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Ein toter Mann im Bus von Inverness nach Poolewe, hoch im Norden von Schottland, ruft DCC Bob Hamilton und sein Ermittlerteam auf den Plan. Die Spur führt in die Welt der Fahrenden und verliert sich in der Einsamkeit des winterlichen Hochlands. Mit seinen Alleingängen bringt sich der schottische Kripochef schließlich in tödliche Gefahr.
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2022
Ralf Göhrig
Endstation Poolewe
Ein Hamilton Krimi
© 2021 Ralf Göhrig
Lektorat, Korrektorat: Heike Raif
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN Softcover: 978-3-347-45705-8
ISBN Hardcover: 978-3-347-45706-5
ISBN E-Book: 978-3-347-45707-2
ISBN Großdruck: 978-3-347-45708-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Zum Schluss
Über den Autor
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Über den Autor
Cover
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Kapitel 1
Kelly McKinnon wollte nach Hause. Die 19-jährige hatte den Samstag in Inverness verbracht, sich mit ihrer Freundin, Olivia Bunburn, getroffen und war mit ihr durch die feuchten Gassen der Highland-Metropole gezogen, um ihren hart verdienten Lohn zu verprassen.
Inverness! Eine seltsame Stadt an der Mündung des River Ness. Obwohl sie auf eine lange Geschichte zurückblicken kann, fehlt ihr der mittelalterliche Charme, denn die Stadt wurde in den 1960er Jahren modernisiert. Und gerade diese modernen Elemente verströmten den morbiden Hauch der Vergänglichkeit. Nicht einmal das Inverness Castle zeugt von Geschichte. Der schlichte Bau aus dem 19. Jahrhundert könnte gut und gerne eine Jugendherberge sein, dient hingegen als Verwaltungs- und Gerichtsgebäude. Nur das Standbild der Flora McDonald erinnert an die dunkle Vergangenheit der Schotten, die unweit von Inverness auf dem Schlachtfeld von Culloden im Jahr 1746 ihren Stolz und ihre Würde verloren. Das Inverness des 21. Jahrhunderts war eine seltsame Mischung aus Industrie-, Verwaltungs-, Hafen- und Einkaufstadt, die zudem noch einen Fixpunkt für Touristen darstellte, die von hier aus in alle Himmelsrichtungen das Hochland erkunden konnten. Und wie überall auf der Welt waren auch hier die Touristen zwar als Devisenbringer willkommen, wurden aber im Grunde als ein lästiges Übel angesehen. Loch Ness mit seinem Monster im Fokus, whiskygeschwängerten Klischees von Clans und Tartans anhängend, schwappten sie das ganze Jahr über durch die kalten, grauen Straßen der Stadt, die dadurch nicht unbedingt an Reiz gewannen. Inverness galt in den Augen der meisten Einheimischen keineswegs als sehenswert. Lediglich der viktorianische Markt mit seinen kleinen Geschäften war ein Lichtblick im Ortskern, doch für Kelly und Olivia reichte das Eastgate Shopping Centre mit Filialen von Boots, Costa Coffee, Debenhams, Fat Face, H&M, HMV, New Look, Next, Starbucks oder Waterstones vollkommen aus.
Mit vollbepackten Einkaufstüten kamen die beiden jungen Frauen um 17:18 Uhr am Busbahnhof an, gerade noch rechtzeitig, jedenfalls was Kelly betraf, denn der Bus der Linie 700A fuhr um 17:20 Uhr ab. Sie sprang buchstäblich im letzten Augenblick in den Bus, der sich bereits, nachdem sie sich auf einen freien Platz im hinteren Drittel gesetzt hatte, losfuhr. Sie winkte noch kurz ihrer Freundin, die am südlichen Stadtrand wohnte und in aller Ruhe nach der nächsten Fahrgelegenheit suchen konnte. Kellys nächster Bus nach Poolewe wäre erst am Montag gefahren.
Der Bus in Richtung Westküste war gut zur Hälfte besetzt. Überwiegend durchschnittlich aussehende Durchschnittsschotten, wie Kelly fand; Männer und Frauen im mittleren Alter, die mutmaßlich ihre Einkäufe in der Stadt getätigt hatten und sich jetzt nach der großen Aufregung in der großen Stadt wieder auf den Weg nach Hause ins heimelige Nirgendwo machten. Zwei Stunden und 33 Minuten dauerte die Fahrt ins rund 140 Kilometer entfernte Poolewe, einem kleinen Nest mit gerade mal 230 Einwohnern. Damit hatte die Siedlung am River Ewe, der dort in den gleichnamigen Meeresarm – Loch Ewe – floss, schon fast städtischen Charakter – zumindest für Hochlandverhältnisse. Immerhin gab es dort zwei Kirchengemeinden – die Free Church Poolewe Congregation und die anglikanische St. Maelrubha’s Church – , eine Schule, eine Autowerkstatt, einen Gemischtwarenladen, ein Café, ein Hotel mit Restaurant, sogar eine Tesla-Ladestation und ein Hallenbad.
Der Bus glitt durch die schottische Nacht, die zu dieser Zeit bereits um kurz nach halb vier am Nachmittag begann, dafür aber erst gegen neun Uhr am nächsten Tag endete. Wenn die Wolken dicht und tief am Himmel hingen, wie an diesem Tag, dauerte die Nacht noch viel länger, manchmal hatte man das Gefühl, es werde überhaupt nicht hell. Nun ja, ganz im Norden war es noch extremer, wer hier geboren war, hatte sich mit den Lichtverhältnissen zu den unterschiedlichen Jahreszeiten arrangiert. Kelly liebte die dunkle Zeit im Winter, gleichfalls genoss sie das lange Licht im Sommer. Doch im Augenblick war sie einfach nur müde und schlief ein, als der Bus die Kessock Bridge überquerte und die Black Isle erreichte.
