Der Fall Jane Eyre - Jasper Fforde - E-Book

Der Fall Jane Eyre E-Book

Jasper Fforde

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Beschreibung

»Schrill, schräg, abgefahren.« Fuldaer Zeitung Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der Literatur so wichtig genommen wird, dass es eine Spezialpolizei gibt, um sie vor Fälschern zu schützen? Als Geheimagentin Thursday Next ihre neue Stelle in Swindon antritt, ahnt sie schon, daß ihr die größte Herausforderung ihrer Karriere bevorsteht: Niemand anderes als der Erzschurke Acheron Hades hat Jane Eyre aus dem berühmten Roman von Charlotte Brontë entführt, um Lösegeld zu erpressen. Eine Katastrophe für England, das mit dem seit 130 Jahren tobenden Krimkrieg schon genug Sorgen hat. Aber Thursday Next ist eine Superagentin: clever und unerschrocken. Und wenn sie wirklich mal in die Klemme gerät, kommt aus dem Nichts ihr von den Chronoguards desertierter, ziemlich anarchistischer Vater, um für ein paar Minuten die Zeit anzuhalten.  

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Seitenzahl: 528

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Über das Buch

Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der Literatur so wichtig genommen wird, dass es eine Spezialpolizei gibt, um sie vor Fälschern zu schützen? Die 36-jährige Thursday Next ist Geheimagentin bei SpecOps und Literaturverbrechern auf den Fersen. Als sie ihre neue Stelle in Swindon antritt, ahnt sie, dass ihr die bisher größte Herausforderung ihrer Karriere bevorsteht: Niemand anderes als Acheron Hades hat Jane Eyre aus Charlotte Brontës berühmtem Roman entführt, um ein gigantisches Lösegeld zu erpressen. Eine Katastrophe für England, das mit dem seit 130 Jahren tobenden Krimkrieg schon genug Sorgen hat. Aber Thursday Next ist eine Superagentin: clever und unerschrocken. Um Hades zur Strecke zu bringen, riskiert sie ihr eigenes Leben. Zu Glück kann sie dabei auf ihren von den Chronoguards desertierten Vater zählen, der für sie die Zeit anhält, als sie in die Klemme gerät …

Der Auftakt zur NEW-YORK-TIMES-Bestseller-Kultserie: Gespickt mit Humor, vielen skurrilen Figuren, literarischen Anspielungen und fantastischen Szenarien sind Thursday Nexts Abenteuer ein berauschender Lesespaß für alle, die Literatur lieben.

Jasper Fforde

Der Fall Jane Eyre

Roman

Deutsch vonLorenz Stern

 

Inhaltsübersicht

1. Thursday Next

2. Gad’s Hill

3. Wieder am Schreibtisch

4. Acheron Hades

5. . . . die Großen läßt man laufen

6. Jane Eyre : Ein kleiner Ausflug in den Roman

7. Schitt von der Goliath Corporation

8. Luftschiff nach Swindon

9. Familie Next

10. Hotel Finis, Swindon

11. Polly, Wordsworth und Narzissen

12. SpecOps-27: Die LitAgs

13. Die Kirche in Capel-y-ffin

14. Lunch mit Bowden

15. Guten Tag & auf Wiedersehen, Mr. Quaverley

16. Sturmey Archer & Felix7

17. SpecOps-17: Sauger & Beißer

18. Noch mal Landen

19. Irrwürden Joffy Next

20. Dr. Runcible Spoon

21. Hades & Goliath

22. Däumchen drehen

23. Die Übergabe

24. Glück für Martin Chuzzlewit

25. Zeit zum Nachdenken

26. Die Erdkreuzer

27. Hades findet ein neues Manuskript

28. Haworth House

29. Jane Eyre

30. Eine Welle der Betroffenheit

31. In der Volksrepublik Wales

32. Heimkehr nach Thornfield Hall

33. Das Buch wird geschrieben

34. Ihr Buch geht zu Ende

35. Unser Buch geht zu Ende

36. Im Hafen der Ehe

 

Für meinen Vater

John Standish Fforde

1921 – 2000

 

der die Veröffentlichung dieses Romans zwar nicht mehr miterlebt hat, aber dennoch mächtig stolz – und nicht zuletzt ziemlich erstaunt – gewesen wäre.

1.

