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Im Bootshafen von Dartmouth liegt eine tote Frau, in einem kleinen Dorf nördlich von Exeter wird ein bestialisch ermordeter Mann gefunden und an der Nordküste Devons fällt ein Mann aus einem Baum auf ein fahrendes Auto. Chief Superintendent Bob Hamilton, Leiter der Kriminalpolizei von Devon und Cornwall vermutet, dass die Todesfälle irgendwie zusammenhängen. Doch je weiter die Ermittlungen voranschreiten, desto verworrener erscheint alles. Und was hat das Gedicht "Jerusalem" von William Blake mit dem Ganzen zu tun?
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Seitenzahl: 365
Veröffentlichungsjahr: 2013
www.tredition.de
Ralf Göhrig Foto: B. Danner
Ralf Göhrig,
Jahrgang 1967, stammt aus dem Kleinen Odenwald, östlich von Heidelberg und lebt seit mehr als 20 Jahren in Jestetten am Hochrhein. Nach „Kopflos in Cornwall“ und „Mörderischer Sturm“ liegt jetzt mit „Jerusalem“ sein dritter Krimi vor.
Erneut ermittelt Chief Superintendent Bob Hamilton in Englands Südwesten, einer Landschaft, die der Autor kennt und liebt.
Und ein vierter Roman ist bereits in Arbeit…
Ralf Göhrig
Jerusalem
Ein Cornwall-Krimi
www.tredition.de
1. Auflage
Oktober 2013
© 2013 Ralf Göhrig
Satz und Layout: Carla Gromann, Ralf Göhrig
Lekrorat: Vita Funke
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: 978-3-8495-7111-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
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Inhaltsverzeichnis
Ralf Göhrig,
Ein Cornwall-Krimi
Inhaltsverzeichnis
Prolog
11. Juni 2012
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
12. Juni 2012
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
13. Juni 2012
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
14. Juni 2012
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
15. Juni 2012
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
16. Juni 2012
Kapitel 43
04. August 2012
Kapitel 44
Schlusswort
Die ermittelnden Personen
Detective Chief Superintendent (DCS) Robert Hamilton
Leiter der Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID) von Devon und Cornwall
Der gebürtige Schotte ist Fan der Glasgow Rangers, liebt Single Malt Whisky, seine Pfeife, seinen Hund Duke und mischt bei den Ermittlungen am liebsten selbst mit
Police Chief Inspector (PCI) Rebecca Hamilton
Pressesprecherin der Polizei von Devon und Cornwall Die Tochter eines anglikanischen Pfarrers und Frau Hamiltons liebt Musik und ist augenblicklich hauptsächlich Mutter
Detective Superintendent (DS) Steve Parker
Leiter der Abteilung für Schwerverbrechen im Polizeihauptquartier Middlemoor in Exeter
Langjähriger Freund Hamiltons und am liebsten hinter seinem Schreibtisch … oder auf Fortbildungen
Detective Chief Inspector (DCI) Debbie Steer
Leiterin des CID-Ermittlungsteams in Middlemoor Beste Freundin der Pressesprecherin Rebecca Hamilton
Detective Inspector (DI) Rachel Ward
Stellvertretende Ermittlungsleiterin mit dem Ehrgeiz irgendwann Polizeichefin (Chief Constable) einer englischen Polizeiverwaltung zu werden, wenn nicht gar Commissioner bei Scotland Yard
Zeichnet sich durch einen guten Instinkt und Hartnäckigkeit aus
Detective Sergeant (DS) Susan McCoy
Mitglied des Ermittlungsteams, wird nach einem hochtraumatischen Erlebnis im Dienst vorübergehend nur im Innendienst eingesetzt
Liebt schnelle Autos und Hunde
Detective Sergeant (DS) Brian Turner
Hochbegabter Polizist mit einem Alkoholproblem, das seine Karriere auf ein Abstellgleis geführt hat
Hamilton hält ihn für den besten Mann in Debbies Truppe – wenn er nüchtern ist
Detective Sergeant (DS) Emma Cohen
Jüngste Ermittlerin im Team
War früher bei einer Hundestaffel und arbeitet heute am liebsten mit Susan McCoy zusammen
Detective Sergeant (DS) Trevor Norman
Dienstältester Ermittler im Team, seine Stärken sind seine physische Präsenz und die guten Verbindungen zur Unter- und Halbwelt
Assistant Chief Constable (ACC) Jessica Jones
Leiterin des Ressorts Kriminalität und Strafjustiz, direkte Vorgesetzte Hamiltons
Assistant Chief Constable (ACC) Alison Miller
Leiterin des Finanzwesens der Polizei von Devon und Cornwall
Bringt Hamilton bisweilen an den Rand des Wahnsinns
Detective Inspector (DI) Pauline Miller
Leiterin der Spurensicherungsabteilung in Middlemoor
Detective Constable (DC) Victoria Burke
Persönliche Assistentin Hamiltons
Detective Sergeant (DS) Heather Greenslade
Ist als verdeckte Ermittlerin höchster Gefahr ausgesetzt – Hamiltons Trumpfass
Der Westen Südenglands
Prolog
Die schwarzen Adler rufen
Die schwarzen Adler rufen
Stählern dringt ihr Ruf zu mir
So schließe ich mein Fenster
Farbenpracht und bitterer Rauch
Die Adler schweigen nicht
Ich trinke das salzige Wasser
Esse den einsamen Tod
Tag für Tag
Verbrenne
Im strömenden Regen
Schlafe nicht mehr
Aus Angst
Zu träumen
Die schwarzen Adler kommen
Endlich –
Und fliegen über mich hinweg
Fliegen einfach weiter
…
11. Juni 2012
Kapitel 1
Lorna Robertsons Leichnam lag im Schlick des kleinen Bootshafens im idyllischen Städtchen Dartmouth, wo der River Dart, hoch oben im Dartmoor entsprungen, in den Ärmelkanal mündet. Fast hätte man sagen können, Lornas Leiche liege gleichfalls idyllisch zwischen den kleinen Booten, die im Trockenen auf die nächste Flut warten mussten. Aber im Gegensatz zu den Booten würde sich Lorna auch bei Flut nicht mehr von selbst bewegen.
Rachel Ward, frischgebackene Kriminalinspektorin bei der Abteilung Schwerverbrechen im Polizeihauptquartier Exeter, stand in hohen roten Gummistiefeln ein paar Meter neben der Leiche und sah zu, wie die Beamten der Spurensicherung ihr Bestes versuchten. Um halb sechs war Rachel von ihrem nervtötenden Handygebimmel geweckt und über den Fund einer toten Frau in Dartmouth informiert worden. Ohne zu frühstücken hatte sie sich ans Steuer ihres Rovers gesetzt und war nach einer knappen Stunde am Ziel gewesen. Dort hatten sich schon die örtlichen Beamten eingefunden. DI Pauline Miller, Leiterin der Spurensicherung, traf mit ihrem Team kurz nach Rachel ein.