Der Bus rumpelte durch die landwirtschaftlich geprägte Landschaft der Ostküste und näherte sich langsam dem unwirtlichen Hochland. Dessen Kargheit blieb aber ebenso in Dunkelheit gehüllt, wie die dunklen Seen und wenigen Wälder der Gegend. In Dingwall waren noch zwei weitere Passagiere eingestiegen, sonst gab es keine weiteren Mitfahrwilligen an den Haltestellen. Aussteigen wollte zunächst auch niemand, offensichtlich hatten alle die Westküste als Ziel. Der Bus musste erst in Kinlochewe, einem Kaff mit rund 60 Einwohnern am 1.010 Meter hohen Beinn Eighe Massiv anhalten. Dort stieg dann ein nennenswerter Teil der Einwohnerschaft, insgesamt 11 Personen aus. Sicherlich wohnten nicht alle in dem kleinen Dorf, sondern in einem der umliegenden Weiler oder Gehöfte. Kelly registrierte diesen Halt allenfalls im Halbschlaf. Am langgestreckten Loch Maree vorbei führte die A 832 zunächst durch eine felsige Landschaft bevor sich, in der Gegend von Talladale, grünes Waldland entlang des Ufers erstreckte. Der nächste Halt, den Kelly realisierte war Gairloch, einen, durch den Fremdenverkehr geprägten Ort mit Sandstrand, der an warmen, sonnigen Sommertagen tatsächlich zum Baden ohne Neoprenanzug einlud. Hier stiegen die meisten Passagiere aus, was zu einem lautstarken Zusammensammeln von Einkaufstüten, die in den Gepäckablagen verstaut waren, sorgte. Als die Aussteigewilligen den Bus verlassen hatten, stieg eine alte Frau mit Kopftuch und Weidenkorb ein. Caitriona McGowan hatte sicherlich ihre Schwester Ronna besucht und war jetzt wieder auf dem Nachhauseweg, mutmaßte Kelly. Die 85-jährige Caitriona wohnte in der gleichen Straße, wie Kelly und war der Prototyp der Klatschbase, die über alles und jeden im gesamten nordwestlichen Hochland bestens informiert war – und dieses Wissen auch breitgefächert an jedermann, ob interessiert oder nicht, weitergab. Kelly versank in ihrem Sitz und war froh darüber, dass Caitriona ganz vorne beim Busfahrer Platz nahm. Diesem teile sie dann auch ganz ungeniert ihre neuesten Erkenntnisse mit. Der Chauffeur dürfte froh gewesen sein, dass die Strecke zwischen Gairloch und Poolewe nur wenige Meilen betrug.
Der Bus traf ziemlich pünktlich um 19:55 Uhr an der Bushaltestelle beim Postamt ein und Kelly McKinnon war froh, endlich am Ziel zu sein. Sie wohnte zusammen mit ihrer Mutter in einer Doppelhaushälfte in Sydney’s Way, am Nordwestlichen Ortsende von Poolewe. Von der Bushaltestelle waren es nur wenige hundert Meter bis nach Hause. Blöd nur, dass die alte Caitriona den gleichen Weg nehmen musste. Da diese vorn im Bus saß, gab es, wie immer, drei Möglichkeiten: Entweder an ihr vorbei zu stürmen und auf dem schnellsten Weg nach Hause zu eilen – mit der Gewissheit, dass Caitriona die nächsten Tage nichts anderes zu erzählen hätte, als dass Kelly ein unhöfliches Gör sei, das eine alte Frau nicht am Abend in der Dunkelheit nach Hause begleiten würde; genau dies zu tun und sich dabei mindestens eine halbe Stunde lang allen möglichen Mist anzuhören und, gleich einem polizeilichen Verhör, Rede und Antwort stehen zu müssen; oder ganz langsam und behutsam aus dem Bus und hinter der Dame her zu schleichen – was dem Ziel schnell ins Warme zu kommen auch widersprochen hätte. Guter Rat war also teuer. Doch nach Abwägung aller Optionen, beschloss Kelly die erste zu wählen und eilte auf schnellstem Weg zur mütterlichen Doppelhaushälfte.
Insgesamt vier Personen stiegen in Poolewe aus, neben Kelly und Caitriona waren es Peter und Laura Parker, ein älteres Ehepaar, das aus England stammte und vor wenigen Jahren nach Schottland gezogen war, um hier den Ruhestand zu genießen. Shug Baker, der Busfahrer, hatte noch einen kurzen Weg vor sich. Er wohnte mit seiner Familie in Drumchork, etwas nördlich von Poolewe. Den Bus würde er hier stehen lassen, am Montag ging es dann zurück nach Inverness. Doch bevor er das Gefährt verlies, kontrolliere er noch einmal pflichtbewusst und pflichtgemäß die Sitzreihen, ob nicht ein Passagier eingeschlafen wäre, der dann irgendwann in der Nacht an die verschlossenen Türen klopfen würde. Es kam regelmäßig vor – vor allem im Winter – , dass Leute so tief schliefen dass sie nicht merkten, dass die Endstation bereits erreicht war. Shug schaltete die volle Innenbeleuchtung ein und ging den Gang nach hinten durch. In der drittletzten Reihe saß tatsächlich ein junger Mann an die Scheibe gelehnt und schien tief und fest zu schlafen. „Aufwachen, Endstation“, sagte Shug mit fester Stimme. Der Mann rührte sich nicht. Noch einmal, dieses Mal etwas lauter: „Aufwachen!“ Immer noch keine Reaktion. Der Busfahrer packte ihn an der Schulter und versuchte ihn wachzurütteln, doch der Mann reagierte nicht. „Das gibt es doch nicht“, schimpfte Shug und brüllte jetzt, so laut er konnte: „Hey, aufwachen!“ Doch der junge Mann bliebt regungslos sitzen. Plötzlich durchfuhr eine gewaltige Ladung Adrenalin den Körper des Busfahrers. Er versuchte den Puls des Mannes zu fühlen, doch dessen Herz hatte aufgehört zu schlagen. Der junge Mann war tot.
Was war in dieser Situation zu tun? Shug wünschte sich, dass er die Kontrolle vergessen hätte. Doch dann hätte er einen Toten am Montagmorgen gehabt und noch mehr Probleme. Er zückte sein Mobiltelefon und rief seine Schwägerin an. Tamlyn McLeod war Polizeibeamtin in Gairloch. Sie wusste sicher, wie er sich in einem solchen Fall richtig zu verhalten hatte. Er hoffte, dass sie erreichbar war und sich nicht hinter irgendwelchen Hügeln verkrochen hatte. Doch es war schließlich Winter, also nicht die Zeit für ausgedehnte Wanderungen oder andere Aktivitäten in freier Natur. Im Winter saßen die Schotten brav zu Hause, streamten stundenlang irgendwelche Serien auf Netflix und tranken Whisky – oder sie tranken nur Whisky und grämten sich ob eines unveränderlichen Schicksals.
