Lotty - Ralf Göhrig - E-Book

Lotty E-Book

Ralf Göhrig

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Beschreibung

Lotty, eine junge Londonerin, erbt das Haus ihrer Großeltern. Dadurch findet sie ein Tagebuch ihres deutschen Großvaters, der als junger Mann direkt von der Schule zur Luftwaffe eingezogen wurde und im Januar 1944 über Südengland abgestürzt war. So erfährt Lotty viel über die eigene Geschichte, während sie im heutigen England ihr persönliches Glück sucht.

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EPUB
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Seitenzahl: 148

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Ralf Göhrig

Lotty

Erzählung

© 2018 Ralf Göhrig

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:       978-3-7469-7215-2

Hardcover:       978-3-7469-7216-9

e-Book:              978-3-7469-7217-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhalt

1. Kapitel - Lotty

2. Kapitel - Getreide

3. Kapitel – Lottys Familie

4. Kapitel - Frankreich

5. Kapitel – Notting Hill

6. Kapitel - Wirtshaus

7. Kapitel – Sharon

8. Kapitel – Kampfgeschwader 100

9. Kapitel – Zugfahrt

10. Kapitel – Absturz

11. Kapitel – Großmutters Haus

12. Kapitel – Überleben

13. Kapitel – Umbruch

14. Kapitel – Im Feindesland

15. Kapitel – Umzug

16. Kapitel – Gefangenschaft

17. Kapitel – Ein neues Jahr beginnt

Schlussbemerkung

Über den Autor

1. Kapitel - Lotty

Lotty Foster betrachtete ihr Spiegelbild im Badezimmer ihrer kleinen 3-Zimmer-Wohnung im Londoner Ortsteil Highbury, hier wo London noch den kleinbürgerlichen Charme der Nachkriegszeit bewahren konnte und nicht von sterilen Gebäudekomplexen aus Stahl und Glas geprägt war. Dennoch hatte auch Highbury seinen Charakter in den vergangenen einhundertfünfzig Jahren markant verändert. Der Begriff der Gentrifizierung wurde hier erfunden, als nach und nach Mittelschichtfamilien hierher zogen und die alteingesessene Arbeiterklasse verdrängte. Doch daran verschwendete Lotty in diesem Augenblick überhaupt keinen Gedanken.

Ihr Augenmerk fiel auf die einzelnen silbernen Fäden, die ihre schwarze Löwenmähne durchzogen. Lotty fühlte sich schlagartig uralt, dabei war sie noch nicht einmal dreißig. Sie musterte jeden Quadratzentimeter ihres Gesichts, konnte jedoch, außer dem Grübchen unterhalb der linken Wange, keine Unregelmäßigkeiten erkennen. Ihre dunklen Augen lagen in mandelförmigen Höhlen, was ihr einen leicht orientalischen Touch verlieh. Sie lächelte ihr Spiegelbild an und war, als sie die gleichmäßigen Reihen ihrer weißen Zähne erblickte, doch wieder zufrieden mit ihrem Aussehen. Obwohl ihr die Nase einen Tick zu spitz und der Busen eine Nummer zu klein erschien. Außerdem fühlte sie sich mit ihren 1,78 ein paar Zentimeter zu groß. Zumindest wenn sie in einem Klamottenladen vor den Regalen stand und feststellen musste, dass es in ihrer Größe einfach nichts gab. Jedenfalls nichts, was eine junge Frau anziehen könnte oder möchte.

Auch jetzt hatte Lotty einen ganzen Kleiderberg auf ihrem Bett angehäuft, sich bis auf ihren Lieblingsslip aber noch in keiner Weise für etwas entscheiden können. Eigentlich wollte sie an diesem Freitagabend nur mit ein paar Freundinnen durch die Straßen ziehen und das eine oder andere Pub ansteuern. Da konnte die Kleidungswahl doch nicht so schwer sein. Nun, sie war es, denn Lotty bewegte sich schon seit dreißig Minuten zwischen Schlaf- und Badezimmer hin und her, ohne auch nur im Geringsten zu wissen, was sie anziehen sollte. Sie hatte einfach nichts in ihrem ausladenden Kleiderschrank und daher musste sie umgehend auf Shoppingtour gehen.

