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Nach langen Jahren in verschiedenen englischen Polizeibehörden, ist Bob Hamilton wieder in seiner Heimat angekommen. Als Leiter der schottischen Kriminalpolizei hat er kaum sein Büro im Polizeihauptquartier im neogotischen Tulliallan Castle bezogen, da wird eine bekannte Fernsehmoderatorin ermordet. Im Zeichen des Brexit und der schottischen Unabhängigkeitsbewegung führen die Spuren schnell in höchste Regierungskreise. Hamilton sieht sich gezwungen im Kreuzfeuer medialer Öffentlichkeit und Politik die Ermittlungen an sich zu ziehen.
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Seitenzahl: 356
Veröffentlichungsjahr: 2018
Ralf Göhrig
Ein Hamilton-Krimi
© 2018 Ralf Göhrig
Umschlag: Carla Gromann
Lektorat, Korrektorat: Stefan Stern Satz: wortdienstleister.de
Verlag & Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7469-0702-4
Hardcover
978-3-7469-0703-1
e-Book
978-3-7469-0704-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Die Royal Mile erstreckt sich von der Burg bis hin zum Holyrood Palace und ist tatsächlich ziemlich genau eine schottische Meile lang. Allerdings ist es nicht nur eine Straße, sondern eine Abfolge von genaugenommen sechs Straßen, nämlich Castle Esplanade, Castlehill, Lawnmarket, High Street, Canongate und Abbey Strand. Mit all ihren Museen, Sehenswürdigkeiten, Geschäften, Pubs und Cafés gehört sie zu den größten Touristenattraktionen der schottischen Hauptstadt, deren Bedeutung allenfalls von der Princes Street streitig gemacht wird. Mehr Flair hat jedoch zweifelsohne die Royal Mile, deren Ursprünge bis ins Mittelalter zurückreichen. Mit all ihren langen und schmalen Seitengassen, kaum so breit, dass zwei Personen nebeneinander gehen können, kann man sich gut vorstellen, dass hier die Geschichte von Dr. Jeckyll und Mr Hyde entstand und wer besonders mutig ist, kann sich, nach Einbruch der Dunkelheit, einer Gruselund Geistertour durch die Altstadt anschließen.
Keine Lust auf eine solche Gruseltour hatten der 23-jährige Medizinstudent James Ramsay und seine brandneue Flamme, die 21-jährige angehende Kiltmacherin Siobhan Jordon, die sich bei Greyfriars Bobby, der lebensgroßen Statue des berühmten Skye Terriers, der 14 Jahre – bis zu seinem eigenen Tod – am Grab seines Herrn verbrachte und dadurch zur nationalen Berühmtheit wurde, verabredet hatten. Die beiden hatten sich erst vor wenigen Wochen im Fußballstadion, beim Spiel der Hearts gegen Kilmarnock, kennengelernt, als sie nebeneinander auf der Tribüne saßen. James hatte eine Dauerkarte für das Tynecastle Stadium und gewöhnlich saß ein älterer Herr neben ihm. Jener befand sich allerdings zu dieser Zeit auf einer Auslandsreise und Siobhan, seine Nachbarin, kümmerte sich derweil um die Katze sowie die Post des alleinstehenden Mannes und konnte dafür die Eintrittskarte nutzen. Bei James war Amors Pfeil schnell erfolgreich und er beobachtete mehr seine blonde Sitznachbarin mit den frechen Sommersprossen auf der Nase, als das Spiel selbst, das zu allem Überfluss auch noch mit 1:2 verloren ging. Und auch Siobhan schien ganz angetan zu sein, auch wenn sie ihren Sitznachbarn weniger offensichtlich begutachtete. Offenbar hatten sich die beiden während des Spiels ganz gut unterhalten, denn nach Abpfiff gingen sie noch in einen der zahlreichen Pubs in Stadionnähe und tauschten allerlei persönliche Positionen aus, wie das bei Menschen, die ineinander verliebt, sich dessen aber noch gar nicht so richtig gewahr sind, üblich ist. In den darauffolgenden Tagen hatten sie sich regelmäßig getroffen und mehr und mehr aneinander Gefallen gefunden und festgestellt, dass sie auch über den Fußball hinaus gemeinsame Interessen, wie Bergwandern, Fischen sowie Kunst- und Kulturgeschichte teilten. Unglücklicherweise fuhr Siobhan für fast einen Monat nach Südafrika, um ihre dort lebende Schwester zu besuchen – eine Zeit, die James wie Jahre vorkam – trotz der ständigen Wasserstandsmeldungen via WhatsApp. Zum Glück war sie wohlbehalten nach Schottland zurückgekehrt und für den heutigen Tag hatte sich James einiges vorgenommen. Er wollte den Status des Händchenhaltens und Knutschens überwinden und endlich zur Sache kommen, ohne jedoch zu plump vorzugehen. Er spürte, dass auch Siobhan mehr wollte und ihre zunehmend frivolen Kurznachrichten waren ein eindeutiges Zeichen. Doch zunächst trafen sich die beiden bei der bronzenen Statue des kleinen, treuen Hundes, an dem er schon so oft vorbeigefahren war, ohne sie jedoch bewusst zu realisieren. Für Siobhan, die ohne Übertreibung als Hundenärrin bezeichnet werden konnte, war das Denkmal an der Abfahrt in die steile Candlemaker Row nur zu bekannt.
»Als ich klein war, mussten meine Eltern an jedem Sonntag mit mir hierher kommen«, stellte sie lächelnd fest, als der um wenige Minuten verspätete James Ramsay am Treffpunkt ankam.
»Entschuldige die Verspätung«, antwortete er verlegen, die Hände in den Hosentaschen versteckt, »es ist ewig kein Bus gekommen. Ich hoffe, du hast meine Nachricht erhalten.«
Siobhan lächelte, trat auf ihn zu und küsste ihn, länger und inniger als jemals zuvor, so dass ihm ganz schwindelig wurde.
»Wollen wir in Bobby’s Bar gehen?«, fragte sie, nachdem sie sich endlich wieder voneinander gelöst hatten. »Ich habe Hunger und Durst.«
Die Greyfriars Bobby’s Bar war bekannt für ihre hervorragenden Steaks. Der Genuss wurde allenfalls durch die Touristenscharen gemindert, die bisweilen in den dem Denkmal gegenüberliegenden Pub einfielen. Doch heute schien das Bobby’s von dieser Plage verschont zu sein. James und Siobhan fanden einen ruhigen Tisch in einer Nische und während James zwei Pints holte, studierte das Mädchen die Karte.
»Weißt du, dass Bobby auch auf dem Friedhof beerdigt ist?«, fragte Siobhan nachdem sie ihr Steak mit Pilzen und Kartoffeln schon fast vertilgt hatte.