Tamlyn war zu Hause. Oder zumindest dort, wo sie Empfang hatte. „Was gibt es Shug? Hast du ein Schaf überfahren?“
„Hi Tammy, schlimmer. Hier im Bus sitzt ein Toter. Was soll ich jetzt machen?“
„Wo bist du?“
„In Poolewe. Ich wollte gerade abschließen, bin nochmal durch die Sitzreihen durchgegangen und dabei habe ich ihn gefunden.“
„Gut. Lass alles so, wie es war und warte auf mich. Ich bin in ein paar Minuten bei dir.“
PS Tamlyn McLeod war Leiterin des Polizeireviers von Gairloch und hatte als solche vor allem mit sämtlichen Ärgernissen, ausgelöst durch touristische Umtriebe, von der Sachbeschädigung über Lärmbelästigungen bis hin zu Parkvergehen zu tun. Doch im Grunde war es ziemlich ruhig im nordwestlichen Hochland. Den Weg dorthin fand das Verbrechen nur selten. Und wenn tatsächlich eine Straftat vorgefallen war, dann kümmerten sich die Kollegen aus Inverness darum. Aus diesem Grund bestand die Besetzung des Reviers in Gairloch auch lediglich aus zwei Beamten, Tammy und ihrem Kollegen, Brad Harper. Aushilfsweise erhielten sie Unterstützung durch den eigentlich schon pensionierten Ken Dixon, der in einer Art Altersteilzeit als Backup bereitstand. Tammy war 32 Jahre alt, klein, rothaarig und wirkte ein wenig pummelig, was ihr den Vorteil verschaffte, dass sie im Allgemeinen unterschätzt wurde. Nicht bei den Einheimischen, die sie kannten und wussten, dass Tammy nicht nur ziemlich clever, sondern auch eine der besten Curlerinnen Schottlands war. Sie hatte gerade das Abendessen beendet und beschlossen, sich dem Müßiggang hinzugeben und den Fernseher einzuschalten, als Shug bei ihr anrief. Schnell sprang sie in ihre abgewetzten Jeans und zog einen warmen Pullover über ihr T-Shirt, nahm die Winterjacke von der Garderobe und setze sich in den, vor ihrer Haustüre stehenden Dienstwagen, einen Mitsubishi Outlander, schließlich war sie auch dienstlich unterwegs.
Nach gut zehn Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie parkte direkt vor dem abgestellten Bus auf dessen Fahrersitz ihr Schwager saß.
„Ist zwar etwas gruselig, aber draußen war es mir schlichtweg zu kalt“, erklärte der Busfahrer als die Polizistin einstieg.
„Hi Shug. Na, dann schau ich mir die Bescherung mal an. Wo ist der Mann?“
„Hallo Tammy, schön dass du da bist.“ Shug schaltete die Innenbeleuchtung ein und stand auf. „Ziemlich hinten auf der rechten Seite.“
„Ja. Sehe ihn.“ Tammy zog weiße Gummihandschuhe aus ihrer Jacke und legte sie an. Nach wenigen Augenblicken bestätigte sie Shugs Vermutung; der Mann war tot. Die Polizistin durchsuchte die Jackentaschen des Mannes, fand aber, außer einem Päckchen Papiertaschentüchern, nichts was auf die Identität des Mannes hinwies.
„Hilf mir mal. Vielleicht hat er einen Geldbeutel in seiner Gesäßtasche“, vermutete Tammy.
„Wenn es unbedingt sein muss.“
„Ja, muss es.“
Der Busfahrer kippte die Leiche etwas zur Seite und der Polizistin gelang es, ein Portemonnaie hervorzuziehen. Sie öffnete die Geldbörse und fand, neben 80 Pfund in bar eine Kreditkarte, die auf den Namen Shayne Nevin ausgestellt war.
„Und jetzt?“, wollte Shug wissen.
„Jetzt fährst du in aller Ruhe zu meiner Schwester und kippst den einen oder anderen Whisky in dich rein. Und ich informiere den Coroner sowie die Kollegen in Inverness. Und dann sehen wir weiter. Einen gewaltsamen Tod kann ich hier nicht erkennen, doch ich bin ja nur eine Dorfpolizistin. Weißt du, wo der Typ eingestiegen ist?“
„Es sind nur zwei Passagiere in Dingwall zugestiegen und die alte Caitriona McGowan in Gairloch, also muss er in Inverness in den Bus gestiegen sein“, gab er zu wissen.
Tammy nickte. „Wir melden uns bei dir, damit du deine Aussage zu Protokoll geben kannst. Kanntest du deine Fahrgäste oder gab es ein besonderes Vorkommnis?“
„Vom Sehen kenne ich einige, doch namentlich bekannt sind mir nur Caitriona und das Mädchen von den Gärten.“
„Welches Mädchen aus welchen Gärten?“
„Die Kleine, die in den Inverewe Gärten arbeitet, wie heißt sie noch gleich?“ Shug Baker starrte gebannt auf seine Fingernägel, als stünde die Antwort dort geschrieben. „Kelly, Kelly Mc Kinnon. Sie wohnt hier in Poolewe bei ihrer Mutter. Der Vater war Fischer und ist bereits seit vielen Jahren tot. Sein Boot war bei einem Sturm gekentert.“
Tammy nickte. „Ja ich erinnere mich, das war vor nicht ganz zehn Jahren. Schlimme Sache.“ Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu ihrem Schwager auf. „Kann ich den Busschlüssel haben?“
„Klar. Wartest du hier auf den Coroner?“
„Ja. Und ich hoffe, dass er noch heute auftaucht.“
Shug stieg aus dem Bus aus, dreht sich um und sagte: „Entschuldige, dass ich deinen Samstagabend verdorben habe.“
„Keine Ursache. Du hast mich vor zu vielen Chips und Bier gerettet“, antwortete sie lachend.