Nach einer weiteren halben Stunde hatte es Lotty tatsächlich geschafft und stand in roter Jeans und schwarzem Spitzentop abermals vor dem Spiegel und trug einen vampirroten Lippenstift auf. Wirkte das nicht zu nuttig? Lotty war unsicher – ach scheiß drauf, dachte sie, nach dem ersten Bier ist die Farbe ohnehin weitgehend verschwunden.

Sie hatte sich mit ihren beiden Freundinnen, Louise und Emma im Lamb, einem gemütlichen Pub in der Holloway Road, rund 250 Meter südlich des Emirates Stadiums getroffen. Beide saßen schon vor einem fast geleerten Pint und begrüßten sie freundlich.

„Nur eine halbe Stunde zu spät, das ist ja fast pünktlich für deine Verhältnisse.“

„Lou, du weißt doch, wäre ich pünktlich, würde dein Weltbild zusammenbrechen. Und das will ich verhindern.“

„Du kannst uns gleich noch ein Bier und die Speisekarte mitbringen bevor du dich zu uns setzt“, meinte Emma und Lotty nickte ihr zu. Eigentlich war ihr Name Charlotte, doch sie hasste diesen Namen. In Wirklichkeit hasste sie ihre Tante, nach der sie benannt worden war - als gäbe es keine schönen Namen für ein neu geborenes Mädchen, als den der eigenen Schwester. Wie konnte ihre Mutter ihr nur so etwas antun? Charlotte, das klang so altbacken, da war die Lotty doch schon viel frecher und frischer, eben so wie sie selbst war.

Louise und Emma kannte sie schon seit etlichen Jahren aus einem gemeinsamen Urlaub in Zypern. Dort hatten sie im gleichen Hotel gewohnt, waren alle drei in einer ähnlichen Situation – sie hatten sich von ihrem Freund getrennt, oder er von ihnen – und seit damals waren sie auf der Suche nach einem jeweiligen Nachfolger. So richtig erfolgreich gestaltete sich dieses Unterfangen jedoch nicht, was den drei Mädels aber letztlich gleich war. Während Lotty in Highbury wohnte, lebte Louise mit ihrer Schwester in Greenwich und Emma in einer WG in Wood Green, im Norden Londons. Doch so groß die Stadt auch war, mit der U-Bahn waren es nur ein paar Stationen, die in wenigen Minuten passiert werden konnten. Und während sich die drei in der vergangenen Woche in Greenwich getroffen hatten, war heute Highbury und in der kommenden Woche Wood Green an der Reihe.

Professionell bugsierte Lotty die drei Pints in den Händen und die Speisekarte unter der Achsel eingeklemmt zum Tisch der beiden.

„Cheers“, sagte sie, nachdem sie sich gesetzt hatte und trank einen gewaltigen Schluck.

„Und, wie war dein Tag, Lotty?“, fragte Emma neugierig.

Diese wischte sich den Schaum ihres Lagers von den Lippen und strich sich eine ihrer unbändigen Strähnen aus dem Gesicht. „Spannend. Ich habe ein altes Tagebuch meines Großvaters gefunden.“

„Und?“

Lottys Großmutter war vor rund einem Jahr gestorben und hatte ihrer einzigen Enkelin ein kleines Häuschen in Warlingham, einem Dorf im Süden Londons hinterlassen. Und jetzt, nachdem die notwendigen Formalitäten erledigt waren, die Trauer sich weitgehend gesetzt hatte, begann Lotty langsam, das Anwesen in Besitz zu nehmen. Dazu war es natürlich zuallererst einmal notwendig, alles zu sichten und dann auszuräumen, was nicht mehr zu verwenden war. Nach und nach wollte Lotty das Häuschen dann beziehen. Ihre Eltern hatten keinen Bedarf an dem Haus, sie lebten in einem noblen Haus in Belgravia, und Lottys Bruder war mit einer Australierin verheiratet und hatte den englischen Nebel mit der südlichen Sonne getauscht. Also war es nur naheliegend, dass Lotty das Haus erbte, wenngleich sie sich bis zum Tod der Großmutter keine Gedanken darüber gemacht hatte.