Ein Rentner, der gegen fünf Uhr am Morgen seinen Hund ausführte, hatte Lorna entdeckt und gleich die Polizei informiert. Nachdem eine Streife den Leichenfund bestätigt hatte, meldete der diensthabende Beamte im örtlichen Revier den Vorfall umgehend ans Polizeihauptquartier Middlemoor in Exeter.
Rachel band sich ihre langen, schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, denn der einsetzende Wind, der vom Meer heraufzog, blies ihr die Haare ins Gesicht. So konnte sie nicht denken, und das konnte sie nicht leiden.
„Die Tote heißt Lorna Robertson und wohnte in Hillhead“, sagte Pauline unvermittelt in die Stille hinein. „Wir haben ihren Führerschein in ihrer Tasche gefunden.“
„Und wo bitte ist Hillhead?“, fragte Rachel.
„Drüben auf der anderen Seite“, war die Antwort eines örtlichen Beamten.
„Auf welcher Seite? Können Sie sich bitte genauer ausdrücken?“
„Mit der Fähre rüber nach Kingswear“, der Polizist zeigte mit dem Finger auf die gegenüberliegende Flussseite, „und dann sind es auf der Landstraße drei Meilen, Ma’am.“
Eine völlig neue Erfahrung für Rachel: dieses Ma’am, mit dem bei der Polizei die weiblichen Beamten ab Inspector angesprochen wurden. Vor wenigen Jahren war Rachel noch Streifenbeamtin in einem kleinen Kaff in Norddevon gewesen. Doch ihre Fähigkeiten hatten sich schnell bis zum Chef der Kriminalpolizei von Devon und Cornwall herumgesprochen, und so holte Chief Superintendent Robert Hamilton sie zu seiner Truppe, wo sie bald zum Sergeant und Anfang des Monats zum Inspector befördert worden war. „Wenn Sie dieses Tempo beibehalten, sind Sie bald meine Vorgesetzte“, hatte Hamilton anlässlich der Beförderung gesagt. Sie hatte ein höfliches Lächeln aufgesetzt und dabei gedacht: Bevor ich Superintendent werde, bist du schon lange Chief Constable.
Rachel hatte genug gesehen. Sie würde natürlich professionell und unvoreingenommen ermitteln. Aber ihr Gefühl, und das war meistens zuverlässig, sagte ihr, dass Lorna Robertson weder durch Unfall noch durch Suizid ihr junges Leben gelassen hatte.
Kurze Zeit später saß sie in einem recht schäbigen Büro des örtlichen Polizeireviers in der Mayors Avenue. Ihr gegenüber ein alter Mann. Ein faltiges Gesicht, ungekämmte, dünne Haare und zwei überaus flinke, blaue Augen, die Rachel kritisch musterten.
„Mr Plunkett, Sie haben die Leiche gefunden. Erzählen Sie mir doch bitte, was Sie gesehen haben. Am besten, Sie beginnen damit, wie Sie Ihr Haus verlassen haben.“
Plunkett sah Rachel leicht missmutig an. „Nun ja. Ich wohne in der Clarence Street und mache jeden Morgen vor dem Frühstück eine Runde mit dem Hund.“
„Jeden Morgen die gleiche Runde?“
„Nein. Ich laufe einfach der Nase nach. Das eine Mal über den Berg, ein anderes Mal in die Stadt hinunter. Heute bin ich über King’s Quay durch den Park und dann zum Yachthafen. Weiter bin ich nicht gekommen, denn ich sah die Frau im Schlick liegen. Da war was nicht in Ordnung. Ich bin gleich zur Polizei hier, sind ja nur ein paar Meter.“
„Mr Plunkett, ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Haben Sie jemanden gesehen?“
Plunkett kratzte sich am Kopf. „In der Clarence Street habe ich den alten McGillycuddy gesehen. Ein Nachbar. Stand vor dem Haus und hat geraucht – im Haus darf er nicht. Und dann habe ich niemanden mehr gesehen. Es war ja schließlich fünf Uhr in der Frühe. Das eine oder andere Auto war auf der Uferstraße und ein Lieferwagen ist zu Marks and Sparks gefahren, vermutlich um Ware zu liefern.“ Er kratzte sich abermals und schüttelte dann seinen Kopf. „Nein, sonst habe ich niemanden gesehen.“
Rachel kniff die Augen zusammen. „Und wieso waren Sie so früh schon unterwegs?“
„Meinen Sie diese Frage im Ernst?“
Die junge Polizistin nickte.
„Meine Liebe, ich bin ein alter Mann und bin jeden Morgen um drei Uhr schon wach und kann nicht mehr einschlafen. Also stehe ich auf, koche Wasser und trinke eine Tasse Tee. Dabei lese ich die Zeitung vom Vortag. Sobald es hell wird, gehe ich mit dem Hund nach draußen und wenn wir wieder zurück sind, hat meine Frau ein herrliches Frühstück gezaubert. Ein richtiges britisches Frühstück mit Eiern, Speck und Toast, nicht so ein kontinentales Zeugs, das die jungen Leute essen.“
Rachel machte sich Notizen, obwohl das Gespräch aufgezeichnet wurde. Bislang hatte sie noch überhaupt nichts Interessantes erfahren. Sie zog ihre Nase kraus und fragte dann: „Wieso ist Ihnen die Frau aufgefallen? Wurde sie nicht von den Booten verdeckt?“
„Ich bin unten an der Uferstraße entlanggegangen. Von dort habe ich die Frau sehen können. Ich dachte zuerst, da liegt eine Jacke, aber als ich näher hingesehen habe, erkannte ich einen menschlichen Körper.“
„Und wieso haben Sie diesen Weg gewählt?“
„Kann ich nicht laufen, wie ich will?“
„Natürlich können Sie laufen, wie Sie wollen. Ich stelle hier nur Routinefragen, die Ihnen vielleicht manchmal etwas seltsam vorkommen. Wo wollten Sie hin?“
„Keine Ahnung, einfach der Nase nach. Irgendwie an St Saviour’s vorbei und dann zurück.“
„Hm. Ist es möglich, mit dem Wagen an der Uferstraße anzuhalten?“
„Na ja. Es gibt zwar keinen Parkplatz, aber anhalten kann man schon. Notfalls kann man auf dem Trottoir parken. Auf was wollen Sie hinaus?“
„Nun, irgendwie muss die Tote doch dort ins Hafenbecken gekommen sein. Es ist nicht anzunehmen, dass sie von draußen hereingeschwemmt wurde. Als Sie die Frau gefunden haben, war Ebbe. So wie sie gelegen hat, ist sie vermutlich bei Flut ins Wasser befördert worden.“
Mr Plunkett nickte nachdenklich. Diese Überlegung schien ihm einzuleuchten.
„Kannten Sie die Frau?“, fragte Rachel plötzlich.
