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Der neue Cornwall-Krimi ist ein Thriller geworden. Zwei bestialisch ermordete Frauen werden in Penzance/Cornwall aufgefunden. Die Taten erinnern stark an die Morde von Jack the Ripper. Offenbar hat der Täter bereits früher zugeschlagen und er kündigt weitere Taten an. Für Detective Chief Superintendent Bob Hamilton und sein Team beginnt ein Wettlauf mit der Zeit.
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2015
www.tredition.de
Erneut ermittelt Chief Superintendent Bob Hamilton in Englands Südwesten, einer Landschaft, die der Autor kennt und liebt. Ralf Göhrig, Jahrgang 1967 begann schon früh seine literarischen Ideen zu Papier zu bringen. Die ersten Gedichte und Kurzgeschichten des Kurpfälzers entstanden schon in den frühen 80er Jahren. Doch mit dem Erscheinen seines Bob Hamiltons und dem Entschluss die „Cornwall-Krimis“ zu veröffentlichen, fand Göhrig Leser im gesamten deutschsprachigen Raum. Durch den Erfolg von „Kopflos in Cornwall“ angestoßen, erschienen nacheinander „Mörderischer Sturm“, „Jerusalem“, „Schatten folgen dem Licht“ und jetzt ein Thriller „Der Cornwall-Ripper“.
Daneben hat der Autor, als besonders persönliches Projekt, den Gedichtband „Purpurne Zeit veröffentlicht mit Gedichten aus den Jahren 1984 bis 2014.
Ralf Göhrig lebt seit mehr als 20 Jahren in Jestetten am Hochrhein.
Ralf Göhrig
Der Cornwall-Ripper
oder Veilchen von Mutters Grab
www.tredition.de
© 2015 Ralf Göhrig
Umschlag, Satz und Layout: Carla Gromann
Lektorat: Vita Funke
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7323-5965-3
Hardcover
978-3-7323-5966-0
e-Book
978-3-7323-5967-7
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
Die Ermittelnden Personen:
Dienstag Vormittag – Westlich von Exeter
Montag Nachmittag – Penzance
Dienstag Nachmittag - Exeter
Montag Nachmittag - Penzance
Dienstag Nachmittag - Exeter
Montag Abend – Penzance
Dienstag Abend - Exeter
Dienstag Morgen - Nordengland
Dienstag Abend – Exeter
Dienstag Vormittag – Allendale Town
Dienstag Abend - Exeter
Dienstag Mittag – Allendale Town
Dienstag Später Abend - Exeter
Dienstag Nachmittag – Allendale Town
Dienstag Nacht - Exeter
Dienstag Abend – Allendale Town
Dienstag Nacht - Cornwall
Dienstag Abend - London
Dienstag Nacht – Allendale Town
Mittwoch Vormittag - London
Mittwoch Vormittag - Penzance
Mittwoch Vormittag - London
Mittwoch Vormittag – Penzance
Mittwoch Vormittag - Nordengland
Mittwoch Mittag - Penzance
Mittwoch Mittag - Schottland
Mittwoch Nachmittag - Penzance
Mittwoch Nachmittag - Glenmore
Donnerstag Vormittag - London
Donnerstag Nachmittag - Exeter
Donnerstag Vormittag - London
Donnerstag Nachmittag - London
Donnerstag Nachmittag - London
Donnerstag Abend - London
Freitag Vormittag - Exeter
Freitag Abend - London
Freitag Vormittag - Exeter
Freitag Nachmittag - Exeter
Freitag Abend - London
Nacht von Freitag auf Samstag - Ottershaw
Samstag Vormittag - London
Samstag Morgen - Ottershaw
Samstag Vormittag – London
Samstag Morgen – London
Samstag Nachmittag – Warlington
Samstag Nachmittag – Wood Green
Wochen später – Exeter
Die Ermittelnden Personen:
Detective Chief Superintendent (DCS) Robert Hamilton
Leiter der Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID) von Devon und Cornwall
Der gebürtige Schotte ist Fan der Glasgow Rangers, liebt Single Malt Whisky, seine Pfeife, seinen Hund Duke und mischt am liebsten selbst bei den Ermittlungen mit
Police Chief Inspector (PCI) Rebecca Hamilton
Pressesprecherin der Polizei von Devon und Cornwall
Die Tochter eines anglikanischen Pfarrers und Frau Hamiltons liebt Musik und kann ihren Mann nur selten von seinem Ermittlungsdrang abhalten
Detective Chief Inspector (DCI) Debbie Steer
Leiterin des CID-Ermittlungsteams in Middlemoor
Beste Freundin der Pressesprecherin Rebecca Hamilton. Die quirlige Nordengländerin ist in dieser Geschichte nicht in die Ermittlungen involviert, da sie mitten in einem anderen Fall steckt.
Detective Chief Inspector (DCI) Rachel Ward
Leiterin des CID-Ermittlungsteams in Newquay mit dem Ehrgeiz irgendwann Polizeichef (Chief Constable) einer englischen Polizeiverwaltung zu werden, wenn nicht gar Commissioner bei Scotland Yard
Detective Inspector (DI) Ray Williams
Kriminalpolizist aus Newcastle, unterstützt Rachel Ward bei ihren Ermittlungen in Nordengland und Schottland
Detective Inspector (DI) Heather Greenslade
Erst relativ kurz beim CID Middlemoor. Sie sorgt mit ihrer unkonventionellen Art für einige Irritationen
Detective Sergeant (DS) Susan McCoy
Mitglied des Ermittlungsteams und dabei hauptsächlich für die Arbeit mit den elektronischen Fahndungshelfern verantwortlich
Assistant Chief Constable (ACC) Jessica Jones
Leiterin des Ressorts Kriminalität und Strafjustiz, direkte Vorgesetzte Hamiltons
Detective Inspector (DI) Pauline Miller
Leiterin der Spurensicherungsabteilung in Middlemoor
A Violet from Mother’s Grave
Scenes of my childhood arise before my gaze,
Bringing recollections of bygone happy days.
When down in the meadow in childhood I would roam,
No one’s left to cheer me now within that good old home,
Father and Mother, they have pass’d away;
Sister and brother, now lay beneath the clay,
But while life does remain to cheer me, I’ll retain
This small violet I pluck’d from mother’s grave.
Only a violet I pluck’d when but a boy,
And oft’time when I’m sad at heart this flow’r has giv’n me joy;
So while life does remain in memoriam I’ll retain,
This small violet I pluck’d from mother’s grave.
Well I remember my dear old mother’s smile,
As she used to greet me when I returned from toil;
Always knitting in the old arm chair,
Father used to sit and read for all us children there.
But now all is silent around the good old home,
They all have left me in sorrow here to roam;
White life does remain, in memoriam I’ll retain
This small violet I plucked from mother’s grave
Only a violet I pluck’d when but a boy,
And oft’time when I’m sad at heart this flow’r has giv’n me joy;
So while life does remain in memoriam I’ll retain,
This small violet I pluck’d from mother’s grave.
