Mörderischer Sturm - Ralf Göhrig - E-Book

Mörderischer Sturm E-Book

Ralf Göhrig

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Beschreibung

Ein bekannter Anwalt wird auf der Burganlage von Tintagel tot aufgefunden. Außer einer kleinen Einstichstelle am Oberarm kann die Polizei keine Spuren finden. Zeugen gibt es keine, Detective Chief Superintendent Bob Hamilton sitzt aufgrund eines Sturms auf den Scilly-Inseln fest, die Ermittler sind ratlos. Da geschieht ein zweiter Mord ... Zum zweiten Mal ermittelt Bob Hamilton, Chef der Kriminalpolizei von Devon und Cornwall in der mörderisch schönen Landschaft des englischen Südwestens.

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Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Ralf Göhrig

Ralf Göhrig

aus Jestetten am Hochrhein, Jahrgang 1967, legt nach „Kopflos in Cornwall“ mit „Mörderischer Sturm – ein Cornwall-Krimi“ seinen zweiten Kriminalroman vor. Der anglophile Förster lässt auch hier wieder seinen Chief Superintendenten Bob Hamilton in einer Gegend ermitteln, die er selbst kennt und liebt: Englands Südwesten. Eine mörderisch schöne Landschaft …

Ralf Göhrig

Mörderischer Sturm

Ein Cornwall-Krimi

www.tredition.de

1. Auflage

Februar 2013

© 2012 Ralf Göhrig

Umschlaggestaltung: Carla Gromann, Ralf Göhrig

Lektorat, Korrektorat: Ina Fischer, Simone Hölker, Vita Funke

Medizinische Fachberatung:

Dr. Peter Hafner

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-8495-0342-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 –

Sonntag, 08.11.2009, Nachmittag

Kapitel 2 -

Sonntag, 08.11.2009, Vormittag

Kapitel 3 –

Montag, 09.11.2009, Morgen

Kapitel 4 –

Montag, 09.11.2009, Morgen

Kapitel 5 –

Montag, 09.11.2009, Vormittag

Kapitel 6 –

Montag, 09.11.2009, Vormittag

Kapitel 7 -

Montag, 09.11.2009, Vormittag

Kapitel 8 –

Montag, 09.11.2009, Nachmittag

Kapitel 9 -

Montag, 09.11.2009, Vormittag

Kapitel 10 –

Montag, 09.11.2009, Nachmittag

Kapitel 11 –

Montag, 09.11.2009, Nachmittag

Kapitel 12 –

Montag, 09.11.2009, Abend

Kapitel 13 –

Dienstag, 10.11.2009, Vormittag

Kapitel 14 –

Dienstag, 10.11.2009, Vormittag

Kapitel 15 –

Dienstag, 10.11.2009, Vormittag

Kapitel 16 –

Dienstag, 10.11.2009, Nachmittag

Kapitel 17 –

Dienstag, 10.11.2009, Abend

Kapitel 18 –

Mittwoch, 11.11.2009, Vormittag

Kapitel 19 –

Mittwoch, 11.11.2009, Nachmittag

Kapitel 20 –

Donnerstag, 12.11.2009, Vormittag

Kapitel 21 –

Donnerstag, 12.11.2009, Vormittag

Kapitel 22 –

Donnerstag, 12.11.2009, Vormittag

Kapitel 23 –

Donnerstag, 12.11.2009, Vormittag

Kapitel 24 –

Donnerstag, 12.11.2009, Mittag

Kapitel 25 –

Capernwray Hall – Juli 1984

Kapitel 26 –

Donnerstag, 12.11.2009, Mittag

Kapitel 27 –

Donnerstag, 12.11.2009, Nachmittag

Kapitel 28 –

Donnerstag, 12.11.2009, Nachmittag

Kapitel 29 –

Donnerstag, 12.11.2009, Nachmittag

Kapitel 30 –

Fox and Hound – Oktober 1987

Kapitel 31 –

Donnerstag, 12.11.2009, Nachmittag

Kapitel 32 –

Donnerstag, 12.11.2009, Abend

Kapitel 33 –

Freitag, 13.11.2009, Vormittag

Kapitel 34 –

Freitag, 13.11.2009, Vormittag

Kapitel 35 –

Freitag, 13.11.2009, Mittag

Kapitel 36 –

Freitag, 13.11.2009, Nachmittag

Kapitel 37 –

Freitag, 13.11.2009, Nachmittag

Kapitel 38 –

Freitag, 13.11.2009, Abend

Kapitel 39 –

Bristol – Freitag, 17. 11.1989

Kapitel 40 –

Freitag, 13.11.2009, Abend

Kapitel 41 –

Freitag, 13.11.2009, Abend

Kapitel 42 –

Freitag, 13.11.2009, Nacht

Kapitel 43 –

Freitag, 13.11.2009, Nacht

Kapitel 44 –

Samstag, 14.11.2009, Morgen

Kapitel 45 –

Samstag, 14.11.2009, Morgen

Kapitel 46 –

Barnstaple – Sonntag, 19.1.1995

Kapitel 47 –

Samstag, 14.11.2009, Vormittag

Kapitel 48 –

Samstag, 14.11.2009, Vormittag

Kapitel 49 –

Samstag, 14.11.2009, Mittag

Kapitel 50 –

Samstag, 14.11.2009, Nachmittag

Kapitel 51 –

Totnes, 23. Oktober 2004

Kapitel 52 –

Samstag, 14.11.2009, Abend

Kapitel 53 –

Samstag, 14.11.2009,

Kapitel 54 –

Montag, 16.11.2009, Vormittag

Kapitel 55 –

Mittwoch, 18.11.2009, Nachmittag

Kapitel 56 –

Tagebuch

Kapitel 57 –

27. März 2010, Nachmittag

Kapitel 58 –

20. Juli 2010, Nachmittag

Kapitel 1 – Sonntag, 08.11.2009, Nachmittag

Die Novembersonne hatte noch einmal alle Kraft aufgeboten, die Wolken durchbrochen und den grauen, nassen Nebel aufgezehrt. Lediglich der kalte Wind lieferte den Beweis, dass die warme Jahreszeit endgültig vorüber war. Heftige Böen fegten übers Meer und prallten gegen die felsige Küste. Die Ruinen von Tintagel Castle, dem mutmaßlichen Geburtsort von König Artus, kauerten auf der felsigen Halbinsel, die sich seit Jahrtausenden trotzig Meer und Stürmen entgegenstellte. Zahllose Möwen unternahmen waghalsige Flugversuche und offenbarten ihr akrobatisches Können. Dennoch hatten sie mit den Böen zu kämpfen und fanden ihre Landeplätze in den schroffen Felsen meist erst nach etlichen Versuchen. Trotz des verhältnismäßig guten Wetters hatten es nur wenige Besucher gewagt, den unwirtlichen Berg zu besteigen. Einige wenige standen vor Merlins Cave, einer eigentlich unbedeutenden Brandungshöhle, wie es sie zu Tausenden am Meer gibt. Aber in Tintagel hat alles eine besondere Bedeutung.

