nie auf einem Pferd«, hatte sie einmal gesagt. Er zog die Brauen zusammen, und sie verstummte erschrocken.

Solche Dinge durfte sie nicht mehr sagen, das wollte er nicht hören. Sie begriff, sie lernte schnell, nicht nur reiten. Sie wusste nun, wie sich eine wirkliche Dame benahm. Wohin ihre Reise sie auch führen würde, sie hatte keinerlei Bedenken, es würde ein Kinderspiel für sie sein.

Eine Frau, jung, schön, mit viel Geld – sie konnte die Puppen tanzen lassen.

Im Augenblick, als sie sich von der Koppel abwandte, traf sie der Schuss. Er traf sie seitlich im Hinterkopf, gleich hinter dem Ohr. Es war ein Meisterschuss, wenn er so geplant war. Ein Meisterschuss von Meisterhand aus einem erstklassigen Gewehr. Gute Gewehre gab es genug im Schloss, denn das Jagdrevier, das dazu gehörte, war groß.

Sie kam nicht mehr dazu, darüber nachzudenken, wer von ihnen ein so hervorragender Scharfschütze war. Sie kam nicht einmal dazu, sich zu wundern, denn sie hatte den Schuss gar nicht gehört. Sie war sofort tot, sank langsam auf das weiche Gras neben dem Koppelzaun, die winzige Wunde blutete kaum, färbte gerade eine Strähne ihres hellen Haars mit sanftem Rot. Der Hund hatte den Schuss gehört. Er stand auf, blickte zum Waldrand, sah den Schützen, der unter der hohen Esche stand und eben sein Gewehr sicherte.

Der Hund gab einen kurzen freudigen Laut von sich, lief mit großen Sprüngen zum Waldrand und begrüßte den Schützen erfreut. Der beugte sich, klopfte ihm die Flanke, strich ihm über den Kopf und kraulte ihn hinter den Ohren.

»Brav! Braver Hund. Ganz brav. Aber nun geh.«

Er ging einige Schritte mit dem Hund auf die Koppel zu, blieb stehen, streckte den Arm aus.

»Dort! Platz!«

Der Hund trollte sich zurück zu der regungslosen Gestalt im Gras. Der Schütze verschwand im Wald.

Der schwarze Spiegel I

Gestern, vor dem Abendessen, habe ich den schwarzen Spiegel entdeckt. Offenbar das einzige Stück der ehemaligen Einrichtung, das sich noch im Haus befindet.

Nachdem Vater sie geheiratet hatte, veränderte Cora nach und nach die Einrichtung im Schloss. Zunächst kamen ihre eigenen Zimmer dran, dann das große Speisezimmer, das kleine Speisezimmer, der sogenannte Salon, die Halle. Die alten Möbel verschwanden, die Sofas, die Sessel, die Bilder und selbstverständlich auch der ganze Nippes, der schon immer dagewesen war und in gewisser Weise in das alte Haus gepasst hatte.

Zugegeben, die Polster der Sitzmöbel waren verschlissen, die Möbel waren alt und nicht einmal wertvolle Antiquitäten, die Teppiche waren abgetreten, und unter den Bildern befanden sich keine wertvollen alten oder neuen Meister. Doch ich liebte jedes Stück in diesem Haus, so wie es war. Auf diesen Teppichen hatten wir gespielt, diese Bilder gehörten in meine Kindheit, auf dem Sofa mit den verblassten Rosen saßen wir, wenn Mutter Geschichten über diese Bilder erzählte. Geschichten, die sie sich selbst ausdachte und denen jeder gebannt zuhörte, sogar mein Vater, wenn er einmal zugegen war. Was selten vorkam.

Als Mutter starb, war ich dreiundzwanzig, mitten im Studium. Ich lebte nicht mehr im Schloss, doch ich kam an jedem Wochenende, in den Semesterferien, praktisch in jeder freien Stunde, es war nicht weit von Frankfurt in den Spessart, und was auf der Welt hätte ich mehr lieben können als diese Wiesen und Wälder, unsere Pferde, unsere Hunde und Katzen, das alte Haus und vor allem und über alles meine Mutter.