Thursday Next

. . . Das Special Operations Network wurde zur Durchführung polizeilicher Maßnahmen ins Leben gerufen, die entweder als zu ungewöhnlich oder aber zu speziell erachtet wurden, um von den regulären Einsatzkräften bewältigt zu werden. Es gliedert sich in insgesamt dreißig Teilbereiche, von der eher profanen Sektion Nachbarschaftskonflikte (SO-30) über die sogenannten LiteraturAgenten (SO-27) bis zur Abteilung KunstVerbrechen (SO-24). Die Wirkungsbereiche der Sektionen SO-1 bis SO-20 unterliegen strengster Geheimhaltung, obgleich allgemein bekannt ist, daß die ChronoGarde als SO-12 und die Einheit TerrorBekämpfung als SO-9 firmieren. Gerüchten zufolge überwacht die Abteilung SO-1 ihrerseits die SpecOps. Über die Aufgaben der übrigen Sektionen ist so gut wie nichts bekannt. Fest steht nur, daß sich das Personal zumeist aus ehemaligen Soldaten oder Polizeibeamten mit leichten psychischen Defekten rekrutiert. »Wer zu den SpecOps will«, so eine Redensart, »muß schon ein paar Schrauben locker haben . . .«

MILLON DE FLOSS

– Eine kurze Geschichte des Special Operations Network

 

Mein Vater hat ein Gesicht, das eine Uhr stoppen kann. Nicht daß er häßlich gewesen wäre; nein, mit diesem Ausdruck bezeichnet die ChronoGarde Personen, die in der Lage sind, den reißenden Zeitstrom sozusagen in ein zäh dahintröpfelndes Rinnsal zu verwandeln. Dad hatte als Colonel in der ChronoGarde gedient und seine Arbeit stets geheimgehalten. So geheim, daß wir von seinem Abgang erst erfuhren, als seine Chrono-Kollegen eines Morgens mit einem unbefristeten, allzeit gültigen Haft- & Eliminationsbefehl in unsere Behausung einfielen und wissen wollten, wo und wann er steckte.

Seither ist mein Vater auf der Flucht; bei seinen späteren Besuchen teilte er uns lediglich mit, daß er den gesamten ChronoDienst für »moralisch und historisch korrupt« halte und einen Kampf als Ein-Mann-Guerrilla gegen die Bürokraten im Ministerium für Zeitstabilität zu führen gedenke. Ich habe bis heute nicht begriffen, was er damit meinte; ich konnte nur hoffen, daß er wußte, was er tat, und dabei nicht zu Schaden kam. Dafür, daß er die Uhr anhalten kann, hat er ein großes Opfer gebracht: Er ist jetzt ein einsamer Wanderer zwischen den Zeiten, der nicht nur einer, sondern allen Epochen gehört und dessen einziges Zuhause der chronoklastische Raum ist.

Ich war nicht bei den ChronoGarden und hatte diesbezüglich auch keinerlei Ambitionen. Nach allem, was man hört, gibt es dort nicht viel zu lachen, obwohl man angeblich sehr gut verdient und das Amt seinen Mitarbeitern eine traumhafte Pension in Aussicht stellt: eine Fahrt an jeden Ort der Welt in jeder gewünschten Zeit (nur Hinfahrt). Nein, das war nichts für mich.

Ich war eine sogenannte »A1-Agentin« in den Diensten von SO-27, der Sektion LiteraturAgenten (LitAgs) des Special Operations Network mit Hauptsitz in London. Das ist nicht halb so aufregend, wie es sich anhört. Seit 1980 drängten die großen Verbrecherbanden auf den lukrativen Literaturmarkt, und wir waren notorisch überarbeitet und unterfinanziert. Ich war Bereichsleiter Boswell zugeteilt, einem aufgeblasenen Zwerg, der wie ein Mehlsack mit Armen und Beinen aussah. Er lebte einzig und allein für seine Arbeit; Wörter waren seine große Leidenschaft – für ihn gab es nichts Schöneres, als einem kopierten Coleridge oder falschen Fielding nachzuspüren. Unter Boswells Leitung machten wir die Bande dingfest, die mit gestohlenen Samuel-Johnson-Erstausgaben handelte; ein andermal vereitelten wir den Versuch, eine groteske Fälschung von Shakespeares verschollenem Cardenio zu authentifizieren. Was streckenweise zwar recht amüsant war, letztlich aber doch nichts weiter als Oasen im öden, tagtäglichen Einerlei von SO-27: Meistens schlugen wir uns mit Hehlern, Betrügern und Raubdruckern herum.

