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Ein Unbekannter liegt tot im Holyrood Park, ein Wohnungseigentümer findet die Leiche eines Obdachlosen - Alltagsroutine für die Polizei in einer Großstadt. Doch für den Chef der schottischen Kriminalpolizei Bob Hamilton ist das Desinteresse der Kollegen und der Öffentlichkeit fast schon zu auffällig und so nimmt er die Ermittlungen selbst in die Hand. Doch bald eröffnen sich ihm Abgründe, die er am liebsten verdrängen würde. Und allmählich verwischen die Linien zwischen Gut und Böse, zwischen Freund und Feind.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2020
Ralf Göhrig
Verlorene Seelen
Ein Hamilton-Krimi
© 2020 Ralf Göhrig
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-04227-8
Hardcover:
978-3-347-04228-5
e-Book:
978-3-347-04229-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Über den Autor
Kapitel 1
Arthur’s Seat lag im warmen Licht der nachmittäglichen Frühjahrssonne, was dem Berg einen märchenhaften Glanz verlieh. Kräftiges Grün, das allmählich in Gelb- und Brauntöne überging, über dem 251 Meter hohen Gipfel das schattige Blau des Himmels, welches vom jüngst vergangenen Regenschauer Zeugnis ablegte. Für Einheimische ein gewohntes Bild, für Fremde, besonders Touristen, das Ziel aller Sehnsüchte, die mystische Natur inmitten der Stadt.
Niemand weiß, wie der Berg, der inzwischen komplett von den Vororten der schottischen Hauptstadt umschlossen ist, zu seinem Namen gekommen ist. Es gibt keine gälische Bezeichnung und die Vergangenheit des Basaltfelsens, genauer genommen des Lavadoms eines urtümlichen Vulkans aus dem Erdzeitalter des Karbons, ist weitgehend unbekannt, was dazu führt, dass die Sagen und Mythen darüber inzwischen fast zur Wahrheit geworden sind. Und etliche Menschen sind der Ansicht, dass hier tatsächlich das legendäre Camelot von König Arthur gestanden habe. Der Südwesten von England beansprucht allerdings ebenfalls, der Hüter der Tafelrunde zu sein, und so mögen sich die Freunde der Arthur-Sage darüber streiten, wo denn nun dieser seine mutmaßlichen Heldentaten begangen hatte. Tatsächlich belegt ist hingegen die menschliche Präsenz in prähistorischer Zeit.
Unbeeindruckt von erfundener oder wahrer Geschichte ist der eindrucksvolle Berg inmitten des Holyrood Parks ein beliebter Naherholungsort für die städtische Bevölkerung, die ihn auf zahlreichen Pfaden oder über die steilen Basaltklippen bezwingt, um dann die großartige Sicht über die Stadt bis ins Hinterland oder aufs Meer zu genießen. Die Menschen führen hier ihre Hunde Gassi, verbringen die Mittagspause auf einer Sitzbank oder einer der zahlreichen Grünflächen, Liebespärchen schlendern händchenhaltend oder eng umschlungen im Schatten der grünen Bäume und Selbstmörder stürzen sich von den Salisbury Crags.
Die Person, die unterhalb dieser Klippen mitten in einem Gebüsch unweit des breiten Wanderwegs lag, hatte keinen Selbstmord begangen. Dies war Brian Walker schnell klar geworden, denn der Tote wies ein hässliches, kreisrundes Loch in seiner Stirn auf, das mutmaßlich von einer Kugel stammen musste.
Die Leiche war vom Weg aus weder zu sehen noch zu riechen – für einen Menschen zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls noch nicht –, doch für Walkers Hund, einen achtjährigen Labrador, der auf den Namen Ike hörte, war dies ein Leichtes gewesen. Der Hund umkreiste seinen Herrn, wie er das bei allen Spaziergängen machte, und Walker dachte sich nichts dabei, als er in diesem Gebüsch verschwand. Normalerweise kehrte Ike auch recht bald von solchen Erkundungen zurück, doch dieses Mal war das nicht der Fall: Plötzlich bellte er laut und dauerhaft. Dieses so genannte „Totverbellen“ war bei Jagdhunden eine gewünschte und herausgezüchtete Eigenschaft, denn so konnten sie gefundenes und verendetes Wild bei einer Jagd dem Hundeführer anzeigen, der sich dann nur noch dem Hundegebell nähern musste. Dies tat an diesem 4. Mai, einem Montag, Brian Walker nun auch und war gespannt, warum der Hund denn so ausdauernd bellte. Walker war zwar kein Jäger, wusste aber um die Wesenszüge seines vierbeinigen Freundes und erwartete, der Jahreszeit entsprechend, eigentlich eher ein Rehkitz, das von seiner Mutter im Dickicht abgelegt worden war. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass es am Arthur’s Seat Rehe geben sollte, andererseits lebten Rehe genau in solchen kleinen Gehölzen, wie sie hier vorzufinden waren.
Dass es dann doch kein Reh war, das Ike gefunden hatte, überraschte den ehemaligen Postboten, der im ländlich geprägten Süden von Edinburgh vierzig Jahre lang Briefe und Pakete im Namen der Königin zugestellt hatte, und die gefundene Leiche übte einen größeren Reiz auf ihn aus, als er sich das hätte vorstellen können. Vielleicht war es auch nur der Schock, aber die Faszination, die von dem toten Mann ausging, überwog deutlich das Erschrecken über den gewaltsamen Tod eines Menschen. Zwar hatte Walker bereits Tote gesehen – die eigenen Großeltern, die eigenen Eltern, sonstige Verwandte, auch ein paar Verkehrsopfer und sogar schon einen toten Obdachlosen in einer belebten Einkaufsstraße. Doch dies war etwas anderes. Offenbar wurde dieser Mann ermordet. Ein Schauer der Faszination lief über Walkers Rücken und er beugte sich über den Leichnam, in der vagen Vorstellung, ihn zu kennen. Doch er wusste nicht, um wen es sich hierbei handelte. Ein Mann, mittelgroß, vielleicht Mitte 40, das volle Haar dunkel, mit grauen Strähnen durchzogen, blaue Augen, die seltsam teilnahmslos in den Höhlen ruhten, neue Trekking-Schuhe, blaue Jeans, dunkelgrüne Outdoor-Jacke, Ehering! Er machte einen gepflegten Eindruck auf Walker, wenn man so etwas von einem Toten behaupten kann. Wer mochte dieser Mann wohl sein und warum lag er jetzt hier tot vor ihm? Walker konnte seinen Impuls, den Mann zu durchsuchen, stoppen und zog stattdessen sein Mobiltelefon hervor, um die 999 zu wählen.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis die erste Polizeistreife am Fundort der Leiche eintraf. PC Ken Cox und seine Kollegin PC Marsha Hunt waren gerade auf Streife im Holyrood Park unterwegs, als der Notruf an sie weitergeleitet wurde. Während sich die Polizistin um die Absicherung des Tatortes kümmerte, nahm Cox die Personalien Walkers auf. Dieser redete seinem Hund gut zu, da er offenbar Uniformen nicht leiden konnte und die Polizeibeamten anknurrte. „Er mag keine Kopfbedeckungen“, sagte Walker entschuldigend. „Egal ob Hüte oder Motorradhelme, und den Schornsteinfeger kann er überhaupt nicht ausstehen“, ergänzte er, als ob diese Information den Polizisten interessiert hätte.