Es vergingen fünf Jahre, bis mein Vater wieder heiratete, und da nie die Rede davon gewesen, nie die geringste Andeutung gefallen war, dass er an eine neue Ehe dachte, waren wir alle sehr überrascht. Aber wir versicherten uns gegenseitig, dass man Verständnis haben und Toleranz aufbringen müsse. Jedoch fiel es uns schwer, genaugenommen war es unmöglich, die Wahl unseres Vaters zu tolerieren.

Wir hatten immer großen Respekt vor ihm gehabt, ein wenig fürchteten wir ihn, und gelegentlich gingen wir ihm ganz gern aus dem Weg. Was er geleistet hatte in den Jahren nach dem Krieg, mussten wir anerkennen, dann kam der rapide Aufstieg in den Jahren des sogenannten Wirtschaftswunders, und nach dem Tod meiner Mutter arbeitete er sowieso nur noch, machte aus einer gut gehenden mittelgroßen Fabrik ein exportierendes Super- unternehmen. Die Arbeit war für ihn eine Art Sucht geworden, die ihn über den Tod seiner Frau trösten sollte, über ihren elenden Krebstod, den wir alle mitgelitten hatten und der uns mehr oder weniger prägte, jedenfalls kann ich es für mich sagen: Das Sterben meiner Mutter beendete meine Jugend, erstickte jeden Frohsinn, jede Freude in mir.

Jeder hatte sie geliebt, nicht nur ihr Mann und die Kinder, auch das Personal im Haus, die Leute aus dem Dorf, der Förster, die Jäger, einfach jeder, der mit ihr zusammenkam. Ihre Herzenswärme, ihr kindlich-frohes Lachen, die Fähigkeit, sich mit anderen zu freuen oder an ihrem Kummer teilzuhaben und, wo es immer möglich war, helfend und ratend einzugreifen, gewannen ihr die Zuneigung aller Menschen.

Sicher klingt es sentimental, wenn ich sage: Meine Mutter war wie eine Figur aus einem alten Roman, ein Edelmensch, der, wo er ging und stand, eine heile Welt um sich verbreitete. Vielleicht weil ihr jede Arglist, jede Bosheit fremd war, sie war eine Mischung aus Ernst und Heiterkeit, aus blühender Fantasie und lebensklugem Realismus.

Keiner von uns ist wie sie, nur ein wenig haben wir von ihr geerbt. Hella die Lebhaftigkeit, die Anteilnahme, aber sie ist nicht gesprächig, sondern geschwätzig, und das Talent zum Zuhören, das Mutter auszeichnete, fehlt ihr. Ich, Dorotheas zweite Tochter, habe den Ernst von ihr, das Verantwortungsgefühl, die Zuverlässigkeit, wenn ich mich denn selbst loben will, aber mir fehlt ihre unbeschwerte Heiterkeit, und ich besitze keineswegs die umfassende Liebe zu den Menschen. Meine Schwester Gisela hat den raschen Witz, den scharfen Verstand, die Fähigkeit, Menschen zu durchschauen, geerbt, aber mehr auch nicht.

Und Karl Felix, unser kleiner Bruder, der Liebling des Hauses, hat höchstens Mutters Fantasie mitbekommen. Sonst nichts. Für ihn war es am schlimmsten. Er war dreizehn, als Mutter starb, und seine Verzweiflung zwang uns, unsere eigene Trauer zu beherrschen. Er verkroch sich im Wald wie ein verwundetes Tier, der Jäger und sein Hund stöberten ihn nach drei Tagen auf, verdreckt, verheult, ganz und gar apathisch, halb verhungert und halb erfroren, es war Anfang März.

Er war so viel jünger als wir Mädchen. Gisela war acht Jahre älter und hatte sich gerade verlobt. Wir blieben beide im Haus, kümmerten uns zusammen mit Rosine um den Jungen, beschäftigten ihn, fuhren ihn in die Schule, sobald er wieder imstande war, in die Schule zu gehen – er hatte es immer ungern getan, nun wurden seine Leistungen erst recht kläglich –, wir ritten mit ihm aus und wetteiferten darin, ihm Bücher zu besorgen, denn das war das Einzige, was er gern tat und was ihn ein wenig von seinem Schmerz ablenken konnte: lesen. Das Gegenteil allerdings konnte auch eintreten, dass ein Buch ihn irrsinnig aufwühlte und erregte und er dadurch erst recht in tiefe Verzweiflung geriet. Gefühl war bei ihm alles, und irgendeine Art von Disziplin oder Selbstbeherrschung war von ihm nicht zu erwarten. Daran war nicht zuletzt seine Erziehung schuld.