„Du, da gibt es so viele Erinnerungen, ich glaube, ich komme gar nicht dazu, mich dort einzurichten.“

„Mich schmerzt es schon heute, dich da auf dem flachen Land leben zu wissen“, sagte Louise mit leidendem Unterton.

„Also Warlingham ist nicht am Ende der Welt, es ist noch innerhalb des Londoner Verkehrsnetzes, wenn auch am äußersten Ende. An unserem Freitagabend müssen wir da nicht viel ändern. Vielleicht scheiden die Nordlondoner Vororte aus.“

Eine müde aussehende Frau mittleren Alters kam angeschlurft und nahm die Bestellungen auf.

„Jetzt erzähl mal, was steht da in dem Tagebuch drin?“, bohrte Emma nach.

„Ich habe es nur durchgeblättert, so ganz habe ich es noch nicht verstanden, aber es stammt aus dem Krieg.“

„Kriegserlebnisse?“

„Vermutlich auch. Wenn ich es richtig entziffert habe wird der Luftkrieg um England beschrieben, aber nicht der erste von 1940 sondern ein zweites Angriffsunternehmen im Winter 1944, also rund ein Jahr vor Kriegsende. Ich habe aber alles nur schnell überflogen.“

„Wo ist das Buch?“, fragte Emma ungeduldig.

„Zu Hause, glaubst du, ich schleppe das Buch in einen Pub mit, damit du Bier darüber schüttest?“

„Und sonst?“

„Du kannst ja morgen Früh mitkommen und mir beim Ausräumen helfen. Ein großer 10 Kubikmeter Container steht schon im Garten.“

„Kann leider nicht. Schon was vor.“

„Ich helfe dir gerne“, bot sich Louise an.

In der Zwischenzeit watschelte die Frau mit dem Essen an den Tisch. Lotty und Emma hatten Fisch und Kartoffeln, Louise den Gemüseeintopf gewählt.

„Und was läuft bei Euch?“, fragte Lotty während sie mit einer Gräte kämpfte.

„Gar nichts“, meinte Louise. „Die Schüler sind frech, wie eh und je und weigern sich, das zu lernen, was ich ihnen beibringen will.“

„Wird wohl an der Lehrerin liegen“, gab Lotty lachend zurück.

Louise runzelte die Stirn und Lotty konnte darauf förmlich lesen: Versuche du das erst mal mit diesen verzogenen Bälgern.

„Ich habe da so einen Typen kennen gelernt“, sagte Emma plötzlich.

„So?“, rief Louise verwundert aus. „Was ist das für ein Typ?“

„Interessant.“

„Und sonst? Wie alt, wie sieht er aus, was macht er beruflich, hat er Geld?“, sprudelte es aus Louise hervor.

„Seinen Kontoauszug hat er mir nicht gezeigt. Sagte er käme aus Liverpool, sei jedoch beruflich viel unterwegs.“

„Hast du ein Bild auf deinem Handy?“

„Wo denkst du denn hin, Louise? Ich habe ihn vor zwei Tagen in einer netten Bar in Richmond getroffen. Und dort will ich ihn morgen wieder treffen.“

„Mach’s nur mit Gummi“, riet ihr Lotty.

„Ach ihr seid alle so eindimensional. Als ob es nur um das Eine ging.“

„Ist das nicht so?“, fragte Louise mit einer gespielten Kleinmädchenstimme.