Ich arbeitete seit acht Jahren für SO-27 und teilte mir in Maida Vale eine Wohnung mit Pickwick, einem zahmen, zurückgezüchteten Dodo, der noch aus Zeiten stammte, als Evolutionsumkehr der letzte Schrei war und man Do-It-Yourself-Klon-Kits an jeder Ecke kaufen konnte. Ich wollte – nein, ich mußte – unbedingt weg von den LitAgs, doch Versetzung war ein Fremdwort, und eine Beförderung kam nicht in Frage. In den Rang eines Inspektors konnte ich nur dann aufsteigen, wenn mein direkter Vorgesetzter Karriere machte oder sich zur Ruhe setzte. Aber dazu kam es nicht; Inspektor Turners Hoffnung, ihrem Traummann zu begegnen, der sie ehelichte und von dessen Geld sie leben konnte, zerschlug sich immer wieder, weil ihr Traummann entweder trank, log oder schon vergeben war.

 

Wie gesagt, hatte mein Vater ein Gesicht, das eine Uhr stoppen konnte; und genau das tat es denn auch, als ich eines schönen Frühlingsmorgens in einem kleinen Café unweit meiner Arbeitsstelle saß und ein Sandwich vertilgte. Die Welt flackerte, bebte kurz und blieb stehen. Der Besitzer des Cafés erstarrte mitten im Satz, und das Bild auf dem Fernsehschirm gefror. Vögel hingen bewegungslos am Himmel. Autos und Straßenbahnen hielten schlagartig an, und ein in einen Unfall verwickelter Radfahrer hing mit angstverzerrter Miene einen guten halben Meter über dem Asphalt in der Luft. Auch die Geräusche brachen ab; an ihre Stelle trat die matte Momentaufnahme eines anhaltenden Summtons, der mit gleichbleibender Lautstärke die Welt füllte.

»Na, wie geht es meiner hinreißenden Tochter?«

Ich drehte mich um. Mein Vater saß an einem Tisch und stand auf, um mich liebevoll zu umarmen.

»Gut«, antwortete ich und drückte ihn. »Wie geht es meinem Lieblingsvater?«

»Ich kann nicht klagen. Die Zeit ist eine hervorragende Ärztin.«

Ich starrte ihn einen Moment lang an.

»Weißt du, was?« murmelte ich. »Ich habe den Eindruck, du wirst von Mal zu Mal jünger.«

»Werde ich auch. Irgendwelche Enkelkinder in Aussicht?«

»Bei meinem Lebenswandel? Nie und nimmer.«

Mein Vater zog lächelnd eine Augenbraue hoch. »Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher.« Er reichte mir eine Woolworth-Plastiktüte.

»Ich war neulich in ’78«, verkündete er, »und habe dir was mitgebracht.«

Die Tüte enthielt eine Beatles-Single. Der Titel sagte mir nichts.

»Haben die sich nicht schon 1970 aufgelöst?«

»Nicht immer. Was macht die Kunst?«

»Nichts Besonderes. Echtheitszertifikate, Urheberrechtsverstöße, Diebstahl . . .«

». . . immer derselbe Mist, ja?«

»Ja.« Ich nickte. »Immer derselbe Mist. Was führt dich her?«

»Ich habe deine Mutter in drei Wochen besucht«, antwortete er mit einem Blick auf den großen Chronographen an seinem Handgelenk. »Aus den – ähem – üblichen Gründen. Nächste Woche will sie das Schlafzimmer mauve streichen – würdest du bitte mit ihr sprechen und ihr das ausreden? Die Farbe paßt nicht zu den Vorhängen.«

»Wie geht’s ihr?«

Er seufzte schwer.

»Bestens, wie immer. Mycroft und Polly lassen auch schön grüßen.«

Polly und Mycroft waren meine Tante und mein Onkel; ich liebte sie sehr, obwohl sie den einen oder anderen Sprung in der Schüssel hatten. Besonders Mycroft fehlte mir. Ich war schon seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen.