Ich versäumte ein Semester, Gisela heiratete erst ein Jahr später. Soll man in diesem Schock, den der Dreizehnjährige erlebte, den Grund sehen für das, was aus ihm geworden ist? Ein Nichtstuer, ein Fantast, ein junger Mann ohne Arbeit, ohne Willen und Kraft, ohne Ziel und drogensüchtig dazu. Verheiratet mit diesem somnambulen Nachtschattengewächs, das er in der Drogenszene kennengelernt hat. Sein Erbteil ist längst verbraucht, aber wir können ihn ja nicht verhungern lassen, also bekommt er monatlich aus der Firma, was er braucht. Nicht mehr. Gerade so viel, wie er und Elsa benötigen.

Der schwarze Spiegel.

Der Spiegel der Wahrheit nannte ihn Mutter.

Gestern Abend, als ich ihn entdeckt hatte, ganz verborgen in einem Winkel hinter der Dienstbotentreppe, fiel mir das wieder ein. Selbstverständlich ist er nicht schwarz, dieser Spiegel, nicht sein Glas, nur der Rahmen. Ein schwerer, geschnitzter Rahmen mit barocken Ornamenten verziert. Früher hing er in der Halle. »Warum nennst du ihn Spiegel der Wahrheit, Mami?«, fragte ich als Kind.

»Weil er nicht lügt, dieser Spiegel. Er schmeichelt nicht, er verzerrt nicht. Er zeigt dich so, wie du bist. Und wenn du lange genug hineinblickst, wirst du die Wahrheit erfahren.«

»Die Wahrheit?«

»Die Wahrheit über das, was geschehen ist. Die Wahrheit über das, was geschehen wird.«

Meine Mutter, die Märchenerzählerin.

Die passende Geschichte hatte sie auch gleich parat.

»Als ich hierherkam, gegen Ende des Krieges, ein armer, heimatloser Flüchtling, und das erste Mal in den Spiegel blickte, sah ich die Angst in meinem Gesicht, die Sorge um deinen Vater, die Tränen in meinen Augen. Aber ich sah auch alles, was ich verloren hatte. Unser Haus daheim, es war das Haus deiner Großeltern, und es stand am Waldrand und hatte ein großes rotes Dach, das alle beschützte, die darin lebten. Aber nun war das Dach nicht mehr da. Ich sah die Wiesen und die großen Wälder, die zu meiner Heimat gehörten. Alles war verloren, alles hatte ich verlassen müssen. Doch der Spiegel tröstete mich, er sagte mir, dass ich alles hier wiederfinden würde – eine Heimat, die Wiesen, die Wälder. Und so ist es ja auch, nicht wahr?«

»Das hat der Spiegel zu dir gesagt?«

»Nicht mit Worten. Er spricht direkt mit meinen Gedanken.« Ich nickte, nicht ganz überzeugt, weil ich mir das nicht vorstellen konnte, aber wenn meine Mutter es sagte, musste es wohl so möglich sein.

»Als ich nach Grottenbrunn kam, war Hella ein Baby, sie war gerade drei Monate alt. Und sonst hatte ich keinen Menschen. Dein Vater war im Krieg verschwunden, und ich dachte, ich würde ihn nie wiedersehen, nicht in diesem Leben. Ich war ungefähr zwei Wochen hier, ich war sehr traurig, alle Menschen, die im Schloss lebten, waren fremd, Flüchtlinge wie ich. Ich war einsam. Verstehst du, was das ist, einsam sein?«

Hatte ich es verstanden, damals, mit fünf oder sechs Jahren? Gewiss nicht, ich war niemals einsam gewesen.

»Und da stand ich wieder vor dem Spiegel und starrte hinein, und was sah ich da?«

»Was hast du gesehen, Mami?« Atemlos vor Spannung das Kind.