Tintagel Castle lag in einem warmen Licht unter blauem Himmel, der lediglich von ein paar weißgrauen Wolken durchzogen war. Wie jeden Sonntag hatte Harold Fletcher im Besucherzentrum der Burg eine Tasse Kaffee getrunken und den Sportteil der Sunday Times gelesen. Danach machte er sich auf, die vielen steilen Treppenstufen hinaufzusteigen. Er blieb mehrfach stehen, einerseits um sich eine Atempause zu gönnen, andererseits, um die Naturgewalten auf sich wirken zu lassen. Fletcher genoss es, die Intensität des Meeres zu spüren, den salzigen Geschmack der Luft, den Wind in seinen Haaren. Und er liebte diesen Felsen. Vor 35 Jahren hatte es ihn eher zufällig nach Cornwall verschlagen. Er hatte erfahren, dass in Bodmin ein Rechtsanwalt sich zur Ruhe setzen und seine Anwaltskanzlei verkaufen wollte. Jung und voller Tatendrang, sah er diese Gelegenheit als Chance seines Lebens, und er nutzte sie. „Besser ein kleiner Herr auf dem Lande als ein großer Knecht in der Stadt“, war einer der Standardsätze seines Juraprofessors. Fletcher hatte diese Worte beherzigt und war gut damit gefahren. Denn er hatte sich auf dem Land mehr als etabliert. Das Anwaltsbüro „Fletcher, Fletcher & Harris“ hatte sich weit über die Grenzen von Cornwall hinaus einen guten Namen gemacht.

Harold Fletcher wohnte seit drei Jahrzehnten in einem kleinen Häuschen am nördlichen Stadtrand von Camelford. Von hier waren es nur ein paar Kilometer ins mystisch verklärte Tintagel mit seiner mittelalterlichen Burg. Und diese hatte es Fletcher angetan. Nicht dass er dem touristisch geprägten Artusfieber verfallen wäre – er liebte das tosende Meer und den einsamen Felsen mit seiner Burg, der diesen Gewalten trotzte. Und so hatte es sich Fletcher zur Gewohnheit gemacht, jeden Sonntag nach dem Mittagessen nach Tintagel zu fahren, den steilen Weg zum Besucherzentrum fast unten am Meer hinunterzulaufen und dort einen Kaffee zu trinken, um anschließend den Felsen zu erklimmen und die gewaltige Natur zu genießen. Schwer atmend erreichte er das Ende der Steintreppe und lief unter dem rudimentären Torbogen hindurch. Fletcher zog den Mantelkragen hoch und ließ seinen Blick nach rechts über die Mauerreste hinweg zum offenen Meer schweifen. Hinter ihm, am gegenüberliegenden Hügel, duckten sich die grauen Häuser des Dorfes Tintagel schon fast ehrfürchtig im Angesicht der Burg. Der Wind zerrte jetzt heftig an seinen immer noch üppigen, inzwischen jedoch schlohweißen Haaren. Dennoch entschloss er sich, weiter nach oben zu steigen und das Felsplateau zu umrunden. Der kalte Wind machte es ihm schwer zu atmen, und Fletcher erinnerte sich an seinen ersten Besuch dieser Burg. Das war vor fast fünfzig Jahren gewesen. Irgendwann in den Sommerferien hatte er sich mit einem Schulfreund ein Bahnticket gekauft und war von seinem Heimatort Bangor in Wales nach Wadebridge, das seinerzeit noch über einen Bahnanschluss verfügte, gefahren. Zu Fuß durchstreiften die beiden das Bodmin Moor und gelangten irgendwann in das sagenumwobene Tintagel. Unterwegs hatten sie zwei Mädchen kennengelernt, die ebenfalls ihre Ferien in Cornwall verbrachten. Die eine war blond – er konnte sich nicht mehr an ihren Namen erinnern –, doch die andere, dunkelhaarig, geheimnisvoll, mit grünen, katzenhaften Augen – er sah sie plötzlich genau vor sich in ihrem langen, schwarzen Umhang – hatte es ihm angetan. Melinda hatte sie sich genannt. Fletcher wusste nicht, ob es ihr richtiger Name gewesen war, es hatte auch keine Bedeutung für ihn. Er war damals einfach zu schüchtern gewesen, zu unerfahren, zu naiv ... Dennoch, er war zusammen mit dieser Melinda auf diesen Pfaden gelaufen, hatte sich mit ihr über die Geschichte der Burg unterhalten, die Normannen, die sie gebaut hatten, und über König Artus. Und genau wie damals hatte er plötzlich das Gefühl, hinter diesem Mädchen steckte in Wirklichkeit Morgaine le Fay, Artus’ rätselhafte Halbschwester. Harold Fletcher schob diesen Gedanken zur Seite. Melinda war einfach ein gleichaltriges, aber damals eben für ihn ein unerreichbares Mädchen. Gleichzeitig galt sie ihm lange Jahre als Inbegriff der vollkommenen Frau und stand dadurch dauerhaften Beziehungen im Wege. Vielleicht war er wegen Melinda nach Cornwall gekommen, um sie zu suchen. Er wusste es nicht und lehnte sich gegen die immer stärker aufbrechenden Erinnerungen auf. „So ein Blödsinn“, sagte er zu sich selbst. Doch im Innern wusste er, dass es genau so war. Immerhin hatte er nach wenigen Jahren im äußersten Südwesten sein kornisches Mädchen gefunden – Annie Penhaligon aus Truro. Die beiden hatten geheiratet und ein Jahr später wurde ihr Sohn Mark geboren. Bei der Geburt des Jungen starb Annie und Harold kniete sich noch tiefer in seine Arbeit. Und seit dieser Zeit hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Sonntag Tintagel Castle zu besuchen.

Fletcher hatte inzwischen das nordwestliche Ende des Plateaus erreicht und blickte hinauf zur tief stehenden Sonne, die sich anschickte, schon bald im Meer zu versinken. Er spürte abermals, wie eine ungewohnte Sentimentalität in ihm emporstieg. Gewohnt, jederzeit Herr über seine Gefühle zu sein, fühlte Fletcher sich zunehmend unwohl. All die Jahre hatte er die Natur genossen und sich bestenfalls von den zahlreichen Warnschildern an den Klippen beeindrucken lassen. Was war heute nur los mit ihm? Er fragte sich, ob er plötzlich alt und wehmütig wurde. Mit den Händen streifte Fletcher über sein Gesicht, als ob er dadurch seine Gedanken wegwischen könnte. Dann machte er sich auf den Rückweg, denn er wollte rechtzeitig am Ausgang sein. Im Winterhalbjahr war die Ruine nur bis sechzehn Uhr geöffnet. Raschen Schrittes überquerte er das Plateau, um nochmals kurz bei dem Tiefbrunnen stehen zu bleiben. Weiter kam er nicht mehr, denn kurze Zeit später war Harold Fletcher tot.

Kapitel 2 - Sonntag, 08.11.2009, Vormittag

Bob Hamilton war zusammen mit Rebecca Wynham für ein paar Tage nach St. Mary’s geflogen, der Hauptinsel der Scilly-Inseln. Die beiden wollten das letzte Aufbäumen des Sommers nutzen, bevor das südwestliche England in einem Konglomerat aus Nebel, Regen und Stürmen versank, aus dem es erst in ein paar Monaten wieder ein Entrinnen gab. Hamilton war noch nie auf den Scillies gewesen, Rebecca hingegen war ein regelmäßiger Gast auf dem Stückchen Südsee im nördlichen Atlantik. Ihre Tante betrieb in Hugh Town ein Bed & Breakfast, in dem die beiden jetzt zu Gast waren.