James blickte sie mit großen Augen an. »Ist das dein Ernst?«
Sie nickte. »Gleich am Eingang zum Friedhof. Wenn wir Glück haben, ist das kleine Lädchen geöffnet. Dort gibt es Bobby-Bücher, Bobby-Postkarten und sogar sein Original-Halsband … Ach nein, das ist im Museum, ich glaube unten in der Royal Mile.«
»Du bist wirklich ein echter Bobby-Fan. Wir können gerne in den Friedhof gehen.«
Dieser lag hinter dem Pub, unterhalb der Greyfriars Kirk, und beherbergte neben dem Hund eine ganze Reihe berühmter Schotten.
Nach dem Essen und einem weiteren Pint machten sich die beiden auf, die Grabstelle des Hundes aufzusuchen und James war mehr als erstaunt, als er die vielen frischen Blumen am Grabstein erblickte. »Das gibt es doch nicht«, rief er ganz erstaunt aus.
»Von mir sind die Blumen nicht«, antwortete Siobhan grinsend. Auch der Bobby-Laden war geöffnet und James war noch mehr verwundert. Neben jeder Menge Fotografien des Hundes gab es dort die originalgetreue Kopie seines Fressnapfes zu kaufen.
»Leider habe ich keinen Hund, sonst würde er in einem solchen Napf sein Futter erhalten.«
»Echt?«
Siobhan prustete laut und gab ihm dann einen Kuss. »Natürlich nicht. Das ist doch der totale Touristen-Nepp, garantiert »Made in China«. Hätte ich einen Hund, würde der nur aus echt schottischen Näpfen fressen.«
Wo sie schon mal auf dem Friedhof waren, wollten sie sich die alten Grabstätten anschauen, und dabei erwachte ihrer beider historisches Interesse. Selbstverständlich spielte dieser Friedhof bei allerlei Geistertouren durch Edinburgh auch eine Rolle, spätestens seit dem Jahr 1999, als ein Obdachloser den Steinsarkophag des Schriftstellers Henry Mackenzie aufgebrochen und ihn als Schlafstätte genutzt hat. Noch skurriler wurde es ein Jahr später. Damals hatte ein Exorzist böse Mächte auf dem Friedhof aufgespürt, die ihm nach dem Leben getrachtet hätten. Als er nur wenige Wochen später an Herzversagen starb, schloss die Stadtverwaltung den Friedhof. Erst die Überzeugungsversuche eines Historikers führten dazu, dass der besonders bösartige Teil des Friedhofs wieder geöffnet wurde. Die geführten nächtlichen Touristentouren entwickelten sich in der Folgezeit zu einem echten Gruselhighlight.
Doch an einem solchen hatten die beiden keinerlei Interesse, vielmehr arbeitete James Ramsay an einer Strategie, wie er Siobhan, ohne dabei ins Fettnäpfchen zu treten, auf dem schnellsten Weg ins Bett bekommen konnte. Dazu schien sie an diesem Abend durchaus bereit zu sein, denn er hatte ihre Hände bereits an Orten bemerkt, wo fremde Finger normalerweise nichts verloren hatten. Der Friedhof war jedoch für dieses Vorhaben nicht der richtige Ort und James hoffte, dass seine Angebetete nicht plötzlich auf den Einfall kam, es auf dem Friedhof zu treiben. Seine Liebste erfreute sich in diesem Augenblick vielmehr an den alten Grabsteinen, ihren Inschriften und Reliefskulpturen.
»Sieh mal James, hier liegt ein Allan Ramsay. War das ein Vorfahre von dir?«
»Nicht dass ich wüsste. Allan Ramsay war ein Schriftsteller und eine Art Kunstmäzen des 18. Jahrhunderts. Von ihm steht eine Statue unten im Park und auf dem Scott Monument ist er auch abgebildet, glaube ich zumindest.«
Siobhan zeigte sich beeindruckt.
»Kennst du all diese Typen, die hier beerdigt sind?«
»Leider nicht, denn sie sind schon 200 Jahre und länger tot.«
»Idiot.«
»Der hier«, sagte James plötzlich, »ist mir bekannt: William McGonagall! Er gilt als schlechtester Dichter aller Zeiten. Als er hier 1902 begraben wurde, geschah dies anonym. Die Grabtafel hängt erst seit ein paar Jahren hier.«
Siobhan zog die Augenbrauen hoch. »Zu McGonagall fällt mir nur Harry Potter ein.«
»Hm. Vielleicht dachte Mrs Rowling an genau diesen Herren, als sie ihre Figur schuf.«
»Wieso meinst du?«
»Na ja. Wenn so ein Buch geschrieben wird, müssen doch die Menschen, die darin vorkommen, irgendwie heißen. Und Namen kann man beispielsweise auf Friedhöfen sammeln. Oder auch im Telefonbuch.«
»Aha.«
Die beiden zogen weiter, an den Grabmalen und Gedenktafeln vorbei, bis sie zum Grabstein von Thomas Riddle kamen.
»Die Rowling muss hier gewesen sein«, stellte jetzt Siobhan im Brustton der Überzeugung fest. »Tom Riddle, das war doch der Name von Lord Voldemort.«
»Du hast recht. Ist auch nicht so freundlich, wenn der eigene Name das ultimativ Böse personifiziert.« Er schüttelte kurz seinen Kopf.
»Na ja, wehren kann er sich nicht mehr, er ist vor mehr als 200 Jahren gestorben.«
»Das ist ja wirklich spannend«, bemerkte Siobhan. »Ich wusste, dass hier eine ganze Reihe berühmter Personen begraben sind, und natürlich Bobby, aber dass auch Harry Potter von diesem Friedhof beeinflusst wurde, ist mir neu.«
»Eigentlich wenig erstaunlich, J.K. Rowling hat in Edinburgh gewohnt und zumindest die ersten Bücher geschrieben.«
James nahm das Mädchen an der Hand und zog sie weiter, nicht ohne vorher weitere Zärtlichkeiten auszutauschen. Sie kamen an eine Maueröffnung, hinter der sich ein Grabmal verbarg. John Bayne of Pitcairlie stand da zu lesen. Ein kleiner Pavillon mit einer steinernen Figur, mutmaßlich der im 17. Jahrhundert lebende Schriftsteller. Sowohl Mauern als auch Grabmal wirkten einsturzgefährdet, zahlreiche Sträucher wuchsen aus Mauerritzen und James wunderte sich, dass das Zugangstor nicht abgeschlossen war.
»Das ist wirklich sehenswert. Ich muss gestehen, dass ich noch nie auf diesem Friedhof war, obwohl man ja regelmäßig daran vorbeifährt, wenn man hier in der Stadt wohnt.«
James inspizierte die Steinskulptur, als er einen Schrei hörte, der ihm durch Mark und Bein ging. Er drehte sich zur Seite und sah seine Freundin, jetzt verstummt und mit kalkweißem Gesicht.