„Wie kommen Sie auf den Gedanken? Nein, ich kenne Sie nicht.“
„Die Tote wohnte in Hillhead, daher ist es doch gut möglich, dass sie hin und wieder in Dartmouth war.“
„Kann schon sein.“
„Haben Sie auf dem Weg zur Polizei jemanden oder irgendetwas gesehen?“
„Nein, es sind doch nur ein paar Schritte. Da war niemand. Und selbst wenn, ich war so aufgeregt, dass ich gar niemanden bemerkt hätte, auch wenn jemand da gewesen wäre. Schließlich findet man nicht jeden Tag eine Leiche.“
„Ich denke, das ist für den Moment genug. Ihre Aussage wird protokolliert. Kommen Sie bitte heute Nachmittag noch einmal vorbei und unterschreiben das Protokoll. Und falls Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie nicht und teilen Sie es mir mit. Hier ist meine Karte.“
Rachel schob ihm ihre Visitenkarte über den Tisch. Der alte Mann nahm sie umständlich an sich und las, was dort stand.
„DI Rachel Ward, die Inspectoren werden auch immer jünger. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“, sprach’s und verließ das Büro.
Was wusste Rachel bislang? Nicht viel. Immerhin war der Name der Toten bekannt, und sie vermutete, dass das Opfer von der Straße ins Hafenbecken geworfen worden war. Jetzt galt es, die Überwachungskameras in der Gegend auszuwerten. Vielleicht war da was zu sehen. CCTV (Closed Circiut Television)- Anlagen gab es in Großbritannien inzwischen an jeder Straßenecke, und obgleich es bisweilen zu Kritik von Datenschützern kam, war die Videoüberwachung für die Polizei zum unverzichtbaren Zeugen geworden.
Und dann wartete sie auf die ersten Ergebnisse der Spurensicherung und der Obduktion. Die würden jedoch nicht vor dem Nachmittag kommen.
Jetzt war es halb neun und Rachel merkte, dass sie Hunger hatte. Irgendwo würde es sicherlich was zu essen geben. Sie bat den Constable, der offenbar gelangweilt in der Ecke saß, ihr ein Schinkensandwich und eine Tasse Kaffee zu holen.
„Gerne, Ma’am“, stammelte der Polizist und trottete nach draußen. Es hat doch einige Vorteile, Inspector zu sein, dachte Rachel. Und während sie auf ihr Frühstück wartete, nahm sie den Hörer des auf dem Tisch stehenden Telefons und wählte Debbies Nummer.
DCI Debbie Steer war ihre direkte Vorgesetzte und die Leiterin des Kriminalermittlungsteam in Mittelmoor. Während die kleineren Delikte von den Kriminalbeamten vor Ort bearbeitet wurden, übernahmen bei Schwerverbrechen immer die Einsatzteams aus Middlemoor, Plymouth oder Newquay die Leitung der Fälle.
Das Telefon klingelte ein paar Mal und dann hörte Rachel, wie der Hörer abgenommen wurde. Mit dieser Stimme am anderen Ende der Leitung hatte sie allerdings nicht gerechnet.
Kapitel 2
Sein Schädel brummte und ihm war speiübel. Von draußen war Verkehrslärm zu hören und der Kühlschrank in der Küche brummte wie eine alte Diesellok – er musste dringend einen neuen kaufen. 07:43 Uhr zeigte der Radiowecker, aber DS Brian Turner drehte sich noch einmal um und zog die Bettdecke über den Kopf, obwohl er um acht Uhr im Büro sein musste. Scheiß drauf, dachte er und verfluchte dabei den vergangenen Abend. Der Superintendent und die Chefin waren auf Fortbildung, der Alte im Urlaub, also – was scherte ihn der Dienstbeginn! Immerhin hatte er Überstunden ohne Ende und die drei vergangenen Wochenenden Dienst gehabt.
Brian Turner war 39 Jahre alt und stammte ursprünglich aus Carlisle, wo er im Begriff gewesen war, eine Bilderbuchkarriere bei der Polizei zu starten. Schnell war er Sergeant, doch seine Neigung, über sämtliche Stränge zu schlagen, führte ihn zunehmend aufs Abstellgleis. Bald wurde er ins Polizeiarchiv abgeschoben, was wiederum seinen Alkoholkonsum ankurbelte. Er war beurlaubt worden und hatte sich schließlich vor drei Jahren bei der Polizei in Devon und Cornwall beworben. Dort waren die Ambitionen seiner Anfangszeit wieder zum Vorschein gekommen, und bald fand er sich als verdeckter Ermittler wieder. Vor rund einem Jahr hatte DCS Hamilton ihn ins Kriminalermittlungsteam nach Middlemoor geholt. Hamilton wusste, dass es ein Risiko war, Turner ins Team zu bringen, aber er kannte dessen Stärken. Außerdem war Turner genau der Typ Polizist, der in DCI Debbie Steers Truppe fehlte: intelligent, skrupellos und eiskalt, mit Nerven aus Stahl, ein Mann, der selbst in den heißesten Momenten cool blieb – vorausgesetzt, er war nüchtern.
Im Moment war Brian Turner alles andere als nüchtern, am vergangenen Abend war er mit seinem Kollegen Trevor Norman im „Red Lion“ versackt, ein paar Meilen außerhalb von Exeter. Erst gegen drei Uhr war er zu Hause gewesen, wo er sich, bevor er ins Bett ging, noch einen großen Whisky als Schlummertrunk genehmigt hatte.
Schließlich kämpfte sich Turner doch aus dem Bett, schlich ins Badezimmer und duschte ausgiebig. Nach langem Suchen zog er ein Handtuch aus dem Wäscheschrank und nach einigen Flüchen auch frische Klamotten unter einem riesigen Kleiderhaufen hervor.
Turner betrachtete sich im Spiegel. Er fand, jetzt, da er geduscht und rasiert war, dass er trotz seines Lebenswandels noch ganz passabel aussah. Das dunkle, gewellte Haar war voll, die Gesichtshaut noch glatt. Nur in den grauen Augen waren Abgründe zu erahnen, die man gar nicht entdecken mochte.
Er schüttete sich eine Unmenge Aftershave ins Gesicht und ging dann zielgerichtet in die Küche. Er musste eine Putzfrau einstellen, irgendeine Schlampe würde sich schon finden, die bei ihm mal richtig saubermachte. Vielleicht könnte die auch … – er verwarf den Gedanken. Er suchte Kaffee, fand keinen und beschloss, im Büro zu frühstücken. Frühstück bedeutete für Brian Turner, viel starken Kaffee zu trinken – und das würde bis zum Mittag reichen. Vielleicht hatte Susan ein paar süße Stückchen dabei, sie würde ihm sicherlich was abgeben.
Brian Turner hatte das Glück, auf ein kleines Häuschen im Marlborough Drive gestoßen zu sein, das er günstig kaufen konnte. Um zum Polizeihauptquartier zu gelangen, musste er nur die Hill Barton Road überqueren. So war er wenige Minuten, nachdem er die Wohnung verlassen hatte, in seinem Büro, wo ihn Susan mit großen Augen ansah.
„Du kommst früh“, sagte sie in einem Tonfall, der nicht erahnen ließ, wie er zu deuten sei.
„Hm“, knurrte Brian. „Mein Wecker hat nicht geläutet. Aber wer sollte mich vermissen? Debbie und der Super sind ohnehin nicht da. Und Emma wird wohl keinen großen Wert darauf legen, mich zu sehen. Hast du was zu essen?“
Susan lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und blickte Turner vielsagend an. „Der Alte verlangt nach dir. Wenn dir danach noch nach etwas zu essen ist, kannst du gerne was haben“, sagte sie grinsend.