„Stammen die Wynhams nicht ursprünglich aus Kent?“

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Deine Tante Peggy ist doch die Schwester deines Vaters. Wie kommt sie hier auf die Inseln?“

„Du kannst Fragen stellen! Aus welchem Grund ziehen Menschen irgendwo hin?“

„Wieso beantwortest du meine Fragen immer mit einer Gegenfrage?“

„Tu ich das?“, antwortete Rebecca grinsend.

„Also ich nehme einmal an, der Arbeit wegen, kann es sonst noch einen Grund geben?“

„Genau den. Tante Peggy lernte Onkel John vor fast vierzig Jahren bei einem Konzert von Uriah Heep kennen. Ist doch cool! Und bald zog es sie hierher auf die Inseln.“

„Dann ist die Gute eine richtige Rockerbraut?“

„Hm, ich weiß nicht so richtig. Aber es ist schon so, die Revolutions- und Blumenkindergeneration befindet sich inzwischen im Rentenalter. Kann man sich heute kaum mehr vorstellen, dass all die gesetzten 60- bis 70-Jährigen diejenigen waren, die damals diese wilden Zeiten erlebt haben. Aber Menschen verändern sich eben. Die größten Rowdys in meiner Teenagerclique sind heute die größten Langweiler.“

„Das bedeutet im Umkehrschluss, dass du damals eher still und schüchtern warst.“

„Willst du damit sagen, dass ich ein Rowdy bin?“ Rebecca kniff die Augenbrauen zusammen und warf einen scharfen, nicht ganz ernst gemeinten Blick in Hamiltons Richtung.

„Jedenfalls bist du nicht gerade auf den Mund gefallen und ziemlich vorlaut im Umgang mit Vorgesetzten.“

„Du bist nicht mein Vorgesetzter. Eigentlich habe ich als Pressesprecherin außer dem Chief Constable gar keinen Vorgesetzten. Aber das solltest du als Chef der Kriminalpolizei eigentlich wissen.“

Rebecca drehte sich um und blickte aus dem Fenster über die Bucht und das Meer bis hinüber nach Tresco, wo sie heute noch hin wollten, um die großartigen Gärten und die Abtei zu besuchen. Hamilton trat hinter sie und legte seine Arme um ihre Hüften, küsste ihren Hals und roch an ihren rotblonden Haaren. Rebecca drückte ihren Kopf an seine Schulter und sagte fast beiläufig: „Ich finde es unglaublich schön, mit dir auf St. Mary’s zu sein. Für mich sind die Scillies fast wie ein zweites Zuhause. Da meine Eltern so gut wie nie Ferien machten – ‚Ein Pfarrer kann doch nicht in Urlaub gehen’, sagte mein Vater immer – war ich regelmäßig bei Tante Peggy und Onkel John. Zusammen mit meinen Cousinen Linda und Prue waren wir ein richtiges Dream Team.“

„Das kann ich mir illustriert vorstellen. Prue im Teenageralter – mein Gott, die armen Eltern. Sie ist doch noch heute nur beschränkt gesellschaftsfähig.“

„Ich habe dir doch gesagt, Menschen ändern sich. Früher war Linda echt ausgeflippt. Und so schlimm ist Prue nun auch wieder nicht. Gut, man sollte gut ausgeschlafen sein, wenn man auf sie trifft. Da sie jedoch in London lebt, ist die Gefahr für uns nicht so groß, ihr ständig über den Weg zu laufen.“

„Es riecht schon nach gebratenem Speck. Ich glaube, es ist Zeit, unter die Dusche zu gehen und den neuen Tag zu beginnen.“

„Ich komme mit, die Dusche ist groß genug für uns beide“, meinte Rebecca augenzwinkernd.

Eine halbe Stunde später saßen sie am Frühstückstisch vor einem Teller mit Speck, Tomaten und Champignons. Außer den beiden war nur noch ein älteres Ehepaar im Speisesaal. Hamilton meinte einen Yorkshire-Dialekt zu hören. Der Raum war eine Mischung aus Museum, Rumpelkammer und Wohnraum – nicht unüblich für England. An den Wänden hingen unzählige Fotografien mit kleineren und größeren Booten sowie Straßenansichten von Hugh Town, mutmaßlich aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Eine scheußliche rotgelb gestreifte Tapete, die sich an den Rändern zur Decke teilweise ablöste, und der überdimensionierte Kronleuchter waren für den hässlichen Touch verantwortlich. Die Eichenholztische und die modernen Stahlrohrstühle mit den dunklen Lederbezügen dagegen ein ästhetisches Highlight. Die großen, nach Westen gerichteten Fenster gaben den Blick auf das Star Castle frei, das auf einem Hügel westlich der Stadt thronte. In einer Vitrine hinter dem Kamin standen zahlreiche Pokale, die Onkel John offenbar im Laufe seiner Karriere als Dartspieler errungen hatte. Auf der Vitrine stand eine Porzellanvase, die das Konterfei der verstorbenen Queen Mum zierte. Der blutrote Teppichboden, der mit Sicherheit Heerscharen von Milben und ähnlichem Kleingetier eine Wohnstätte bot, befand sich nach Aussagen von Rebecca schon immer in diesem Raum. Neben der Tür war ein länglicher Tisch aufgebaut, der außer einer schier unermesslichen Vielfalt an Cerealien frisch gepresste Säfte und diverse Sorten an Joghurt zur Auswahl bot.

„Ich verstehe nicht, wie du nach diesem Berg Speck noch den Fisch essen kannst“, meinte Rebecca, als Tante Peggy einen Teller mit einem großen Stück geräuchertem Schellfisch vor Hamilton stellte.

„Der Schellfisch ist ein Magerfisch mit weniger als einem Prozent Fett und einem hohen Anteil an Mineralien wie Natrium, Kalium und Magnesium“, antwortete er belehrend.

„Das mag ja sein, aber so wie ich dich kenne, wirst du anschließend noch jede Menge Toast verzehren.“

„Wir haben schließlich einen langen Tag vor uns und ich muss meine Energiereserven auftanken“, gab Hamilton zu wissen und zog lächelnd seine rechte Augenbraue nach oben.

Inzwischen waren noch zwei Gäste im Speisesaal aufgetaucht, ein junges Pärchen von vielleicht Anfang zwanzig. Die beiden setzten sich an den Tisch neben Bob und Rebecca. Sie kannten sich offensichtlich noch nicht lange, denn sie redeten ohne Punkt und Komma. Eigentlich redete nur das Mädchen und er starrte sie an, als wäre sie das achte Weltwunder. Der junge Mann trug eine blaue Jeans und einen dunkelgrünen Pullover. Das Mädchen eine schwarze Bluse, einen kurzen, dunkelblauen Rock und darunter eine schwarze, hauchdünne Leggins. Außerdem tippelte ein alter Mann im Jogginganzug, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und dünnen, weißen Haaren ans Büffet. Er war gut und gerne neunzig Jahre alt, schaufelte einen Berg Cornflakes auf einen Teller und setzte sich an den nächsten Tisch.

„Das ist Mr Howard, ein ehemaliger Meereskundler. Seit seiner Pensionierung, und das muss schon bald dreißig Jahre her sein, kommt er in jedem Winterhalbjahr nach St. Mary’s und wohnt bei Tante Peggy. Den Sommer verbringt er irgendwo im Norden und im Winter stiefelt er den ganzen Tag am Strand entlang. Ein komischer Kauz, redet mit niemanden außer mit Tante Peggy und Onkel John, und mit denen auch nur das Notwendigste.“

„Er kennt dich also schon ewig.“

„Ja, aber seit dieser Zeit ignoriert er mich hartnäckig.“

Hamilton goss sich seine dritte Tasse Tee ein und war froh, den Alltag hinter sich gelassen zu haben.