William H. Fox
Dienstag Vormittag – Westlich von Exeter
Der Sommer neigte sich dem Ende zu, die Luft roch nach reifen Früchten und einem Hauch der Vergänglichkeit, der sowohl fasziniert als auch erschaudern lässt. Die Bäume und Büsche tauchten ihr saftig grünes Blattwerk in die bunte Palette der Herbstfarben, was im Zusammenspiel mit dem warmen Licht der Septembersonne der Natur einen märchenhaften Glanz verlieh. Die Felder waren weitgehend abgeerntet, nur hier und da stand noch ein Acker mit gelbbraunen Maisstängeln, die auf den Mähdrescher warteten. Es war deutlich zu spüren, dass die Natur sich auf die lange Winterruhe vorbereitete und noch einmal ein letztes Fest ausrichten wollte, eine Erinnerung an den vergangenen Sommer, eine Hoffnung, dass der nächste Frühling sicherlich kommen würde. Der Wind strich sanft über die Hügel und die grauen Wiesen der Moorlandschaft, wo sich eine kleine Gallowayherde am Fuße einer Felsgruppe zum Widerkäuen niedergelegt hatte.
Ein einsamer Mann mit einem markanten, breitkrempigen Hut stapfte einen kaum erkennbaren Pfad entlang. Mücken umschwirrten ihn, doch bevor sie sich zur Blutmahlzeit niedersetzen konnten, drehten sie auch schon wieder ab. „Gottlob wirkt heutzutage dieses Insektenschutzzeugs“, dachte der Mann und ging unbeeindruckt von den Fliegenschwärmen weiter. Voraus lief ein großer Hund, dem die Geschwindigkeit seines Herrn deutlich zu langsam war. Ab und zu bellte er, um den Mann zur Beschleunigung seiner Schritte aufzufordern. Doch dieser ignorierte das Hundegebell und genoss stattdessen die unvergleichliche Landschaft des englischen Südwestens. Vor ihm erhob sich ein sogenannter Tor, ein freistehender, abgewitterter Fels, typisch für die hiesigen Moore. In der Ferne leuchtete Heidekraut aus den olivgrünen Hängen und er wusste, dass er noch eine ganze Strecke gehen musste, bis er seine Rinderherde erreicht hatte. Natürlich hätte er auch das Auto nehmen und über die Nordflanke bis direkt zur Weide fahren können, aber er wollte seinen freien Tag nutzen. Endlich hatte er einmal die Zeit, die ihm sonst immer fehlte. Wenn ihn nicht der Beruf forderte, waren es die Kinder, die seine Aufmerksamkeit beanspruchten. Doch die hatten sich heute mit seiner Frau auf dem Weg zu den Schwiegereltern gemacht und so hatte er einen Tag für sich und den Hund, der gerade wieder anfing, ungeduldig zu bellen.
Detective Chief Superintendent Robert Hamilton war Leiter der Kriminalpolizei von Devon und Cornwall und als solcher verantwortlich für die Verbrechensbekämpfung im beschaulichen Landstrich zwischen Atlantik und Ärmelkanal. Nach langen Jahren in Manchester war der Schotte vor nunmehr acht Jahren in Exeter gelandet. Zwar hatte er Angebote aus vielen Polizeiverwaltungen in ganz England gehabt, doch er hatte alle abgelehnt. Die Metropolitan Police, umgangssprachlich auch bekannt als Scotland Yard, hatte ihm sogar den Posten eines Assistant Commissioners angeboten.
Aber Hamilton wollte nicht nach London und er wollte auch nicht als Leiter der Metropolitan Police seine Karriere beenden, obwohl diese Aussicht bestanden hatte und immer noch bestand. Er, das Landei, liebte das beschauliche Leben in dieser abgeschiedenen Ecke Britanniens und streichelte lieber seine Rindviecher und den Weimaraner Duke, als der versammelten Weltpresse zu erklären, warum dieser oder jener Anschlag trotz höchster Sicherheitsvorkehrungen hatte geschehen können. Hier konnte er unbehelligt ein oder zwei Bier in einem Pub trinken oder einfach mit der Familie durch die Einkaufsmeile von Exeter schlendern. Und er konnte ein Fußballspiel der Glasgow Rangers besuchen, wann immer er Lust dazu hatte – auch wenn der Weg zurück in die schottische Heimat ein weiter war.
Sein Handy klingelte. Er wunderte sich, dass er es überhaupt mitgenommen hatte. Der wohlbekannte Klingelton ließ ihn die Stirn in Falten legen – Middlemoor, das Polizeihauptquartier. Sollte er drangehen? Sie wussten doch, dass er Urlaub hatte und es hasste, im Urlaub gestört zu werden. Es sei denn, etwas Außergewöhnliches war geschehen … Mit gemischten Gefühlen griff er zu dem Mobiltelefon.
„Was gibt’s, Vicky?“, fragte er mürrisch. DC Victoria Burke war seine persönliche Assistentin, vor ein paar Jahren hätte man gesagt, Sekretärin.
„Sir, entschuldigen Sie meinen Anruf. Aber ich glaube, es ist dringend geboten, dass Sie kommen.“
„Was ist denn so dringend? Ist die Katze des MP’s entlaufen?“
„In Penzance wurde eine Frau ermordet. Es war kein normaler Mord. Es war eine Kopie des Mordes an Catherine Eddowes. Hier sind alle fast am Durchdrehen.“
Hamilton seufzte tief. „Ich komme so schnell wie möglich. Es dauert aber noch ein Weilchen, ich bin mitten im Moor.“
Nachdenklich steckte er das Telefon zurück in die Jackentasche. Catherine Eddowes. Das vierte Mordopfer von Jack the Ripper. Was zum Henker hatte das zu bedeuten?
Montag Nachmittag – Penzance
Penzance verbindet man im Allgemeinen mit subtropischen Gärten, dem Golfstrom, neuseeländischen Keulenlilien und im schlimmsten Fall mit Heerscharen von Touristen. Kanarische Dattelpalmen, St. Michael’s Mount, verträumte Fischerhäfen, Land’s End, Minen oder keltische Kunst sind Begriffe, die mit der kleinen Stadt an der Südwestspitze Cornwalls assoziiert werden. Verbrechen, gar Mord, fehlt in dieser Liste. Gut, es gibt eine gewisse Kleinkriminalität, wie sie in Städten von 20.000 Einwohnern üblich ist, der Tourismus spielt hierbei sicherlich auch eine Rolle, aber Schwerverbrechen sind im hintersten Winkel Englands kein großes Thema.