Kurze Zeit später waren weitere Polizisten eingetroffen und bald flatterte ein blauweißes Plastikband in einem weiten Bereich um die Fundstelle der Leiche. Der Wanderweg war mit dem Hinweisschild gesperrt, dass es sich um eine „Crime-Scene“ handelte.
Nach einer weiteren halben Stunde wimmelte es nur so von Polizisten und Walker wurde von Ken Cox zu einem Mannschaftswagen, einem schwarzen Mercedes-Bus, geführt und hineingebeten. Er stieg gespannt ein, Ike, der Labrador, folgte ihm neugierig.
„Nehmen Sie doch bitte Platz“, bat ihn eine rothaarige Frau mit feinen Gesichtszügen. „Ich bin Chief Inspector Hamilton von der CID der E-Division in Edinburgh und leite die Untersuchungen in diesem verdächtigen Todesfall.“
Walker nickte und Rebecca Hamilton konnte sich nur mit Mühe ein Grinsen verkneifen, denn eigentlich war sie als Leiterin der Abteilung für häusliche Gewalt nicht für Mordfälle zuständig. Da der zuständige Ermittlungsbeamte jedoch im Urlaub, sein Stellvertreter auf Fortbildung und ansonsten kein leitender Kriminalbeamter vor Ort war, riss sie diesen Fall, zumindest vorübergehend, an sich. Wenn es kompliziert wurde, tauchten ohnehin die Kollegen des Ermittlungsteams aus dem Hauptquartier auf. Dort thronte ihr Mann, Bob Hamilton, als Chef der schottischen Kriminalpolizei berühmt und berüchtigt, wobei das Eine wohl die Voraussetzung des Anderen war.
Neben Rebecca saß noch eine weitere Polizistin, Sergeant Emily Carter, ihre engste Mitarbeiterin, im Fahrzeug, schwieg jedoch und machte nur ab und an durch ein sanftes Nicken auf sich aufmerksam.
„Gehen Sie hier häufig mit ihrem Hund spazieren, Mr Walker?“
„Ja, Madam, fast jeden Tag. Nur wenn das Wetter zu ungemütlich ist, bleiben wir unten im Park. Am Morgen und Abend laufen wir nur mal eben um den Block – ich wohne mit meiner Frau Alice in der Nähe von Holyrood Palace –, aber am Nachmittag machen wir immer einen ausgiebigen Rundgang bis oben. Mehr an sportlicher Betätigung ist mir nicht geblieben. Früher habe ich mal Fußball gespielt, aber das wird Sie wohl nicht interessieren.“
Persönlich hatte Rebecca tatsächlich kein Interesse an Walkers Leben und sportlichen Aktivitäten, doch als Polizistin hatte sie gelernt, dass alles, was ein Zeuge oder Verdächtiger zu sagen hatte, von Bedeutung werden konnte.
„Ist Ihnen in jüngster Zeit bei Ihren Spaziergängen etwas aufgefallen?“
„Wie soll ich diese Frage verstehen?“
Rebecca strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Sind Ihnen Personen aufgefallen, die sich auffällig verhalten haben, oder gab es Vorfälle, die außergewöhnlich waren?“
Walker zuckte mit den Schultern. „Nicht dass ich sagen könnte. Hier gibt es so viele Menschen; Einheimische, Touristen, die Junkies unten in Stadtnähe. Da gibt es bisweilen schon seltsame Typen. Doch über so manches Verhalten, das vor dreißig oder vierzig Jahren noch die Polizei auf den Plan gerufen hätte, sieht man heute geflissentlich hinweg.“
„Ist Ihnen heute etwas Besonderes aufgefallen?“
„Nur der tote Mann. Mein Hund ist im Dickicht verschwunden und fand ihn.“
„Kennen Sie das Opfer?“
Fast schon entsetzt starrte Walker die Polizistin an. „Nein, den habe ich noch nie gesehen, Madam. Wieso fragen Sie?“
Rebecca ging nicht auf seine Gegenfrage ein. Sie versuchte abermals, ihre widerspenstige Haarsträhne zu bändigen, und fragte dann nach Walkers Personalien.
„Das habe ich doch schon alles dem Polizisten draußen erzählt“, meinte er gereizt.
„Ich möchte Sie trotzdem bitten“, sagte sie mit einem entwaffnenden Lächeln und schob ihm ihre Karte entgegen. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen und verabschiedete den Mann und seinen Hund.
„Warum hast du nicht energischer nachgehakt?“, fragte Emily Carter, nachdem Walker das Fahrzeug verlassen hatte.
Rebecca zupfte sich ihr Jackett zurecht und lehnte sich entspannt zurück. „Hast du nicht gespürt, wie der Mann plötzlich dicht gemacht hat?“
„Gerade deshalb hätte ich ihn in die Mangel genommen.“
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Die Wahrscheinlichste ist, dass Walker das Opfer nicht kennt, doch befürchtet, in die ganze Geschichte mit hineingezogen zu werden.“
„Das verstehe ich jetzt nicht ganz“, warf Emily ein.
„Stell dir vor, du wirst von der Polizei befragt und dann auch noch in einem Mordfall. Jeder Mensch ist nervös, wenn die Polizei Fragen stellt, ganz besonders, wenn es sich um ein schweres Verbrechen handelt. Ich habe schon so oft erlebt, dass ganz normale und unbeteiligte Zeugen plötzlich von der Angst überwältigt wurden, in das Verbrechen hineingezogen zu werden. Und bei Mr Walker war diese Stufe erreicht.“
„Und wenn er den Mann doch kennt? Vielleicht sogar der Täter ist?“ Emily sah ihre Vorgesetzte gespannt an.