Als er davongefahren war – sein Auto stand auf einem Parkplatz beim Postamt – nahm sie ihr Mobiltelefon und wählte die Nummer des Coroners. In Schottland war die Behörde mit dem Namen „Fatal accident inquiry“ für die Untersuchung verdächtiger Todesfälle zuständig. Erst nach der Leichenschau, die die Todesumstände feststellte, konnten polizeiliche Ermittlungen durchgeführt werden – oder eben nicht, wenn es sich um einen natürlichen Todesfall handelte. Hier ging Tammy nicht von einer natürlichen Todesursache aus, auch wenn es so aussah, als wäre der Mann einfach gestorben. Doch warum sollte ein junger Mann von circa 35 Jahren einfach auf einer Busfahrt sterben? Aber was war die Todesursache gewesen? An was starb der Mann? Tammy dachte an den russischen Geheimdienst, der immer wieder seine Finger im Spiel hatte, wenn Menschen plötzlich den Tod fanden. Doch was hatte dieser Shayne Nevin mit dem russischen Geheimdienst zu tun? Sie wischte ihre Gedanken bei Seite und hoffte, dass der Leichenwagen bald eintraf.
Kapitel 2
Angus war der ganze Stolz von Bob Hamilton. Er hatte ihn bereits als Kalb erworben, als er vor gut drei Jahren in seine schottische Heimat zurückgekehrt war. Inzwischen war aus dem niedlichen Kälbchen ein stattlicher Bulle mit einem Gewicht von knapp 800 Kilogramm mit gewaltig ausladenden Hörnern geworden, der zusammen mit einer kleinen Herde schottischer Hochlandrinder auf einer großen Weide nördlich von Aberdour lebte. Einmal mehr war dem eigenwilligen Hamilton das Glück gewogen gewesen. So war ihm nicht nur gelungen, ein wunderbares Haus direkt am Meer zu erwerben, er konnte in diesem Zusammenhang gleich das große Grundstück zwischen dem Wäldchen nördlich von Aberdour und der A 909 kaufen. Durch sein weit verzweigtes Netzwerk hatte er erfahren, dass das karge Landstück zum Verkauf stünde. Und da die meisten Landwirte im alten Kingdom of Fife Ackerbau betrieben, war diese Weidefläche nicht im Fokus der kaufwilligen Bauern. Also schlug Hamilton zu, zäunte das Grundstück ein, renovierte einen alten Schuppen, der nun als Unterstand und Heulager für das Vieh diente und erwarb, neben Angus noch eine kleine Herde junger Hochlandrinder. Dies war für den erfahrenen Rinderzüchter eine ganz neue Erfahrung, denn seine Familie züchtete seit Anbeginn der Zeiten – jedenfalls so weit die Erinnerung der Altvorderen zurückreichte – Aberdeen Angus. In Devon, seiner vorherigen Wirkungsstätte besaß er Galloways, doch so ganz zufrieden war er damit nicht. Das Fleisch war zwar ausgezeichnet, doch Bob Hamilton war der Meinung, dass Galloways für eine extensive Weidenutzung zu sensibel waren. Außerdem war mit den kleinen Rindern nicht zu spaßen, mehrfach konnte er sich nur durch einen Hechtsprung vor den Angriffen der Tiere retten. Obwohl die Hochlandrinder mit ihren langen Hörnern viel gefährlicher aussahen als die Galloways, verfügten sie über ein viel ruhigeres und ausgeglicheneres Wesen. Mit den Highland Cattle ließ sich eine viel engere Beziehung aufbauen, als mit den Lowland Rindern.
Bob Hamilton stand an diesem trüben Januarsamstagnachmittag auf seiner Weide, eine grobe Bürste, einem Straßenbesen gleichenden Gerät, in der Hand und massierte die Flanken des Bullen, der sich dies mit sichtlichem Wohlwollen gefallen ließ. Er ließ seinen Blick den Hang hinunter über den Firth of Forth schweifen und erblickte am Horizont die Silhouette der schottischen Hauptstadt. Eigentlich war sie im Moment mehr zu erahnen als zu sehen, doch bei klarer Sicht und freundlichem Frühlingswetter war die Sicht vom 165 Meter hohen Hügel auf die Flussmündung, die Forth Bridge, die Forth Road Bridge und die Queensferry Crossing, das offene Meer und die Landschaft von Lothian mit Edinburgh als ihrem Zentrum einfach atemberaubend. Hamilton war zufrieden, doch etwas fehlte ihm: Duke, der Weimaraner war im vergangenen Herbst über die Regenbogenbrücke gegangen und hatte eine Lücke in seinem Leben hinterlassen. Mit diesem Hund hatte sein neues Leben begonnen. Vor 15 Jahren, nach der Scheidung von seiner ersten Frau, Lucy, hatte er den Hund als Welpen erworben und war, nach Auslotung aller Optionen, mit ihm von Manchester in den Südwesten gewechselt und hatte die Leitung der Kriminalpolizei von Devon und Cornwall übernommen. Dort lernte er die Pfarrerstochter, Rebecca Wynham, kennen und führte sie nach geraumer Zeit zum Traualtar. Rebecca, selbst auch Polizistin, hatte in ihrer Heimat das Amt des Pressesprechers inne, einen Job, den sie nun in Schottland, nach einem Ausflug ins Kriminalfach, seit Jahresbeginn wieder begleitete, als Verantwortliche für Öffentlichkeits- und Medienarbeit der Polizei in der Hauptstadt.