Umso mehr war DCI Rachel Ward überrascht, als sie den Telefonanruf vom Polizeirevier in Penzance entgegennahm. Ein stammelnder Sergeant versuchte, irgendwas von einem bestialischen Mord wiederzugeben, scheiterte jedoch grandios. Rachel verstand nur so viel, dass eine Frau ermordet aufgefunden worden war und die Umstände ziemlich schlimm sein mussten. Also beschloss die Leiterin des CID-Ermittlungsteams Newquay, zuständig für Cornwall, umgehend nach Penzance zu fahren, um sich selbst ein Bild zu machen. Vielleicht hatte der Sergeant noch nie eine unappetitliche Leiche gesehen und das Ganze war gar nicht so schlimm.
Rachel setzte sich in ihren Dienstwagen, einen Rover 45, bereits elf Jahre alt, der schon längst ausgemustert werden sollte, doch Rachel liebte diesen Wagen und würde sich erst von ihm trennen, wenn es wirklich nicht mehr anders ging. Noch schnurrte der Sechszylinder jedoch zuverlässig und Rachel flog mit mehr als 100 Meilen pro Stunde über die A 30 in südwestliche Richtung. Das war einer der größten Vorteile bei der Polizei: Man konnte genüsslich die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit überschreiten und sich wie ein Formel 1-Fahrer fühlen, ohne den Arm des Gesetzes fürchten zu müssen. Vorausgesetzt, man verursachte keinen Verkehrsunfall.
Nach gerade mal vierzig Minuten stand sie vor dem hässlichsten Gebäude der britischen Polizei, wie sie fand, und fünf Minuten später saß sie im Büro des Polizeichefs von Penzance, Police Inspector Mark Brown. Dieser war ein etwas unscheinbarer Mann mit kräftigem Händedruck, kurzen, brauen Haaren und einer randlosen Brille.
„Tee, Ma’am?“, fragte er als Erstes.
Rachel, mit ihren 1,80 deutlich größer als ihr Gegenüber, nickte kurz, denn sie wusste, ein Tee war immer noch das Beste, was es in allen Lebenslagen zu trinken gab. „Jetzt erzählen Sie mir mal, was hier in der Stadt vorgefallen ist. Ihr Sergeant war dazu leider nicht imstande.“
„Das kann ich ihm nicht verdenken.“ Brown drehte sich auf seinem Bürostuhl um, nahm eine rote Tasse mit Blumenmuster, goss Tee aus einer großen Edelstahlkanne ein und reichte ihn Rachel. „Zucker oder Milch?“
„Danke, nein.“
„Also, ich habe schon einiges erlebt in meiner Laufbahn, aber was heute hier geschehen ist, ist unbeschreiblich.“
Brown öffnete eine Aktenmappe, zog Bilder heraus und reichte sie wortlos seiner Vorgesetzten. Rachel nahm sie entgegen und spürte, wie sich eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals legte. Sie schloss für ein paar Sekunden die Augen und rang nach Atem.
Auf dem Bild war eine Frau zu erkennen, auf dem Rücken liegend, das Gesicht entstellt, die Kehle durchschnitten und ausgeweidet, wie ein Stück Vieh.
Rachel spürte, wie sich alles um sie herum plötzlich zu drehen anfing. „Wer zum Teufel tut so was?“, fragte sie mehr sich selbst als den Polizisten aus Penzance.
„Wahrscheinlich der Teufel selbst“, antwortete Brown. „Nun können Sie sich vorstellen, weshalb Sergeant Boyd etwas von der Rolle war. Er war am Tatort.“
Rachel nickte, nahm mechanisch ihre Teetasse, führte sie zu den Lippen und trank einen Schluck. Sie hätte aber nicht sagen können, ob es Tee war oder Terpentin, was sie gerade hinunterschluckte. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Und sie hatte schon etliche Leichen, teilweise brutal zugerichtet, anschauen müssen. Aber dies sprengte den Rahmen des Vorstellbaren.
„Weiß die Presse davon?“
„Nein. Das Mordopfer, eine gewisse Sally Gardiner, war von ihrer Vermieterin in ihrer Wohnung gefunden worden. Die Vermieterin hat sofort die Polizei informiert und befindet sich momentan in psychiatrischer Behandlung. Ich habe umgehend eine Pressesperre verhängt.“
„Gut“, sagte Rachel, dachte aber, dass dies gerade der falsche Weg war, denn nun nahm die Journaille mit Sicherheit Witterung auf. Hätte man zunächst gar nichts verlauten lassen oder lediglich eine kurze Pressemitteilung herausgegeben, wäre mehr Zeit geblieben. Eine Pressesperre hingegen war das Wecksignal für den verschlafensten Journalisten im ganzen Land. Und die großen Schmierblätter standen mit Sicherheit schon in den Startblöcken. „Was weiß man über die Tote?“
„Nichts“, antwortete Brown.
„Hat sie alleine gelebt, wo hat sie gearbeitet, wer kannte sie?“
„Es ist schwierig. Wir wissen es nicht. Niemand kannte die Frau.“
„Und wie lange wohnte sie in Penzance?“
„Seit einem halben Jahr, sagte die Vermieterin.“
Rachel nahm nochmals einen Schluck Tee, der jetzt auch wie ein solcher schmeckte, und sah sich in Browns Büro um. Graue Wände, billige und aus dem Leim gegangene Holzregale und ein fleckiges Bild der Queen vermittelten den Eindruck einer beklemmenden Traurigkeit. „Sie muss doch irgendetwas getan haben?“
„Sicher, wir wissen aber leider nicht, was.“
„Und was sagt die Vermieterin?“
„Nur dass Sally Gardiner immer regelmäßig ihre Miete zahlte und ansonsten eine ruhige Person war.“
„Und wieso war die Vermieterin in der Wohnung?“
„Sie wollte nur mal schauen.“
„Aha. Wissen wir schon, wie lange unser Opfer tot ist?“
„Nach Aussage unseres Pathologen trat der Tod heute zwischen neun und zehn Uhr ein.“
Rachel nahm einen weiteren Schluck Tee. „Und wann wurde die Leiche gefunden?“
„Gegen ein Uhr. Zwanzig Minuten später war eine Streife dort und eine Stunde später war alles, was wir hier aufbieten können, am Tatort.“
„Demnach ist der Fundort auch der Tatort.“
Brown nickte. „Jetzt müssen wir auf die Ergebnisse der Spurensicherung warten. Vielleicht haben wir was in unserer Datenbank.“
„Nein“, antwortete Rachel ärgerlich. „Wir müssen nicht warten, sondern alles, was Beine hat, ausschwärmen lassen. Irgendwo muss der Mörder sein und irgendwer muss etwas gesehen oder gehört haben. Und irgendjemand muss doch diese Frau kennen. Sind schon Fotos bei der Presse?“
„Leider gibt es außer den Tatortfotos keine Bilder.“
„Mein Gott, dann richtet die Frau einigermaßen her und bearbeitet die Bilder so, dass wir sie veröffentlichen können. Die Presse können wir uns sowieso nicht mehr lange vom Hals halten.“ Rachel sah ihren Gesprächspartner mit großen Augen an. „In unserer Datenbank ist demnach keine Sally Gardiner aktenkundig?“
„Nein.“
„Und woher wissen wir, dass die Frau so geheißen hat?“
„Die Vermieterin …“
„Wir haben keine Papiere gefunden?“
„Bis jetzt noch nicht.“
„Oh mein Gott. Wie viele Beamte haben wir hier in Penzance?“
„Drei Detectives. Aber einer ist in Urlaub und einer krank. Der dritte, DC Bannister, steht kurz vor der Pensionierung, ist aber vor Ort.“
„Er bewacht den Tatort, oder wie meinen Sie das?“
„Ja, also … er hilft der Spurensicherung.“
„Aha.“ Rachel legte ihr Gesicht in die Handflächen und überlegte. Das war kein gewöhnlicher Mord. Sie musste ihr Team hierher holen.