Die vergangenen Wochen waren ziemlich nervenaufreibend gewesen. Zu seinem Leidwesen bekam er von der praktischen Polizeiarbeit kaum etwas mit. Stattdessen musste er sich mit Polizeiverordnungen, Personalengpässen und einer neuen Chefin herumärgern, die ihm, mehr als ihm lieb war, auf die Finger schaute. Nach der Pensionierung des alten Norman Holt war die Stelle des Assistant Chief Constables für Eingriff und Verbrechen über ein Jahr lang unbesetzt geblieben. Im Frühsommer trat, für alle überraschend, Carol Clough diesen Posten an und versuchte, sich rasch in die komplexe und vielfältige Materie einzufinden.

Hamilton konnte die mit Anfang vierzig etwa gleichaltrige Carol eigentlich gut leiden, hatte jedoch einige Schwierigkeiten mit ihrem Ehrgeiz, der sie offensichtlich in diese Position gebracht hatte. Hamilton war mit zweiundvierzig Jahren jedoch auch noch recht jung für den Rang eines Detective Chief Superintendent und Chefs der Kriminalpolizei von Devon und Cornwall. Doch ihn hatten weniger sein Ehrgeiz als vielmehr Glück, die richtigen Beziehungen und seine zwar unorthodoxen, aber sehr erfolgreichen Methoden dorthin gebracht. Und im Grunde seines Herzens waren ihm Menschen mit übersteigertem Ehrgeiz zuwider.

So hatte er in den vergangenen Monaten versucht, sich mit seiner ambitionierten Chefin zu arrangieren und war zu einem für ihn ganz logischen Schluss gekommen: Entweder würde die gute Carol bald die Karriereleiter weiter hinaufstolpern und er hatte sie vom Hals, oder er würde bald einen Weg finden müssen, der ihm die gleichen Freiräume eröffnen würde, wie er sie unter Norman Holt gehabt hatte.

Der vergangene Sommer war jedenfalls gar nicht nach dem Geschmack von Hamilton gewesen. Am liebsten war er nämlich mitten im Geschehen und ließ sich bei administrativen Dingen von seinem Freund und Stellvertreter Detective Superintendent Steve Parker den Rücken frei halten. Dieser Sommer jedoch war geprägt gewesen von endlosen Sitzungen mit der Polizeispitze von Devon und Cornwall. Gewohnt, in der alltäglichen Arbeit als ranghöchster Beamter jederzeit das Geschehen zu bestimmen, musste er sich nun unterordnen.

Hamilton hatte schon seit jeher ein ambivalentes Verhältnis zu Autoritäten im Allgemeinen und zu direkten Vorgesetzten im Besonderen. Daher hatte er im Laufe seiner Polizeikarriere immer versucht, sich ein eigenes Biotop zu schaffen, in dem er möglichst ungestört agieren konnte. Und ein solches hatte er eigentlich auch in Middlemoor, dem Hauptquartier der Polizeibehörde von Devon und Cornwall im Osten Exeters. Er konnte sich auf seine Mitarbeiter verlassen und seine Arbeit einteilen, wie er wollte – vorausgesetzt, der zuständige Assistant Chief Constable ließ ihn an der langen Leine. Und das würde, wenn sich die Carol Clough endlich eingearbeitet hatte, von selbst der Fall sein, denn dann gebe es genügend alltägliche Kleinigkeiten, die ihre Aufmerksamkeit voll in Anspruch nehmen.

Rebecca riss ihn aus seinen Gedanken: „Wann genau fährt das Boot rüber nach Tresco?“

„In einer halben Stunde. Es sollte reichen, zehn Minuten vor Abfahrt loszulaufen.“

„Da reichen fünf Minuten, die Anlegestelle ist doch gerade da unten.“

„Was weißt du über die Inseln? Irgendwie doch ein besonderer Flecken Erde.“

„Wohl wahr. Was willst du hören, die lange oder die kurze Version?“

„Die informative, bitte.“

„Nun denn: Die Scilly Inseln liegen knapp dreißig Meilen südwestlich von Land’s End. Es gibt etwa fünfundfünfzig größere Inseln, wovon sechs bewohnt sind. Hier leben etwas mehr als zweitausend Menschen, die meisten auf St. Mary’s. Die Hälfte alleine hier in Hugh Town. Der Name bedeutet, wie nicht anders zu erwarten: Sonnige Inseln. Vor der letzten Eiszeit, als der Meeresspiegel deutlich tiefer lag, war das alles nur eine Insel, die von Cornwall her besiedelt wurde. Im 16. Jahrhundert wurden die Inseln Teil der Grafschaft Cornwall. Durch die geringen Temperaturunterschiede zwischen Sommer und Winter von lediglich neun Grad Celsius können hier sehr viele subtropische Bäume und Pflanzen wachsen. Interessant ist der Umstand, dass die Scilly Inseln noch bis zum Jahr 1986 mit den Niederlanden im Kriegszustand waren. Während des Englischen Bürgerkrieges zogen sich die Royalisten auf die Inseln zurück. Aufgrund irgendwelcher Streitigkeiten mit den Holländern erklärten diese den Krieg. Da die englische Parlamentsarmee gleichzeitig jedoch die Inseln eroberte, zogen die Holländer unverrichteter Dinge wieder ab. Zufällig stieß ein Historiker in den 80er-Jahren des vergangen Jahrhunderts auf diese Fußnote der Weltgeschichte und auch die Botschaft der Niederlande in London bestätigte, dass sich Scilly noch offiziell mit den Niederlanden im Krieg befinde. Darauf hin unterzeichneten beide Seiten im April 1986 einen Friedensvertrag.“

„Wenn nur alle Kriege so unblutig wären. Stell dir vor, im nächsten Jahr kommen unsere Truppen aus Afghanistan nach Hause, weil alle Beteiligten den Krieg dort vergessen haben.“

„Schön wär’s. Ja, soviel zu den Scillies. Weitere Fragen?“

„Keine.“

Die beiden beendeten das Frühstück und gingen zurück aufs Zimmer, um ihre Jacken und Rebeccas kleinen Tagesrucksack zu holen. Danach verabschiedeten sie sich artig von Tante Peggy und gingen hinunter zur Anlegestelle, wo das kleine Boot schon auf die Passagiere wartete.

„Heute wird ein super Tag“, stellte Rebecca fest. „Es ist jetzt schon schön sonnig und fast wolkenlos. Wenn wir Glück haben, gibt es nicht einmal einen Schauer. Es soll bis zu fünfzehn Grad warm werden und der Wind hat uns ja noch nie gestört.“

Hamilton und Rebecca standen an der Reling des schaukelnden Bootes, das inzwischen abgelegt hatte, und blickten auf die vom goldenen Herbstlicht der Sonne beschienene Insel. Nach der kurzen Überfahrt machten sich die beiden sofort über die Abbey Road auf den Weg nach Süden zu den Gärten. Hamilton konnte schnell feststellen, dass Tresco im Gegensatz zur Hauptinsel in erster Linie touristisch geprägt war. Die Insel lebte von den Touristen, die das ganze Jahr über hierher kamen, selbst im Winter, der hier trotz der Stürme bedeutend angenehmer war als anderswo in England.