»Deinen Vater. Ich sah sein Gesicht im Spiegel. Es war nicht tot, es lebte, es lächelte mir zu. Da wusste ich, dass ich ihn wiedersehen würde. Und so war es dann auch. Er kam, wenn auch erst zwei Jahre später. Seitdem glaube ich dem Spiegel alles, was er mir sagt. Ehe du geboren wurdest, fragte ich den Spiegel, ob es wohl ein kleiner Junge sein würde. Doch der Spiegel schwieg. Und dann sah ich plötzlich ganz hinten in seinem Glas, ganz klein, eine Wiese, und darauf spielte ein kleines Mädchen.«

»Und das war ich?«

»Das warst du.«

»Und warst du da traurig, weil es kein kleiner Junge war?«

Sie nahm mich in die Arme und küsste mich.

»Aber nein. Ich wollte gern noch ein kleines Mädchen haben.«

»Und dann erzählte dir der Spiegel wieder von einem kleinen Mädchen.«

»Stimmt.«

Meine Schwester Gisela war da etwa drei Jahre alt.

»Und hat der Spiegel nie etwas von einem kleinen Jungen gesagt?«

»Doch. Der kleine Junge kommt bestimmt noch.«

»Wann, Mami?«

»Das hat mir der Spiegel nicht verraten. Dafür weiß ich aber von ihm, dass wir demnächst ein Fohlen bekommen.«

»Wirklich, Mami? Das gefällt mir viel besser als der kleine Junge.«

Sie lachte, und dann besuchten wir gemeinsam die trächtige Stute im Stall.

Das Fohlen wurde im Mai geboren. Was den kleinen Bruder betraf, so ließen sie sich noch Zeit, er und der Spiegel.

Ich war zehn, als mein Bruder geboren wurde, Gisela acht und Hella schon eine angehende junge Dame von vierzehn.

Mein Vater freute sich außerordentlich, als sein Sohn geboren wurde, er trug ihn auf den Armen durch das Schloss und zeigte ihn jedem.

»Ist er nicht wunderschön?«, fragte er uns.

Wir drei Mädchen betrachteten das Kind mit gemischten Gefühlen. Aber wenn es denn schon noch ein Baby sein musste, war es gut, dass es endlich ein Junge war.

Vater wollte, dass er Karl getauft wurde, wie er. Mutter setzte noch Felix dazu, Karl Felix also. Ich glaube, bis heute hat ihn nie ein Mensch so genannt.

Er wurde behütet und verwöhnt, ein kostbares Juwel war er, das keiner auch nur mit ungewaschenen Händen anfassen durfte. Verhätschelt und verwöhnt wurde er auch noch, als er in ein Alter kam, in dem ein wenig Strenge und Konsequenz seiner Erziehung nichts geschadet hätten. Wir drei Mädchen mussten hinnehmen, dass der kleine Bruder der Höhepunkt der Schöpfung war.

Hella sagte: »Ihr werdet schon sehen, was wir uns da großziehen. Er tanzt uns auf der Nase herum. Eines Tages erbt er die Fabrik, und wir müssen hübsch bitte, bitte machen, wenn wir ein paar Kopeken brauchen.«

»Ein Pflichtteil steht uns zu«, sagte Gisela, die immer die klügste von uns war.

Keine Rede davon, dass Felix die Fabrik erbte, sie interessierte ihn null, er betrat sie kaum jemals.

K und K, Vollkommenheit und Küchentechnik. KARA-Küchen, ein Name, ein Begriff, einmalig in der Welt. Und was dergleichen Werbesprüche mehr waren.

Felix sah sich als Künstler, nicht als Kaufmann. Das erklärte er uns mit sechzehn. Er weigerte sich, noch länger in die Schule zu gehen, dafür würde er der größte Dichter des Jahrhunderts werden. Was konnten ihm also KARA-Küchen bedeuten? Dass der Sohn die KARA-Küchen nicht zu weiteren Höhenflügen führen würde, hatte Vater längst erkannt. Dass er nicht einmal den Versuch machte, in der Firma zu arbeiten, erbitterte ihn. An sein Genie glaubte er nie. Dass er in der Drogenszene landen würde, das hatte keiner von uns vermutet, denn diese Welt lag uns ferner als der Mars.

Spiegel, das hast du nicht vorausgesehen, als Mutter ihren kleinen Sohn darin erblickte. Hast du ihr gesagt, dass ihr Sohn ein großer Dichter sein würde? Besser gesagt, dass er davon träumte? Hätte sie es geglaubt?