Und Hamilton musste auch informiert werden. Aber erst, wenn sie mehr wusste. Denn erstens war der Chief im Urlaub und zweitens hasste er nichts mehr als einen unvollständigen Bericht. Und so gut wie DCI Debbie Steer aus Exeter kannte sie den Chief auch wieder nicht, auch wenn er ihr großer Förderer war. Im Gegenteil, während Debbie den Kripochef jederzeit anrufen konnte, erwartete Hamilton von ihr, dass sie fundierte Aussagen machte. Ein unverbindliches „Hi Chief, hier gibt es so eine Leiche, wir wissen aber noch nichts“ kam bei dem launischen Schotten gar nicht gut an. Und vor allem dann nicht, wenn es von DCI Rachel Ward kam, die im kommenden Jahr zur Leiterin der Abteilung für Schwerverbrechen befördert und dann Detective Superintendent Ward genannt werden sollte.
Rachel musterte Brown eindringlich. „Erinnert Sie der Mord an irgendetwas?“
„Ich weiß nicht, auf was Sie hinauswollen.“
„Jack the Ripper. Er hat seine Opfer derart hergerichtet.“
Brown nickte und massierte seine Schläfen. „Und was bedeutet das?“
„Wenn ich das nur wüsste. Vielleicht haben wir es mit einem Serienmörder zu tun. Vielleicht mit einem Ripperfan, der seine Freundin umgebracht hat.“
„Ich denke, der Mörder muss blutüberströmt gewesen sein. Heutzutage sollte es kein Problem sein, ihn zu überführen.“
Rachel verzog angewidert das Gesicht. „Wenn er vorgegangen ist wie der Ripper, gibt es kaum Blut. Der Ripper hat seinen Opfern zuerst die Kehle durchgeschnitten und sie damit umgebracht. Das ganze Geschlitze kam erst, nachdem die Frauen gestorben waren, und dann spritzt kein Blut mehr durch die Gegend. Und wenn unser Mörder einigermaßen clever ist, hat er sich entsprechend geschützt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich würde, wäre ich so ein Metzger, mir einen unserer weißen Ganzkörperkondome überziehen.“
„Sie meinen, wir finden gar nichts?“
„So in etwa.“ Rachel holte tief Luft. „Und jetzt will ich den Tatort und dann die Leiche sehen.“
Dienstag Nachmittag - Exeter
Als Hamilton in Middlemoor, dem Hauptquartier der Polizei von Devon und Cornwall am Stadtrand von Exeter ankam, war es bereits Mittag und die meisten Büros waren verwaist. Lediglich DS Susan McCoy saß hinter ihrem Bildschirm und hackte wie wild auf der Tastatur herum.
„Hallo Susan, wo sind denn die anderen?“
„Hallo Sir, entweder in der Kantine oder im Red Lion – Mittagspause“, fügte sie überflüssigerweise hinzu. „Wen suchen Sie denn?“
„Meine Anstandsdame. Sie hat mich an meinem Urlaubstag hierher zitiert.“
Susan lachte. „Da muss sie ja ein überwältigendes Argument vorgebracht haben.“
Hamilton nickte ihr zu. „Kann man so sagen. Noch nichts vom Mord in Penzance gehört?“
„Wir sind hier in Devon und nicht für Verbrechen in Cornwall zuständig. Ich habe nur am Rande was von einem Mord an einer Frau mitbekommen.“
„Ich bin nun mal auch für Cornwall zuständig. Und dort treibt Jack the Ripper sein Unwesen.“
„Ein Frauenschlitzer?“, fragte Susan mit aufgerissenen Augen.
„Sieht so aus. Aber ich muss mir erst mal ein Bild verschaffen.
Und mit was sind Sie gerade beschäftigt?“
Susan verdrehte die Augen. „Meine Lieblingsbeschäftigung. Irgendwer hat mal wieder Kreditkartendaten geklaut und ich versuche, die Spuren zu verfolgen. Am Ende kommt sowieso nichts heraus und die Täter, meist Kleinkriminelle, sind über alle Berge. So richtige Hacker wären mal was anderes – aber dabei käme auch nichts heraus.“ Sie zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.
Hamiltons Büro lag am Ende eines langen Flurs, der die Abteilung für Schwerverbrechen beherbergte. Chef der Abteilung war sein langjähriger Freund Detective Superintendent Steve Parker, und das Ermittlungsteam wurde von Detective Chief Inspector Debbie Steer geleitet, die ihr Büro gegenüber von Hamilton hatte. Zum Büro des Schotten gelangte man entweder durch ein Vorzimmer, in dem Vicky Burke residierte, oder direkt durch eine unscheinbare Tür im Flur des Quertrakts, in dem die Führungsriege der Polizei von Devon und Cornwall ihre Büros hatte. Insofern war der Hinterausgang eine zweischneidige Angelegenheit, denn es bestand immer die Gefahr, dem Chief Constable oder seinem Stellvertreter in die Arme zu laufen. Auch Hamiltons direkte Vorgesetzte, Assistant Chief Constable (ACC) Jessica Jones, Leiterin des Ressorts Kriminalität und Strafjustiz, saß in einem dieser Büros.
Doch Hamilton hatte keine Berührungsängste zu seinen Vorgesetzten, im Gegenteil, manchmal erschien es so, als sei er der eigentliche Polizeichef. Durch seinen legendären Ruf, den er sich in seiner Zeit bei der Polizei von Greater Manchester erworben hatte und den er auch hier im äußersten Südwesten immer wieder bestätigte, genoss er eine weitgehende Narrenfreiheit. Dass er ungehemmt in seinem Büro Pfeife rauchte, war da nur eine Kleinigkeit. Hamilton hatte Verbindungen in die höchsten Kreise von Politik und Gesellschaft, was ihm zum Teil Bewunderung, zum Teil Argwohn entgegenbrachte. Aber niemand wagte es, sich mit ihm ernsthaft anzulegen.