Kapitel 3 – Montag, 09.11.2009, Morgen

„So ein beschissenes Wetter, als wollte die Welt untergehen“, fluchte Detective Sergeant Susan McCoy, als sie in ihr Büro im Polizeihauptquartier Middlemoor stapfte.

„So schlimm wird es wohl nicht werden“, meinte ihr Kollege John Clark, der schon vertieft an seinem Computer saß, ohne aufzuschauen.

„Das schöne Wetter hätte ruhig noch etwas andauern können. So ein extremer Wechsel ist doch nicht normal.“

Susan zog ihre Jacke aus und hängte sie an den Kleiderständer. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch, der dem Clarks gegenüberstand. Ein dritter Schreibtisch stand an der Stirnseite der anderen Schreibtische: der Arbeitsplatz von Emma Hughes, die noch eine Woche lang auf Fortbildung irgendwo in East Anglia war. Das Büro war hell mit großen Fenstern, lindgrünen Wänden und einem Ahornfußboden ausgestattet.

„Ist Debbie schon da?“, fragte Susan ihren Kollegen.

„Ma’am kommt erst gegen Mittag.“

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“

„Ach nichts.“

„Los, rück’ schon raus damit. Hattet ihr Streit?“

„Nein, eigentlich nicht, aber Ma’am ist mit meinen Leistungen der letzten Zeit nicht einverstanden. Ich sei unkonzentriert und meine Arbeit schlampig.“

„Und? Bist du unkonzentriert?“

„Ich bin jetzt schon eine ganze Zeit lang hier und bislang waren alle zufrieden mit meiner Arbeit. Und jetzt kommt Debbie, nur weil sie zum Chief Inspector ernannt wurde und plötzlich meine Chefin ist, und sagt mir, ich arbeite schlampig. Jeder hat mal bessere und mal schlechtere Tage. Mein Gott. Ich mache meine Arbeit gewissenhaft.“

„Hm, in den vergangenen Wochen hast du manchmal schon etwas abwesend gewirkt. Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit dir?“

„Jetzt tu nicht so verständnisvoll. Ich weiß, dass auch du hinter meinem Rücken über das Muttersöhnchen lästerst. Und Trevor hält mich für schwul, nur weil ich keine Freundin habe.“

„Trevor hält jeden für schwul, der nicht dreimal in einem Satz flucht und nicht mindestens zwei Bier zum Mittagessen trinkt.“

„Ach, lass mich jetzt einfach arbeiten.“

„Entschuldige bitte.“

Susan schaltete ihren PC an und wunderte sich über die schlechte Laune ihres Kollegen, der zwar allgemein zurückhaltend, jedoch immer höflich und kollegial war.

Sie überprüfte ihre E-Mails und ärgerte sich über den Haufen Müll, den sie auf diese Weise bearbeiten musste. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie Polizeiarbeit im 20. Jahrhundert ausgesehen haben könnte. Was hatten die Polizisten den ganzen Tag gemacht, so ganz ohne PC und Handy? Das ganze Leben musste doch ein komplett anderes gewesen sein. Susan McCoy, Anfang dreißig mit grünen, geheimnisvollen Augen, die brünetten Haare kurz geschnitten, war mit Begeisterung Polizistin. Sie arbeitete seit ein paar Jahren im Kriminalermittlungsteam von Middlemoor, das bei größeren Kriminalfällen die Beamten vor Ort unterstützte.

Die Polizeibehörde von Devon und Cornwall hatte drei dieser Teams, eines in Plymouth, eines in Newquay und eben eines in Middlemoor. Das Team in Middlemoor wurde von Chief Inspector Debbie Steer geführt und bestand neben Debbie aus sechs Detectives.

Der ganze Sommer war recht ruhig geblieben. Vor allem kleinere Betrugsfälle und ein paar Drogendelikte hatten das Alltagsgeschäft bestimmt. Susan hoffte auf einen großen Fall, der über die langweiligen Routinearbeiten hinausging und wieder einmal alle Fähigkeiten aus ihr herausholte, so wie vor zwei Jahren, als drei gepfählte Menschenköpfe in Ostcornwall gefunden worden waren. So schlimm die ganze Angelegenheit gewesen war, damals arbeitete das Team auf Hochtouren und konnte den Täter dingfest machen.

Doch was hatte sie im Moment zu bearbeiten? Vandalismus einer Jungenbande in Salcombe. Viel Papierkram, wenig konkrete Ergebnisse, und am Ende würde wohl überhaupt nichts dabei herauskommen. Die Hälfte der Jugendlichen war noch nicht strafmündig und für die andere Hälfte fand sich mit Sicherheit ein guter Anwalt, der dem Gericht schon erklären würde, warum die bedauernswerten jungen Menschen vom Pfad der Tugend abgekommen waren.

Gerade als sie, vom Zweifel am Sinn ihrer Tätigkeit geplagt, auf den Computermonitor starrte, klingelte das Telefon.

„DS McCoy.“

„Guten Morgen, Susan, Parker hier. Ich glaube, es gibt Arbeit für uns. Vor ein paar Minuten hat mich ein Detective aus Bodmin angerufen, in Tintagel wurde eine Leiche gefunden.“

„Mit Verlaub, Sir, aber ist dafür nicht Newquay zuständig?“

„Die stecken bis zum Hals in einer Einbruchserie und haben dazu noch einen kleinen Krieg zwischen zwei Jugendbanden in Falmouth am Bein. Wir hingegen sind im Moment nicht gerade überarbeitet. Also, kommen Sie in zehn Minuten ins Besprechungszimmer und bringen Sie DS Clark mit.“

Susan schürzte ihre Lippen, antwortete knapp: „Also bis gleich“, und legte den Hörer auf.

John Clark lehnte sich nach links und sah an seinem Bildschirm vorbei, hinüber zu Susan.

„Scheint was Größeres zu sein, schätze ich mal“, mutmaßte Clark, der den Superintendent sofort als Anrufer vermutete.

„Hm, wieso denn, Parker hat nur von einer Leiche in Tintagel gesprochen, und dass Newquay ausgelastet sei.“

„Susan, manchmal zweifle ich an deinen detektivischen Fähigkeiten.“

Mit großen Augen und leicht verärgert schaute sie jetzt in Clarks grinsendes Gesicht.

„Was meinst du damit?“

„Susan, überleg’ doch mal. Selbst wenn Newquay momentan ausgelastet ist, ein Mord hat immer Priorität. Wenn der Chief Super oder gar die Clough oder sonst wer der Meinung ist, wir sollten übernehmen, dann muss doch mehr dahinter stecken als ein normaler Mord.“

„Also, die Kollegen aus Cornwall sind auch nicht gerade unfähig. Die werden wohl tatsächlich überlastet sein. Und wir machen hier einen Blödsinn, den irgendwelche demotivierten Detectives kurz vor der Rente oder Polizeischüler auch machen könnten.“

„Ich will den Kollegen gar nicht die Kompetenz absprechen. Aber wir sind vom Hauptquartier, also die Richtigen bei öffentlichkeitswirksamen Fällen.“

Susan runzelte die Stirn und erhob sich aus ihrem schwarzen Bürostuhl.