„Scheiße, ich dachte, der ist im Urlaub.“
„Falsch gedacht. Und jetzt geh’ besser, es ist schon kurz nach neun Uhr.“
Missmutig machte sich Turner auf den Weg ins Büro am Ende des Flurs. „Detective Chief Superintendent Robert Hamilton, Leiter der Kriminalpolizei“ stand auf dem Schild neben der Tür. Turner atmete tief durch, klopfte an und trat dann ein.
Das Büro des Chief Super war nicht als das Allerheiligste der Kriminalpolizei zu erkennen, vielmehr glaubte sich der Besucher beim Verband der Rinderzüchter wiederzufinden. Die Wände waren gepflastert mit Fotografien unzähliger Rindviecher, dazu stand ein riesiges Angusrind aus Messing auf dem Schreibtisch. Zu allem Überfluss schlief ein großer Weimaranerrüde in einem Hundekorb unter einem Bild des Ben Nevis, dem höchsten Berg in Großbritannien.
Hamilton bot Turner keinen Platz an, das konnte zweierlei bedeuten. Turner hoffte, dass es nur um eine kurze Information ging. Er hatte sich getäuscht. Hamilton stopfte umständlich seine Pfeife – auch er hatte sich inzwischen über das allgemein verbindliche Rauchverbot hinweggesetzt und war damit in die Fußstapfen des jüngst pensionierten Pathologen Dr. Alford getreten. Endlich hatte er die Pfeife – ein edles Modell aus dem Holz einer Mooreiche – zum Gebrauch präpariert und den Tabak unter einer infernalischen Rauchentwicklung angezündet.
„Wenn Sie noch einmal zu spät kommen, weil Sie gesoffen haben, möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken“, sagte Hamilton ruhig.
„Sir …“, begann Turner zaghaft.
„Ich hoffe, Sie haben mich verstanden. Und jetzt bewegen Sie Ihren Hintern nach Dartmouth. Susan wird Sie informieren“, ergänzte er, ohne von den Unterlagen, mit denen er gerade beschäftigt war, aufzusehen.
Sichtlich irritiert kam Turner zurück in sein Büro, wo ihn Susan angrinste.
„Wieso ist der denn da?“
„Der ist immer da, wenn was passiert. Instinkt. Und magst du jetzt was zu essen? Ich habe Muffins und noch etwas Mandelgebäck.“
„Wenn du Heidelbeermuffins hast, nehme ich einen.“
„Auch noch Ansprüche stellen. Hier.“ Susan gab ihrem Kollegen ein ausgewachsenes Exemplar eines grünlich schimmernden Muffins.
„Der sieht echt giftig aus.“
„Du wolltest einen Heidelbeermuffin und die sehen eben mal grün aus, wenn sich das Blau der Heidelbeere mit dem Teig vermischt.“
Turner hatte sich eine Tasse Kaffee geholt und tunkte nun den Muffin in den Kaffee. „Los, erzähl mir, was ich wissen muss. Ich soll nach Dartmouth, hat der Alte gesagt.“
„Eine tote Frau im Hafenbecken, vermutlich ermordet. Wir müssen ihr persönliches Umfeld überprüfen.“
Susan berichtete ihrem Kollegen, was sie von Rachel bereits wusste – das war allerdings nicht sehr viel. „Sie war Mitarbeiterin bei der Paington and Dartmouth Railway. Zuletzt arbeitete sie als Leiterin des Bahnhofs in Kingswear.“
„Also eine bessere Putzfrau“, stellte Turner lakonisch fest.
„Hm, so in etwa. Hat Fahrkarten verkauft und war für den Gebäudeunterhalt zuständig. Am besten, du fährst nach Kingswear zu diesem Bahnhof und machst dir mal ein Bild.
Und gegen Mittag triffst du dich mit Rachel im Polizeirevier von Dartmouth. Sie leitet die Ermittlungen, bis Debbie wieder zurück ist.“
„Wie lange soll denn diese Fortbildung dauern? Die Chefin ist ja mehr auf Fortbildungen als hier in Middlemoor.“
„Die ganze Woche. Sie hat sich sehr kurzfristig entschlossen, Parker zu begleiten. Rachel wusste gar nichts von Debbies Abwesenheit und war ziemlich überrascht, als Hamilton ihr mitgeteilt hat, dass sie bis auf Weiteres die Ermittlungen leitet.“
„Und wo steckt Trevor?“
„Das müsstest du doch am besten wissen.“
Brian Turner nahm den letzten Schluck seines Kaffees und schüttelte dann den Kopf. „Keine Ahnung. Wir haben nicht über unsere Lebenspläne geplaudert.“
„Er ist beim Polizeiarzt – jährlicher Routinecheck. Vielleicht stößt er heute Mittag schon zu euch.“
„Hatte die Tote – wie hieß sie nochmal – Familie?“
„Die Frau hieß Lorna Robertson. So weit wir wissen, war sie 43 Jahre alt, geschieden, keine Kinder, und lebte alleine. Mehr haben wir bis jetzt nicht.“
„Das ist ja ziemlich dünn.“ Turner holte eine weitere Tasse Kaffee. „Und ihr Ex-Mann?“
„Wissen wir auch noch nicht. Sollte aber nicht so schwer sein, den ausfindig zu machen. Emma sucht gerade nach ihm.“
„Schafft sie das?“
„Du bist ein Ekel. Noch einen Muffin?“
„Gerne.“
DS Brian Turner verließ das Gebäude und suchte auf dem Parkplatz seinen Dienstwagen, einen polarblauen Mercedes, den früher Susan gefahren hatte. Nachdem Susan bei einer Mordermittlung vor zweieinhalb Jahren entführt worden und fast ums Leben gekommen war, hatte Hamilton beschlossen, sie vorerst nicht mehr im Außendienst einzusetzen.
Kapitel 3
Rachel Ward war tatsächlich ziemlich verwundert, als Chief Superintendent Bob Hamilton das Telefon abnahm, nachdem sie Debbies Nummer gewählt hatte. In der vergangenen Woche war sie für ein paar Tage mit ihrer Freundin Philippa O’Connor in den Pentland Hills wandern gewesen, einer rauhen Heidelandschaft westlich von Edinburgh, und sie hatte deshalb nicht mitbekommen, dass Debbie mit Superintendent Parker auf diesen Lehrgang gegangen war.
Das bedeutete nun aber für Rachel, dass sie zunächst einmal die Ermittlungen leitete. Für sie war es das erste Mal, dass sie für eine Mordermittlung verantwortlich war, eine Tatsache, die sie jedoch kaum beeindruckte. Als stellvertretender Chefin war ihr schon immer klar gewesen, dass diese Situation früher oder später eintreten würde.
„Verlassen Sie sich auf Ihr Gespür!“, hatte Hamilton ihr geraten. Und Rachel wusste, dass sie das konnte. Sie hatte ihren siebten Sinn schon mehrfach unter Beweis gestellt, was ihr Respekt bei einfachen Polizisten bis hin zu den Führungskräften verschafft hatte. In Middlemoor wusste man, welch hervorragende Polizistin Rachel Ward war, und Hamilton befürchtete, dass früher oder später die Headhunter von Scotland Yard auf sie aufmerksam werden würden.