Ganz schlecht war die Ehe mit Lucy auch nicht gewesen, dachte Hamilton. Vor allem die gesellschaftlichen Türen, die diese Verbindung geöffnet hatte, konnte er in seiner langjährigen Karriere hervorragend nutzen. So war es dem Sohn eines Rinderzüchters aus Aberdeenshire und einer Großstadtpflanze aus Glasgow gelungen, bis in höchste Kreise von Politik und Gesellschaft vorzustoßen. Dies war von großem Vorteil bei seiner Karriereplanung gewesen und war es noch immer. Zwar hatte er, insbesondere in seiner Zeit als Leiter der verdeckten Ermittlungen in Manchester einen legendären Ruf erworben, doch für Positionen in der Führungsebene bedurfte es eben auch politischer Unterstützung. Und so hatte er es über den Assistant Chief Constable bis zum Deputy Chief Constable (DCC), also einem der stellvertretenden Polizeichefs und Leiter der schottischen Kriminalpolizei geschafft. Es gab eigentlich nur noch ein Amt, das ihn gereizt hätte, Commissioner bei der Metropolitan Police. Doch der Brexit stellte für den patriotischen Schotten ein unüberwindbares Hindernis dar, unterstützte er doch die schottische Regierungspartei in ihrem Bestreben, eine Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich zu erreichen. Und wenn dieses Ereignis eintrat, wollte er nicht als Chef von Scotland Yard heimatlos in England gestrandet sein. Vielleicht würde ihn das Amt des schottischen Innenministers reizen, überlegte er sich. Die Regierungschefin, die er auch privat kannte, würde ihn sicherlich nominieren, wenn er unbedingt wollte. Die einzige Schwierigkeit war, dass er ein Mitglied der schottischen Konservativen und die Regierungspartei von Nicola Sturgeon dem linksliberalen Lager zuzuordnen war. Doch das waren im Augenblick nicht mehr als hypothetische Gedankenspiele. Er war nämlich mit seinem Posten als Kripochef ziemlich zufrieden. Natürlich hatte er sich von der Ermittlungsarbeit an der Front sehr weit entfernt und verbrachte seinen Arbeitsalltag mit Kostenkontrolle, endlosen Sitzungen und Personalfragen. Dennoch hatte er sich einen gewissen Freiraum geschaffen. Das Kriminalsonderermittlungsteam, das immer dann zum Einsatz kam, wenn ein Verbrechen besonders komplex oder in ländlichen Gebieten ohne entsprechende Kriminalpolizei vor Ort geschehen war, hatte seinen Sitz in Rufweite seines Büros in der Zentrale der schottischen Polizei in Tulliallan Castle und nicht, wie man hätte erwarten können, im Scottish Crime Campus in Gartcosh. Und dadurch konnte er sich immer in das Ermittlungsgeschehen einmischen, wenn ihm danach war. Freilich fand er nur sehr selten die Zeit hierfür. Als Leiterin des Sonderermittlungsteams gelang es ihm seine langjährige Mitstreiterin aus Manchester und später Cornwall, Detective Chief Inspector Heather Greenslade, zu verpflichten. Als früherer Führungsoffizier der verdeckten Ermittlerin hatte er ein ganz besonderes Verhältnis zu der unkonventionellen Polizistin, die meistens nichts dagegen hatte, wenn er sich in eine Ermittlung einmischte.
Gedankenverloren strich er über das lockige, rotbraune Fell des Bullens, der sich das nur zu gerne gefallen ließ.
„So, mein Guter, das war’s für heute“, sagte er zu dem struppigen Tier. „Ich werde nun mal wieder zu Frau und Kindern eilen.“
Angus warf den Kopf nach oben, als hätte er ihn verstanden. Vielleicht hatte er das sogar. Für den Abend hatte Hamilton ein Abendessen mit seiner Frau in einem einfachen, aber sehr guten Restaurant in Dunfermline geplant. Seine Mutter, die gerade zu Besuch war, würde auf die Kinder aufpassen. Und dies wollte das Ehepaar Hamilton ausnutzen.
Einige Stunden später saßen Bob und Rebecca Hamilton an einem dunklen, klebrigen Holztisch. Sie hatten Plätze reserviert, man konnte ja nie wissen und Hamilton hasste es, mit hungrigem Magen ein Restaurant zu suchen. Daher versuchte er, zumindest zum Abendessen, rechtzeitig Plätze zu buchen, was in einem traditionellen, britischen Pub gar nicht so einfach war. Da half es manchmal, den DCC hervorzuholen, zumindest in den beschaulichen, bürgerlich geprägten Quartieren.
Das „Fox & Hound“ war ein klassischer Pub dessen Name genauso einfallslos war, wie sein Interieur. Schwarz gestrichene Deckenbalken, dunkelrote Tapeten und ein ebenso roter Teppichboden, der allerdings seine besten Tage längst hinter sich hatte. Immerhin mögen da nicht einmal mehr Milben drin wohnen, dachte sich Hamilton, als er geistesabwesend an seiner Frau vorbei starrte. Diese hatte sich wieder in ihre Lieblingsjeans und den zitronengelben Pullover gesteckt und genoss es, keine Uniform tragen zu müssen. Nachdem sie zum Superintendent ernannt worden war und wieder im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stand, musste sie die legere Businesskleidung gegen das formale Outfit tauschen. Immerhin machte es jetzt ziemlichen Eindruck, wenn das Ehepaar Hamilton gemeinsam in vollem Ornat irgendwo auftrat.
Dies war im Augenblick nicht der Fall. Hamilton trug ebenfalls eine Jeans, dazu ein blaues Hemd und einen grünen Wollpullover darüber und er lächelte verzückt seine Frau an, die aufmerksam die Speisekarte studierte.
„Und? Was gefunden?“
„Nein. Ich bin noch unschlüssig, ob ich das Lamm oder doch lieber den Fisch nehmen soll.“
Hamilton runzelte die Stirn. „Ein Fischrestaurant ist das ja nicht unbedingt. An deiner Stelle würde ich das Lamm nehmen, aber nicht den Eintopf, sondern den Lammbraten mit Kartoffeln und Bohnen.“
„Wenn du meinst.“ Sie zog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln zurecht. „Und du nimmst doch sicherlich das Steak mit den Zwiebeln.“
Er legte den Kopf leicht schräg und antwortete dann: „Nein, ich habe heute Lust auf Wild. Hier gibt es ein fantastisches Moorhuhn.“
„Das gibt mir jetzt doch zu denken“, wunderte sich Rebecca. „Da kannst du doch nicht einfach mit brutaler Gewalt ein Stück abschneiden, sondern must mit filigraner Geschicklichkeit den Vogel sezieren.“
„Ja, du lernst halt immer wieder neue Seiten an mir kennen.“ Er stand auf und ging zum Tresen, um das Essen zu bestellen. Auf dem Rückweg brachte er zwei Pints mit.
„Wer fährt?“, fragte seine Frau.