Einen Teil dieser Verbindungen hatte er zweifelsohne seiner Ex-Frau zu verdanken, einer Staranwältin, die nur die oberen Zehntausend vertrat. Der Superbulle an ihrer Seite war quasi ein interessantes Accessoire gewesen, mit dem sie sich gerne schmückte. So lange jedenfalls, bis Hamilton die Schnauze gestrichen voll gehabt hatte und sie vor die Tür setzte. Dieses Ereignis lag nun rund zehn Jahre zurück, Hamilton war inzwischen wieder glücklich verheiratet und hatte drei Kinder, aber die Kontakte, die er damals geknüpft hatte, waren immer noch äußerst wertvoll. Dazu passte auch der Umstand, dass Hamilton den Premierminister persönlich kannte. Dass die beiden sich eher zufällig in den 90er Jahren beim Skifahren in der Schweiz kennengelernt hatten, war dabei nebensächlich.
Hamiltons Büro glich mehr dem Wohnzimmer eines Farmers als der Schaltzentrale der Kriminalpolizei. Es roch nach kaltem Pfeifenrauch und mancher Besucher wunderte sich, wieso der Feueralarm oder gar die Sprinkleranlage bei dem permanenten Qualm nicht losging. Als sich der Kripochef in seinen ledernen Schreibtischsessel fallen ließ, fiel ihm sofort der Zettel mit Vickys Kleinmädchenschrift ins Auge: „Um zwei Uhr zur Chefin!“
Hamilton blickte an die Wand, wo eine alte Standuhr, die er irgendwo auf einem Trödelmarkt ergattert hatte, zehn Minuten vor zwei anzeigte. Er öffnete die Aktenmappe, die Vicky auf seinen Schreibtisch gelegt hatte, und sein Blick fiel auf die Bilder vom Tatort, die sich ein vernünftiger Mensch lieber nicht anschauen sollte. Welcher Irre war hier am Werk?, fragte Hamilton sich.
Den Briefen war ein kurzer Bericht beigelegt, der mehr Fragen hinterließ als beantwortete. Kein Wunder, dass Rachel ihn informieren wollte, ganz gleich, ob er Urlaub hatte oder nicht. Die Sache hatte das Potenzial, ganz England in Angst und Schrecken zu versetzen. Da mussten sich nur die richtigen Schreiberlinge in ihren Redaktionen gegenseitig überbieten und schon würde sich keine Frau mehr aus dem Haus trauen. Doch vielleicht konnte die Flamme klein gehalten werden? Hamilton schüttelte den Kopf. Da hatte er wenig Hoffnung. Irgendein Beamter mit Geldsorgen würde diese brisante Information schon durchstechen. Er sah bereits die Titelseite der SUN vor seinem inneren Auge: „Der Ripper von Cornwall“.
Die Standuhr zeigte inzwischen kurz nach zwei und Hamilton verließ sein Büro durch das Hinterzimmer in Richtung ACC Jess Jones.
Montag Nachmittag - Penzance
Alma Terrace war eine schmale, fast unscheinbare Straße im Herzen von Penzance, nur wenige Meter nördlich der Markes Jew Street, der Haupteinkaufsstraße der kleinen Stadt gelegen. Genau wie die parallel verlaufenden St. James’ Street, Belgravia Street und Taroveor Terrace wurde sie gesäumt von einer engen Bebauung durch die typisch britischen Doppelhäuser – aber: Im Unterschied zu den letztgenannten Straßen hatte die Alma Terrace nur eine einseitige Bebauung. Die unbebaute Straßenseite bestand aus grünen Gärten, die sich hangabwärts zogen. Und dadurch wurde ein unglaublicher Blick über den Hafen und das Meer bis zu St. Michael’s Mount freigegeben.
Rachel parkte den Rover vor einem Streifenwagen und ging zum Haus Nr. 22. Im kleinen Vorgarten leuchteten bunte Herbstblumen zwischen dem Gras heraus. Vor der Eingangstüre stand ein Uniformierter, der sie durchließ, nachdem sie ihm ihren Dienstausweis unter die Nase gehalten hatte. Im Flur standen zwei Türen offen: Die eine führte nach oben zur Wohnung des Opfers, die andere in die Wohnung der Vermieterin, Paula Hewitt, einer 73-jährigen Witwe.
Ein vom Alter – und Alkohol, wie Rachel mutmaßte – gezeichneter Mann kam ihr entgegen und stellte sich als DC Bannister vor.
„Das Opfer ist nicht mehr oben. Wollen Sie sich den Tatort ansehen?“
„Später. Ist Mrs Hewitt hier?“
„Sitzt in der Küche und schält Kartoffeln. Sie wollte zu Hause bleiben und weder in eine Klinik noch zu einem Arzt. Sie lebe schließlich noch und habe ihre Arbeit zu Hause.“
Rachel nickte. „Ich würde mich gerne mit ihr unterhalten.“
„Dann kommen Sie doch mit.“
Die Ermittlungsleiterin folgte Bannister durch einen langen, dunklen Flur mit unzähligen Portraitfotos aus etlichen Jahrzehnten an der Wand. Am Ende des Flurs öffnete der Alte eine Tür mit Glaseinsatz, der für die notdürftige Belichtung des Flurs sorgte.
Hinter der Tür glaubte sich Rachel in ein vergangenes Jahrhundert versetzt. Die Möbel stammten aus den 20er oder frühen 30er Jahren und das ganze Zimmer wirkte, als sei damals die Zeit stehen geblieben. An der Wand befand sich einer der typischen Spülsteine mit Kaltwasseranschluss. Immerhin, dachte Rachel.
Der Kochherd, von dem eine Hitze ausging, als wütete ein Höllenfeuer darin, passte genauso wie die Tapete an der Wand, die sich bei genauerem Hinschauen als Putz mit aufgemaltem Blumenmuster entpuppte. Mitten im Raum stand ein hölzerner Tisch mit vier dünnen Beinen, an dem eine grauhaarige Frau mit grauer Kittelschürze saß und Kartoffeln schälte.
„Mrs Hewitt, darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte Rachel.
„Es ist doch nicht zu glauben. Wer bringt denn das arme Mädchen um?“, antwortete Paula Hewitt, ohne auf Rachel einzugehen. Diese setzte sich trotzdem.
„Ich bin DCI Rachel Ward vom CID Newquay. Ich leite die Ermittlungen. Schildern Sie doch bitte mal Ihren heutigen Tagesablauf.“
Paula Hewitt blickte von ihren Kartoffeln auf, legte das Schälmesser zur Seite und musterte Rachel. „Sie sind eine Frau“, stellte die alte Frau fest und eine leichte Verwunderung klang in ihrer Stimme.