»Was ist denn los, um Gottes willen?«
Sie antwortete nicht, stand da, wie versteinert. Er ging die wenigen Schritte zu ihr hinüber und bemerkte dann, was die Ursache war. Es schnürte ihm fast die Luft ab und er spürte, wie sich alles um ihn herum zu drehen begann. Nur mit Mühe gelang es ihm, die Fassung zu wahren und den Kreislauf zu stabilisieren.
Hinter einer Brombeerhecke an der Ziegelsteinmauer lag ein Mensch mit gespaltenem Schädel!
James nahm Siobhans Hand und zog sie nach draußen und dann rannten sie über die große Rasenfläche auf direktem Weg zum Ausgang des Friedhofs.
Als sie am Grab des Hundes angekommen waren, außerhalb des geweihten Friedhofteils, beide immer noch weiß im Gesicht und zitternd wie Espenlaub, zog James sein Handy hervor.
»Wir müssen die Polizei verständigen.«
»James, was war das?«, fragte Siobhan ganz ungläubig und schlang ihre Arme um ihn. »Halte mich ganz fest und lass mich nie mehr los.«
Wären nicht diese außergewöhnlichen Umstände, James wäre der glücklichste Mensch auf der Welt gewesen.
Das Fenster seines neuen Büros bot einen ausgezeichneten Blick auf den Wald, richtigen Wald und nicht nur ein paar Bäume oder einen baumreichen Park. Es war ein dichter, einige hundert Hektar großer, forstwirtschaftlich genutzter Nadelwald und somit nicht gerade typisch für Großbritannien. Und schon gar nicht für Schottland, das in den vergangenen Jahrhunderten der Seefahrertradition der Briten hatte Tribut zollen müssen und seine alten Waldbestände fast gänzlich verlor. Allenfalls konnte man sich jenseits des Tweeds damit trösten, durch diese Rodungen die einzigartige und großartige Landschaft geschaffen zu haben, die nicht nur die Touristen ihr Herz verlieren ließ.
Bob Hamilton heftete seinen Blick an dem ungewohnten Grün fest und war sich seiner Entscheidung weniger sicher denn je. Zehn Jahre lang hatte er als verantwortlicher Chief Superintendent im beschaulichen Südwesten Englands, in Devon und Cornwall, dafür gesorgt, Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu bekommen. Und wäre es nach seiner Frau Rebecca gegangen, hätte er das auch noch bis zu seiner Pensionierung tun können. Doch Bob Hamilton wäre nicht Bob Hamilton, wenn er sich mit dem Erreichten zufriedengegeben hätte. Stets suchte er die Herausforderung, das Neue, das Abenteuer, das Unbekannte und selbstverständlich besaß er auch den Ehrgeiz, ganz nach Oben zu kommen. Obwohl ihm Bürojobs eigentlich mehr als suspekt waren. Er liebte die Arbeit an der Front des Geschehens, und so hatte er es sich als Kripochef in Exeter auch nicht nehmen lassen, sich persönlich in die polizeiliche Ermittlungsarbeit einzumischen und wenn es sich ergab, die Verdächtigen auch selbst festzunehmen.
Doch nach zehn Jahren musste es eine Veränderung geben. Auf seinem alten Posten, den er länger als jeder seiner Vorgänger innehatte, hätte er nicht länger bleiben können. Mehrfach war er bei anstehenden Beförderungen quasi abgetaucht, doch jetzt drängte eine junge Generation von Polizisten nach und Hamilton sah sich gezwungen, seine Position zu überdenken. Er wusste, dass er den Südwesten verlassen musste, so gerne er dort geblieben wäre, doch das war das Los eines leitenden Polizeibeamten: Nach einer gewissen Zeit waren räumliche Veränderungen notwendig. Und so prüfte er die möglichen Optionen. Er hätte Chief Constable bei der Polizei in Yorkshire werden können und auch die Metropolitan Police hätte ihn gerne in ihren Reihen gesehen, doch Bob Hamilton, der Schotte, hatte sich anders entschieden. Die schottische Polizei erlebte in den Jahren 2013 und 2014 eine wahre Rosskur und die bis dato acht Polizeibehörden wurden zu einer einzigen zusammengefasst. Und die war, nach ein paar ermittlungstechnischen Pannen, auf der Suche nach einem obersten Kriminalpolizisten, eine Rolle, die Hamilton auf den Leib geschnitten war. So kehrte er nach fast 30 Jahren in seine schottische Heimat zurück und saß plötzlich in dem geräumigen Büro mit Waldblick in dem frisch renovierten Tulliallan Castle, dem neuen Hauptquartier der schottischen Polizei.
Was war ihm geblieben von seinen langen Jahren in Cornwall? Ein paar Urkunden, die jetzt an der Wand hingen, viele Erinnerungen und Duke, der in die Jahre gekommene Weimaranerrüde, der in seinem neuen komfortablen Hundebett aus Leder zufrieden schlief. Hamilton hatte gleich deutlich gemacht, dass er nur mit Hund zu haben sei. Und seine beste Mitarbeiterin, DSupt. Rachel Ward, hatte er auch noch nach Schottland mitgebracht. Nach den Erfahrungen, die er im Südwesten gesammelt hatte, wusste er, dass eine gut ausgestattete Sonderkommission bei schwierigen Fällen der Schlüssel zu deren Lösung war. Nach den Pannen bei einigen Mordermittlungen in der jüngeren Vergangenheit sah Hamilton die Schaffung einer speziellen Mordkommission als zwingend notwendig an. Und als Leiterin dieser Mordkommission, die ebenfalls in Tulliallan Castle stationiert war, eignete sich niemand besser als Rachel Ward, die eigentlich als seine Nachfolgerin in Exeter vorgesehen war.
Als Assistant Chief Constable (ACC) war Hamilton noch mehr in administrative Aufgaben eingebunden, als es bisher der Fall gewesen war, doch er war sich sicher, dass es auch hier Möglichkeiten gab, in besonderen Fällen an anderer Stelle Verantwortung zu übernehmen, sprich sich in Ermittlungen einzuschalten, auch wenn die Zeit hierfür noch knapper werden würde. Doch wenn er die Verantwortung für den Bereich Verbrechen in ganz Schottland tragen sollte, dann musste er auch die Optionen haben, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
Der entscheidende Faktor für seinen Wechsel in den Norden stellte jedoch seine Frau dar. C/Insp Rebecca Hamilton war die Pressesprecherin der Polizei von Devon und Cornwall und nachdem die Kinder nun alle drei zur Schule gingen, suchte sie auch für sich eine neue Herausforderung. Bei der E-Division in Edinburgh übernahm sie den freien Posten der Leiterin der Abteilung Öffentlichkeitsschutz. Hierunter fiel der Bereich der Sicherheit im öffentlichen Raum und Schutz von Personen aber auch sexueller Missbrauch und Menschenhandel. Rebecca hatte schon immer mit einer Stelle in einer Großstadt geliebäugelt, so sehr sie den ländlichen Südwesten liebte; dass sie sich für den schottischen Regen statt der südenglischen Sonne entschieden hatte, wunderte ihren Mann dennoch. Doch so wurde aus der beruflichen Veränderung eine wirkliche Chance, da beide eine adäquate Stelle fanden und dies auch noch miteinander vereinbaren konnten, denn Edinburgh liegt nur gut eine halbe Stunde von Tulliallan Castle in Kincardine entfernt. Und dann fanden Bob und Rebecca noch ein wunderbares Haus mit Garten direkt am Meer. In Aberdour, direkt am Firth of Forth, auf der Edinburgh gegenüberliegenden Seite besaß ein Freund von Hamiltons großer und weit verzweigter schottischer Familie ein Haus, für das er schon seit längerer Zeit einen Käufer suchte. Während Rebecca bequem mit dem Zug von ihrem Wohnort nach Edinburgh fahren konnte, war Hamilton froh, dass es keine Zugverbindung nach Kincardine gab und er mit gutem Gewissen das Auto nutzen konnte.