„Derjenige, der am Ende weniger getrunken hat.“
„Blödmann. Heute bist du dran, glaube ich.“
Bob Hamilton setzte sich, prostete seiner Frau zu und widmete sich genüsslich dem bernsteinfarbenen Gebräu. „Dann werde ich mir doch glatt ein Dessert gönnen, um den Alkohol besser zu binden“, meinte er lächelnd. Doch er wusste genau, dass die Zeiten vorbei waren, dass ein Polizist über die Maßen Alkohol trinken und danach Auto fahren konnte, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Im Zweifel, ungeachtet der charakterlichen Schwäche, gab es irgendwo jemand, der mit gezücktem Mobiltelefon nur auf solche Situationen wartete. In dieser Beziehung konnte und wollte sich Hamilton als stellvertretender Polizeichef keine Blöße leisten.
Langsam füllte sich der Gastraum und Hamilton war froh, dass er frühzeitig eingetroffen war, um noch rechtzeitig die Bestellung aufzugeben. Die Küche war zwar gut, aber nicht sehr groß, so dass Bernie, der Koch alle Hände voll zu tun hatte. Die junge Servicekraft, Hamilton hatte sie noch nie hier gesehen, machte nicht den Eindruck, dass sie in der Küche eine große Hilfe war.
„Und, was steht in der Hauptstadt an?“, wollte Hamilton von seiner Frau wissen, als das Mädchen die leeren Teller abgeräumt hatte.
„Palaver. Am Montag haben wir den ganzen Tag eine Sitzung in der Findungsgruppe. Ein neues Konzept soll erarbeitet werden, wie wir unsere Arbeit der Öffentlichkeit besser präsentieren können, um so die Akzeptanz unserer Behörde zu steigern.“
Hamilton nickte. „Und wer fängt in dieser Zeit die bösen Buben?“
Rebecca lachte und schob sich eine widerstrebende Strähne ihres noch immer roten Haares aus dem Gesicht. „Das macht das Fußvolk. Wir haben exzellente Constabler, Sergeants und auch mancher Inspector ist ganz brauchbar.“ Sie schüttelte den Kopf, so dass die Strähne wieder zurück in ihre Ausgangslage wanderte, um abermals weggewischt zu werden. „Du weißt doch, wie das ist. Aber Superintendent aufwärts herrscht nur noch heiße Luft vor. Es ist eigentlich egal, über was gerade verhandelt wird, für die praktische Polizeiarbeit sind die Auswirkungen gleich null.“
„Das würde ich nicht so sagen“, Hamilton spielte mit der Kerze, die brennend als Tischdekoration vor ihm stand, „oftmals bremsen die Beschlüsse der Führungstruppe die Leute auf der Straße auch aus. Da stellt man fest, dass das Geld fehlt und dann:“ Er pustete unvermittelt die Kerze aus. „Dann wird es dunkel. Aber es ist Geld gespart und der steuerzahlende Bürger zufrieden.“
„Du bist heute ja wieder mal sehr sarkastisch.“
„Ich passe mich nur dir an.“
„Hm“, Rebecca kratze sich wenig ladylike an der Nase. „Und was macht ihr im Schloss? Hast du Heather unter Kontrolle?“
„Du weißt, dass die beiden Worte Heather und Kontrolle nicht kompatibel sind. Im Augenblick ist sie äußerst schlecht gelaunt, weil sie bis Mittwoch einen komplexen Bericht vorlegen muss. Und ich darf mich in der kommenden Woche mit Personalfragen herumschlagen. Beförderungen, nicht gewährte Beförderungen, Versetzungen und Versetzungswünsche, der ganz normale Wahnsinn.“
„Ich hole mir noch ein Pint, soll ich dir ein Wasser mitbringen?“, fragte sie im Aufstehen.
„Nein, bring mir lieber eine Cola mit.“
„Du bist wie ein Teenager“, antwortete sie kopfschüttelnd.
Also sie wieder zurückkam, sah sie ihren Mann am Handy.
„Wir haben Wochenende, was ist denn los? Oder wird deine Mutter mit unseren Monstern nicht fertig?“
Er runzelte die Stirn. „Die schauen sicherlich irgendeinen Unsinn im Fernsehen, mach dir mal keine Sorgen um meine Mutter.“
„Und wer hat dann angerufen? Ist die Welt am Untergehen oder wer stört am Samstagabend?“
„Inverness.“
„Inverness? Rede bitte nicht in Rätseln mit mir, mein Lieber.“ Sie widmete sich ihrem Pint und schob die Cola ihrem Mann zu.
„Mein alter Freund, DCI Steven McGhee aus Inverness hat gerade angerufen und mir gesagt, dass es irgendwo im nordwestlichen Hochland wohl einen verdächtigen Todesfall gibt.“
Rebecca zuckte mit den Schultern. „Na und. Wieso muss da ein DCI bei dir anrufen? Wenn dir jede Straftat im ganzen Land telefonisch gemeldet werden würde, wäre dir der Hörer angewachsen.“
Hamilton nickte. „Ja, aber das ist ein wohl ein Fall für unsere Elisa Doolittle.“
„Du bist mal wieder charmant.“
„Wieso denn, ich habe aus dem etwas verwahrlosten Mädchen damals eine Polizistin gemacht, die durchaus gesellschaftsfähig ist. Und eine Spürnase hatte sie schon immer.“ Hamilton lächelte zufrieden.
„Du bist so ein selbstgefälliger Idiot.“
Er grinste sie an. „Das war dir von Anfang an bewusst.“
„Ja. Nur gut, dass es auch positive Seiten an dir gibt.“ Sie nahm ihr Bierglas. „Cheers.“
„Sláinte”, er erhob sein Colaglas und erkannte an ihren Augen, dass der Abend noch nicht vorbei war.