„Na ja, es gibt wohl auch noch andere Dinge.“

„Ja, Schach spielen, zum Beispiel“, antwortete Lotty lapidar.

„Ach kommt, ich hole nochmal eine Runde Bier.“

„Gute Idee, aber du kannst ruhig noch was über diesen Liverpooler erzählen. Sonst hättest du ja gar nicht anfangen müssen. Wer A sagt, muss auch B sagen.“

„Das sind ein Pfund ins Phrasenschwein“, meinte Lotty.

„Was für ein Ding?“

„Entschuldigung, das ist meine deutsche Seite. Da gibt es eine Talkshow über Fußball im deutschen Fernsehen und jeder der eine abgedroschene Floskel von sich gibt, muss einen Betrag in ein Sparschwein werfen.“

„Ach, ich vergaß, du bist ja zu 25 Prozent ein Kraut.“

„Besser als ein halber Jock, nicht wahr, Emma?“

„Fangt jetzt bloß nicht an zu streiten“, versuchte Louise den beginnenden Disput zu bremsen.

„Also, was ist jetzt mit dem Mann aus Liverpool?“

„Es gibt ihn. Er ist nett, eloquent, sieht gut aus, nicht so ein Kraftprotz, wie dieser Typ aus Aldershot.“

„In Aldershot gibt es nur stramme Männer. Home of the british army. Wer steht schon auf Soldaten, die haben nur Stroh im Kopf“, meinte Louise.

„Na ja, immerhin war er unten rum gut bestückt“, meinte Emma und die drei Frauen begannen so laut loszugackern, dass sich das ganze Pub nach ihnen umdrehte.

„Wir fliegen hier noch raus“, meinte Lotty trocken.

„Nicht so lange wir hier die besten Kunden sind“, antwortete Emma, die dabei versuchte, ihre Atmung wieder in den Griff zu bekommen. „Ich glaube, ich darf nichts mehr trinken, sonst rede ich nur noch Unsinn.“

„Dabei fängt der Abend doch erst an.“

„Ja, Louise, aber ich habe morgen was vor und will nicht, dass ein Kater in der Größe eines sibirischen Tigers mich dabei stört.“

„Verstehe. Bei der nächsten Runde hole ich dir ein Mineralwasser“, bemerkte Lotty.

„Na ja, Bier hat ja nicht wirklich so viel Alkohol. Ich trinke halt etwas langsamer.“

Aus dem Vorhaben wurde dann aber nichts. Lotty und Louise hatten alle Mühe, ihre Freundin nach Hause zu bringen. Denn während die beiden erstgenannten beim Bier blieben, wechselte Emma irgendwann zum Whisky.

„Sie ist eben doch ein verdammter Jock“, sagte Lotty lachend zu Louise, als sie Emma in die U-Bahn schleppten.

Nach einem tiefen und erstaunlich ruhigen Schlaf wurde Lotty durch das Geschrei der Nachbarskinder im Garten geweckt. Ihr erster Blick galt dem Wecker, der 8:13 Uhr anzeigte. Also Zeit aufzustehen. Das Haus der Großmutter wartete darauf entrümpelt zu werden. Wenn sie Glück hatte, würde ihr Louise dabei helfen und vielleicht auch Sharon.

Lotty sprang aus dem Bett, ging ins Badezimmer und versuchte dort die Wassertemperatur der Dusche auf ein erträgliches Maß einzustellen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Entweder der Wasserstrahl war zu heiß oder zu kalt – wobei, von einem Strahl konnte nicht die Rede sein. Der Begriff Rinnsal war fast noch zu optimistisch. Sie beschloss augenblicklich für die Sanierung des großmütterlichen Hauses ein deutsches Sanitärunternehmen zu engagieren, denn wenn die Deutschen, bei aller Ambivalenz, die sie gegen die Landsleute ihres Großvaters empfand, eines konnten, dann war es die Installation funktionierender Wassermischbatterien.