„Dann erfahren wir das noch früh genug“, antwortete diese mit einem Lächeln. „Aber das glaube ich nicht.“
„Wissen wir denn schon, wer das Opfer ist?“
„Nein. Der Mann hatte keine Papiere bei sich und viel mehr konnten die Kollegen nicht sagen, da müssen wir abwarten. Wenn sich die Identität nicht bald herausstellt, werden wir ein Bild in den Medien veröffentlichen.“
„Ich hatte noch nie mit einem Mordfall zu tun“, sagte Emily nach einer Weile des Schweigens. „Also noch nie mit einem richtigen, aktuellen Mordfall. Das ist alles so unwirklich.“
Rebecca nickte. „Und das wird alles vermutlich noch viel schlimmer und unwirklicher, wenn etwas Licht in die Sache kommt und wir hinter die Kulissen schauen können. Das ist ganz anders als bei den theoretischen Fällen in der Polizeischule oder bei alten Fällen, die zu Ausbildungszwecken durchgekaut werden. Wir werden es mit richtigen Menschen zu tun haben, die in Abgründe schauen, die wir uns besser gar nicht vorstellen.“
Die Abteilung für häusliche Gewalt war schon schlimm genug, aber Todesfälle waren nicht an der Tagesordnung, wenn auch misshandelte Kinder, Ehefrauen, Ehemänner oder Großeltern das Seelenleben der Polizeibeamten bisweilen sehr in Unordnung brachten. Doch es bestand immer die Hoffnung, eine scheinbar aussichtslose Situation zum Guten zu wenden, die Not, das Leid, die Angst, die Traurigkeit zu lindern. Es flackerte meist ein Licht am Ende des Tunnels, zumindest bestand die Hoffnung auf eine Besserung der Situation.
Bei der Mordkommission war dieses Licht erloschen, die Hoffnung zu Staub zerborsten, das Grauen ausweglos. Wenn ein Kriminalbeamter mit Leichen, mit gewaltsam zu Tode gekommenen Menschen zu tun hatte, dauerte es oft nur kurze Zeit, bis er sich in zynischen Sarkasmus, exzessiven Alkoholkonsum, innere Emigration oder alles zusammen gleichzeitig flüchtete.
Rebecca Hamilton hatte schon viele Kollegen an der Last ihrer Aufgabe zerbrechen sehen. Als Polizistin mit abgeschlossenem Journalismus-Studium war sie lange Jahre als Pressesprecherin der Polizeibehörde von Devon und Cornwall tätig gewesen und hatte den ganzen Polizeibetrieb eher aus der Beobachterwarte aus gesehen. Ähnlich einer Nachrichtensprecherin im Fernsehen hatte sie gelernt, unbeteiligt zu bleiben, und da sie in die eigentlichen Ermittlungsarbeiten nicht involviert war, konnte Rebecca sich gut von den ganzen Verbrechen und Abgründen menschlichen Verhaltens abgrenzen. Doch sie musste beobachten, wie viele Ermittlungsbeamte im Laufe der Jahre von diesem Job zunehmend aufgerieben wurden. Zerbrochene Familien, Alkoholeskapaden, Nikotin und andere Drogen, Glücksspiel, Schulden und sonstige Scherbenhaufen des Lebens waren treue Begleiter vieler Polizisten und manche gerieten derart tief in den Sumpf, dass sie sich plötzlich auf der anderen Seite des Gesetzes wiederfanden.
Jeder Polizist musste einen Weg finden, einigermaßen unbeschadet die Jahre durchs Berufsleben zu überstehen. Lernen sich abzugrenzen. Doch dieses Vorhaben glich nur zu oft einem guten Vorsatz zu Jahresbeginn, der bald über Bord geworfen wurde. Die menschliche Natur war nun mal durch die Fähigkeit zur Empathie geprägt. Wer sie verloren hatte, war zwar immun gegen die Grausamkeiten des Polizeilebens, aber eben auch kein menschliches Wesen mehr.
Manchmal fragte sich Rebecca, wie ihr Mann mit diesen Grausamkeiten umging. Als Kripochef hatte er schon lange Zeit die tägliche Alltagsarbeit hinter sich gelassen, doch sie wusste, dass Bob als verdeckter Ermittler in Manchester Dinge erlebt hatte, die sie gar nicht wissen wollte. Außerdem hatte er Kontakte in die höchsten Kreise von Politik und Gesellschaft und offenbar auch Verbindungen in dubiose, kriminelle Milieus. Doch darüber würde er nie mit ihr sprechen. ‚Es ist sicherer für dich, wenn du manche Dinge nicht weißt und dir auch nicht den Kopf darüber zerbrichst’, hatte er einmal vor Jahren zu ihr gesagt, und sie hatte beschlossen, diesen Rat zu befolgen. Vermutlich war es nicht ganz so extrem wie in den Büchern von Ian Rankin, dessen Inspektor John Rebus mit dem Chef der Edinburgher Unterwelt im Pas de Deux durch die Geschichten geistert, doch irgendwie schien es so, als seien Gut und Böse nicht so leicht zu trennen, wie es in alten Hollywood-Western gezeigt wurde, in denen John Wayne kurzerhand die Bösen erschoss. Es war Rebecca, wie jedem vernünftigen Menschen, schon lange klar, dass die Welt nicht in Schwarz und Weiß, sondern allenfalls in diverse Grautöne einzuteilen war, doch je älter sie wurde, desto mehr verdichtete sich ihre Überzeugung, dass Gut und Böse bisweilen den gleichen Ursprung hatten.
„Was machen wir jetzt?“ Emily Carter riss sie aus ihren Gedanken.
„Akten studieren, Spuren auswerten, Zeugen befragen“, antwortete Rebecca lapidar, ohne ihre Kollegin anzusehen.
„Das heißt, wir fahren zurück ins Büro?“, fragte sie fast ungläubig.
Rebecca nickte. „Hier können wir nicht mehr viel tun. Die Kollegen von der Spurensicherung kümmern sich um den Tatort, die Pathologen um die Leiche. Und Sergeant Hillman befragt mit seinem Team die Passanten draußen auf den Wegen. Vielleicht hat jemand etwas gesehen. Wenn wir Glück haben, ergibt sich rasch ein Bild, vielleicht ist alles ganz einfach und die Puzzleteile lassen sich recht schnell zusammensetzen.“ Jetzt nahm sie Blickkontakt zu Emily auf. „Aber zunächst müssen diese Puzzleteile gesammelt werden. Doch ich befürchte, das wird eine harte Nuss.“
„Wieso meinst du?“
„Nur so ein Gefühl. Das Opfer hatte keine Ausweispapiere bei sich und auch keine Geldbörse. Das einzig Persönliche, das er trug, war ein Ehering. Der lässt sich aber nicht ohne weiteres lösen, und das ist vermutlich unsere wichtigste Spur.“
Emilys Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie nicht folgen konnte. „Kannst du mir das erklären?“
Rebecca lächelte. „Es ist noch zu früh, etwas zu sagen. Doch der Mann hat keine Papiere, die ihn identifizieren. Aber einen Ehering. Vermutlich hat der Täter versucht, den Ring zu entfernen, wurde aber gestört.“
„Wie kommst du darauf?“
„Was würdest du machen, wenn sich ein Ring nicht lösen lässt?“
„Seife“, schlug Emily vor.