Kapitel 3
Es dauerte ganze 20 Minuten bis der Notarzt und ein Leichenwagen beim Postamt in Poolewe eingetroffen waren. Trotz der großen Entfernungen und mühsamen Verkehrswege funktionierte die Infrastruktur im wilden schottischen Nordwesten ganz ordentlich. Tammy war froh, nicht noch länger warten zu müssen. Sie war zwar ganz robust, was polizeitechnische Untiefen anbelangte, dennoch war ihr nicht so ganz wohl dabei, mit einem Toten gemeinsam in einem Bus zu sitzen. Sie hatte, nachdem sie die vorgesetzte Dienststelle in Inverness sowie den Coroner angerufen hatte, noch kurz mit ihrer Schwester telefoniert, um sie entsprechend zu präparieren, bevor Shug nach Hause kam. Jenny, ihre Schwester, war drei Jahre jünger als sie selbst und hatte bereits im zarten Alter von 18 Jahren beschlossen, die traditionelle Karriere als Hausfrau und Mutter einzuschlagen, was zu einer vorübergehenden Disharmonie im familiären Umfeld geführt hatte, doch spätestens mit der Geburt des ersten Kindes, waren die Unstimmigkeiten ausgeräumt. Inzwischen waren noch weitere Kinder hinzugekommen und Jenny war mehr als beschäftigt mit Haushalt, Garten, Kinder und Ehemann. Doch sie war offensichtlich glücklich und was konnte mehr verlangt werden. Mit Sicherheit wurde es Jenny auch nicht langweilig, wenn die Kinder aus dem Haus waren, denn so wie Tammy die Situation einschätzte, kamen dann bald die Enkelkinder und irgendwann sogar Urenkel. Für viele schottische Familien war diese traditionelle Lebensweise auch heute noch, im fortgeschrittenen 21. Jahrhundert, absolut üblich. Und vielleicht auch gar nicht so ganz unverständlich. Arbeitsplätze in den abgelegenen Regionen waren knapp und was sollten junge Frauen hier tun, wenn sie nicht in die wirtschaftlich prosperierenden Gegenden abwandern wollten? Auf der anderen Seite …, doch so weit wollte Tammy im Augenblick gar nicht denken. Sie hatte für sich den richtigen Weg gefunden, doch viele andere junge schottische Frauen im Nordwesten oder auf den Inseln hatten sich in ihrem seltsamen Biotop, das wie eine Zeitkapsel aus grauer
Vorzeit anmutete, eingerichtet und wollten gar nicht im hier und heute ankommen. Die alte, göttliche Ordnung durfte nicht gestört werden. Häufig passte hier noch der alte Song von Sheena Easton, immerhin auch eine Schottin:
“My baby takes the morning train,
he works from nine to five and then,
he takes another home again
to find me waitin' for him”,
hatte es 1980 geheißen. Und so war es auch noch heute, mehr als vierzig Jahre später, der Lebensinhalt vieler schottischer Frauen, zu Warten, bis der Ehemann von der Arbeit nach Hause kam.
Der Notarzt, ein einsilbiger Mann mit Glatze und bemerkenswertem Schnurrbart aus Charlestown, der Siedlung unmittelbar südlich von Gairloch, war Tammy flüchtig bekannt. Nach einer fast wortlosen Kommunikation mit der Polizistin ging er zu dem leblosen Mann und nach wenigen Augenblicken stellte er lapidar fest: „Der Mann ist tot.“
In dem Moment, als er gerade den Bus verließ, fuhr der Leichenwagen vor. Zwei junge Schnösel in schwarzer Uniform stiegen aus, nickten dem Notarzt zu und zogen dann eine Bahre aus dem langgestreckten Heck der Limousine. Auch in diesem Fall war der Wortwechsel mit der Polizistin allenfalls angedeutet. Die beiden Männer bugsierten den Leichnam auf die Bahre und trugen ihn angemessenen Schrittes ins Auto, wo sie einen Deckel über den Blechsarg stülpten. Wortlos schlossen sie die Heckklappe, stiegen wieder ein und fuhren davon, ohne noch einmal Kontakt mit der Polizistin aufzunehmen. Ein unbeteiligter Beobachter hätte jetzt vielleicht davon ausgehen können, dass die beiden gar keine Bestatter waren, sondern etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben könnten und auf dem Weg waren, die Leiche endgültig aus der Welt zu schaffen. Doch erstens wäre dies eine unsinnige Aktion gewesen, denn dann hätte man den Toten auch gleich in einen bereits belegten Sarg legen und dem Krematorium zuführen können – also viel zu kompliziert. Zweitens waren die zwei für Tammy ebenfalls keine Unbekannten. Und sie wusste, dass deren Samstagabend komplett gelaufen war. Die Fahrt nach Inverness dauerte knapp zwei Stunden, im Institut vergingen noch einmal mindestens sechzig Minuten und nach Hause – irgendwo an der hiesigen Westküste – mussten sie auch wiederkommen. Bis die zwei Männer im Bett lagen war es schon fast Sonntagmorgen und im widrigsten Fall mussten sie sich noch bei ihren Frauen oder Freundinnen dafür rechtfertigen.
Tammy konnte im Gegensatz zu den bedauernswerten Burschen nun wieder den Heimweg antreten und es sich vor dem Fernseher gemütlich machen, wenn sie wollte. Sie glaubte auch nicht, dass die Kriminalpolizei bereits am Sonntag etwas von ihr wissen wollte. Die Kollegen aus Inverness waren nicht die allerschnellsten. Sie rechnete damit, dass sich irgendwer am Montag bei ihr meldete. Doch in diesem Fall sollte sie nicht Recht behalten, denn es kümmerte sich nicht etwa Inverness um den Fall, sondern die Sonderermittlerin Heather Greenslade.
Und diese wurde am Sonntagmorgen kurz nach 10 Uhr unsanft aus ihrem kurzen Schlaf gerissen. Der Samstagabend war ihr heilig und wenn nicht gerade die Welt aus den Fugen geraten war, zog sie nach der Rückkehr aus dem Fußballstadion mit Gleichgesinnten durch die Pubs der Stadt. Sie hatte sich, da sie nun mal in Schottland lebte dem FC Livingston angeschlossen. Das passte, fand sie, denn Livingston war als New Town, also geplante Stadtneugründung in den 1960er Jahren etwas Künstliches, schließlich empfand sie sich selbst auch als eine Art Kunstprodukt. Die langen Jahre als verdeckte Ermittlerin hatten sie bisweilen vergessen lassen, wer sie wirklich war.
Irgendwer trommelte wie ein Irrer gegen die Wohnungstür und betätigte gleichzeitig die Klingel im Sturmmodus. Heather wälzte sich aus ihrem Bett und schleppte sich zur Tür. Sie würde dem Irren davor gehörig die Meinung sagen. Hätte sie ihre Dienstwaffe zu Hause gehabt und nicht, wie es Vorschrift war, brav in der Waffenkammer abgegeben, wäre sie durchaus im Stande gewesen, den Störenfried zu erschießen oder zumindest ein Loch in dessen Füße zu stanzen. Ohne durch den Spion zu schauen riss Heather die Tür auf und wollte gerade zu einer Fluchtirade ansetzen, als Bob Hamilton sie zur Seite schob und ihr befahl, kurz unter die Dusche zu stehen.