»Deine Mutter und ich würden uns freuen, wenn du mal wieder vorbeikämst. Sie findet, du nimmst deine Arbeit zu ernst.«

»Das mußt du gerade sagen, Dad.«

»Autsch, das hat gesessen. Wie steht’s mit deinen Geschichtskenntnissen?«

»Es geht.«

»Weißt du, wie der Herzog von Wellington starb?«

»Logisch«, antwortete ich. »Er wurde gleich zu Beginn der Schlacht von Waterloo erschossen. Von einem französischen Scharfschützen. Warum fragst du?«

»Ach, nur so«, brummte mein Vater mit Unschuldsmiene und kritzelte etwas in sein Notizbuch. Er zögerte einen Moment.

»Dann hat Napoleon die Schlacht also gewonnen?« fragte er zweifelnd.

»Unsinn«, widersprach ich. »Feldmarschall Blücher hat rechtzeitig eingegriffen und den Karren aus dem Dreck gezogen.« Ich kniff die Augen zusammen. »Das ist Stoff der achten Klasse, Dad. Worauf willst du hinaus?«

»Also, das ist doch ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?«

»Was?«

»Daß sowohl Nelson als auch Wellington, zwei große englische Nationalhelden, gleich zu Anfang ihrer bedeutendsten und entscheidendsten Schlachten erschossen worden sein sollen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Daß wieder mal französische Revisionisten dahinterstecken könnten.«

»Aber es hat am Ausgang der beiden Schlachten doch gar nichts geändert«, beteuerte ich. »Wir haben beide Male gewonnen!«

»Davon, daß sie ihr Handwerk tatsächlich verstehen, habe ich nichts gesagt.«

»Das ist doch lächerlich!« sagte ich. »Am Ende willst du mir noch weismachen, daß dieselben Revisionisten 1066 König Harold ermorden ließen, um die Invasion durch die Normannen zu unterstützen?«

Aber Dad lachte nicht. Statt dessen fragte er erstaunt: »Harold? Ermordet? Wieso?«

»Ein Pfeil, Dad. Ins Auge.«

»Ein englischer oder ein französischer?«

»Das ist nicht überliefert«, erwiderte ich, genervt von seinen absurden Fragen.

»Ins Auge, sagst du? – Die Zeit ist aus den Fugen«, murmelte er und machte sich noch eine Notiz.

»Was ist aus den Fugen?« fragte ich, weil ich ihn nicht verstanden hatte.

»Nichts, nichts. Wie gut, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam . . .«

»Hamlet?«fragte ich, als ich das Zitat erkannte.

Statt einer Antwort hörte er auf zu schreiben, klappte das Notizbuch zu und massierte sich geistesabwesend mit den Fingerspitzen die Schläfen. Die Welt ruckelte eine Sekunde weiter und blieb dann wieder stehen. Nervös sah mein Vater sich um.

»Sie sind mir auf den Fersen. Danke für deine Hilfe, Schatz. Wenn du deine Mutter siehst, sag ihr, daß sie das Schlafzimmer nicht mauve streichen soll.«

»Alles außer mauve, stimmt’s?«

»Stimmt.«

Lächelnd berührte er meine Wange. Ich bekam feuchte Augen; diese Besuche waren viel zu kurz. Er spürte, daß ich traurig war, und schenkte mir ein Lächeln, wie es sich wohl jedes Kind von seinem Vater wünscht. Dann sagte er: »Denn ich schaute das Vergangene, so weit das SpecOp-Auge reicht . . .«

Er hielt inne, und ich beendete die Strophe des alten Chrono-Garden-Liedes, das mir mein Vater als kleines Mädchen immer vorgesungen hatte: ». . . und die Welt lag mir zu Füßen, einem Meer von Möglichkeiten gleich!«

Und dann war er weg. Ein Ruck ging durch die Welt, als die Uhr wieder in Gang kam. Der Barmann beendete seinen Satz, die Vögel flogen in ihre Nester, der Fernseher meldete sich mit einem ekelerregenden SmileyBurger-Spot zurück, und der Radfahrer auf der anderen Straßenseite landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Asphalt.

Alles ging weiter, als sei nichts gewesen. Niemand außer mir hatte Dad kommen und gehen sehen.

Ich knabberte abwesend an meinem Krabbensandwich und nippte von Zeit zu Zeit an einer Tasse Mokka, die eine Ewigkeit zu brauchen schien, um auf Trinktemperatur abzukühlen. Es war nicht viel Betrieb, und Stanford, der Wirt, spülte Geschirr. Ich legte meine Zeitung weg, um ein wenig fernzusehen, als das Logo des Toad News Network auf dem Bildschirm erschien.