Also entweder ist die schon komplett senil oder der Mord hat sie aus der Spur gebracht, wahrscheinlich Letzteres, vermutete Rachel.
„Ich bin eine alte Frau, stehe früh am Morgen auf, kaufe mir eine Zeitung und trinke dann eine Tasse Kaffee. Mein verstorbener Mann hat es auch immer so gemacht.“ Sie setzte ihre Brille ab und legte sie neben das Küchenmesser. „Und dann habe ich begonnen, die Wohnung zu putzen. Sie glauben ja nicht, wie viel Staub sich hier ansammelt.“
„Wann und wo haben Sie Ihre Zeitung gekauft?“
„Ich stehe immer gegen sechs Uhr auf. Ich bin zwar schon viel früher wach, aber um sechs Uhr stehe ich auf. Bis dorthin höre ich Radio. Es passiert ja so viel in der Welt. Ab sieben Uhr hat der Zeitungsverkäufer am Greenmarket geöffnet. Das sind fünf Minuten von hier. Um Viertel nach sieben war ich wieder hier.“
„Später haben Sie Ihre Wohnung nicht mehr verlassen?“
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Mrs Hewitt“, Rachel biss sich auf ihre Unterlippe, „haben Sie heute Morgen ungewöhnliche Geräusche vernommen? Haben Sie gehört, dass jemand zu Ihrer Mieterin gekommen ist?“
„Es tut mir leid. Ich habe nichts gehört. Es kann schon sein, dass sie Besuch hatte, das ist schließlich nicht verboten, aber mitbekommen habe ich davon nichts.“
„Muss ja jemand da gewesen sein, sonst wäre sie nicht tot“, blaffte Bannister dazwischen. Rachel strafte ihn mit ihrem schärfsten Blick.
„Hatte Sally Gardiner hin und wieder Besuch?“
„Ja, ich weiß nicht so recht. Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht erinnern, dass mal jemand da gewesen ist. Aber das muss nichts heißen. Ich bin nicht mehr die Jüngste und mein Gehör war auch schon besser.“
„Was wissen Sie über Sally Gardiner?“
Paula Hewitt zuckte mit den Schultern. „Wenig. Eigentlich gar nichts. Sie kam vor gut einem halben Jahr hier an – eine Bekannte hatte ihr gesagt, dass meine Wohnung frei sei – und es hat ihr gefallen. Sie hat zuverlässig ihre Miete gezahlt.“
Rachel neigte leicht ihren Kopf zur Seite. „Wissen Sie, wer die Bekannte war?“
„Das war wohl Bronte Palmer, sie arbeitet bei der Stadtverwaltung und vermittelt auch freie Wohnungen.“
„Vermieten Sie regelmäßig?“
„So lange mein Mann noch gelebt hat, haben wir, nachdem die Kinder aus dem Haus waren, ein B&B geführt. Oben sind drei Zimmer und ein Bad. Nach dem Tod meines Mannes vor fünf Jahren war mir das alles zu viel und meine Kinder meinten, ich sollte den ganzen oberen Stock vermieten. Drei Jahre lebte ein junges Mädchen aus Deutschland hier, doch dann ist sie mit ihrem Freund zusammengezogen.“
Rachel ließ sich den Namen von der jungen Frau geben und notierte die neue Adresse, die ebenfalls in Penzance war. Außerdem fragte sie nach der Adresse von Bronte Palmer.
„Wissen Sie, was Sally Gardiner gearbeitet hat und woher sie kam?“
„Sie verließ am Morgen, üblicherweise gegen halb neun, das Haus und kehrte am Abend zurück. Ich habe keine Ahnung, was sie gemacht hat. Sie sagte aber, sie ginge ins Büro.“
Rachel nickte und legte ihre Hoffnung auf die Veröffentlichung des Fotos in der Presse.
„Woher sie kam, kann ich nicht genau sagen, aber ich denke, sie stammte aus dem Norden. Sie hatte diesen lustigen Dialekt, Durham oder Northumberland.“
„Ich verstehe. Und weshalb kam sie in den Südwesten?“
„Die Arbeit, nehme ich an.“
Rachel musterte ihr Gegenüber und stellte fest, dass sie sich offenbar weitgehend gefasst hatte. Vermutlich half es der Frau, zu reden.
„Wieso sind Sie heute Mittag nach oben gegangen? War das üblich?“
„Nein, überhaupt nicht. Ich hatte nur so ein Gefühl. Irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte ich. Ich kann das auch nicht erklären. Es war so eine gespenstische Stille im Haus. Und ich konnte nicht hören, dass sie gegangen war. Ja, das war es. Normalerweise hörte ich, wenn sie das Haus verließ. Heute habe ich nichts gehört. Ich wollte schauen, ob sie krank war oder ob ich ihr irgendwie helfen kann.“ Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Ich weiß es nicht. Ich hatte so ein Gefühl und dann bin ich hineingegangen. Mein Gott!“ Sie seufzte.
„Können Sie mir genau erklären, was Sie gemacht haben?“
„Ich ging hoch und klopfte …“
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich unterbreche. War die Abschlusstüre im Foyer nicht geschlossen?“
„Die ist nie abgeschlossen, ebenso wenig wie meine. Ich bin jedenfalls hochgegangen und habe an die obere Tür geklopft. Nachdem ich keine Antwort erhalten habe, bin ich trotzdem in die Wohnung gegangen. Sie lag im Wohnzimmer. Ich habe nur all das Blut gesehen. Es war furchtbar.“
Paula Hewitt sah aus, als sei sie versteinert. Dieses Erlebnis würde sie in ihrem Leben nie mehr vergessen, da war sich Rachel sicher. Sie hoffte, dass die alte Frau das Opfer nicht so genau angesehen hatte. Dass sie die ganze Tragweite nicht erkannt hatte, und dass ihr die Details erspart geblieben waren.
„Waren Sie nur im Wohnzimmer oder auch in den anderen Zimmern?“
„Ich bin fast zu Tode erschrocken. Ich rannte in meine eigene Wohnung, schloss die Tür ab und wählte die 999. Und dann wartete ich, bis die Polizei eintraf.“
„Verstehe. Glauben Sie, dass noch jemand in der Wohnung gewesen sein könnte, als Sie oben waren? Haben Sie vielleicht jemanden die Wohnung verlassen hören, als Sie wieder unten waren?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob noch jemand oben war und ich habe auch nichts gehört.“
„Wie wurde die Miete beglichen? In bar oder per Banküberweisung?“
„Miss Gardiner hat das Geld überwiesen.“
„Haben Sie die Kontonummer?“
„Einen Moment bitte.“ Paula Hewitt verschwand im Nebenzimmer und kam mit einem Aktenordner zurück. „Das sind meine Kontoauszüge. Warten Sie.“ Sie setzte sich wieder und blätterte in den Akten. „Hier ist es.“ Sie zog ein Blatt hervor und reichte es über den Tisch. „Das ist die Kontonummer von Miss Gardiner.“
Rachel nahm das Blatt entgegen und betrachtete die Kontonummer, als wäre das Geheimnis der toten Frau dahinter verborgen.