Im Moment war Rachel jedenfalls noch in Devon und befand sich gerade auf der Fähre – genaugenommen der Higher Ferry, die zwischen Dartmouth und Kingswear verkehrte – und überquerte den River Dart. Nach kurzer Überfahrt legte die Fähre am Britannia Halt etwas nördlich von Kingswear an. Von hier aus gelangte man auf der A 379 nach Hillhead. Die Straße führte zunächst durch ein kleines Wäldchen und gleich darauf durch saftig grüne Wiesen, auf denen unzählige Schafe friedlich grasten. Die A 379, die auch Bridge Road genannt wurde, verlief wie viele Straßen im ländlichen England etwas vertieft und war gesäumt von Bäumen und Hecken, so dass der Blick auf die traumhafte Landschaft oft verdeckt wurde – vielleicht machte gerade dies den Reiz der Gegend aus.
Bald hatte Rachel Hillhead erreicht, und dank ihres Navigationsgerätes stand sie nur wenig später im Raddicombe Drive, einer Ringstraße, die ein vornehmes Wohngebiet erschloss. Vor einem der Häuser parkte Rachel ihren Rover und betrachtete das Gebäude. Es handelte sich um einen Reihenbungalow, ein klassisches Backsteingebäude mit eingebauter Garage im Erdgeschoss. Über eine blaue Holztreppe gelangte man zur Eingangstüre. Im Vorgarten blühte ein großer Rhododendron, unter dessen wuchernden Seitenästen die Rasenfläche verschwand. In der Einfahrt stand ein türkisfarbener BMW, ein älteres Modell, wie Rachel feststellte.
Der Straßenzug wirkte sehr uniform, was freilich für englische Wohnstraßen keine erwähnenswerte Eigenschaft ist. Vor den Häusern standen Mülleimer in Reih und Glied, und schon nachdem Rachel ausgestiegen war, konnte sie die ersten neugierigen Gesichter hinter den Fensterscheiben sehen.
Sie ging auf das Haus mit der Nummer 21 B zu und wurde mit dem Hinweis begrüßt, dass das Betreten des Grundstückes für Unbefugte verboten sei. Aber Unfreundlichkeit genügte wohl kaum als Grund, Lorna ins Jenseits zu befördern. Falls sie überhaupt ermordet worden war. Bislang hatte der Polizeiarzt lediglich ihren Tod bestätigen können, und so viel hatte Rachel selbst auch gesehen.
Rachel hoffte, dass die Pathologie am Abend die ersten brauchbaren Ergebnisse würde vorweisen können. Dr. Greg, eigentlich Grzegorz Brzezinski, ein Sohn polnischer Einwanderer, dessen Namen niemand richtig aussprechen konnte, war im Januar Nachfolger des kauzigen Dr. Alford geworden, und bislang hatte Rachel nur wenig mit ihm zu tun gehabt. Sie hoffte, dass er ähnlich schnell und zuverlässig Ergebnisse präsentieren würde wie sein Vorgänger. Lorna Robertsons Leiche befand sich inzwischen auf dem Weg in die Pathologie und würde dort noch vor Mittag eintreffen.
Das Wohnhaus machte einen eher abweisenden Eindruck. Rachel stieg die knarrende Holztreppe hoch und öffnete mit einem Dietrich die Haustüre, nachdem sie Handschuhe angezogen hatte. Sie zögerte kurz, bevor sie eintrat und überlegte, ob sie warten sollte, bis die Spurensicherung eingetroffen war. Doch das konnte dauern. Das entscheidende Zeitfenster für den Verlauf einer Mordermittlung waren die ersten Stunden. Also ging Rachel langsam durch die von Sonne und Regen ausgeblichene Haustüre und trat in einen kleinen Garderobenraum. Ein paar Damenjacken hingen ordentlich an Bügeln, eine quietschgelbe Regenjacke war über einen Stuhl geworfen worden. Es roch nach Fisch.
Hinter der Garderobe befand sich ein großes Wohnzimmer mit Blick auf den Garten. Ein schneller Blick aus dem Fenster zeigte Rachel, dass er geradezu verwahrlost war. Es schien, als sei der Rasen in diesem Frühjahr noch nicht gemäht worden. Und mitten in dieser Graswüste lagen mehrere Haufen Bauschutt.
Rachel hatte die Befürchtung, dass in diesem Haus noch mehr als nur Bauschutt zu finden sein würde. Vorsichtig ging sie durch das Wohnzimmer und betrat einen Raum, der sich als Büro mit Blick auf die Straße entpuppte. Ein großer Schreibtisch, offenbar aus massiver Eiche, stand mitten im Raum. Darauf ein Computer – den sollte sich die Spurensicherung mal genau anschauen. An der Wand hingen Fotografien von Dampflokomotiven und Menschen, die vor Zügen und Bahnhöfen posierten. Rachel strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah im Geist schon Dutzende von Verdächtigen.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und suchte einen Terminkalender – vergeblich. Vermutlich hatte Lorna ihre Termine, wie es heutzutage für die meisten Menschen üblich ist, auf ihrem Handy oder Computer gespeichert. Rachel schaltete den Computer ein, und zu ihrer großen Überraschung war er nicht mit einem Passwort gesichert. Bald hatte sie einen Kalender gefunden. Der zeigte jedoch überhaupt keine Einträge. Sie versuchte, zu Lornas E-Mails zu gelangen, doch ihre Computerkenntnisse reichten nicht aus, um das Programm zu öffnen, da es mit einem Passwort geschützt war.
Gespannt zog Rachel die Schubladen des Schreibtischs auf, die von Rechnungen und Briefen aller Art nur so überquollen. Hier wartete viel Arbeit auf sie und ihre Kollegen. In der letzten Schublade fand sie eine Tickets fürs Theater in Plymouth. Dabei lag die Karte eines gewissen Roy Mills:
Liebe Lorna,
es tut mir leid, dass wir uns gestritten haben und der ganze Abend verdorben war. Eigentlich wegen nichts. Das alles ist allein meine Schuld. Ich hoffe, ich kann es mit dieser Einladung wiedergutmachen. Ich freue mich auf den 29. Juni und darauf, dich wiederzusehen.
In Liebe und Verbundenheit,
Roy
Es handelte sich um eine VIP-Karte für eine Aufführung in Plymouth: „Wonderful Town“ – als alter Bernstein-Fan kannte Rachel dieses Musical aus den fünfziger Jahren gut. Offenbar die besten Plätze, und dazu ein Drei-Gänge-Dinner für zwei Personen … Nicht schlecht, fand Rachel.
„In Liebe und Verbundenheit“, diese Wortwahl erschien ihr auf den ersten Blick allerdings etwas altmodisch – auf der anderen Seite waren Lorna und vermutlich auch Roy Mills dem Teenageralter entwachsen, und daher konnten die Worte durchaus angemessen sein. Rachel betrachtete nachdenklich ihre Fingernägel. Wer war dieser charmante Roy?