„Und wenn du keine Seife hast und der Ringträger ohnehin tot ist?“
„Messer?“
Rebecca nickte. „Wer jemanden umbringt, hat gewiss nur wenig Hemmungen, einer Leiche den Finger abzutrennen. Das geht übrigens recht gut, wenn man den Finger am Gelenk löst.“
Emily verzog das Gesicht. „Du bist gruselig.“
„Das ist unser Beruf.“
Kapitel 2
Kayla Rosscraig konnte sich glücklich schätzen. Mehr als glücklich, denn sie fand eine Wohnung in Edinburgh. Damit hätte sie niemals gerechnet, nicht mit einer solchen Unterkunft in der Cumberland Street in der New Town, mitten in der Stadt, in bester Lage. Es waren zwar lediglich 45 Quadratmeter, die sich auf eine Wohnküche, ein kleines Schlafzimmer und ein Badezimmer unter dem Dach verteilten, doch für Kayla war dies die Erfüllung eines Traumes. Eine eigene Wohnung! Mehr noch, eine bezahlbare Wohnung, denn sie gehörte einem Freund ihres Vaters, der dafür keine Verwendung hatte, sie aber auch nicht an Fremde vermieten wollte. Und verkaufen kam auch nicht in Frage, eine Wohnung in Edinburgh kann man schließlich immer brauchen. Um die Sache perfekt zu machen, lag sie auch nur wenige Minuten von Kaylas Arbeitsplatz entfernt. Seit Beginn des Jahres war Kayla in der Verwaltung der Scottish National Portrait Gallery beschäftigt. Wohl nicht das, was man als definitiven Traumjob bezeichnen konnte, doch Kayla war kunstinteressiert, in der schottischen Historie bewandert und hatte eine gewisse Affinität zu trockener Büroarbeit. Außerdem lag das Museum in der Queen Street und damit nur wenige Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt. Sie konnte also bequem zu Fuß zur Arbeit gehen und musste nicht, wie früher, fast eine Stunde lang mit dem Auto fahren. Das sparte Zeit und vor allem Geld, denn als Erstes hatte sie sich ihres motorisierten Untersatzes, einem alten Vauxhall Astra, der zum Groschengrab mutiert war, entledigt. Hier in der Stadt konnten alle Wege mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigt werden. Und im Fall der Fälle stand immer noch die Option eines Mietwagens offen.
Kayla Rosscraig war 23 Jahre alt, eins sechzig groß und hatte lange, dunkle Haare und blaue Augen. Vielleicht konnte sie als etwas pummelig bezeichnet werden, in jedem Fall war sie in den Augen der vorherrschenden Meinung eine attraktive junge Frau mit einem freundlichen Lächeln, gutem Geschmack und ausreichender Bildung, um sich trittsicher auf dem Parkett der gehobenen Mittelklasse zu bewegen. Sie hatte keinerlei Ambitionen, die Welt zu verändern, gar zu verbessern, doch Kayla wollte ihr Leben so führen, dass sie auch am Ende des Tages ohne Reue zurückblicken konnte.
Sie stammte aus Kelso, dem malerischen Ort am Zusammenfluss von Tweed und Teviot, und wurde als drittes Kind eines Bankangestellten und einer Grundschullehrerin geboren. Ihre beiden älteren Brüder waren in die Fußstapfen des Vaters getreten. Während Peter, der Ältere, inzwischen in der Frankfurter Niederlassung der Royal Bank of Scotland beschäftigt war und sich anschickte, Karriere zu machen, war ihr Bruder Steve zu Hause geblieben und arbeitete als Finanzberater der TSB Bank in Kelso. Kayla fand nach ihrer Schulzeit einen Job in Alnwick bei der Familie Percy, deren Oberhaupt den Titel des Herzog von Northumberland trägt. In Alnwick Castle informierte sie Touristen über die Geschichte des Schlosses und der Region. Besonderer Stolz des Schlossherrn war einer von nur drei erhaltenen englischen Langbogen aus dem Jahr 1464. Trotz guter Arbeitsbedingungen und einer abwechslungsreichen Tätigkeit wurde Kayla bald bewusst, dass sie nicht ihr ganzes Leben lang Touristen durch das alte Gemäuer führen wollte. Außerdem war und fühlte sie sich durch und durch als Schottin und fühlte sich in England nicht so ganz wohl. Daher blieb sie auch in Kelso in der elterlichen Wohnung und legte die 70 Kilometer auf der A697 zwei Mal täglich mit ihrem Auto zurück. Und dann erhielt sie das Angebot der Stelle in Edinburgh.
Hier konnte sie ein neues Leben beginnen, zumindest einen neuen Lebensabschnitt. Die Jahre in Alnwick waren lehrreich und abwechslungsreich gewesen und die Kindheit endgültig beendet. Ihre Freundinnen aus Kelso waren in alle Winde zerstreut. Laura Nichol hatte diesen Neuseeländer geheiratet und war ihm in die Einöde der Südinsel gefolgt, Louise Tennant suchte ihr Glück in Nottingham, Katie Briggs war als Flugbegleiterin auf den Langstrecken von British Airways unterwegs, Amanda Cahill lebte als dreifache Mutter in Dublin und Emma Silverman hatte es nach Tel Aviv verschlagen. Lediglich Rosie Brennan war in der kleinen Stadt am Tweed geblieben. Und die hatte sich an ihren Bruder herangeworfen. Das würde sie Steve nie verzeihen. Er hätte sich mit jeder Frau auf der ganzen Welt einlassen können, doch nicht mit dieser blöden Kuh Rosie. Die war schon früher nur ein geduldetes Anhängsel gewesen, und jetzt hatte sie sich in ihre Familie geschlichen. Vermutlich würde sie sich alsbald schwängern lassen und dann war eine Hochzeit unvermeidlich. Leider war in vielen Gegenden Schottlands die Zeit stehen geblieben.
Insofern war Kayla glücklich, in Edinburgh zu leben, der großen kleinen Stadt zwischen Meer, Lowlands und Pentland Hills. Eine Stadt auf sieben Hügeln, die weltstädtisches Flair verbreitete, aber bald ländlich wurde, je näher man an die Stadtgrenzen heran rückte. Die unzähligen Touristen drängten sich auf einem relativ kleinen Gebiet zwischen Royal Mile und Princess Street, die Seitenstraßen, die Stadtbezirke und die Parks hatten die Einheimischen für sich.
Wobei die Schotten keineswegs fremdenfeindlich waren. Im Gegenteil, es lebten viele Nationen gut integriert in dem kleinen Land nördlich des Tweeds. Lediglich die Touristen waren eine Plage, besonders die Amerikaner, die heuschreckengleich einfielen und auf penetrante Weise versuchten, das Land ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Vorfahren kennen zu lernen. Leider nur auf die uramerikanische, oberflächliche Art und Weise, die sich in Kilt-, Dudelsack- und Whiskyorgien offenbarte. Einen wirklichen Draht zu den Menschen, den Bergen, Tälern und Seen, zur Seele des Landes fanden die Amerikaner nicht. Aber immerhin reisten diese Typen wieder ab. Viel schlimmer waren die reichen Araber, die ganze Landstriche aufkauften und die Heimat auf die gleiche schändliche Weise missbrauchten wie die englischen Gutsherren im 18. Jahrhundert.