Toad News, ein Tochterunternehmen der Goliath Corporation, war der größte Nachrichtensender Europas. Er versorgte sein Publikum rund um die Uhr mit aktuellen Meldungen; da konnten die nationalen Sender beim besten Willen nicht mithalten. Goliath verlieh Toad jedoch nicht nur Stabilität und finanzielle Sicherheit, sondern auch eine leicht anrüchige Note. Vielen mißfiel der Monopolcharakter des Konzerns, und das Toad News Network mußte ein gerüttelt Maß an Kritik einstecken, obwohl der Sender wiederholt bestritt, daß die Muttergesellschaft das Sagen hatte.

»Hier«, dröhnte die Stimme des Ansagers, begleitet von dramatischer Musik, »ist das Toad News Network. Ihr Nachrichtensender mit Meldungen aus aller Welt, aktuell, informativ und kompetent, JETZT!«

Die Nachrichtensprecherin kam ins Bild und lächelte freundlich in die Kamera.

»Hier sind die 12-Uhr-Nachrichten vom Montag, den 6. Mai 1985, mein Name ist Alexandria Belfridge. Die Krim«, verkündete sie, »geriet diese Woche einmal mehr ins Blickfeld internationaler Aufmerksamkeit, als die Vereinten Nationen die UN-Resolution PN17296 verabschiedeten, die England und die Russische Reichsregierung zu neuerlichen Verhandlungen über die Zukunft der Halbinsel bewegen soll. Während der Krimkrieg in sein 131. Jahr geht, drängen politische Interessengruppen im Inland und Ausland auf ein friedliches Ende der Feindseligkeiten.«

Ich schloß die Lider und stöhnte leise vor mich hin. Ich hatte meine patriotische Pflicht anno ’73 erfüllt und die traurige Wahrheit des Krieges jenseits von Glanz und Gloria mit eigenen Augen gesehen. Die Hitze, die Kälte, die Angst und den Tod. Die Sprecherin fuhr mit einem unverkennbar chauvinistischen Unterton fort: »Als es den englischen Streitkräften 1975 gelang, die Russen aus ihren letzten Stellungen auf der Krim zu vertreiben, galt dies als beispielloser Triumph über einen übermächtigen Feind. Seit damals sind die Fronten jedoch verhärtet, und Sir Gordon Duff-Rolecks faßte die Stimmung im Lande anläßlich einer Friedenskundgebung am Trafalgar Square folgendermaßen zusammen . . .«

Aufnahmen von einer großen und überwiegend friedlichen Demonstration im Zentrum Londons wurden eingespielt. Duff-Rolecks stand auf einem Podium und sprach in einen dichten, wildwuchernden Wald von Mikrofonen. »Was im Jahre 1854 als halbherziger Versuch seinen Anfang nahm, die russische Expansionspolitik einzudämmen«, proklamierte der Abgeordnete, »ist im Lauf der Jahre zu einem durchsichtigen Manöver verkommen, das keinem anderen Zweck dient als der Aufrechterhaltung des Nationalstolzes . . .«

Ich schaltete auf Durchzug. Ich hatte all das schon tausendmal gehört. Ich trank noch einen Schluck Kaffee; der Schweiß auf meiner Kopfhaut juckte. Duff-Rolecks’ Rede wurde mit Archivaufnahmen von der Krim unterlegt: Sebastopol, eine schwerbefestigte englische Garnisonsstadt, von deren architektonischem und historischem Erbe wenig übriggeblieben war. Immer wenn ich diese Bilder sah, roch ich den beißenden Gestank von Kordit und hörte das Krachen explodierender Granaten. Automatisch strich ich mir mit dem Finger über das einzige äußerliche Andenken, das ich von meinem Kriegseinsatz zurückbehalten hatte – eine kleine, leicht erhabene Narbe am Kinn. Andere hatten weniger Glück gehabt. Es hatte sich nichts geändert. Der Krieg schleppte sich weiter dahin.

»Das ist doch alles dummes Zeug«, sagte eine heisere Stimme dicht neben mir.