„Du siehst aus wie eine Vogelscheuche und über den Geruch, den du ausströmst, möchte ich gar nicht mit dir reden“. Hamilton schloss die Wohnungstür hinter sich. „Ich versuche mal die Kaffeemaschine in Gang zu setzen.“
„Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank, mich am frühen Sonntag aus dem Bett zu werfen?“ Hamilton ignorierte ihren Protest. „Kaffee ist noch im Oberschrank über der Mikrowelle?“ Er fand die graue Dose. „Ist sogar noch was drin“, stellte er freudig fest. Saubere Tassen fand er zwar nicht, doch neben der Spüle war genügend benutztes Geschirr zu finden. Es reinigte zwei Tassen mit ausreichend heißem Wasser und Spülmittel, man konnte ja nie wissen, was Heather in diesen Gefäßen serviert hatte. Nachdem Hamilton die Kaffeemaschine befüllt hatte, öffnete er beide Fenster in Heathers Wohnküche und schaffte dann etwas Platz auf dem Esstisch, der von einem riesigen, überquellenden Aschenbecher dominiert wurde. Der Kripochef kippte den Inhalt zum offenen Fenster hinaus und versuchte ihn dann mit einem Lappen zu reinigen. Als dies nicht nach seinen Vorstellungen funktionierte, hielt er den Becher unter den Wasserhahn. Dann stellte er ihn wieder an seinen ursprünglichen Ort zurück und ließ seinen Blick über das Zimmer schweifen. Es sah dort genau so aus, wie in jeder Wohnung in der Heather gelebt hatte, seit er sie kannte. DCI Heather Greenslade war eine ausgezeichnete Polizistin mit perfektem kriminalistischen Spürsinn. Sie hatte Nerven aus Stahl und verlor diese auch nicht, wenn sie dem personifizierten Bösen gegenüberstand. Als verdeckte Ermittlerin hatte Heather Jobs erledigt, die eigentlich niemandem zuzumuten waren, eingeschleust in Drogenkartelle, als Geliebte eines Mafiabosses oder als Prostituierte in einem Nachtclub. Sie konnte sich, gleich einem Chamäleon, an jedes Umfeld anpassen, dafür wusste niemand, wer sie wirklich war – vermutlich nicht einmal sie selbst. Heather rauchte definitiv zu viel und trank, zumindest an den Wochenenden, deutlich mehr, als gut für sie war. Wäre sie nicht der athletische Typ und würde sie nicht so viel Sport machen, hätte ihr Lebenswandel ihrem Äußeren noch viel stärker zugesetzt. Bob Hamilton kannte sie schon seit mehr als 20 Jahren. Er hatte Heather Greenslade als Polizeischülerin kennengelernt und schnell erkannt, welche Fähigkeiten in ihr schlummerten. Der diplomatische Umgang mit Vorgesetzten und anderen Autoritäten gehörte nicht dazu. Insofern war es auch ein Risiko gewesen, Heather vor rund einem Jahr als Sonderermittlerin nach Schottland zu holen. Doch Hamilton vertraute ihr bedingungslos, und da sie im Büro gegenüber dem seinem saß, hatte er auch direkte Einwirkungsmöglichkeiten.
Hamilton schloss die Fenster wieder und stellte die Kaffeekanne und etwas Milch auf den Tisch, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie noch nicht sauer geworden war. Heather erschien kurze Zeit später, frisch geduscht mit nassen, strubbeligen Haaren und überdosierter Parfumgabe in enger Jeans und einem Doctor Who T-Shirt mit der Aufschrift „We Are All Stories In The End“. Diese Frau war ein Phänomen, dachte Hamilton einmal mehr. Vor einer viertel Stunde glich sie einem Wrack, jetzt hätte jeder ungeübte Beobachter sie als Frau in ihren 20ern beschrieben.
„Wo brennt es denn?“, fragte sie und goss sich Kaffee in ihre Tasse.
„Am Ende der Welt. Nordwestliches Hochland. In Poolewe wurde eine Leiche gefunden.“
Heather nippte am Kaffee und zog dann eine Zigarettenpackung unter dem Zeitschriftenberg auf der unaufgeräumten Tischseite hervor.
„Hast du Feuer?“
„Nur einen Flammenwerfer“, antwortete Hamilton und zog seinen Feuerspender, der eigentlich dazu diente Zigarren anzuzünden aus seiner Jackentasche.
„Danke.“
„Der Mann saß im Fernbus von Inverness an die Westküste. In der Nacht kam er noch zur Leichenbeschau, doch für die Todesursache hätte es den gar nicht gebraucht. Er wurde erstochen.“ Hamilton widmete sich seinem Kaffee und nachdem sein Gegenüber nichts sagte fuhr er fort. „Mich wundert, wieso die Polizistin die Stichwunde nicht entdeckt hat, aber das können wir sie selbst fragen.“
Heather zog die Augenbrauen nach oben und drückte dann ihre Zigarette aus. „Du begleitest mich?“
Er nickte. „Es scheint spannend zu werden, denn der Mann wurde nicht nur im Bus ermordet. Bei dem Toten handelt es sich auch um einen Pavee.“
„Also um einen Zigeuner. Seit wann bist du denn von der politischen Correctness befallen?“
„Das hat damit nichts zu tun, ich wollte nur differenzieren, denn Pavees sind britische Fahrende, während Zigeuner ein Überbegriff ist, der auch Roma einbezieht. Bei unserem Toten aber handelt es sich um einen Mann mit britischen Wurzeln.“
„Ich bin mal ein paar Monate mit Zigeunern über Land gezogen“, stellte Heather plötzlich fest. „War eine interessante Erfahrung. Das waren aber Sinti. Und diese Gruppe, mein Lieber, sind mitteleuropäische Zigeuner, während die Roma ihren Ursprung im indischen Raum haben.“
„Siehst du“, Hamilton stellte seine Kaffeetasse zurück auf den Tisch. „du bist also die perfekte Ermittlerin in diesem Fall.“
„Und was wissen wir noch, außer dass der Mann ein Zigeuner war und jetzt tot ist?“