Das ist zumindest mal was, überlegte sie. Eine Kontonummer. Dann muss die Bank wohl mehr wissen, denn Bankkonten gibt es in England schließlich nur, wenn man einen Wohnsitz und ein festes Einkommen nachweisen kann.
„Bannister!“ Sie schaute ihren Kollegen herausfordernd an. „Sie gehen zur Bank; unten in der Market Jew Street gibt es eine Filiale; und bringen alle Informationen mit, die die Bank über Sally Gardiner hat. Und zwar sofort.“
„Ja, Ma’am.“ Bannister nickte und ging eilig aus dem Zimmer.
Rachel wandte sich wieder der alten Frau zu. „Wie würden Sie Miss Gardiner beschreiben?“
„Sie war jung, hübsch, bescheiden. Ruhig und bescheiden, zurückhaltend. Aber immer freundlich.“
„Hatte sie einen Freund oder Männerbekanntschaften?“
„Nein, sie hatte eigentlich gar niemanden. Sie kam am Abend nach Hause und dann hat man nichts mehr von ihr gehört.“
„Keine Musik, keine Partys, kein lauter Fernseher?“
„Nein. Es war so, als sei sie gar nicht hier.“
Rachel stutzte kurz. „Sind Sie sicher, dass sie überhaupt da war? Könnte es nicht sein, dass sie sich irgendwann davongestohlen hatte?“
Paula Hewitt wiegte den Kopf hin und her. „Ich weiß es nicht. Aber eigentlich glaube ich nicht, dass sie das Haus verlassen hat. Es kam nur ganz selten am Wochenende vor, dass sie fortging. Ins Kino, hat sie mir mal gesagt. Das Kino ist nicht weit von hier.“
„Und Sie wissen nicht, ob sie alleine oder in Begleitung dort hingegangen ist?“
„Wie schon gesagt, ich habe keine Ahnung. Miss Gardiner hat auch nie ein Wort darüber verloren.“
Hier war kein Weiterkommen. Rachel hoffte, durch die Auskünfte der Bank einen Schritt weiterzukommen. Jetzt wollte sie sich den Tatort ansehen.
„Haben Sie Ihre Angehörigen oder Freunde informiert, Mrs Hewitt? Ich glaube nicht, dass Sie heute Nacht alleine bleiben wollen.“
„Meine Tochter kommt am Abend vorbei und bringt mich zu sich und ihrer Familie nach Hause. Sie wohnt in Helston. Dort bleibe ich eine Weile, denke ich. Ich weiß wirklich nicht, wie es weitergehen soll. Ich glaube, wenn mir Dr. Aniston nicht das Beruhigungsmittel gegeben hätte, wäre ich schon durchgedreht.“
„Ein Officer wird bei Ihnen bleiben, bis Ihre Tochter kommt. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.“ Rachel stand auf und ging in Richtung Tür. „Und wenn Ihnen irgendetwas einfällt, sei es für Sie noch so unbedeutend, zögern Sie nicht, die Polizei anzurufen.“
Die alte Frau fasste sich an die Stirn. „Ach ja, eins ist vielleicht noch wichtig. Gelegentlich kamen Pakete für Miss Gardiner, die ich entgegennahm.“
„Und was waren das für Pakete?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ganz normale Pakete eben. Ich habe nicht darauf geachtet.“
„Vielen Dank und Ihnen alles Gute.“
Mit seltsam mulmigem Gefühl stieg Rachel die Treppe hoch und obwohl sie wusste, dass das Opfer schon in der Pathologie lag, spürte sie ein Zittern in den Knien.
Dienstag Nachmittag - Exeter
Jess Jones, Leiterin des Ressorts Kriminalität und Strafjustiz, saß aufrecht an ihrem Schreibtisch, als Bob Hamilton eintrat. Ihr Büro war im Gegensatz zu seinem eigenen fast schon steril. Jess hätte gesagt: klassisch-elegant, doch Hamilton fand die weißen Wände und die Glas-Edelstahlkombination des Mobiliars mehr als ungemütlich. Lediglich die Queen, die huldvoll aus ihrem Rahmen auf die Besucher des Raums herunterlächelte, schaffte eine beruhigende Atmosphäre. Jedenfalls empfand Hamilton das so.
In diesem Büro hätte Hamilton auch sitzen können, doch er ließ seiner Kollegin gerne den Vortritt. Er wusste, dass er in der Tochter eines bärbeißigen walisischen Detectives und einer aus Afrika stammenden Leichtathletin eine ihm wohlgesonnene Mitstreiterin hatte. Die beiden kannten sich schon viele Jahre und tickten irgendwie ähnlich, wenn auch Jess bei Weitem nicht so unorthodoxe Methoden anwandte wie der Schotte. Sie verstanden sich ohne viele Worte, und das machte Bob die Zusammenarbeit mit seiner Chefin sehr einfach. Er hasste es, wenn er unendliche Ausführungen darlegen musste und sein Gegenüber dennoch kein Wort, geschweige denn einen Zusammenhang verstand.
„Hallo Jess. Alterst du denn überhaupt nicht? Du siehst noch aus wie vor zehn Jahren.“
„Du hast auch schon mal besser gelogen. Setz dich bitte. Darf ich dir was zu trinken anbieten? Tee, Kaffee, Wasser?“
„Ich habe gehört, hier gibt es guten Cognac, nicht dieses billige Zeug aus dem Supermarkt.“
Jess grinste. „Du bist gut informiert.“ Sie zog eine Schublade ihres Schreibtisches auf, holte zwei Gläser und eine braune Flasche hervor und schenkte ein. „Bist du schon im Bilde?“
„Ich habe die Tatortfotos gesehen. Aber ich kann mir keinen Reim darauf machen. Noch nicht.“
„Was glaubst du, was für ein Mensch ist der Täter?“
Hamilton zupfte an seinem rechten Ohrläppchen. „Ich bin kein Psychologe, daher kann ich nur mutmaßen, aber ich könnte mir vorstellen, wir haben es hier mit einem hochintelligenten Irren zu tun.“
Jess prostete ihm zu. „Du meinst, er hinterlässt uns eine Botschaft?“
„Nein. Er führt uns an der Nase herum. Ich bin mir sicher, er hat die Tat perfekt geplant und mit der Nachstellung des Mordes an Catherine Eddowes teilt er uns mit, dass wir ihn niemals fassen werden.“
„So wie Jack the Ripper niemals geschnappt wurde.“
„Genau.“ Hamilton nippte an seinem Cognac und schloss genießerisch kurz die Augen.