Es war Stanford, der Besitzer des Cafés. Wie ich war er Krimveteran, wenn auch aus einem früheren Feldzug. Anders als ich hatte er dort mehr verloren als nur seine Unschuld und ein paar gute Freunde; er humpelte auf zwei Blechbeinen durchs Leben und hatte genug Granatsplitter für ein halbes Dutzend Konservendosen im Leib. »Die Krim geht die Vereinten Nationen einen Dreck an.«

Obwohl wir ziemlich unterschiedliche Auffassungen hatten, unterhielt er sich gern mit mir über die Krim. Was sonst eigentlich niemand tat. Die Soldaten, die in den anhaltenden Konflikt mit Wales verwickelt waren, genossen weitaus größeres Prestige; Krimkämpfer auf Urlaub ließen ihre Uniform zumeist im Schrank.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte ich unverbindlich und starrte aus dem Fenster; an der nächsten Ecke stand ein bettelnder Krimveteran und rezitierte für ein paar Pennies Longfellow-Gedichte.

»Wenn wir sie jetzt zurückgeben, sind Millionen umsonst gestorben«, setzte Stanford schroff hinzu. »Wir sind seit 1854 auf der Krim. Sie gehört uns. Genausogut könnten wir den Franzosen die Isle of Wight zurückgeben.«

»Wir haben den Franzosen die Isle of Wight zurückgegeben«, sagte ich nachsichtig; Stanfords Interesse am Tagesgeschehen beschränkte sich im allgemeinen auf die Ergebnisse der Ersten Krocketliga und das Liebesleben der Schauspielerin Lola Vavoom.

»Ach ja«, murmelte er stirnrunzelnd. »Stimmt. Auch so eine Schnapsidee. Wofür hält diese UNO sich eigentlich?«

»Ich weiß nicht, aber wenn sie dem Morden ein Ende macht, ist ihr meine Stimme sicher, Stan.«

Der Barkeeper schüttelte resigniert den Kopf, während Duff-Rolecks seine Rede zu Ende brachte: ». . . es besteht nicht der geringste Zweifel, daß Zar Alexej Romanow IV. ein verbrieftes Anrecht auf die Hoheitsrechte über die Halbinsel hat, und ich für meinen Teil sehe dem Tag, da wir unsere Truppen abziehen und dieser unermeßlichen Vergeudung von Menschenleben und Ressourcen ein verdientes Ende bereiten, mit Freude und Zuversicht entgegen.«

Die Nachrichtensprecherin ging zum nächsten Thema über – die Regierung wolle den Käsezoll auf 83 Prozent erhöhen, ein unpopulärer Schachzug, der die militanteren unter unseren Mitbürgern zweifellos dazu veranlassen würde, vor den Lebensmittelgeschäften zu demonstrieren.

»Wenn sich die Russkis zurückziehen würden, wäre der Spuk morgen vorbei«, sagte Stanford grimmig.

Das war kein Argument, und das wußte er genauso gut wie ich. Auf der gesamten Krim gab es nichts mehr, was zu besitzen sich lohnte, ganz gleich wer den Krieg gewann. Der einzige Landstrich, den die Artillerieduelle nicht in Schutt und Asche gelegt hatten, war stark vermint. Historisch und moralisch gehörte die Krim zum Russischen Reich, und damit basta.

Die nächste Meldung befaßte sich mit einem Scharmützel an der Grenze zur Volksrepublik Wales; keine Verletzten, nur ein paar Schüsse über den Wye in der Nähe von Hay. Wie üblich hatte der walisische Präsident-auf-Lebenszeit Owain Glyndwr VII. in seinem jugendlichen Übermut Englands imperialistischen Anspruch auf ein vereintes Großbritannien dafür verantwortlich gemacht; wie üblich hatte das Parlament nicht einmal eine Erklärung zu dem Zwischenfall abgegeben.

Die Nachrichten waren noch nicht zu Ende, aber mein Interesse war erschöpft. Der Präsident hatte in Dungeness eine neue Kernfusionsanlage eröffnet. Als das Blitzlichtgewitter losbrach, setzte er ein professionelles Grinsen auf. Ich widmete mich wieder meiner Zeitung und las einen Artikel über einen Gesetzesentwurf, der vorsah, den Dodo angesichts der beängstigend angewachsenen Population von der Liste der geschützten Arten zu streichen, konnte mich jedoch nicht konzentrieren. Die quälenden Erinnerungen an den Krimkrieg gingen mir nicht aus dem Kopf. Zum Glück holte mich das Signal meines Piepsers schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Ich warf ein paar Scheine auf den Tresen und rannte zur Tür hinaus, während die Toad-News-Sprecherin mit düsterer Stimme den Mord an einem jungen Surrealisten verkündete – erstochen von radikalen Anhängern der französischen Impressionisten.