Doch daran dachte Kayla im Augenblick nicht. Sie saß mit ihrer Arbeitskollegin, Chloe Blackburn, im Wally Dug, einem gemütlichen Pub in der New Town, und diskutierte über die bevorstehende Neubesetzung der Leitung der Abteilung, in der die beiden arbeiteten. Der alte Chef, ein aus der Zeit gefallener Vertreter der göttlichen Ordnung, der Frauen hinter dem Herd und Männer im Ledersessel ihres Herrenclubs – zu dem das weibliche Geschlecht freilich keinen Zugang hatte – sah, war vor zwei Monaten in den Ruhestand abgeschoben worden, nachdem er sich in der Vergangenheit schon mehrfach erfolgreich dagegen gewehrt hatte. Jetzt stand eine Neubesetzung an und die Gerüchte verdichteten sich, dass es niemand aus dem eigenen Hause würde, sondern ein neues Gesicht.
„Es kann ja nur besser werden“, befand Chloe, doch Kayla befürchtete, dass sich die alte Weisheit, dass selten etwas Besseres nachfolgen würde, bewahrheiten könnte.
„Sei nicht so pessimistisch“, riet Chloe. „Und außerdem haben wir mit dem Chef sowieso nicht so viel zu tun. Es ist doch egal, wer die Stelle bekommt. Wir müssen unsere Arbeit machen, so oder so.“
Kayla nickte. „Es hat was für sich, dass wir in einem anderen Stockwerk unsere Büros haben als die anderen. Und nachdem erst vor Kurzem alles renoviert wurde, denke ich nicht, dass es schon wieder Umbaumaßnahmen gibt. Dafür ist auch gottlob kein Geld vorhanden.“
Kapitel 3
Tulliallan Castle ist ein ehemaliges Herrenhaus in Kincardine im District Fife, das in den Jahren 1818 bis 1820 errichtet wurde. Im zweiten Weltkrieg diente es als Hauptquartier der Polnischen Streitkräfte im Westen, der polnischen Exilarmee, die mit rund 250.000 Soldaten einen nennenswerten Part der Anti-Hitler-Koalition darstellte und in der Luftschlacht um England im Jahr 1940 einen wesentlichen Anteil am alliierten Sieg hatte. Auch in der Schlacht um Caen und der Operation Market Garden waren polnische Kämpfer entscheidend involviert. Es ist bis heute ein giftiger Stachel im polnischen Fleisch, dass Polen, obwohl im Krieg gegen Hitler erfolgreich, letztlich als Kriegsverlierer dastand. Man hatte zwar Deutschland besiegt, wurde aber von Russland besetzt und blieb bis zum Fall des Eisernen Vorhangs russischer Vasall.
Nach dem Krieg wurde Tulliallan Castle renoviert und wird seit 1954 als Polizeischule genutzt. Nach der Umstrukturierung der schottischen Polizei und abermaliger Renovierung des Anwesens befindet sich seit 2013 das Hauptquartier der schottischen Polizei in einem Teil des Gebäudes.
In diesem Teil saß seit drei Jahren Robert Hamilton als Leiter der schottischen Kriminalpolizei. Zunächst als Assistant Chief Constable und seit Beginn des Jahres 2019, als die schottische Polizei eine abermalige Umstrukturierung über sich ergehen lassen musste, als Deputy Chief Constable war Hamilton einer der drei Stellvertreter des Polizeichefs. Unaufhaltsam war der sturköpfige Ermittler die Karriereleiter nach oben gestolpert, ohne dass dies seine eigentliche Absicht gewesen wäre. Viel lieber hätte er bis zu seiner Pensionierung als Inspector oder Chiefinspector ein Ermittlungsteam geleitet und in aller Ruhe Verbrecher gefangen. Doch der Ehrgeiz, der eine wesentliche Hilfe bei der Polizeiarbeit war, schlug auch im beruflichen Werdegang Hamiltons durch. Er hatte schon immer ein ambivalentes Verhältnis zu Autoritäten und der einzige Weg, Streit mit Vorgesetzten zu verhindern, war, selbst einer zu sein. Und je weiter oben in der Hierarchie, desto weniger Konfliktpotential mit übergeordneten Stellen. Leider hatte Hamilton völlig verdrängt, dass eine höhere Position zwar weniger Vorgesetzte, dafür aber mehr öffentliches Interesse bedeutete und eine gewaltige Verflechtung mit Politik und Gesellschaft damit einherging. Nur sein großer Erfolg in der Verbrechensbekämpfung machte seine unorthodoxen Methoden, die sich oft am Rande der Legalität und meistens im Gegensatz zur politischen Korrektheit bewegten, einigermaßen akzeptabel und verhinderte, dass er aufs Abstellgleis geschoben wurde. Außerdem hatte Hamilton ein Gespür dafür, wer ihm gefährlich werden konnte – in einer gehobenen Position gab es immer Feinde und Konkurrenten, die einen am liebsten abgesägt sähen –, und sorgte seinerseits dafür, dass diese rechtzeitig gestoppt wurden.
Hamilton stand am Fenster seines Büros, stopfte seine Pfeife und blickte auf den Wald, wie immer, wenn er über ein Problem nachgrübelte. Sein aktuelles Problem lag darin, dass er sich komplett von der Polizeiarbeit abgehängt sah. Schon als Superintendent hatte er Mühe, seinen Spürsinn in die Ermittlungsarbeit einzubringen, doch nun fühlte er sich vollkommen als Knecht von Excel-Tabellen und dem Innenministerium. Allein das ganz respektable Gehalt war eine gewisse Entschädigung. Darüber hinaus hatte er sich mit Personalfragen herumzuschlagen. Seine beste Kriminalbeamtin hatte dem Sonderermittlungsteam den Rücken zugewandt und die Leitung der E-Division, also der Polizei von Edinburgh, übernommen. So trat Chief Superintendent Rachel Ward nicht, wie von ihm vorgesehen, seine Nachfolge an, sondern wurde Chefin der Polizeibehörde der Hauptstadt – und somit auch die direkte Vorgesetzte seiner Frau. Darin sah er kein Problem, vor allem, weil sich die beiden Frauen sehr gut verstanden. Und aus Rachels Sicht war es sicherlich eine kluge Entscheidung, denn sie hatte vermutlich anderes geplant, als ewig im Windschatten des großen Bob Hamilton zu verharren. Rachel war ambitioniert und selbstbewusst und ihr Ziel war es, in nicht allzu ferner Zukunft als Chief Constable eine der 48 britischen Polizeibehörden zu leiten. Eine solche Karriere sah Hamilton schon lange für Rachel vorgezeichnet, dennoch war es für ihn auch eine Enttäuschung, denn er fühlte sich seiner fähigsten Ermittlerin beraubt. Er selbst hatte Rachel vor vielen Jahren als junge Polizistin zur Kriminalpolizei in Devon und Cornwall geholt, sie gefördert und gefordert, bis sie zu einem der jüngsten Superintendenten der britischen Polizei überhaupt ernannt wurde. Sie folgte ihm nach Schottland, wo sie ihre erfolgreiche Karriere bei der Kripo fortsetzte. Doch jetzt fühlte er sich betrogen, obwohl es ihm keineswegs zustand, sich auch nur in geringster Weise betrogen zu fühlen. Rachel hatte sich entschieden, einen freien Posten anzunehmen, und sie war sicherlich die geeignetste Kandidatin für dieses Amt.