In ihre Überlegungen hinein platzte DS Trevor Norman, ein großer, glatzköpfiger Beamter, der aussah wie der Leibwächter einer Unterweltgröße.
„Hallo Rachel“, rief er so laut, als wäre seine junge Kollegin schwerhörig, „schon irgendwelche Anhaltspunkte?“
„Wenn du nicht den ganzen Hausrat durcheinanderbringst, werden wir sicherlich was finden. Was spricht der Onkel Doktor?“
Trevor Norman knurrte. „Ach scheiß drauf. Kannst du dir doch denken. Mehr Sport, weniger essen und vor allem weniger Bier. Als ob ich viel Bier trinken würde!“
„Das sehe ich genau wie du. Als ob die paar Bier am Tag etwas ausmachen würden. Außerdem bist du schon fast fünfzig, da kommt es doch ohnehin nicht mehr darauf an, an was man erkrankt.“
„Hm.“ Trevor Norman brummte vor sich hin. Rachel konnte nicht einordnen, ob er ihre Ironie bemerkt hatte – vermutlich nicht.
„Also hör mal zu“, sagte sie zu ihm. „Wir haben hier die Einladung eines Mannes zu einem Musical in Plymouth. Offenbar hatten die beiden Streit. Ich weiß nicht, ob sie ein Paar waren oder lediglich gut befreundet. Auf jeden Fall ist dieser Mann ein Kandidat für ein baldiges Verhör. Ich werde Emma auf ihn ansetzen. Mehr Brauchbares habe ich noch nicht. Ich bleibe hier im Büro, geh’ du mal ins Schlafzimmer.“
Trevor Norman konnte ein schmutziges Grinsen nicht unterdrücken. Er trabte aus dem Büro und steuerte das Schlafzimmer Lorna Robertsons an.
DS Norman war das dienstälteste Mitglied des Ermittlungsteams in Middlemoor. Er war zwar nicht gerade das, was unter einem Musterpolizisten zu verstehen war, aber durch seine bodenständige, oftmals derbe Art verstand er es, gerade bei einfacheren Menschen einen Zugang zu öffnen, der sonst verschlossen geblieben wäre. Bier sah Norman als Grundnahrungsmittel an, das auch mal ein Mittagessen ersetzen konnte, jedoch war er kein übermäßiger Trinker, der sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank. In all seinen Dienstjahren war er noch kein einziges Mal wegen Trunkenheit ausgefallen. Das Bier machte sich inzwischen jedoch als überflüssiges Fettpolster bemerkbar und hatte aus einem sportlich-athletischen Detective Constable einen behäbigen Sergeant gemacht. Auch wenn sich halb Middlemoor fragte, wie Trever Norman es zum Sergeant geschafft hatte: Es waren schon ganz andere an dieser Hürde gescheitert und blickten jetzt neidvoll zu ihm auf.
Rachel nahm sich den Aktenschrank vor, ein billig wirkendes Modell, das ihr irgendwie bekannt vorkam. In der Wohnung ihrer Freundin Philippa hatte früher das gleiche Ikea-Teil gestanden. Die Rolltüre war abgeschlossen, aber leicht zu öffnen. Zur großen Überraschung von Rachel waren die Regalbretter bis auf ein paar Aktenordner leer. Rasch blätterte sie die Unterlagen durch und stellte sie dann schnell wieder zurück. Sie hatte den Eindruck, dass diese Ordner sie nicht weiterführen würden. Es handelte sich nämlich ausschließlich um Gebrauchsanweisungen und Garantiescheine für Haushaltsgeräte.
Nachdenklich sah sie die Fotografien an den Wänden an und ging dann zu Trevor Norman ins Schlafzimmer.
„Und, schon was gefunden?“
„Langweilige Unterwäsche. Und unter einem Stapel altmodischer Winterpullover ein paar Nacktbilder von der Toten und einem Mann. Harmlos, wenn du mich fragst,“ antwortete Norman grinsend und zeigte die Bilder seiner Vorgesetzten. Sie zeigten Lorna und den Mann irgendwo an einem Sandstrand und beim Baden im Meer. Da immer nur eine Person abgebildet war, ging Rachel davon aus, dass sich die beiden gegenseitig fotografiert hatten.
„Du hast recht. Harmlos ist die perfekte Bezeichnung. Die Frage ist nur, wer der Mann ist. Der Ex, Roy oder ein anderer Mann? Vielleicht kann man den Bildern wenigstens ein Motiv entnehmen? Eifersucht?“
„Das sollte sich ja schnell herausfinden lassen, wer der Mann ist. Ich glaube nicht an den Ehemann. Wieso sollte sie Bilder des Verflossenen aufbewahren?“
„Keine Ahnung. Ich schicke das Bild trotzdem schnell an Emma.“ Rachel fotografierte eines der Bilder, auf denen der Mann gut zu erkennen war, mit ihrem Smartphone und leitete es an ihre Kollegin weiter. „Die ist auf dem Weg zu dem Ex-Mann von Lorna. Und anschließend soll sie diesen Roy Mills ausfindig machen.“
Rachel strich sich die Haare aus dem Gesicht und ging dann in die Küche. Die war aufgeräumt und vermittelte eine wohnliche Atmosphäre. Ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen stand in der Ecke unter dem Fenster, das den Blick auf die Straße freigab. Eine rote Tischdecke lag auf dem Tisch – und ein ungeöffneter Brief. Die Polizistin nahm ihn und öffnete ihn vorsichtig, um festzustellen, dass es sich lediglich um eine Rechnung des örtlichen Gasversorgers handelte. Was hatte sie erwartet? Ein Geständnis des Mörders?
Wenn es denn überhaupt einen Mörder gab! Vielleicht hatte Lorna einfach mehr getrunken als gut für sie war und war ins Hafenbecken gestürzt.
Die Einrichtung strahlte einen gewissen Luxus aus. Hochwertige Küchengeräte und eine edle Arbeitsplatte aus rotem Granit gaben Rachel den Eindruck, dass sich Lorna gerne hier aufgehalten hatte. An der Wand hing ein großformatiges Acrylbild einer südlichen Landschaft.
Eines war Rachel bislang aufgefallen. Es gab keine Hinweise auf irgendwelche persönlichen Beziehungen von Lorna zu anderen Menschen, von Roy Mills einmal abgesehen. Nirgends ein Hinweis auf eine beste Freundin, auf Freizeitaktivitäten, auf Vereinsmitgliedschaften. Was trieb Lorna Robertson den lieben langen Tag, wenn sie nicht gerade auf Arbeit war?
Sie musste mehr über die Tote erfahren. Vermutlich hatte Turner schon mit der Mitarbeiterin von Lorna am Bahnhof geredet. Rachel blickte auf die Uhr und stellte fest, dass es bald Mittag war. Zeit, um nach Dartmouth zurückzukehren.
„Trevor, ich geh dann mal. Die Spurensicherung müsste bald kommen, bring also nicht alles in Unordnung.“
„Du kennst mich doch“, brüllte Norman aus dem Schlafzimmer zurück.