Die KARA-Küchen waren in besten Händen, meine Schwestern hatten passend geheiratet; Hellas Mann führte die Firma als Kaufmann, Giselas Mann war der Designer, und ein höchst begabter dazu. Das musste Vater wohl befriedigt haben, dennoch konnten sie ihm selten etwas recht machen. Das schuf Spannungen in der Familie, etwas, das es früher nie gegeben hatte. Ich, schwarzer Spiegel, habe mich zurückgezogen, von der Firma und von der Familie. Da meine Schwestern die richtigen Männer an Land gezogen hatten, sah ich mich nicht verpflichtet, nun noch einen geeigneten Werbechef zu heiraten. Ich wollte meine eigenen Wege gehen, mein eigenes Geld verdienen und einen Mann haben, der nicht die KARA-Küchen am Bein hatte.

Das habe ich alles geschafft, Spiegel, ich habe mein eigenes Geschäft, verdiene mein eigenes Geld, nur der Mann hat mich verlassen. Oder ich ihn. Was Gott nicht zusammengefügt hat, kann sich ruhig wieder scheiden.

Morgens, ehe ich zum Frühstück gehe, schaue ich rasch noch einmal bei dem Spiegel vorbei. Fast verwundert es mich, dass er dort noch hängt, dass ich nicht nur von ihm geträumt hatte. Wie hast du es geschafft, Spiegel, dass sie dich zwar in die Ecke verbannte, aber nicht auf den Müll schmiss? Hast du ihr auch jemals die Wahrheit gesagt?

Was für eine Wahrheit?

Ich hasse sie, weil sie mir auch meinen Vater genommen hat. Sie hat es fertiggebracht, einen so starken, so überlegenen Mann in eine lächerliche Ehe zu drängen, in der er niemals glücklich sein konnte, denn er musste wissen, dass er sich lächerlich gemacht hatte. Jeder ließ es ihn merken, soweit dies möglich war. Nicht nur wir, seine Kinder, auch alle Freunde und Bekannten, seine Jagdfreunde vor allem, die nur noch selten zur Jagd kamen, selten seine Gäste sein wollten.

Wie viel Gäste kamen früher in dieses Haus, auch noch nach Mutters Tod, eine von uns Schwestern vertrat die Hausfrau, manchmal taten wir es alle drei, aber Karl Ravinski und Cora, seine junge Frau, machten die meisten verlegen.

Cora, meine Stiefmutter, die drei Jahre jünger ist als ich. Die Herrin dieses sogenannten Schlosses, die Haupterbin unseres Vaters, und dass er sie dazu gemacht hat, war zweifellos als Strafe gedacht für uns, weil wir seine Frau einmütig ablehnten. Es war Trotz, es war Ärger bei ihm, und möglicherweise hätte er sein Testament wieder geändert, wenn er länger gelebt hätte. Aber er starb sehr plötzlich und, wie es immer heißt in Traueranzeigen, ganz unerwartet, fünf Jahre nach dieser Heirat, er war siebenundsechzig Jahre alt, er war nie krank gewesen, es war nie die Rede gewesen von einem schwachen Herzen. »Sie hat ihn umgebracht«, sagte Hella damals. Keiner von uns widersprach.

War das gemein, Spiegel? Es geschah nichts, wir machten keine Anzeige, wie auch, aus welchem Grunde, es gab keine Untersuchung.

Sag mir die Wahrheit, Spiegel! Was ist wirklich geschehen? Gestern Abend diese läppische Situation mit den beiden Schwulen, so peinlich für uns alle, beweist doch, wie sie ist, wie sie uns zu alledem noch verachtet. Ich hätte sie ermorden können. Ich hasse sie. Ich las den Hass auch in Giselas Augen, sogar in Hellas sonst so harmlosen blauen Augen.

Ich weiß, wie Hartwig denkt, wie Rosine denkt.

Soll sie doch endlich gehen, damit wir sie nicht mehr sehen müssen. Soll sie doch das Schloss und alle Wiesen und Wälder verkaufen, wie sie es uns angekündigt hat. Es ist mir egal, Spiegel, es ist nicht mehr meine Heimat, nicht mehr der Ort, an dem ich meine glückliche Jugend verlebte. Ich will nie mehr hierher zurückkehren.