„Ich weiß nicht, aber komm mit, wir werden ja sehen.“

John folgte seiner Kollegin aus dem Büro hinaus in den von warmen Deckenleuchten erhellten Flur mit Wänden in kräftigem Orange und einem robusten Eschenholzfußboden. Offenbar hatte der Architekt, der für den Umbau der Gebäude vor zwei Jahren verantwortlich war, ein Faible für Holz und warme Farben. Die beiden gingen zum Ende des Flurs und betraten den Besprechungsraum mit dem ovalen Holztisch. Drinnen saßen bereits Detective Inspector Gordon Douglas und Detective Sergeant Trevor Norman.

„Guten Morgen, Parker noch nicht da?“, fragte Susan.

„Siehst du ihn? Solltest dir ne Brille kaufen, Sue“, brummte ihr der notorisch schlecht gelaunte, bullige Polizist mit der Glatze entgegen.

„Nein danke, Trevor, sonst muss ich deine ganze Hässlichkeit gestochen scharf ertragen.“

„Trevor, du hältst jetzt deine Klappe, und du bist auch besser etwas zurückhaltend, Sue“, befahl Douglas, der mit Sorge das zunehmend gespannte Verhältnis der beiden beobachtete.

Norman, ohnehin nicht mit sehr viel diplomatischem Geschick und noch weniger Benimm ausgestattet, war seit geraumer Zeit der Meinung, Susan sei lesbisch, was er an der Tatsache festmachte, dass Susan keinen Freund, dafür aber ein recht resolutes Auftreten hatte. Für Gordon war es allerdings nicht ersichtlich, weshalb Norman erst seit ein paar Wochen diese fixe Idee verfolgte. Er vermutete, dass sich Norman eine Abfuhr von Susan eingehandelt hatte.

In diesem Moment kam der Zwei-Meter-Mann Steve Parker in den Raum.

„Guten Morgen zusammen, Hamilton ist noch im Urlaub, Emma auf Fortbildung und Debbie kommt erst gegen Mittag, wir sind also vollzählig.“

Parker setzte sich an die Oberseite des Tisches und setzte Notebook und Beamer in Betrieb.

„Gestern Abend wurde die Leiche von Harold Fletcher in Tintagel gefunden. Genauer gesagt, auf der Burg.“

„War wohl Merlin oder die Lady of the Lake“, bellte Norman dazwischen.

„Trevor, wenn du jetzt nicht die Klappe hältst, werfe ich dich eigenhändig aus dem Fenster.“ Parker warf dem Sergeant einen finsteren Blick zu und fuhr fort: „Dass er gestern noch gefunden wurde, war reiner Zufall, denn ein Besucher hatte seinen Pullover auf irgendwelchen Mauern liegen gelassen und ging gegen sechzehn Uhr fünfzehn nochmals nach oben. Zu diesem Zeitpunkt ist die Burg eigentlich schon geschlossen. Ob der Mann seinen Pullover gefunden hat, ist mir nicht bekannt, jedenfalls fand er das Opfer. Er informierte sofort über Handy die Rettungswache, die einen Hubschrauber losschickte. Der Hubschrauber kam nach wenigen Minuten, der Notarzt konnte jedoch nur noch den Tod des Mannes feststellen. Allerdings fiel dem Notarzt auf, dass es sich nicht um ein Herzversagen oder Ähnliches handelte, denn das Opfer zeigte offensichtliche Vergiftungserscheinungen. Eine Untersuchung in der Pathologie von Newquay bestätigte dann auch eine Vergiftung durch Atropin. Dem Opfer wurde eine tödliche Dosis intramuskulär injiziert – in die Muskeln gespritzt, Trevor – und wir müssen nun seinen Mörder oder seine Mörderin suchen.“

„Wieso wir?“, wollte nun auch Gordon Douglas wissen.

„Tja, Harold Fletcher war kein ganz Normalsterblicher.“

„Gestorben ist er trotzdem“, bemerkte Norman.

„Aber eben nicht normal. Fletcher war einer der bekanntesten Anwälte in Cornwall und darüber hinaus. Das bedeutet, dass es jede Menge potenzieller Motive und Täter gibt. Schlimmer jedoch ist, dass wir uns mit der Anwaltskanzlei Fletcher uns keine Fehler erlauben sollten. Die Polizei ist dort nicht eben gut angesehen.“

„Aber Newquay ist doch viel näher dran. Sollen doch die mal zeigen, was sie können“, meinte Susan.

„Detective Inspector Box aus Bodmin hat direkt bei der obersten Instanz angerufen, weil ihm die Sache zu heiß war. Assistant Chief Constable Clough und Hamilton haben beschlossen, den Fall nach Middlemoor zu holen.“

„Wo steckt der Chief Super eigentlich?“, fragte Gordon Douglas neugierig.

Trevor Norman setzte sein dreckigstes Lächeln auf, doch bevor er etwas sagen konnte, antwortete Parker: „Bob ist eigentlich im Urlaub auf den Scilly Inseln. Er wollte zwar sofort zurück hierher, aber der verdammte Sturm hat alle Fährverbindungen lahmgelegt. Und Flugzeuge fliegen bei einem solchen Wetter schon gar nicht. Ich denke aber, wenn sich der Sturm gelegt hat, wird er wohl hier eintreffen.“

„Und wie geht es jetzt weiter? Ich nehme an, Debbie leitet die Ermittlungen.“

„Übliches Programm, John. Du bleibst zunächst einmal hier und hütest den Computer, Gordon und Trevor nehmen den Tatort unter die Lupe und Susan wird das Vergnügen haben, der Kanzlei einen Besuch abzustatten. Debbie richtet die Einsatzzentrale in Bodmin ein. Dort sollen dann alle Fäden zusammenlaufen. Gibt es noch Fragen?“

Steve Parker blickte in die Runde.

„Wenn das nicht der Fall ist, kann es losgehen. Die Sitzung ist geschlossen.“

Kapitel 4 – Montag, 09.11.2009, Morgen

In der Nacht von Sonntag auf Montag taten Bob Hamilton und Rebecca Wynham kaum ein Auge zu. Gegen Abend war ein Sturm heraufgezogen, der im Laufe der Nacht zu einem Orkan herangewachsen war. Dazu öffnete der Himmel seine Schleusen und vergaß, sie wieder zu schließen. Der Regen hämmerte gegen die Fensterscheiben und der Wind heulte in den Straßen von Hugh Town. Dabei nahm er mit, was nicht niet- und nagelfest war. Hamilton stand am Fenster und sah dem Schauspiel zu. Draußen im Meer türmten sich die Wellen zu wahren Ungetümen auf und donnerten auf Strand und Uferbefestigungen zu. Gegen Mitternacht fiel der Strom aus und die gesamte Insel lag im Dunklen.

„Wenn der Wetterfrosch von Radio Scilly recht hat, dann bleibt uns dieses Wetter noch eine ganze Weile erhalten. Was machen wir, wenn wir noch länger hier ausharren müssen?“

„Da wird uns schon was einfallen“, sagte Rebecca und räkelte sich auf dem Bett.

Am Montag Morgen hatte sich das Wetter noch keinen Deut gebessert. Allerdings funktionierte die Stromversorgung wieder. Hamilton stand auf, ging ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel.