Doch wer sollte neuer Chefsonderermittler der schottischen Polizei werden? Der Mann oder die Frau für die besonderen Herausforderungen? Hamilton hatte, mit großem Erfolg, ein Ermittlungsteam am Hauptquartier installiert, das die ganz heiklen und brisanten Fälle übernahm und kleinere Polizeieinheiten in ländlichen Gebieten unterstützte. Inspector Ray Williams, ihr bisheriger Stellvertreter, war mit Rachel in den Stand der Ehe getreten und mit ihr zur E-Division gewechselt. Die Kollegen, die den Posten hätten übernehmen können, konnte Hamilton nicht leiden und diejenigen, die er mochte, waren noch nicht erfahren genug. Er hatte im Laufe seiner langen Karriere unzählige Polizisten kennen gelernt, doch jetzt schien ihm die Liste der potenziellen Nachfolger für Rachel ziemlich kurz. Denn viele fähige Kollegen in seinem Alter sahen den nahenden Ruhestand am Horizont aufziehen und gingen diesem lieber gemächlich entgegen, als noch einmal an einem neuen Ort durchzustarten. Hinzu kam, dass Polizisten, die ihn nicht persönlich kannten, nur ungern in seiner Nähe arbeiteten. Hamilton war nun mal berühmt und auch berüchtigt.
Eigentlich saß die Kriminalpolizei in Gartcosh, einem kleinen Kaff in North Lanarkshire, nur wenige Meilen östlich von Glasgow. Hier war am Ortsrand vor ein paar Jahren der Scottish Crime Campus aus dem Boden gestampft worden: ein weißer Gebäudekomplex inmitten der kargen Heidelandschaft mit vorgelagertem Parkplatz, der wie eine Weltraumstation auf einem unbewohnten Planeten wirkte. Bei geplanten Kosten von 65 Millionen £ waren bald 82 Millionen £ erreicht, doch die tatsächlichen Kosten lagen noch weit darüber. Ein Vorzeigeprojekt mit hervorragenden Ermittlern, einer forensischen Abteilung und allem modernen Schnick-Schnack ausgerüstet – eigentlich genau das, was Hamilton sich als schlagkräftige und zeitgemäße Polizeibehörde wünschte. Hier saßen die Spezialisten, die bei schweren und kniffligen Fällen die Beamten der jeweiligen CIDs unterstützten. Dennoch hatte Hamilton einen eigenen Ermittlungstrupp im Polizeihauptquartier installiert, aus wenigen guten und motivierten Detectives bestehend, den er, vorbei an Gartcosh, immer dort einsetzte, wo er fand, dass er selbst seine Finger im Spiel haben musste. Normalerweise wäre ein solches Konstrukt kaum möglich gewesen, doch sein Rang und seine Sturheit ermöglichten es Hamilton, die Kriminalpolizei so zu gestalten, wie er es für sinnvoll erachtete – und der Erfolg gab ihm Recht. Und was andere über ihn dachten, war ihm vollkommen wurscht. Bei manchen Delikten, vor allem, wenn Politik und Gesellschaft tangiert waren, konnte Hamilton direkt auf die Ermittlungsergebnisse zugreifen und musste nicht befürchten, dass er lediglich gefilterte Ergebnisse präsentiert bekam. Auf sein Team in Tulliallan Castle konnte er sich verlassen.
Es klopfte an Hamiltons Tür und Jessica Barlow betrat den Raum. Die aufgeweckte junge Frau war bis vor Kurzem ebenfalls Mitglied seines Ermittlungsteams gewesen, doch Hamilton fand, sie war in seinem Vorzimmer noch besser aufgehoben. Er schätze die kluge Polizistin, die sich nicht so schnell einschüchtern ließ und verstand, wie er tickte. Irgendwie hatte Jessica etwas von Rachel, nur dass sie als Schottin bodenständiger wirkte als die ziemlich distinguierte Südengländerin.
„Sir“, sagte Jessica und versuchte, ihren Chef hinter dem dichten Tabakrauch zu erkennen. „Wir haben eine neue Bewerbung.“
„Und? Welcher Durchlauferhitzer aus Glasgow wagt sich in die Höhle des Löwen?“
„Die Bewerbung stammt aus dem Südwesten, und ich denke, das könnte interessant sein.“
‚Würde Debbie ihren Hut in den Ring werfen?‘, schoss es Hamilton durch den Kopf. Doch wohl eher nicht. Sie hatte sich in Exeter eingerichtet. „Nun machen Sie es nicht so spannend, Jess. Wer hat sich beworben?“
„DCI Heather Greenslade.“
Hamilton ließ fast die Pfeife aus der Hand fallen: Heather! Der Paradiesvogel, das Chamäleon, die perfekte verdeckte Ermittlerin, die weder Angst kannte, noch einer Gefahr aus dem Weg ging. Seine Geheimwaffe aus den Tagen in Manchester, die er später nach Devon geholt hatte. Eine Polizistin mit unglaublichem kriminalistischem Gespür, aber leider auch mit Defiziten beim Auftritt im öffentlichen Raum. Heather hatte bei Weitem nicht Rachels Klasse und deren unglaubliche Ausstrahlung. Es war etwas ganz anderes, der Star in der Provinz zu sein, als im Blitzlichtgewitter der Hauptstadtmedien und im Fokus der Politik zu stehen. Nun gut, Heather war nicht mehr die 20-jährige Göre, die Hamilton vor zwei Jahrzehnten bei einer Schulung von Nachwuchskräften kennen gelernt hatte. Die Fähigkeit zu führen hatte sie inzwischen bewiesen, sonst wäre sie wohl kaum Chief Inspector geworden. Aber mit ihr ginge Hamilton ein ziemliches Wagnis ein. Diese Frau wäre sicherlich die ultimative Provokation für das Establishment. Und das wiederum gefiel dem eigenbrötlerischen Kripochef. Ein unkonventioneller Mann wäre bei entsprechender Eignung eine gute Wahl, nur bei Frauen, die nicht der allgemeinen Vorstellung entsprachen, tat man sich auch im 21. Jahrhundert noch sehr schwer. Zeit, dies zu ändern!