Und dann gab es noch einen weiteren Punkt, der schwerer wog als alle anderen zusammen: Hier war er in seiner Heimat. Bob Hamilton war nicht länger der kauzige Schotte mit dem unverständlichen Dialekt, der Außenseiter, sondern ein Einheimischer. Die Menschen um ihn herum sprachen, dachten und handelten wie er. Und er verstand, wie die Leute im britischen Norden tickten. So würden ihm etliche Fettnäpfchen und Peinlichkeiten erspart bleiben, die er im Südwesten regelmäßig und zielsicher angepeilt hatte. Das bedeutete zwar nicht, dass er nicht auch weiterhin seine Marotten zu pflegen gewillt war, doch als Polizist in Schottland konnte er seinen Heimvorteil ausspielen. Nach all den vielen Jahren in England, von seinen Anfängen in East Anglia über Manchester, der Zeit in London bei der City Police, abermals in Manchester und schließlich im Südwesten freute sich Hamilton, wieder zu Hause angekommen zu sein. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, so langsam freute er sich auf die neuen Aufgaben, die auf ihn zukommen würden.
Immer noch blickte Bob Hamilton aus dem Fenster auf den Wald und bemerkte, dass es angefangen hatte zu regnen, einen Umstand, der eigentlich keiner Erwähnung bedurft hätte, denn dass es in Schottland regelmäßig und auch jede Menge regnete, war allgemein bekannt und auch im Südwesten war Regen keine Seltenheit. Doch hier in Schottland war das Klima eindeutig rauer und unfreundlicher. Und während in Südengland zumindest manchmal so etwas wie ein Hauch von Sommer herrschte, blieb es hier selbst zur Jahresmitte eindeutig kalt. Nur selten wurden Temperaturen von mehr als 20 °C erreicht. Und im Winter waren die Nächte sehr lang. Schon fast wehmütig dachte er an den Südwesten zurück, bevor er sich ins Bewusstsein rief, dass er schließlich ein Schotte war, der sich von Wind und Wetter nicht beeindrucken ließ. Im Notfall half immer ein Schluck des gälischen Lebenswassers; und Hamilton löste seinen Blick vom Nadelwald und lenkte ihn auf einen Aktenordner mit der Aufschrift »Notfall«, der in dem hohen Aktenschrank stand und eine Flasche Lagavulin sowie eine Flasche Gin enthielt. In diesem Moment wunderte sich Hamilton, dass es immer noch Aktenschränke gab, wo das papierlose Büro doch schon vor mehr als 20 Jahren verkündet worden war. Doch im Gegensatz zu dieser Ankündigung glaubte Hamilton, dass es immer mehr Papier gebe. Und damit lag er auch gar nicht falsch, denn sämtliche Polizeiakten mussten, der Archivierung wegen, auf Papier ausgedruckt und abgeheftet werden. Zwar wanderten die Akten bald ins Archiv, aber aktuelle Vorgänge waren selbstverständlich im Umlauf. Hamilton schnaufte tief durch. Wenn er in der jetzigen Geschwindigkeit weiterarbeitete, würden die aktuellen Vorgänge schon längst nicht mehr aktuell sein, bis er sie durchgelesen hatte.
Durch die Neustrukturierung der schottischen Polizei im Laufe der vergangenen Jahre ergab sich der große Vorteil, dass alles neu war und Hamilton seine Ideen besser umsetzen konnte, als es in einer eingefahrenen Verwaltung der Fall gewesen wäre. So war es kein Problem, das Büro der Sonderkommission für Gewaltverbrechen hier im Hauptquartier einzurichten, obwohl die Kriminalpolizei ihren neuen Sitz in Gartcosh, North Lanarkshire hatte, wo für 73 Millionen Pfund ein nagelneues Zentrum mit Ermittlern und forensischer Abteilung gebaut worden war. Hamilton wusste aus seiner langjährigen Erfahrung, dass die Polizeispitze bei besonders öffentlichkeitswirksamen Kriminalfällen nicht nur die Verantwortung trug, sondern auch genauestens informiert sein musste. Und das war am besten gewährleistet, wenn die Fäden in Tulliallan Castle zusammenliefen. Schließlich waren es auch nur rund 20 Minuten von Kincardine bis Gartcosh.
Am 1. Juni 2017 hatte Bob Hamilton seinen neuen Job angetreten, seit gut zwei Wochen versuchte er sich in die Materie einzuarbeiten und schnell war ihm bewusst geworden, dass er nun endgültig im Elfenbeinturm angekommen war, wie er früher den innersten Zirkel der Polizeiführung nannte. Doch genauso schnell hatte er bemerkt, dass er tatsächlich auch Einfluss hatte und seine Ideen jetzt auch hochoffiziell verwirklichen konnte und dazu keine Verschleierungstaktiken mehr anwenden musste. Nun war er tatsächlich derjenige, der entschied, wo und wie die personellen und finanziellen Ressourcen eingesetzt wurden. Auf der anderen Seite merkte er, dass er sich von den Kollegen »da draußen« endgültig entfernt hatte. Er war nicht mehr einer von den Ermittlern, er war zu »dem da oben« geworden.
Die ersten Polizisten, die am Friedhof auftauchten, waren die beiden Constables, Bruce Kerr und Stephanie Wheeler, die zufällig in der Chambers Street, also in unmittelbarer Nähe von Greyfriars Kirkyard als Fußstreife unterwegs waren. PC Wheeler kümmerte sich zunächst einmal um die völlig aufgelöste Siobhan Jordon, während PC Kerr versuchte von James Ramsay zu erfahren, was denn genau vorgefallen war.