„Aber heute haben wir doch ganz andere Möglichkeiten.“ „Wohl wahr, die Täter aber auch. Mich treibt eine ganz andere Frage um.“
Jess Jones hob beide Augenbrauen. „Welche denn?“
„Catherine Eddowes war das vierte Opfer des Rippers.“
„Du meinst, es gibt noch drei weitere Opfer? Aber davon wüssten wir doch.“
Hamilton ließ den Cognac in seinem Glas kreisen, nahm einen weiteren kleinen Schluck und sagte dann: „Nicht unbedingt. Der Täter ist klug. Ich gehe davon aus, dass er seine Taten im ganzen Land begehen kann und begangen hat.“
„Das heißt, die Morde eins bis drei sind nicht unbedingt bei uns verübt worden, sondern irgendwo in Großbritannien?“
„Das vermute ich – falls meine Theorie stimmt. Wir müssen sämtliche ungeklärten Todesfälle mit Leichenschändung überprüfen und dann stoßen wir vielleicht auf einen Hinweis.“
„Und was machen wir mit der Presse?“
Hamilton stellte das Glas ab und legte die Stirn in Falten. „Ich weiß nicht, was Rachel inzwischen über das Opfer herausgefunden hat. Aber ich fürchte, da ist noch einiges im Busch. Ich würde nur das absolut Notwendigste preisgeben. Aus ermittlungstaktischen Gründen, blablabla …“
„Das sehe ich genauso. Falls wir richtig vermuten, haben wir die Meute sowieso bald im Nacken.“
„Nicht, wenn wir schneller sind als der Täter.“
„Wir müssen herausfinden, wer das fünfte Opfer ist und diesen Irren aufhalten.“
Hamilton klopfte sich selbstironisch auf die Brust. „Ganz klar eine Aufgabe für Superbullen!“
„Eine sehr ambitionierte Aufgabe. Und ich nehme an, du bist der Mann, der sich dem Täter an die Fersen heftet.“
Der Schotte grinste. „Ma’am, ich bitte um die Erlaubnis, in ganz Großbritannien zu ermitteln, falls die Notwendigkeit besteht.“
„Mit wem arbeitest du zusammen? Oder willst du als lonesome Cowboy den Mörder fangen?“
„Zuerst habe ich an Rachel gedacht, aber das geht wohl schlecht. Sie muss die Stellung in Cornwall halten. Ich glaube, Heather ist die richtige Wahl.“
„Ich weiß ja nicht, ob wir uns da in etwas verrennen“,murmelte Jess und schüttelte ihre schwarze Löwenmähne. „Wenn dieser Täter die Rippermorde imitiert, dann müsste es doch in Penzance eine zweite Leiche geben.“
Bobs Gesicht wurde ernst. „Daran habe ich auch schon gedacht: das Doppelereignis. Am 30. September 1888 wurde zunächst Elizabeth Stride ermordet und kurz darauf Catherine Eddowes. Es könnte sein, dass irgendwo in Penzance eine bislang noch unentdeckte Leiche liegt.“
„Unser Täter ist vorsichtig, muss vorsichtig sein. Vielleicht liegt die Tat auch schon länger zurück und wurde sonst wo verübt.“
„Auch möglich. Aber ich befürchte, irgendwo im Herzen von Penzance liegt eine Frau mit durchtrennter Kehle.“
Jess erhob sich aus ihrem Ledersessel und ging zum Fenster. Beide schwiegen eine Weile.
„Wie lange haben wir Zeit?“, fragte sie schließlich mit leiser Stimme.
„Knapp sechs Wochen, wenn der Mörder tatsächlich den Ripper imitiert. Wir sollten ihn besser so schnell als möglich unschädlich machen.“
Jess schnaubte. „Das sehe ich auch so. Wie gehst du vor? Hast du schon einen konkreten Plan?“
Hamilton nippte abermals an seinem Cognacglas und sagte dann: „Rachel überprüft fieberhaft alle Spuren, Heather und ich suchen nach Mary Ann Nichols und Annie Chapman.“
„Den beiden ersten Opfern.“
„Genau.“
„Und wenn du auf dem falschen Dampfer bist und dich in etwas verrennst?“
„Dann haben wir immer noch Rachel, die dem Mörder auf der Spur ist.“
„Das ist doch alles komplett wahnsinnig. Ich habe noch nie so sehr gehofft, dass du dich irrst.“
Einige Zeit später saß Hamilton wieder in seinem Büro und hatte sämtliche Unterlagen zu den Whitechapel-Morden aus dem 19. Jahrhundert vor sich liegen, die sich auf die Schnelle auftreiben ließen. Und das waren eine ganze Menge. Glücklicherweise hatte jemand sich die Mühe gemacht, die alten Berichte abzuschreiben und in ein einigermaßen verständliches Englisch zu übertragen. Bob war klar, wie mühsam es wäre, sich durch die vergilbten Originalakten mit der kaum noch lesbaren Schrift zu arbeiten, die eigentlich eher in ein Museum als in ein Polizeiarchiv gehörten.
Bob begann mit dem Mord an Catherine Eddowes, dem vierten Opfer.
Catherine Eddows, geboren am 14. April 1842 in Graisley Green, Wolverhampton, bekannt unter dem Spitznamen Kate Kelly, Tochter von George Eddowes, der bei „Old Hall Works“ in Wolverhamton als Zinnblech-Lackierer arbeitete oder dort in Lehre ging, und der Köchin Catherine Eddowes, geborene Evans. Catherine hatte noch zwei Schwestern, Elizabeth (Fisher) und Eliza (Gold). Man weiß, dass sie einen Onkel mit dem Namen William Eddowes hatte.
Catherine wird auf der „St. John’s Charity School“ in Potter’s Field, Tooley Street ausgebildet, bis ihre Mutter im Jahre 1855 stirbt. Die anderen Geschwister gehen in das Bermondsey Arbeitshaus und in die Industrial School. Ihre Ausbildung absolviert sie an der „Dowgate Charity School“. In dieser Zeit war sie in der Obhut ihrer Tante in der Bison Street in Wolverhampton.
Irgendwann zwischen 1861 und 1863 verlässt sie ihr Zuhause, um mit Thomas Conway, einem Armee-Pensionär und Vater der gemeinsamen drei Kinder, zu leben. Elizabeth Fisher, Schwester von Catherine, erzählte später, dass „sie Thomas Conway verließ, weil er sie schlecht behandelte. Er war kein ständiger Trinker, aber jedesmal, wenn er seine Rente bekam, gingen sie gemeinsam aus und dies endete immer damit, dass er sie verprügelte.“ Das Paar lebte vom Verkauf von Volksbüchern, geschrieben von Cornway, in Birmingham und Midlands.
1880 trennte sich Catherine von Thomas Cornway und nahm ihre Tochter Annie mit. Die beiden Jungen blieben bei Thomas.