„Sir?!“
„Hört sich interessant an. DCI Greenslade ist tatsächlich jemand, der für diese Stelle in Frage kommt.“
„Sehe ich auch so. Ich habe mich natürlich mal kundig gemacht, ob es sich lohnt, Ihnen die Bewerbung zu zeigen. Hat eine spannende Biografie, die Frau.“
„Das hat sie, in der Tat. Aber ich weiß nicht, ob unsere Bedenkenträger mit ihr glücklich werden.“
Jessica grinste. „Dann ist das ja schon fast eine Zusage.“
„Na ja, ich möchte schon gerne, dass sie sich mal persönlich sehen lässt und mir begründet, warum sie aus dem warmen England ins nasskalte Schottland ziehen möchte.“
„Die Frauen fliegen eben auf Sie, Sir“, stellte Jessica lächelnd fest.
„Dünnes Eis, Jess. Sie wissen doch, dass wir uns geschlechterneutral verhalten müssen und sexuelle Übergriffe, auch die geringsten, nicht geduldet werden.“
„Ja, aber nur, wenn sie von Männern ausgehen.“
Hamilton drückte den Tabak fest und sog genüsslich am Mundstück seiner Pfeife. „Dann schieben Sie mal die Bewerbungsunterlagen rüber.“
Er setzte sich an seinen Schreibtisch, unter dem der alte Weimaraner Duke, immerhin bereits 13 Jahre alt, den Schlaf der Gerechten schlief.
„Was gibt es sonst noch Böses unter der Sonne?“
„Ist das eine neue Marotte, Sir?“
„Hm?“
„Filmtitel oder Buchtitel in Ihren Fragen und Stellungnahmen zu verwursten.“
„Eigentlich nicht, aber das wäre mal eine nette Idee.“ Er stellte die Pfeife in den dafür vorgesehenen Halter. „Gibt es etwas, das ich wissen müsste, oder kann ich mich wieder meinem Zahlenfriedhof widmen?“
„Heute ist es überaus friedlich. Wir haben nur einen verdächtigen Todesfall in Edinburgh.“
„Na dann. Da wird Rachel bald feststellen, wie es ist, hinter dem Schreibtisch zu sitzen, während vor ihrer Nase ein Mord aufgeklärt wird.“ Hamilton grinste schadenfroh. „Und wer bearbeitet den Fall?“
„DCI Hamilton.“
Ungläubig starrte Hamilton seine Mitarbeiterin an. „Seit wann ist Mrs Hamilton denn bei der Mordkommission?“
„Personalengpass.“
„Und was ist dort genau passiert?“ Das kriminalistische Interesse erwachte in ihm und er war schon jetzt gespannt, mit seiner Frau am Abend über den Fall zu diskutieren. „Und die Bewerbungsakten von Heather, bitte.“
Kapitel 4
Es hatte zu regnen begonnen und die Straßen der schottischen Hauptstadt fingen an, in einem sonderbar bronzenen Glanz zu leuchten. Von irgendwo sandte die Sonne ihre Strahlen durch plötzlich entstandene Wolkenlücken und der Wind brachte eine salzige Prise von der nahen Nordsee herbei. Wer die Muße besaß, konnte hier den ganzen Tag lang das Wetter beobachten, ohne dass es ihm langweilig wurde. Einmal mehr bestätigte sich die alte Weisheit, dass wer in Großbritannien das Wetter nicht mochte, nur ein paar Minuten warten musste.
Rebecca Hamilton und Emily Carter saßen derweil in ihrem trockenen Büro im Hauptquartier der Polizei von Edinburgh in der St. Leonard’s Street, kaum 500 Meter vom Tatort entfernt. Von der St. Leonard’s Lane aus, die rechtwinklig von der St. Leonard’s Street abzweigte, hatte man einen direkten Blick auf Arthur’s Seat, jedenfalls auf einen schmalen Ausschnitt, der zwischen den beiden Häuserblöcken lag. Am östlichen Ende der Lane verjüngte sich die Straße zu einem Pfad und mündete direkt in den Holyrood Park. Die beiden Frauen teilten sich ein etwa 20 Quadratmeter großes Büro, in dessen Mitte drei Schreibtische standen. Rebecca und Emily saßen sich gegenüber, der dritte Schreibtisch, der an die Seiten der anderen Tische gerückt war, war ein Relikt aus früheren Tagen und diente lediglich als Ablage und manchmal als Sitzfläche für Kollegen, denn einen Stuhl gab es nicht dafür.
„Es ist schon krass, dass in Sichtweite unserer Polizeistation ein Mord passiert“, befand Emily und rieb sich die Oberarme, als ob es ihr kalt sei.
„Die Nähe zur Polizei hat den Mörder nicht abgehalten“, gab Rebecca zur Antwort, wusste aber selbst nicht genau, was sie mit dieser Aussage bezwecken wollte, und blickte auf den Bildschirm ihres Computers.
„Haben wir schon was?“
„Toter Mann, ca. 45 Jahre alt, aber das wussten wir ja schon. Die Etiketten aus den Kleidern waren herausgeschnitten.“
„Wieso denn das?“ Emily zog die Stirn in Falten.
„Um die Identität des Toten zu verschleiern, würde ich mal sagen.“ Rebecca rieb sich den Nasenrücken. „Unser Opfer wurde nicht am Fundort ermordet. Zu wenig Blut und außerdem ist er schon seit mehr als 24 Stunden tot.“
„Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Wenn ich jemanden ermorde und seine Identität verschleiern will, dann bringe ich ihn doch nicht um und schleife die Leiche anschließend den Berg hinauf. Ich würde den Leichnam unauffällig entsorgen – Mülldeponie, Firth of Forth, Baugrube oder so was.“
„Vielleicht wollte unser Mörder ein Statement abgeben.“
„Wie soll ich das verstehen?“
Rebecca wandte sich vom Bildschirm ab und sah daran vorbei zu ihrer Kollegin hinüber. „Vielleicht ist es eine Nachricht an Leute, die das Opfer kannten.“
„Das ist mir zu konstruiert“, befand Emily.
„Der Ehering hat sein Geheimnis preisgegeben“, fuhr die Ältere fort. „Maria und ein Datum, der 15. Juli 2006.“
„Das hilft uns ja wahnsinnig.“
„Wenn wir Glück haben, vermisst eine Maria, die am 15. Juli 2006 geheiratet hat, ihren Mann. Aber ich befürchte, die wird sich nicht melden.“
„Du meinst, die soll eingeschüchtert werden?“
„Ja. Zunächst dachte ich, dass keine Zeit geblieben war, den Ring zu entfernen. Aber wenn das Opfer bereits am Vortag ermordet wurde, wäre genügend Zeit gewesen, dies zu tun.“
„Ich denke, uns bleibt nur, die Spuren auszuwerten und zu hoffen, dass sich eine Maria meldet oder sonst jemand, der den Mann kannte.“
„Und ich befürchte, dass sich dieser Fall als harte Nuss entpuppen könnte, dass er sich vielleicht sogar in die lange Reihe ungelöster Fälle einreiht.“
„Warum so pessimistisch?“ Emily strich sich durch ihre Locken.