James hatte, nachdem sie am Ausgang des Friedhofs angekommen waren, sein Handy hervorgezogen und die 999 gewählt und der Leitstelle mitgeteilt, dass er eine tote Person aufgefunden hatte und darum gebeten, dass so schnell als möglich jemand zum Friedhof käme.
»Können Sie mir zeigen, wo Sie die Leiche gefunden haben?«, fragte Kerr und war sichtlich bemüht, seinerseits Ruhe zu bewahren.
»Dort hinten, bei dem Grabmal«, antwortete Ramsay und deutete in die ungefähre Richtung.
»Dann kommen Sie mal mit!« Als er Ramsays Zögern bemerkte, beruhigte er ihn: »Ihre Freundin ist in guten Händen.«
Raschen Schrittes durchquerten sie den Friedhof, der inzwischen von einer wunderbar warmen Abendsonne beschienen wurde. Als sie die Einfriedung um das Grabmal erreicht hatten, sagte der Polizist: »Bleiben Sie bitte zurück.« Wenn dort tatsächlich ein toter Mensch liegen sollte, mussten so viele Spuren wie möglich gesichert werden, und das war kaum möglich, wenn der gesamte Bereich zertrampelt wäre. Ramsay blieb am offenen Tor stehen, Kerr ging weiter, bemerkte jedoch, dass das Schloss aufgebrochen worden war. Schnell fand er, hinter der beschriebenen Hecke, den Leichnam: Eine etwa 30 Jahre alte Frau, wie er schätzte, lag vor seinen Füßen. Sie war gut gekleidet, jedenfalls trug sie einen hochwertigen dunkelblauen Mantel und braune Lederstiefel. Ihr langes, lockiges und kastanienbraunes Haar war wie ein Strahlenkranz um ihren Kopf ausgebreitet. Was aber selbst Bruce Kerr erschütterte, der schon einige Leichen gesehen hatte, war der Umstand, dass die Schädeldecke der Frau ein riesiges Loch aufwies, als hätte jemand mit einem großen Hammer oder Beil auf das Opfer eingeschlagen.
So wie es aussah, war die Frau noch nicht sehr lange tot. Kerr war da kein Experte, doch er schätzte, dass der Mord im Laufe des Tages verübt worden war. Die Kleider waren trocken und in der Nacht hatte es geregnet.
PC Kerr griff zu seinem Funkgerät und verständigte die Kollegen. Es handelte sich nicht um einen Fehlalarm, wie die Beamtin in der Leitstelle vermutete, sondern um ein Kapitalverbrechen.
Er ging zu James Ramsay zurück und befragte ihn nochmals kurz, allerdings mehr, um die Zeit zu überbrücken, bis die Spurensicherung und die Kriminalbeamten anrückten.
Bob Hamilton erfuhr über den Live-Ticker, der am oberen Rand seines Computerbildschirms den ganzen Tag über das Verbrechen in Schottland informierte, von der Leiche in Edinburgh. Eigentlich hätte er schon längst seinen Feierabend genießen können, doch wollte er sich gründlich in seine neue Umgebung einarbeiten und hierzu war das Studium der Akten sehr hilfreich.
Und obwohl es inzwischen nicht mehr seine Aufgabe war, sich persönlich um die Aufklärung von Verbrechen zu kümmern, erwachte sein kriminalistisches Interesse und er wäre am liebsten auf direktem Wege nach Edinburgh gefahren. Doch diese Aufgabe übernahmen die Kollegen vor Ort. Und wenn Rachel es für nötig halten würde, dann war es ihre Sache, die Ermittlungen an sich zu ziehen.
»Du bist jetzt ein Häuptling«, sagte Hamilton so laut zu sich selbst, dass der Hund aus seinem tiefen Schlaf erwachte und ihn ganz irritiert ansah. Erstmals wurde ihm wirklich bewusst, dass er kein Ermittler mehr war, auch kein Chefermittler und auch kein Leitender Ermittler, sondern Mitglied des Stabs der schottischen Polizei. Er hatte nichts mehr mit der Aufklärung von Verbrechen zu tun. Seine Aufgabe war es, Strukturen zu schaffen, die eine reibungslose Polizeiarbeit gewährleisteten oder aber der Öffentlichkeit Auskunft darüber zu geben, wie die Polizei gedenke Straftaten zu verhindern oder beispielsweise einen Mörder zu ermitteln und zu überführen. Doch die Arbeit, die er selbst so liebte, die erledigten jetzt andere. Er beneidete seine Frau, Rebecca, und Rachel, die noch richtige Polizeiarbeit erledigten, während er hier in seinem Büro mit Blick auf den grünen Wald saß.
Im Büro gegenüber, auf der anderen Seite des Flurs, mit Blick auf die kleine Stadt, las Rachel Ward die gleichen Nachrichten, die über den News-Ticker angezeigt wurden. Auch sie musste sich erst noch an ihre neue Aufgabe gewöhnen, obgleich sie sich gar nicht so sehr von ihrer bisherigen unterschied. Bis vor einem Jahr war sie Leiterin des Kriminalermittlungsteams in Newquay gewesen, bevor sie zu Hamiltons Stellvertreterin in der Leitung der cornisch- devonischen Kriminalpolizei aufgestiegen war. Rachel Ward konnte geradezu eine Bilderbuchkarriere vorweisen, die noch steiler verlief, als die Hamiltons, vor allem überraschender. Vor 10 Jahren noch war sie eine junge Polizistin, die in ihrem Streifenwagen durch die einsamen Moore von Devon kurvte. Durch ihre Hartnäckigkeit und kriminalistisches Gespür hatte sie wesentlich dazu beigetragen, dass ein rätselhafter Mordfall gelöst werden konnte. Hamilton, damals ganz neu im Südwesten, erkannte ihr Talent und holte sie zur Kriminalpolizei ins Kriminalermittlungsteam des Polizeihauptquartiers. Dort blühte Rachel regelrecht auf und bald war aus dem ehemaligen Landmädel eine richtige Lady geworden. Zwar hatte sie einen Teil ihres Aufstiegs Hamilton zu verdanken, der sie förderte, wo es nur möglich war, doch dank ihres brillanten Verstandes, ihrer Sicherheit auf großem Parkett und die Intuition meistens das Richtige zu tun, war sie dorthin gekommen, wo sie jetzt stand. Dass sie trotz der rasch voranschreitenden Karriere ihre Natürlichkeit behalten hatte, machte sie bei ihren Mitarbeitern überaus beliebt, denn obwohl sie manchmal – zumindest für Außenstehende – schon fast unnahbar wirkte, konnte sie den Kollegen