„Ich sehe aus wie ein Zombie. Noch so eine Nacht überlebe ich nicht.“

„Man gewöhnt sich daran. Ab der dritten Nacht in Folge schläft man wie ein Baby.“

„Ich will aber keine drei Nächte mehr bleiben. Mittwoch ist die Chefbesprechung und ich will der Clough nicht das Feld alleine überlassen. Wir müssen morgen wie geplant nach Hause.“

„Solange sich der Sturm nicht legt – und danach sieht es überhaupt nicht aus – kommen wir hier nicht weg.“

„So schlimm wird es schon nicht werden.“

„Abwarten. Jetzt sollten wir erst mal was frühstücken. Am Montag gibt es bei Tante Peggy traditionell Kippers.“

„Ich dachte, du magst am Morgen keinen fetten Fisch.“

„Ich mag fetten Fisch sogar sehr, aber das solltest du nach mehr als zwei Jahren, die wir zusammen sind, eigentlich wissen. Ich esse jedoch im Gegensatz zu dir immer nur eine Portion.“

In diesem Moment klingelte Hamiltons Handy. Da lediglich Steve Parker seine Privatnummer hatte, wusste Hamilton bereits, wer anrief und war gespannt, was so wichtig sein könnte, ihn im Urlaub zu behelligen. Einbruchdiebstahl war es wohl kaum.

„Guten Morgen, Steve, was verschafft mir die Ehre deines Anrufs?“

„Hallo Bob. Es tut mir leid, dass ich dich stören muss, aber wir haben einen Mord an einem bekannten Anwalt aus Bodmin. Der Mann hieß Harold Fletcher und wurde auf Tintagel vergiftet.“

„Das heißt, Debbie und ihre Crew müssen ran.“

„So sehe ich das auch. Aber das musst du entscheiden. Deshalb rufe ich an.“

„Hm, ich komme so bald wie möglich, aber momentan ist hier ein Höllensturm, wie du dir wohl denken kannst. Jetzt frühstücken wir erst mal und gehen dann ins hiesige Polizeirevier. Das ist hier ganz in der Nähe.“

Hamilton war sauer. Den ganzen Sommer war nichts geschehen und jetzt, wo er ein paar Tage frei hatte, musste sich dieser Anwalt ermorden lassen.

Rebecca sah an Hamiltons Gesichtsausdruck, dass etwas Ernstes passiert sein musste.

„Was ist los?“

„So ein Anwalt aus Bodmin wurde ermordet, anscheinend vergiftet.“

„Doch nicht etwa Fletcher?“

„Genau der, kennst du ihn?“

„Kennst du die Fletchers nicht? Ganz gewichtige Persönlichkeiten. Den Sohn kenne ich vom Studium. Ein arrogantes Arschloch, und der Vater ist nicht besser. Beziehungen nach ganz oben. Welcher von beiden ist tot?“

„Das habe ich nicht gefragt. Ich wusste weder, dass es einen, noch, dass es zwei Fletchers gibt. Habe ich was verpasst?“

„Nein, vermutlich nicht. Du bist noch nicht so lange hier. Vor Jahren hat sich Harold Fletcher die Polizei als Lieblingsgegnerin ausgesucht und jede halbwegs spektakuläre Strafverteidigung übernommen. Das gibt eine ganz tolle Show, ich freue mich schon fast drauf. Da bin ich mal gespannt, wie sich deine Chefin in der Pressekonferenz schlägt.“

„So wie ich die einschätze, wird sie, falls sie nichts zu gewinnen hat, die Pressesprecherin vorschicken. Aber mit der ist nicht gut Kirschen essen.“

„Apropos Essen, ich habe jetzt wirklich Hunger. Und Kippers sind auch keine Kirschen.“

Kapitel 5 – Montag, 09.11.2009, Vormittag

Der alte Mondeo rollte über die A 30 in westliche Richtung, vorbei an Oakhampton und Launceston, und erreichte erst nach gut zwei Stunden das hundert Kilometer entfernte Küstenstädtchen Tintagel. Normalerweise hätten Gordon Douglas und Trevor Norman lediglich die Hälfte der Zeit gebraucht, aber durch den sintflutartigen Regen, gepaart mit Orkanböen, kamen die beiden nur im Schneckentempo voran. Die A 395 zwischen Hallworthy und Davidstow war wegen Überflutung sogar gesperrt, daher musste der Verkehr über die B 3262 geleitet werden.

„Wir hätten besser ein Motorboot genommen“, meinte Douglas.

Norman antwortete jedoch nicht, entweder weil es ihm müßig erschien, eine passende Antwort zu finden, oder aber weil er viel zu beschäftigt damit war, seine Nasenhaare auszurupfen.

Endlich lag die kleine Stadt mit ihren grauen Häusern vor ihnen. Erschien Tintagel bei schönem Wetter geheimnisvoll und mystisch, so wirkte es bei diesen Bedingungen nur noch gespenstisch. Der Regen strömte sturzbachartig, peitschte gegen die grauen Mauern, und kein Mensch traute sich auf die Straße. Nur vereinzelt kam den beiden ein Auto entgegengeschlichen. Wo es sonst von Touristen und fliegenden Händlern, die ihre Artus-Devotionalien verhökern wollten, nur so wimmelte, herrschte endloses Nichts. Eine unwirkliche Stimmung lag über der Stadt, als stünde das Jüngste Gericht unmittelbar bevor. Lediglich ein großer zottiger Schäferhund trottete durch die Straßen, als ginge ihn das Wetter überhaupt nichts an.

„Wohin jetzt?“, fragte Norman.

„Zur Burg. Wohin sonst? Klar, ich würde jetzt auch einen Pub vorziehen.“

„Und wo ist diese verdammte Burg?“

„Da vorne, nach dem Parkplatz müssen wir nach links, dann geht es einen steilen Weg hinunter bis fast zum Meer und dann zu Fuß weiter.“

Nach wenigen Minuten stand der Mondeo auf einem Parkplatz vor dem Eingangsbereich, wo es schon von Polizeiwagen wimmelte. Ein Streifenpolizist wollte die beiden wieder wegschicken, doch als Douglas ihm seinen Ausweis vor die Nase hielt, entschuldigte er sich und ließ die Kriminalpolizisten passieren.

„Wir müssen doch nicht etwa diese Treppe hochlatschen“, maulte Norman, als er die steilen Stufen sah, die zur Burg führten.

„Hier unten können wir wohl nicht bleiben.“

Fest in ihre Regenmäntel gehüllt, die Kragen hochgeschlagen, stemmten sie sich gegen den Wind und marschierten los. Nach kurzer Zeit waren sie komplett durchnässt, der Regen triefte aus Douglas’ roten Haaren respektive rann über Normans Glatze und floss unaufhaltsam den Rücken hinunter. Ein Hut oder gar Regenschirm hätte bei diesem Sturm freilich auch nichts genutzt.

„Ich weiß nicht, wie wir da irgendetwas finden sollen. Der Regen verwandelt doch alles sofort in eine Schlammwüste. Zumindest wenn wir um den Tatort herumschleichen. Das bringt doch überhaupt nichts. Vielleicht macht es wenigstens schön“, meinte Douglas, nachdem sie die Burg erreicht hatten.

„Was ist los mit dir, Inspector? Sonst bin ich doch für den Defätismus zuständig.“

„Das hat nichts mit Defätismus zu tun, nur mit Vernunft. Schau dir das doch mal an.“

Überall standen Polizisten mit keinem trockenen Fetzen mehr am Leib und gaben ein grotesk trauriges Bild ab. Der Tatort war weiträumig mit dem blauweißen Absperrband der Polizei abgeriegelt, was unnötig erschien, weil die Burganlage ohnehin geschlossen war. Um den Fundort der Leiche standen einige Stangen herum. Offenbar war ein Zelt errichtet worden, das der Sturm inzwischen hinaus aufs donnernde Meer getragen hatte.