Noch bevor sie ihr Frühstück, zwei Stück Toast und eine Tasse Tee, wie jeden Morgen, zu sich genommen hatte, suchte Lotty nach dem Tagebuch, um es sich genauer anzuschauen. Wenn es das Tagebuch ihres Großvaters war, dann ging es darin auch um ihre eigene Geschichte. Und nachdem der Großvater schon vor einiger Zeit, die Großmutter nun aber auch verstorben war, vermochte Lotty auch kein falsches Schamgefühl erkennen. Nur das Interesse über Dinge, die bislang nie ein Thema in der Familie Foster waren. Die offizielle Version war die gewesen:

Hans Förster war Kriegsgefangener, arbeitete bei einem Farmer bei Dartford in Kent. Ihm gefiel England und da seine Heimat in Ostpreußen in russische Hände gefallen war, blieb er nach dem Ende der Kriegsgefangenschaft, änderte kurzerhand seinen Namen von Förster in Forster. Dabei ging irgendwie das erste „r“ verloren und aus Johannes (Hans) Förster wurde John Foster. Schließlich erhielt er die britische Staatsbürgerschaft und dass er eigentlich Deutscher war, wusste letztlich kaum jemand. Und es interessierte auch niemanden. Erst später, ab den 1980er Jahren fand ihr Großvater zurück zu seinen deutschen Wurzeln. Er erzählte zwar nicht viel über die Vergangenheit, hatte Lotty und ihrem Bruder aber die deutsche Sprache beigebracht, da er, wohl auf Drängen der Großmutter, ausschließlich Deutsch mit seinen Enkeln sprach. Und so kam es, dass Lotty als junge Engländerin Deutsch mit einer sehr starken ostpreußischen Sprachfärbung sprach, was wiederum, für Deutsche jedenfalls, ziemlich kurios erschien.

Dass sie der deutschen Sprache mächtig war, es nicht nur sprechen sondern auch lesen und schreiben konnte, wurde jetzt, da sie das Tagebuch in Händen hielt, zum entscheidenden Faktor. Sie konnte lesen, was ihr Großvater vor mehr als 70 Jahren geschrieben hatte.

2. Kapitel - Getreide

Der Wind strich über das Getreidefeld und die Ähren tanzten in würdevollen Wogen unter dem tiefblauen Himmel, verbeugten sich und richteten sich wieder auf, gewaltiges Tosen, wie ein goldenes Meer. Das Feld lag in einer Senke und erstreckte sich weit nach Norden bis zu dem Kiefernwald, der sich in einem leichten Abhang dem Meer entgegenneigte. Inmitten des Getreidefeldes stand eine uralte Rotbuche, was insofern eine Besonderheit darstellte, als diese Baumart schon viel weiter südwestlich ihre Verbreitungsgrenze hatte. Nun lag es vielleicht an der Nähe zum Meer und einer besonderen Fürsorge, die die Menschen diesem einzelnen Baum in den vergangenen, wohl an die 20 Jahrzehnte, entgegenbrachten, dass er nicht nur überlebte, sondern sich zu einem stattlichen Exemplar entwickelt hatte und schließlich dem Gewann seinen Namen gab – Buchenacker!

Der Sommer hatte sehr heiß begonnen, aber das war auch nicht weiter erwähnenswert. Während sich der Winter lange Monate hinzog – manche Zugereisten meinten sogar, er dauerte neun Monate lang – verlief das Frühjahr kurz, nass und heftig und mündete dann in den Hochsommer, der Ende Juni begann und für gewöhnlich bis in den späten August anhielt, bevor sich ein golden-milder Herbst anschloss. Die Sonnenscheindauer im Sommer konnte durchaus mit südlichen Gefilden konkurrieren.

Natürlich ging es auch anders. Mit bis zu -40°C und mehr als 100 Tagen im Jahr, an denen das Thermometer unter die 0-Grad-Grenze fiel oder manchen Sommern, an denen sich die Schleusen des Himmels fast nicht mehr schlossen zeigten, dass es sich um ein Grenzland im wahrsten Sinne des Wortes handelte.