glaubhaft vermitteln, eine von ihnen zu sein. Eine Fähigkeit, die Hamilton gerne besessen hätte, denn er wirkte immer ziemlich arrogant und neigte viel zu oft zur Überheblichkeit. Rachel dagegen wusste genau, wann sie sich abgrenzen musste und wann nicht. Was ihr wiederum abging, war die Kaltschnäuzigkeit, die Hamilton an den Tag legte, wenn es geboten schien. Und von dessen Verbindungen in Gesellschaft und Politik konnte Rachel nur träumen. Auf der anderen Seite war sie froh, einen gewissen Abstand zu diesen Kreisen wahren zu können, denn sie war fest davon überzeugt, dass Macht korrumpiere. Nicht dass sie glaubte, dass Hamilton korrupt wäre, doch sie wusste, dass er bisweilen damit zu kämpfen hatte, sich nicht zu sehr in den Fallstricken der Macht zu verheddern. Gleichwohl bewunderte sie ihren Chef, der sich Freiheiten herausnehmen konnte, die andere nicht einmal in Erwägung ziehen würden. Dass er beispielsweise in seinem Büro Pfeife rauchte, obwohl das Rauchen seit Jahren in öffentlichen Gebäuden verboten war, erstaunte sie, und dies war nur eine der geringsten Freiheiten, die sich Bob Hamilton erlaubte. »Ein guter Polizist ist nur so gut wie sein Netz an Informanten«, hatte er einmal gesagt und Rachel vermutete, dass er ein Dossier mit sämtlichen Verfehlungen aller wichtigen Personen angelegt hatte. Irgendetwas musste er in Händen halten, das es ihm erlaubte, Dinge zu tun, die anderen verboten waren. Vielleicht war es aber auch nur seine unglaubliche Chuzpe gepaart mit einer Aufklärungsquote, die im Vereinigten Königreich einmalig war. Wo immer ein komplexer Fall zu lösen war, war Hamilton zur Stelle. Als legendär galt seine Zeit in Manchester, wo er als verdeckter Ermittler reihenweise mafiaähnliche Sümpfe trockenlegte und später als Chef einer »Cold Case Unit« einige Fälle lösen konnte, die jahrelang als hoffnungslos galten. Rachel wusste es nicht. Sie wusste, er war ein guter Chef und er protegierte sie. Und selbst das erschien ihr auch etwas seltsam, gab ihr aber zumindest den Glauben in das Gute des männlichen Geschlechts zurück. Bob Hamilton ebnete ihr alle Wege und öffnete die Türen, die für ihre Karriere wichtig waren, ohne dass er eine Gegenleistung dafür gefordert hätte. Auch wenn es Kollegen gab, die glaubten, dass die beiden insgeheim ein Verhältnis hatten. Der Schotte machte nicht einmal auch nur den Hauch eines Annäherungsversuches. Soweit Rachel wusste, war seine Ehe mit Rebecca, zumindest von außen betrachtet, mustergültig. Selbst wenn dem nicht so war und Bob außereheliche Abenteuer suchte, nicht bei ihr. Im Gegenteil, von einer distanzierten Freundlichkeit entwickelte sich ihr Verhältnis allenfalls zu einer väterlichen Freundschaft, auch wenn er lediglich 15 Jahre älter war als sie selbst. Im Grunde machte sich Detective Supt. Rachel Ward keine Gedanken darüber. Er war Bob und ihr Chef, so war es im Südwesten und so ist es hier in Schottland. Nur dass sie jetzt selbst die Chefermittlerin war und in letzter Verantwortung stand.
Rachel griff zum Telefon und wählte die Nummer von Chief Supt. Nigel Tanner, dem Leiter der E-Division in Edinburgh, doch der war nicht verfügbar. Also versuchte sie Rebecca zu erreichen. Die hatte zwar mit Mordermittlungen nichts zu tun, war aber auch Teil der Kriminalpolizei in Edinburgh und vielleicht konnte sie etwas über die Leiche im Friedhof berichten. Rachel kannte nur wenige Kollegen in Schottland und da erschien es ihr nur logisch, Rebecca anzurufen. Vielleicht war sie noch in ihrem Büro. Rachel hatte tatsächlich Glück.
»Hallo Becks, noch nicht zu Hause bei den Kindern?«
»Hi Rachel. Schön dich zu hören. Nein, ich habe gerade angefangen zu arbeiten, ich hoffe, Bob kommt bald nach Hause und erlöst unser Kindermädchen.«
»Im Moment ist er noch da, glaube ich.« Sie machte eine kurze Pause. »Du kannst dir vielleicht denken, weshalb ich anrufe.«
»Die Tote in Greyfriars Kirkyard. Hat sich sogar schon zu uns herumgesprochen. Aber das ist alles noch sehr früh. Ich weiß nur, dass eine Frau tot aufgefunden wurde, also das, was auch über den Ticker lief. Wenn du mehr wissen willst, rufst du am besten Inspector Miller an. Peter Miller und sein Team haben die Ermittlungen übernommen.«
Der Name Peter Miller sagte Rachel nichts. Aber das bedeutete nicht viel. Sie kannte einfach kaum jemanden hier in Schottland. Es machte sie nervös, dass sie in ihrem Büro in Kincardine saß und kaum 20 Meilen weiter ein Todesfall untersucht wurde. Es musste sich erst noch alles einspielen, die Abläufe geregelt werden und Routine einkehren. Im Moment fühlte sich Detective Superintendent Rachel Ward ziemlich überflüssig und ratlos. Im benachbarten Großraumbüro hatte sie ein Team von Kriminalpolizisten, die irgendwelche Formulare ausfüllten und Papiere in Aktenordner einsortierten. Wie sollte das denn laufen, mit ihrer Sonderkommission? In Cornwall war es ganz klar geregelt. Gab es irgendwo ein Schwerverbrechen, wurde sie als Leiterin der Ermittlungsgruppe informiert und dann nahm die bekannte, gut funktionierende Maschinerie ihre Arbeit auf. Doch wie war das hier in Schottland? Hamilton hatte die neue Sonderkommission geschaffen, doch die saß irgendwie auf dem Trockenen. Nachdem ganze Polizeieinheiten aufgelöst und zusammengelegt wurden, würde mit Sicherheit kein Leiter einer örtlichen Kriminalpolizei den Telefonhörer in die Hand nehmen und das Hauptquartier anrufen und um Hilfe bitten. Wie hatte sich Hamilton das nur vorgestellt?
»Du kannst aber auch einfach mal hier oder auf dem Friedhof vorbeikommen«, schlug Rebecca plötzlich vor.