„Eben.“
Kapitel 4
Detective Sergeant Emma Cohen, blonde, raspelkurze Haare und tiefseeblaue Augen, hatte herausgefunden, wo der geschiedene Mann von Lorna lebte. Robert Robertson war Geschäftsführer einer Tesco-Filiale in Honiton. Dort wohnte er in einem kleinen Bungalow in der Walnut Road in unmittelbarer Nähe seines Arbeitsplatzes. Die Robertsons waren schon seit mehr als zehn Jahren geschieden und lediglich drei Jahre verheiratet gewesen. Emma hatte nur geringe Hoffnung, brauchbare Spuren zu finden. Auf der anderen Seite kam es immer wieder vor, dass sich Menschen erst nach vielen Jahren an jemandem rächten.
Doch Emma glaubte nicht, dass Robert Robertson etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hatte. Sie erhoffte sich vielmehr, etwas über Lorna zu erfahren.
Von Exeter bis nach Honiton waren es über die A 30 nur rund 20 Meilen, und eine halbe Stunde nach ihrer Abfahrt vom Polizeihauptquartier parkte Emma den dunkelroten Vauxhall auf dem Kundenparkplatz des Supermarktes. Bevor sie den Wagen verließ, kontrollierte Emma ihr Make-up im Spiegel der Sonnenblende und zog dann ihren pfirsichfarbenen Lippenstift nach. Seit sie verheiratet war, legte Emma viel größeren Wert auf ihr Äußeres als früher. Sie war nicht länger das graue Mäuschen von der Hundestaffel, sondern hatte sich zu einer attraktiven Frau gemausert. Ihre Unsicherheit in vielen Dingen war zwar geblieben, aber mit ihrem neuen Auftreten wirkte sie deutlich souveräner, was in ihrem Job – und auch im Privatleben – nicht unbedingt ein Nachteil war. Heute trug sie eine lachsfarbene Bluse, eine dunkelblaue Röhrenjeans und wiederum lachsfarbene Pumps.
Emma ging zielgerichtet auf den Haupteingang zu und überlegte, wie sie das Gespräch mit Robertson beginnen sollte. Sollte sie mit der Tür ins Haus fallen oder ihn erst einmal aushorchen?
Nachdem sie sich durchgefragt hatte, saß sie bald im Büro des Filialleiters. Robertson sah ganz anders aus, als sie sich ihn vorgestellt hatte. Er war relativ klein, hatte langes, gewelltes Haar und ein Nasenpiercing. Ein Langweiler in der Midlifecrisis, vermutete Emma.
„Sie sind also von der Polizei. Was kann ich für Sie tun, Sergeant?“, krächzte Robertson hinter seinem Schreibtisch.
„Mr Robertson. Wann haben Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen?“
„Habe ich eine Frau? Ich dachte, ich bin geschieden.“ Emma hörte einen verächtlichen Ton in der Stimme.
„Wann haben Sie Ihre frühere Frau zuletzt gesehen?“, präzisierte Emma.
„Anlässlich der Scheidung. Und das ist schon ein paar Tage her. Wieso wollen Sie das wissen?“
„Sie haben also keinen Kontakt mehr zu Ihrer geschiedenen Frau. Sehe ich das richtig?“
„Korrekt.“ Robertson strich sich übers Gesicht. „Und um das zu fragen, kommen Sie aus Exeter. Hat die Polizei nichts anderes zu tun?“
„Wo waren Sie heute Nacht?“
„Alleine im Bett. Aber wozu um Gottes Willen fragen Sie mich nach der gestrigen Nacht?“ Robertsons Stimme wurde unsicher.
Emma fixierte den Filialleiter. „Mr Robertson, heute Nacht ist Ihre geschiedene Frau Lorna ums Leben gekommen. Wir haben sie im Bootshafen von Dartmouth gefunden.“
„Ja, und was geht das mich an? Also, es tut mir leid, aber ich habe mit dieser Frau nichts mehr zu tun. Ich frage mich aber hin und wieder, wie ich Lorna nur heiraten konnte. Es hat einfach nicht gepasst. Und nach drei Jahren waren wir auch schon geschieden. Ein Missverständnis auf der ganzen Linie. Ich bin nach Honiton gezogen und Lorna offenbar in dieses Kaff bei Dartmouth. Es tut mir leid, dass sie gestorben ist. Aber eigentlich ist es mir herzlich egal. Und wie, sagten Sie, sei sie ums Leben gekommen?“
„Ich habe gar nichts gesagt. Ich sagte lediglich, dass sie tot sei“, antwortete Emma ruhig. „Mr Robertson, wir wissen bislang nur wenig über Lorna. Was war sie für ein Mensch?“
„Hm, sie interessierte sich für Eisenbahnen.“
„Und sonst?“
„Wenig. Es gab nur wenig, was neben der Eisenbahn für Lorna wichtig war. Weder Familie noch Tiere und schon gar nicht ihr Mann. Ich will nicht sagen, dass sie egoistisch war. Aber sie sah nicht die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen.“
„Aha“, sagte Emma und dachte: Im Bett war demnach auch tote Hose? „Hatte sie Freundinnen oder Freunde?“
„Nein. Sie hatte die Eisenbahn. Das war ihre Welt. Man konnte sie über sämtliche Lokomotiven von Norwegen bis nach Griechenland befragen. Selbst amerikanische und australische oder japanische Eisenbahnen waren ihr Metier. Darüber hinaus hat es nur wenig gegeben.“
„Und wieso, wenn ich das fragen darf, haben Sie Lorna geheiratet?“
„Nun … sie hat gut ausgesehen und ich wollte sie. So einfach ist das. Klarer Fall von zu kurz gedacht.“
Emma war mit dem Verlauf des Gespräches unzufrieden. Außerdem juckte ihr Rücken, wie immer, wenn sie sich irgendwie unbehaglich fühlte. Aber vielleicht war es wirklich so, wie Robertson schilderte? Lorna war ein Eisenbahnfreak durch und durch und sonst gab es nur wenig Raum in ihrem Leben? Emma konnte sich dennoch kaum vorstellen, dass eine Frau um die vierzig sich ausschließlich mit Eisenbahnen beschäftigte. Seltsames Hobby, dachte sie.