„Das sieht mir sehr nach organisierter Kriminalität aus. Und unser Mann war vermutlich Osteuropäer, zumindest nach den Ergebnissen der Zahnuntersuchungen.“
„Verstehe.“
Rebecca biss sich auf die Oberlippe. „Wir müssen ein Bild des Toten veröffentlichen. Irgendwer muss ihn ja kennen oder zumindest gesehen haben – irgendwann, irgendwo.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hasse solche Sachen. Wir hatten in Cornwall mal einen Fall, da wurden drei aufgespießte Köpfe gefunden. Es hat ewig gedauert, bis wir wussten, wer die Opfer waren, und nur ein großer Zufall sowie die Hartnäckigkeit einer gewissen Rachel Ward sorgten dafür, dass die Sache aufgeklärt wurde.“
„Madam Ward wäre ja jetzt hier an Bord.“
Rebecca zog einen Mundwinkel nach oben. „Ja, aber jetzt ist sie Chefin und damals war sie eine junge Streifenpolizistin, die noch was werden wollte.“
„Meinst du, sie hat ihren Biss verloren?“
„Nein, aber die Aufklärung von Mordfällen ist nicht mehr ihr Metier. Sonst hätte sie ja im Hauptquartier bleiben können.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und außerdem hilft es uns im Moment wenig, über die Leiterin der E-Division zu diskutieren. Wir haben eine unbekannte Leiche, die mehr oder weniger aufwändig so beseitigt wurde, dass sie gefunden wird. Und diese Etiketten sind vermutlich auch nicht so wichtig, wie sie erscheinen sollen. Auf jeden Fall hilft uns die Erkenntnis, dass sie fehlen, nicht wirklich weiter. Sorg’ mal dafür, dass ein Bild des Toten auf allen Kanälen veröffentlicht wird.“
„Ja, Ma’am.“
Emily verschwand aus dem Raum, um das Pressebüro ein Stockwerk tiefer aufzusuchen. Derweil nahm Rebecca den Telefonhörer in die Hand und wählte eine Nummer. Nach wenigen Klingeltönen ertönte eine ihr wohlbekannte Stimme.
„Hi Bob. Ich glaube, ich brauche deine Hilfe.“
„Ich habe schon erfahren, dass du an einem Mordfall dran bist. Was ist passiert?“
Sie schilderte ihm in kurzen Worten, was sie bislang wusste.
„Hast du schon einmal damit zu tun gehabt, dass Etiketten aus Kleidern herausgeschnitten waren? Ist das ein Statement oder zu was kann das dienen?“
„Um ehrlich zu sein, ich hatte schon mit vielen seltsamen Dingen zu tun. Früher, also bis in die 1980er, war das oft der Fall, um tatsächlich die Identität der Opfer zu verschleiern. Doch heute ist so etwas sinnlos.“
„Wie muss ich das verstehen?“
„Wenn seinerzeit beispielsweise ein Auftragsmörder aus Italien ins schöne Glasgow kam, um jemanden ins Jenseits zu befördern, dieser jemand ihm allerdings zuvorkam, dann wurden die Papiere des gescheiterten Auftragsmörders vernichtet und die Etiketten aus den Kleidern herausgeschnitten. Und so war es sehr schwer zu ermitteln, wer der gute Mann war und wo er herkam.“
„Verstehe ich immer noch nicht.“
Hamilton lachte. „Sei nicht immer so ungeduldig. Anhand der Etiketten hätte man sehen können, dass der Mann aus Italien gekommen war oder seine Kleider zumindest in Italien gekauft hatte. Oder aus Griechenland oder vielleicht sogar irgendwo aus dem Ostblock. Doch heute leben wir in einer globalisierten Welt. Ich kann in Moskau die gleichen Klamotten kaufen wie in Mailand, Budapest, Berlin oder Edinburgh. Und hergestellt wird der ganze Plunder irgendwo in Fernost. Außerdem könnte man heute anhand der Fasern nachvollziehen, wo die Kleidung produziert wurde.“
„Aha. Und wieso schneidet dann jemand die Etiketten aus Hemd und Hose?“
„Aus alter Gewohnheit vielleicht. Oder einfach, weil der Täter sich einen Gag erlauben wollte.“
„Der Sache sollte man also keine allzu große Beachtung schenken?“
„Das würde ich jetzt nicht sagen.“
„Du bist für mich nach all den Jahren, die wir verheiratet sind, noch immer ein Rätsel. Was denn nun?“
„Ein Mann sollte immer ein Rätsel für seine Frau sein, das hält ihn für sie interessant.“
„Blödmann.“
„Danke.“
„Und was wolltest du jetzt sagen, lieber Bob?“
Er räusperte sich. „Zur Identifikation des Toten ist das Geschnippel unerheblich. Aber es könnte noch interessant werden, um den Täter zu überführen. Vielleicht gab es schon einmal einen ähnlichen Fall. Oder für den Täter ist es eine Art Fetisch. Vielleicht findet ihr irgendwo die Etiketten und könnt damit den Mörder überführen. Nicht sehr wahrscheinlich, aber einfach mal im Hinterkopf behalten.“
„Vielen Dank für den Tipp, großer Meister. Und was gibt es sonst Neues?“
Wieder ein Räuspern, eine kurze Pause. „Du wirst es nicht glauben. Wir haben eine Bewerbung für das Ermittlungsteam.“
„Und wer ist es? Prince Harry, Nigel Farage oder gar David Beckham?“
„Nein und wenn schon ein Fußballer, dann vielleicht Allan McGregor, aber doch keinen Engländer.“
„Wer ist Allan McGregor?“, fragte Rebecca scheinheilig, die genau wusste, dass es sich dabei um den schottischen Nationaltorwart, der bei den Rangers unter Vertrag stand, handelte. Doch Hamilton ignorierte diese Frage.
„Heather hat sich beworben, Heather Greenslade.“
„Na dann hast du ja bald deinen ganzen Fanclub wieder beisammen.“
„Ich habe ja nicht gesagt, dass ich sie auch einstelle“, antwortete er und klang dabei etwas beleidigt.
„Nun, so gut kenne ich dich schon, dass ich weiß, du hättest diese Frage, wer sich beworben hat, nicht gestellt, wenn du dir nicht bereits sicher wärst, sie an die Spitze des Ermittlungsteams zu stellen. Die Bewerberlage war ja bisher recht überschaubar und nicht nach deinem Gusto, wenn ich das richtig beurteile. Heather wäre zumindest fachlich eine gute Wahl. So lange du nichts mit dem Flittchen anfängst.“
Hamilton lachte erneut. „Du weißt doch, dass sie nicht mein Typ ist. Ich stehe mehr auf Rothaarige.“