»Gute Idee«, fand Rachel. »Ich werde hier in diesem Schloss noch verrückt. Ich komme mir vor wie im Elfenbeinturm. Was ist dieser Miller denn für ein Typ?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen. Ich habe ihn erst zwei oder drei Mal gesehen.«
»Du bist Polizistin. Sag mir einfach, was du denkst!«
Rachel hörte ein Lachen am anderen Ende des Telefons. »Ich denke, du kannst Gedanken lesen.«
»Das gehört zu einer guten Kriminalermittlerin. Also, ich höre!«
»Ja, Ma’am. Dann hör mal zu! Miller hat eine große Klappe und noch größeren Durst, würde ich mal behaupten. Ich habe das Gefühl, dass er sich in den nicht mehr allzu fernen Ruhestand mogelt. Aber seine Fähigkeiten als Polizist kann ich nicht beurteilen.«
»Danke, Becks. Das reicht mir vollkommen. Ich glaube, du hast recht. Ich setze mich in einen Dienstwagen, wenn ich einen finde, und fahre nach Edinburgh.«
»Wie meinst du das?«
»Hier gibt es einen Dienstwagenpool. Ist etwas kompliziert, soll privatem Missbrauch vorbeugen. Vollkommener Quatsch, wenn du mich fragst.«
Rebecca lachte erneut. »Ich bin mal gespannt, wann mein Gatte so eine Karre klaut.«
»Der Herr fährt nur mit Chauffeur, wenn er im dienstlichen Auftrag unterwegs ist.«
»Die Frage ist nur wie lange.«
Keine zehn Minuten später hatte Rachel einen Wagen gefunden, einen nagelneuen Volvo S90, und war zusammen mit Sergeant Sean McNally auf dem Weg in die Hauptstadt. Ihr Ermittlungsteam bestand aus sechs festen Detectives und konnte nach Belieben aufgestockt werden. Zum festen Team gehörten neben McNally Peter Gallacher und Keira Peacock im Range eines Sergeants sowie die Constables Ben Fraser und Jessica Barlow. Der Sechste im Team war Inspector Ray Williams, der eigentliche Grund, weshalb Rachel nach Schottland gekommen war. Die beiden hatten vor zwei Jahren zusammen in Nordengland ermittelt und waren sich dabei nähergekommen. Hamilton war sich zwar nicht ganz sicher, ob es gut war, wenn die beiden Beruf und Privatleben auf diese Weise verbanden. Auf der anderen Seite ist das Privatleben eines Polizisten schon kompliziert genug und da Hamilton davon ausging, dass die beiden gut harmonierten, fand er diese Lösung geradezu ideal. Er selbst hatte einige Zeit auch mit seiner Frau in einem Ermittlungsteam zusammengearbeitet und hatte deshalb wenig Bedenken, dass es bei Rachel und Ray nicht funktionieren würde. Und wenn es Probleme gab, auf die eine oder andere Weise, wäre Ray auch schnell zu einer anderen Dienststelle versetzt.
Es war schon nach 21 Uhr, als Rachel Ward und Sean McNally von der George IV Bridge in die Candlemaker Road einbogen und direkt am Friedhofstor ihren Wagen abstellten. Einem ziemlich übergewichtigen Constable, der sich gerade aufplustern wollte, ließ Rachel, indem sie mit ihrem Dienstausweis wedelte, die Luft ab. Er konnte lediglich noch »Dahinten, Ma’am« sagen, bevor es ihm anscheinend die Sprache verschlug.
»Ist DI Miller noch vor Ort?«, fragte sie den Polizisten. Doch der nickte nur noch und schien verstummt.
»Haben Sie auf alle Streifenbeamten eine solche Wirkung?«, fragte McNally, als sie ein paar Meter gegangen waren und die mobilen Absperrungen hinter sich gelassen hatten.
»Nicht nur auf die«, antwortete Rachel grinsend.
Der Friedhof wirkte seltsam gespenstisch. Die Sonne stand noch am Himmel und Rachel war froh, dass der Sommer vor der Tür stand, denn im Winter wäre es zu dieser Uhrzeit schon lange dunkel gewesen, was die Szenerie noch gruseliger gestaltet hätte. Schon jetzt reichte es, dass überall Polizisten herumstanden. Dazu kamen eine ganze Reihe von Beamten der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen, was Rachel schon immer irritiert hatte; vielleicht weil sie wusste, dass es dort, wo solche Gestalten auftauchten, um ein Verbrechen ging. Obwohl sie in diesem Fall noch gar nicht wusste, ob der Mord tatsächlich auf dem Friedhof stattgefunden hatte oder ob er an einer anderen Stelle verübt worden war. Die ganzen Grabsteine mit den teilweise grotesken Totenköpfen und Knochenmännern, die halb verfallenen Grabmale und verwitterten Inschriften, das Ganze in schwarz verwittertem Sandstein und die Tatsache, dass dort vorne wirklich eine ermordete Person lag, wirkten auf Rachel ziemlich unwirklich.
Da niemand sie kannte, musste sie sich mehrmals ausweisen, bis sie zu der Grabstätte von John Bayne of Pitcairlie vorgedrungen waren. Dort lag die tote Frau noch immer genau so, wie sie von James Ramsay und Siobhan Jordon vor gut vier Stunden gefunden worden war. Rachel näherte sich der Leiche so weit es möglich war. Etliche dieser, in weiße Schutzanzüge gehüllte, mumiengleiche Gestalten standen um den Leichnam und nahmen Untersuchungen vor. Ein untersetzter Glatzkopf mit schneidender Stimme, den Rachel gleich unsympathisch fand – vermutlich Inspector Miller – kommentierte die Szene und bearbeitete gleichzeitig sein Smartphone.
»Was stehen Sie da so untätig herum?«, brüllte er in Rachels Richtung, die sich allerdings nicht beeindrucken ließ. »Wer sind Sie überhaupt? Und was haben Sie hier verloren? Sind sie von der Presse?«
Jetzt trat er auf Rachel zu und baute sich vor ihr auf. »Sind Sie taub?«, schrie er. Dabei schwollen sämtliche Adern in Hals und Kopf an und Rachel hatte Mühe, die Contenance zu wahren, vor allem als sie bemerkte, dass McNally, der etwas hinter ihr stand, dies nicht gelang. Sie zückte ihren Ausweis und stellte lapidar fest: »Detective Superintendent Ward, Polizeihauptquartier, ich übernehme die Ermittlungen. DI Miller, nehme ich an, bitte schildern Sie mir in kurzen Worten, was wir bisher wissen. Morgen früh erwarte ich einen ausführlichen Bericht.«
Miller wurde augenblicklich blass und richtete seine Augen gen Friedhofboden. »Ma’am«, stammelte er, »entschuldigen Sie … aber ich …«
»Kommen Sie zur Sache, Miller!«, befahl Rachel.
»Also wir haben eine weibliche Leiche, circa 30 Jahre alt. Die Frau muss mit einer Axt oder etwas Ähnlichem erschlagen worden sein. Der Fundort ist auch der Tatort, denn es fanden sich die typischen Blutspritzer an der Friedhofmauer. Offenbar wurde das Opfer vor rund 12 Stunden ermordet.«
»Kennen wir die Identität des Opfers?«
Miller stockte kurz und sagte dann, fast ehrfurchtsvoll: »Das ist Leigha Harrow.«
Rachel blickte ihn mit großen Augen an. Offenbar war diese Leigha Harrow eine Bekanntheit in Schottland, doch sie hatte diesen Namen noch nie gehört, zumindest nicht bewusst. McNally bemerkte Rachels Zögern und ergänzte: »Leigha Harrow ist … war Moderatorin bei BBC Alba, dem schottisch-gälischen Fernsehprogramm.«
»Aha«, entfuhr es Rachel, die sich plötzlich bewusst wurde, dass Schottland nicht England war und die Welt der keltischen Ahnen hier ganz greifbar – und für Rachel fremd – war.