Jetzt war es Mitte Juli und das Getreide konnte schon bald geerntet werden. Hauptsächlich Roggen und Hafer, doch auf dem Buchenacker wuchs Weizen, der hier, im äußersten Nordosten des Landes eher selten angebaut wurde, zu gering waren die Erträge der gängigen Sorten, doch der so genannte „Blaue Englische Weizen“, ein Winterweizen, verträgt die eiskalten Monate ohne auszuwintern. Und dieses Getreide wuchs nun auf dem Buchenacker, allerdings unter einem anderen Namen, denn sonst wäre er schon seit einigen Jahren verboten gewesen.

Unten am Meer hatten sich einige Sommerfrischler eingefunden und genossen die kühlen Fluten der Ostsee. Allerdings war es kein Vergleich zu früheren Jahren, lediglich ein paar junge Frauen und Kinder stiegen ins Wasser oder lagen auf Badetüchern in der Sonne. Männer waren keine zu sehen. Lediglich ein schlaksig wirkender Junge mit blonden Haaren und dunkelbraunen Augen, an der Schwelle zum Erwachsenen saß in den Ästen einer Stieleiche und fixierte die Mädchen, die in rund 50 Meter Entfernung vor ihm im Sand lagen. So sah es auf den ersten Blick jedenfalls aus, doch Hans Förster hatte weder einen Blick für die Mädchen noch die Schönheiten der Landschaft. Er ließ sein junges Leben Revue passieren und zweifelte an seiner Zukunft und an der Zukunft des Reiches. Gerade war er mit einem Reifezeugnis aus dem Stadtgymnasium Altstadt-Kneiphof entlassen worden. Nur noch ein knappes Jahr wäre es gewesen bis zum Abitur, aber er musste die Pflicht erfüllen – die Pflicht für Führer, Volk und Vaterland.

Es musste schlecht stehen um das Reich, auch wenn die Wochenschau das Gegenteil behauptete und von den Erfolgen der Wehrmacht berichtete. Doch konnte man daran glauben? Dass die örtlichen Parteigrößen Zuversicht verbreiteten, dass der Krieg bald gewonnen sei, war pure Propaganda. So viel wusste Hans Förster, obwohl er seit seinem 8. Lebensjahr das nationalsozialistische Erziehungsprogramm mit Jungvolk und Hitlerjugend durchlaufen hatte. Doch er hatte Glück und stammte aus einer alten Königsberger Bürgerfamilie, die Hitler und seinen Gefolgsleuten immer skeptisch gegenüber standen. Auch jetzt, oder gerade jetzt, im Sommer 1943 sollte der Endsieg kurz bevor stehen. Doch wie sollte dies geschehen, wenn alle 18-jährigen mit Notabitur oder Reifevermerk aus den Schulen entlassen wurden, die 16-jährigen als Flakhelfer rekrutiert wurden und die Generation der 20-jährigen von der Front nicht mehr nach Hause kam? Hans Förster hatte mehr als Zweifel, doch er wusste, dass er diese niemals äußern durfte. Der Krieg ging wohl zu Ende, doch dieses würde anders verlaufen, als es sich die meisten vorstellten. Es gab keine Männer mehr. Es gab keine jungen Männer mehr. Überall in den Ämtern und Betrieben arbeiteten Frauen und alte Männer, die teilweise aus dem Ruhestand zurückgeholt wurden.

Vielleicht konnte der Krieg aber dennoch gewonnen werden. In Kürze begann seine Ausbildung zum Bordschützen, vermutlich beim Kampfgeschwader 100, dem Wiking-Geschwader der Luftwaffe, das irgendwo in Frankreich stationiert war. Und die waren mit Flugzeugen vom Typ Dornier Do 217 und Heinkel He 177, also Bombern, ausgestattet.