„Was ist mit Lornas Familie? Leben ihre Eltern noch, hat sie Geschwister?“
„Lorna war Waise. Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, da war sie gerade mal drei Jahre alt. Sie wuchs in einem Waisenhaus in Plymouth auf. Geschwister hatte sie keine, soweit ich weiß.“
„Und was wissen Sie noch über Lorna? Mann, lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen!“
„Ich weiß wirklich nicht mehr. Sie hat mir nie etwas erzählt und ich wollte es auch gar nicht so genau wissen. Mein Gott, sie stammte aus einem Waisenhaus. Die haben doch alle ein Rad ab. Ich hätte es wissen müssen und sie niemals heiraten dürfen.“
Jetzt wurde Emma hellhörig. Irgendetwas war da, doch sie wusste nicht genau was. „Mr Robertson, kennen Sie den Namen des Waisenhauses?“
„Ich glaube, St Michael. Aber sie hat nur wenig darüber geredet. Später hat sie hier und da gejobbt. Ich habe sie in Exeter kennengelernt. Sie hat in einem unserer Märkte gearbeitet und ich war Außendienstmitarbeiter. Sie hat mir gefallen und wir haben geheiratet.“
„Und sind Sie wieder verheiratet?“
„Nein“, sagte Robertson emotionslos. „Ich habe noch nicht die Richtige gefunden. Vielleicht bin ich auch zu anspruchsvoll, oder zu enttäuscht von den Frauen.“
Emma hatte den Eindruck, nicht weiterzukommen. St Michael, ob es das Waisenhaus noch gab? Sie stand auf und reichte Robertson ihre Karte. „Wenn Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, können Sie mich jederzeit anrufen.“
Draußen auf dem Parkplatz verspürte Emma ein Hungergefühl und beschloss, zurück in den Markt zu gehen, um sich ein Sandwich zu holen. Sie wählte ein koscheres Käse-Gurken-Sandwich und ging zur Kasse, um zu bezahlen. Da gerade nur wenig Betrieb war, zeigte sie der Kassiererin ihren Polizeiausweis und sagte: „Ich war gerade bei Robertson. Wie ist er als Chef?“
„Hat er was verbrochen?“, frage die Kassiererin, ein junges Mädchen mit asiatischen Gesichtszügen.
„Nein, nein“, beruhigte sie Emma, „seine Exfrau ist tot.“
„Der Arme. Das tut mir leid. Robertson ist ein sehr fairer Chef. Er sorgt gut für seine Mitarbeiter. Ich mag ihn. Als Chef natürlich“, beeilte sie sich hinzuzufügen.
„Was wissen Sie vom Privatleben Ihres Chefs?“
„Nicht viel. Er wohnt gerade da drüben in der Walnut Road und trainiert die 1. Mannschaft des Fußballvereins.“
„Hat er eine Freundin?“
„Kann ich mir nicht vorstellen. Er hat vor lauter Fußball doch gar keine Zeit für Frauen. Aber sicher bin ich mir natürlich nicht.“
„Und die Mitarbeiterinnen im Supermarkt?“
„Nein. Da ist er ganz korrekt. Wir mögen ihn, weil er ein cooler und gerechter Chef ist und gerade weil er nicht den Mitarbeiterinnen nachstellt.“
Emma seufzte, griff nach ihrem Sandwich und suchte ein paar Münzen aus ihrer Jeanstasche.
„Vielen Dank noch und einen schönen Tag.“
Emma ging nach draußen und öffnete alle Türen des Astras, der in der prallen Sonne stand. Das Waisenhaus ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie wollte dort einmal nachhaken. Debbie würde es nicht dulden, dass sie in der heißen Phase der Ermittlung ihre Zeit damit verschwendete, sich auf vermeintlichen Nebenschauplätzen herumzutreiben, aber vielleicht hatte sie bei Rachel mehr Glück. Am besten würde es sein, gleich zum Chief zu gehen. Der stand doch immer auf solche Touren.
Ich gehe zu Hamilton, dachte sie, als sie ihr Sandwich verdrückte, und schon vierzig Minuten später saß sie bei ihm im Büro.
Doch bevor Emma Hamilton ihr Vorhaben erläutern konnte, klingelte sein Telefon. Er nahm ab, lauschte einen Augenblick, und Emma sah eine Veränderung in seinem Gesichtsausdruck. Irgendetwas war passiert.
Kapitel 5
Der Bahnhof von Kingswear lag idyllisch am Ufer des River Dart und ließ das Herz eines jeden Eisenbahnfetischisten höher schlagen. Als sei er Teil einer großen Modelleisenbahnanlage, passte sich der Kopfbahnhof perfekt ins Gelände ein und bildete das Bindeglied zwischen der Straße, nämlich der Fore Street, und dem Wasserweg. Dazu passten die malerischen Yachten im Trockendock gleich neben den Gleisen und eine Vielzahl von Möwen, die laut schreiend sowohl die Lüfte als auch das Festland unsicher machten. Von hier aus verkehrte die Paignton und Darthmouth Steam Railway und karrte im Sommerhalbjahr Heerscharen von Touristen durch das ländliche Devon.
DS Turner sah das Ganze mit der Nüchternheit eines Polizisten: Ein leicht heruntergekommener Bretterverschlag mit einer besseren Imbissbude, die sich hochtrabend „The Brunel Buffet“ nannte – nach Isambard Kingdom Brunel, dem legendären britischen Ingenieur, dessen Bauwerke, insbesondere die Eisenbahnbrücken, das viktorianische England prägten und dies noch bis heute tun.
Turner allerdings kümmerte sich nicht um das Brunel Buffet, sondern wandte sich dem Fahrkartenverkaufsschalter zu. Im Schalterraum befand sich niemand, und hinter dem Tresen stand ein blondes Mädchen mit Sommersprossen und verträumten Blick. Turner wedelte mit seinem Ausweis und versuchte, seine Kopfschmerzen zu verdrängen.
„Ich bin DS Turner vom CID Middlemoor. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Mein Name ist Karen Steele. Dann stimmt es also, was man sagt?“, fragte das Mädchen fast tonlos.
„Was sagt man?“ Turner stellte sich begriffsstutzig.
„Na, dass Lorna tot ist. Floss hat es erzählt.“
„Wer bitte ist Floss?“
„Drüben vom Brunel Buffet.“
Mein Gott, dachte Turner, kann die auch in ganzen Sätzen reden? Er kratzte sich am Ohr, lehnte sich auf den Tresen und sah Karen in die Augen. „Ja, es stimmt. Lorna Robertson ist tot. Was für ein Mensch war Lorna?“
Das bleiche Mädchen wurde noch blasser. „Sie war meine Chefin.“
Turner verdrehte die Augen. „Und weiter?“
„Ja … ich arbeite hier seit zwei Jahren, seit ich die Schule abgeschlossen habe. Wir arbeiten in zwei Schichten. Montag bis Donnerstag geht die eine Schicht, die andere von Freitag bis Sonntag. Ich habe gerade die Montag- bis Donnerstag-Schicht. Lorna die Wochenendschicht.“
„Aha,“ seufzte Turner „Und wie war Lorna so als Mensch und Chefin?“
„Nett. Sie war richtig nett. Hat mir alles erklärt und hatte Verständnis, wenn mal was nicht so gut lief.“
„Und ist manchmal was nicht so gut gelaufen?“
„Nein, überhaupt nicht. Nur so halt. Wenn es Probleme mit dem Computer gab oder die Touristen das falsche Ticket gelöst hatten und der Zug überfüllt war oder so.“
„Wissen Sie, ob Lorna einen Freund hatte?“
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.“ Karen Steele starrte Turner mit weit aufgerissenen Augen an.
So kam Turner nicht weiter. Er änderte seine Strategie. „Miss Steele, wo waren Sie heute in der Nacht zwischen zehn und vier Uhr?“
„Ich war gestern Abend mit meinem Freund im Harbour Light drüben in Darthmouth. Wir sind bis um halb eins geblieben und dann nach Hause gegangen.“