»Leigha stand für einen nationalpatriotischen Kurs und vertrat ihre Ansichten offensiv. Ihre Late-Night-Talks sind berüchtigt«, fügte McNally hinzu.
»Könnte das hier eine politisch motivierte Tat sein?«
»Das ist gut möglich, Ma’am«, antwortete Miller, der inzwischen seine Fassung wiedergewonnen hatte. »Sie hat ziemlich polarisiert, so nach dem Motto »Scotland first«, und die richtigen Schotten, also die gälisch-sprechenden, standen dabei an allererster Stelle.«
Rachel wunderte sich, denn mit ihren Augen nahm sie die BBC vornehmlich als politisch überkorrektes Medium wahr, das darauf bedacht war, religiösen und nationalen Minderheiten eher überproportionalen Raum zu geben. Sie würde sich jedenfalls noch heute Abend mit der Person Leigha Harrow beschäftigen müssen.
»Gibt es eine gesellschaftliche oder religiöse Gruppe, die sich von Mrs Harrow bedrängt sah?«, fragte Rachel, doch bevor einer der beiden Männer antworten konnte, fügte sie an: »War sie verheiratet oder sonst irgendwie liiert?« Das war eigentlich immer die wichtigste, die erste Frage, die nach einer Bluttat gestellt werden musste, denn erfahrungsgemäß waren fast alle dieser Verbrechen Beziehungstaten.
»Arran Prendergast ist ihr Partner.«
»Können Sie mir bitte sagen, wer Arran Prendergast ist? Ich bin erst seit ein paar Tagen hier in Schottland und mit den Personen des öffentlichen Lebens nicht ganz vertraut.«
Miller grinste, doch als er Rachels Blick bemerkte, gefror ihm das Grinsen und er biss sich auf die Lippen. »Er ist Abgeordneter im schottischen Parlament, für die Regierungspartei.«
»Hm. Und hat er dabei eine besondere Funktion?«
»Hinterbänkler«, brummte Miller.
»Nicht so ganz, Prendergast steht an der Spitze der Unabhängigkeitsbewegung, allerdings nicht auf Seiten der Europäer, sondern der echten Separatisten«, ergänzte McNally.
»Scotland first«, stellte Rachel fest.
»So ungefähr. Er unterstützt den Brexit, aber auch die schottische Unabhängigkeit. Ich kann aber nicht beurteilen, ob er einfach ein schräger Vogel oder ein gefährlicher Demagoge ist.«
»Ist er schon über den Tod seiner Partnerin informiert?«
»Nein, Ma’am. Noch nicht. Sie waren ja nicht verheiratet, also dachte ich, das hat Zeit.«
»Gut gemacht, Miller«, lobte Rachel den Inspector. »Wissen wir schon, wo dieser Prendergast gerade steckt?«
»Es ist gerade Sitzungswoche, der müsste im Parlament sein. Soll ich ihn mir vornehmen?«
»Das übernehme ich, Miller.« Rachel steckte ihre Hand in die Manteltasche und zog eine Dose mit Pfefferminzbonbons hervor. Nachdem sie sich ein Bonbon in den Mund gesteckt hatte, wandte sie sich wieder an den Inspector. »Was wissen wir noch über das Opfer? Familie, Umfeld und so weiter …«
Miller schien überrascht zu sein. »Wir sind noch ganz am Anfang mit unseren Ermittlungen. Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.«
Wieder schaltete sich McNally ins Gespräch ein. »Die Harrow stammte von den Hebriden. Lewis und Harris, Leòdhas agus na Hearadh auf Gälisch.«
»Sprechen Sie Gälisch, Sean?«
»Ja, Ma’am. Ich bin aus Lochmaddy. Das ist der Hauptort von North Uist, auch eine Insel der Äußeren Hebriden.«
Rachel kannte die Hebriden, denn als Naturliebhaberin war sie dort schon einige Male zur Vogelbeobachtung. Doch wollte sie nicht als neunmalkluge Alleswisserin erscheinen und ließ sich daher von ihren Mitarbeitern deren Heimat erklären.
»Dann sind Sie als Native-Speaker unter Umständen ein wichtiger Schlüssel zur Aufklärung dieses Verbrechens. Machen Sie sich mal daran, das familiäre Umfeld des Opfers unter die Lupe zu nehmen. Und Sie«, sagte sie in Millers Richtung, »kümmern sich um die Mordwaffe. Ich will wissen, wie und womit die Frau ins Jenseits befördert wurde.
Was ist mit den Zeugen?«
»Die sind komplett durch den Wind,« meinte Miller.
»Das kann ich mir vorstellen. Sie kommen als Täter nicht infrage?« Wieder war Miller verwirrt. »Nun, nein, also …«
»DI Miller, bei einem Mordfall ist jeder so lange verdächtig, bis er ein bombensicheres Alibi hat. Könnten die beiden etwas mit dem Tod der Frau zu tun haben?«
»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, Ma’am. Die Aussage der beiden wird gerade da vorne in dem schwarzen Mercedes-Bus aufgenommen.«
»Dann mache ich mich auf den Weg dorthin. Miller,« sagte sie scharf und blickte ihm in die Augen, »morgen früh um acht Uhr habe ich den Bericht auf meinem Schreibtisch.«
»Ja, Ma’am«, kam brav als Antwort und Rachel sah die vielen Fragezeichen, die sichtbar in Millers Gesicht gezeichnet waren. Ganz offenbar wusste er überhaupt nicht, wie er sie einschätzen sollte.
Rachel machte sich auf den Weg zu dem schwarzen Kastenwagen, in dem die Aussagen von James Ramsay und Siobhan Jordon protokolliert wurden. Sie vermutete, dass das Pärchen lediglich zufällig am Tatort vorbeigekommen war, doch Rachel wusste nur zu gut, dass sehr viele Täter ihre Taten bei der Polizei meldeten. Hauptursache hierfür war, dass sie ihre Verbrechen erst dann genießen konnten, wenn diese öffentlich wurden. Das war auch der Grund dafür, dass viele Täter immer wieder an den Tatort zurückkehrten. Sie genossen es, mehr zu wissen als die Polizei. Das verschaffte ihnen ein Gefühl von Macht und Größe. Und aus diesem Grund war es immer besonders wichtig, die Zeugen, die einen Mord bei der Polizei meldeten, genauer unter die Lupe zu nehmen.