Douglas und Norman näherten sich diesen Zeltstangen und wurden von einer kleinen Frau mit mausgrauen Haaren und einer riesigen, roten Brille auf der Nase, durch die sie in diesem Moment vermutlich überhaupt nichts sehen konnte, begrüßt.

„Hallo Pauline. Du könntest Scheibenwischer für deine Brille gebrauchen.“

„Mach du nur Witze. Ich stehe seit fünf Stunden hier im Regen. Nur gut, dass DI Box gleich gestern Abend die Spurensicherung angefordert hat. Dadurch war ich noch in der Nacht, bevor diese Riesensauerei begonnen hat, am Tatort.“

„Wieso bist du eigentlich hier? Gibt es in Cornwall keine Spurensicherung?“, wollte Douglas wissen.

„Sonntag ist immer noch Wochenende. Und ich war diejenige, die Dienst und damit Pech gehabt hat.“

„Kannst du schon irgendwas sagen?“

„Das Opfer ist tot.“

„Ach was?“

„Hör mal zu, Gordon. Heute Nachmittag gibt es eine Lagebesprechung in Bodmin. Ich habe schon mit Debbie gesprochen. Ihr könnt hier die Aussicht genießen, aber steht meinen Leuten bitte nicht im Weg rum!“ Sprach’s, drehte sich um und machte sich wieder an die Arbeit, um die sie nicht zu beneiden war. Auf ihren Knien rutschte sie über den Boden auf der Suche nach einer Spur, die sie bei diesen Bedingungen wohl nicht finden würde.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Trevor Norman.

„Ich glaube, für den Moment haben wir hier genug gesehen. Irgendwer muss doch für die Burg verantwortlich sein. Den suchen wir jetzt und dann sehen wir weiter.“

„Und wo willst du den suchen?“

„Also Trevor, manchmal frage ich mich, wie du die Sergeantprüfung geschafft hast.“

„Ich habe nur die Ärmel hochgekrempelt und den Prüfungsvorsitzenden scharf angesehen.“ Norman grinste über das ganze Gesicht und Douglas war sich nicht sicher, ob es nicht tatsächlich so gewesen sein könnte.

Über die rutschigen Steinstufen ging der Weg zurück zum Parkplatz. Dort fragte Douglas den jungen Polizisten, der sie vorhin hatte aufhalten wollen, nach dem Verantwortlichen von English Heritage, der für Tintagel zuständig war.

„Ja Sir, das ist Stuart Melrose. Der hat gestern Abend die Polizei verständigt. Er war auch heute Morgen hier. Gegen zehn Uhr ist er gegangen. Melrose wohnt oben in der Black Lane.“

„Und wie gelangt man dort hin?“

„Sie fahren nach Bossiney, das liegt gleich hinter Tintagel in Richtung Nordosten. Auf der linken Seite am Ortsende geht die Black Lane von der Hauptstraße ab. Das ist leicht zu finden.“

„Danke, Constable“, brummte Douglas.

„Wieso sind wir bloß zur Burg gelatscht? Was hat’s gebracht? Nichts, außer dass wir nass sind“, beschwerte sich Norman, als die beiden wieder im Auto saßen.

„Da hast du ausnahmsweise mal recht.“

Der Regen hatte kein bisschen nachgelassen und der Sturm sogar noch an Heftigkeit zugenommen. Selbst mit dem Auto war nur im Schneckentempo voranzukommen. Dennoch waren die zwei Polizisten nach wenigen Minuten in der Black Lane angekommen. Schnell hatten sie ihr Ziel gefunden. Stuart Melrose wohnte in einem der großzügigen Häuser mit einem respektablen Garten, der an eine große Wohnwagensiedlung grenzte.

Kapitel 6 – Montag, 09.11.2009, Vormittag

Susan McCoy fegte über die A 30 und ignorierte dabei die äußeren Bedingungen so gut es ging. Ihr neuer Dienstwagen, ein polarblauer Mercedes der C-Klasse, lag gut auf der Straße und ließ Susan den Sturm kaum spüren. Der Scheibenwischer kämpfte tapfer gegen die schweren Regentropfen und Susan war über den guten Zustand der Schnellstraße froh. Dadurch sah sie keine übergroße Gefahr von Aquaplaning. Dennoch fuhr sie für ihre Verhältnisse relativ zurückhaltend.

Das zweihundert Quadratkilometer große Bodminmoor, schon an hochsommerlichen Tagen grau und abweisend und bis auf das kleine Dorf Bolventor unbesiedelt, lag jetzt vollkommen unwirklich rechts und links der Straße. Susan konnte sich gut vorstellen, dass hier irgendwo Sir Bedivere das Schwert Excalibur in irgendeinen der zahllosen Tümpel geworfen hatte, um es der Lady of the Lake zurückzugeben. Zwar wusste sie nicht viel über die Artussage, die keltische Mythologie hatte sie auch nie sonderlich interessiert. Im Angesicht dieser wilden und lebensfeindlichen Landschaft konnte sie sich jedoch gut vorstellen, dass die Menschen, die hier früher gelebt hatten, an den langen, fernsehlosen Abenden allerlei Geschichten zu erfinden und erzählen wussten. Susan fror bei dem Gedanken an ein Leben hier im Mittelalter und war froh, im späten 20. Jahrhundert geboren zu sein.

Aus dem Autoradio dudelten Westlife mit „No more heroes“ im Rahmen der Ken Bruce Show auf BBC 2. Bislang wusste die Öffentlichkeit nichts vom Tod des bekannten Anwalts, jedenfalls war im Radio noch nichts davon zu hören, aber das würde sich sicherlich bald ändern. Noch war das Wetter ein guter Schutz vor den allgegenwärtigen Journalisten, die der Polizei meist die Arbeit nur unnötig schwer machten. Seit die Polizei von Devon und Cornwall mit PCI Rebecca Wynham eine professionelle Pressesprecherin hatte, die neben einer journalistischen auch eine polizeiliche Ausbildung aufwies, konnte die hungrige Meute zwar einigermaßen gebändigt werden. Dennoch herrschten an den Tatorten nach wie vor unwürdige Zustände, bei denen die Journaille sensationsgierig und respektlos über Opfer und Hinterbliebene herfiel, wie eine biblische Plage.

Bei diesen Gedanken wünschte sich Susan dann wieder, in einem früheren Jahrhundert zu leben und dieses verantwortungslose Pack kurzerhand festzunehmen. Allerdings hätte sie zu diesen Zeiten nicht die Möglichkeit gehabt, als Polizistin zu arbeiten, sondern würde putzen, waschen, eine ganze Schar hungriger Mäuler füttern und am Abend einem ungewaschenen Mann zu Willen sein, um weitere Kinder zu empfangen. Susan verwarf diesen Gedanken mit Grausen und konzentrierte sich wieder voll auf die Straße.

Kurz vor Bodmin wurde die A 30 wieder zweispurig, und bald hatte Susan die Ausfahrt erreicht. Über die Launceston Road näherte sie sich aus nördlicher Richtung dem Zentrum der dreizehntausend Einwohner zählenden Stadt am Rande des nach ihr benannten Moors. Die Launceston Road mündete in die Priory Road. Nach rund fünfhundert Metern durchquerte Susan den zentralen Kreisverkehr und bog bald in die Fore Street ein. Überraschenderweise – bei diesem Wetter vielleicht aber verständlich – fand Susan sofort einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe der Anwaltskanzlei.