Nein es ist nicht wahr. Man kann nicht lügen, Spiegel, wenn man in dich hineinschaut. Ich liebe auf dieser Welt nichts so sehr wie diesen Flecken Erde, ich möchte ihn behalten. Behalten? Er gehört mir nicht. Aber sie darf ihn nie verkaufen, nie. Nie.

Frühstücksgespräche

Beim Frühstück fand Irene nur ihre beiden Schwestern vor. Gisela nickte kauend, als sie guten Morgen sagte, Hella rief fröhlich: »Moin, Moin.«

Gleichzeitig steckte Frau Hartwig den Kopf zur Tür herein. »Kaffee oder Tee, Fräulein Irene?«, fragte sie.

Dass Irene zwei Jahre verheiratet gewesen war, nahm sie nicht zur Kenntnis, denn Irene hatte ihren Mann nie mit aufs Schloss gebracht, also war er für Frau Hartwig nicht vorhanden. »Kaffee, Rosinchen«, antwortete Irene und fügte hinzu: »Bitte. Aber vielleicht ist noch welcher da.«

»Kaum«, meinte Gisela. »Ich habe drei Tassen getrunken.« Sie hob den Deckel von der Kanne und blickte hinein. »Eine gerade noch. Knapp.«

»Dann nimmst du die inzwischen, Fräulein Irene. Ich bringe gleich frischen.« Woraufhin sie verschwand.

»Sie lässt sich das nicht nehmen, immer wieder frischen Kaffee zu machen«, sagte Hella tadelnd. »Dabei könnte sie doch gleich eine große Kanne hinstellen.«

»Das hat sie immer so gemacht.«

»Wenigstens kocht sie jetzt die Eier nicht mehr einzeln. Hier, sie sind eingewickelt. Noch ganz warm.«

Irene griff zögernd nach dem Ei. Eigentlich wollte sie gar keines. Seit sie allein lebte, fiel ihr Frühstück recht kärglich aus, eine Tasse Kaffee, ein Knäckebrot. Um halb neun pünktlich war sie im Geschäft.

»Wo sind denn die Männer? Und was ist mit der Dame des Hauses?«

»Die ist sicher noch nicht aufgestanden. Wie deutlich zu hören war, hatte sie in der Nacht noch Krach mit ihren Bubis«, sagte Gisela. »Außerdem frühstückt sie sowieso oben.«

»Jochen ist schon in aller Frühe weggefahren«, berichtete Hella. »Er wollte rechtzeitig in der Fabrik sein. Heute ist Freitag, da wird nur bis Mittag gearbeitet. Du kennst ihn ja.«

»Das Pflichtbewusstsein in Person.«

»Genau«, sagte Hella erbittert. »Er arbeitet sich noch zu Tode. Und wozu? Bloß damit das Miststück immer mehr Geld bekommt.«

»Bisschen was haben wir schließlich auch davon«, sagte Gisela.

»Und Bert? Ist er auch mitgefahren?«

»Iwo. Er ist der Künstler der Firma. Er ist spazieren gegangen, denn die besten Ideen kommen ihm beim Spazierengehen. Es sei ein wunderschöner Frühlingsmorgen, fand er, und weg war er. Er plant eine neue Küche in Burgundrot und Lachs. Wie findet ihr das?«

»Na, warum nicht?«, sagte Irene gleichgültig und klopfte ihr Ei auf. »Müssen doch alle Farben schon mal dran gewesen sein, denke ich mir. Nein, danke, kein Toast, ich esse lieber Schwarzbrot.«

Hella ließ den Blick prüfend über die Marmeladetöpfchen schweifen, zog die Kirschmarmelade zu sich heran und schenkte sich noch einmal Tee ein, den sie mit vier Löffeln Zucker süßte.

»Brr!«, machte Irene. »Das muss ja gräulich schmecken. Gestern Abend hast du gesagt, du willst abnehmen.«

»Von dem bisschen Zucker wird schließlich kein Mensch dick. Ich brauche das für meine Nerven.«

Darüber mussten die beiden anderen lachen. »Deine Nerven, wenn wir hätten«, sagte Gisela, »dann würden wir sofort zu einer Südpolexpedition aufbrechen.«