2.

Gad’s Hill

. . . Was die Elastizität der Zeit betrifft, streiten sich die Wissenschaftler. Die einen sind der Auffassung, die Zeit sei äußerst unbeständig, so daß noch das scheinbar belangloseste Ereignis den möglichen Ausgang der Zukunft nachhaltig verändern könne. Die anderen betrachten die Zeit als starres Gebilde, das allen Versuchen zum Trotz immer wieder auf eine determinierte Gegenwart zurückspringt. Ich kümmere mich nicht um derartige Banalitäten. Ich verkaufe lediglich Krawatten . . .

Krawattenverkäufer,

Victoria Station, Juni 1983

 

Mein Piepser hatte mir eine beunruhigende Nachricht übermittelt: Das Unstehlbare war gestohlen worden. Das Manuskript von Martin Chuzzlewit war nicht zum ersten Mal verschwunden. Zwei Jahre zuvor hatte ein Museumswächter es aus seiner Vitrine entwendet, einfach weil er das Buch in seiner reinen, unverfälschten Form genießen wollte. Da ihn jedoch Gewissensbisse quälten und er schon nach drei Seiten die Segel streichen mußte, weil er Dickens’ Handschrift nicht lesen konnte, gab er das Manuskript schließlich zurück und legte ein umfassendes Geständnis ab. Zur Strafe mußte er fünf Jahre über den Kalköfen am Rande von Dartmoor schwitzen.

Zwar hatte Charles Dickens seine letzten Lebensjahre in Gad’s Hill Place verbracht, Martin Chuzzlewit jedoch in Devonshire Terrace geschrieben, wo er und seine erste Frau bis 1843 wohnten. Gad’s Hill ist ein großer viktorianischer Bau bei Rochester, der sich, als Dickens ihn kaufte, eines herrlichen Ausblicks auf den Medway erfreute. Wenn man die Augen zusammenkneift und sich die Ölraffinerie, das Schwerwasserwerk und die ExcoMat-Labors wegdenkt, kann man leicht nachvollziehen, was ihn an diesem Teil Englands gereizt hat.

Täglich drängen sich mehrere tausend Besucher auf den Gängen von Gad’s Hill, womit es – nach Anne Hathaways Cottage und dem berühmten Haworth House der Brontë-Schwestern – den dritten Platz unter den beliebtesten literarischen Pilgerstätten Englands einnimmt. Der Ansturm dieser Menschenmassen hatte zu erheblichen Sicherheitsproblemen geführt; seit ein Geistesgestörter in Chawton eingebrochen war und damit gedroht hatte, sämtliche Briefe Jane Austens zu vernichten, wenn seine mäßig spannende und reichlich durchwachsene Austen-Biographie nicht unverzüglich einen Verleger fände, wollte niemand mehr ein unnötiges Risiko eingehen. Damals war alles glimpflich abgegangen, und doch ließ dieser Zwischenfall nichts Gutes ahnen.

Ein Jahr später hatte in Dublin eine organisierte Bande Jonathan Swifts Nachlaß als Geisel genommen. Es war zu einer längeren Belagerung gekommen, in deren Verlauf zwei der Täter erschossen und diverse politische Originalpamphlete sowie eine frühe Fassung von Gullivers Reisen vernichtet worden waren.

Das Unvermeidliche geschah. Alle literarischen Reliquien wurden unter Panzerglas gelegt und mittels modernster Elektronik von bewaffneten Beamten bewacht. Das wollte zwar niemand, aber eine andere Lösung gab es nicht. Seitdem war es zu keinen größeren Problemen mehr gekommen, was den Raub von Martin Chuzzlewit um so erschreckender erscheinen ließ.

Ich stellte den Wagen ab, klemmte mir meine SO-27-Marke an die Brusttasche und zwängte mich durch die Massen von Presseleuten und Gaffern. Als ich Boswell entdeckte, schlüpfte ich unter der Polizeiabsperrung hindurch und ging zu ihm.

»Guten Morgen, Sir«, murmelte ich. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.«

Er hob einen Finger an die Lippen und flüsterte mir ins Ohr: »Parterrefenster. Keine zehn Minuten. Sonst wurde nichts gestohlen.«

»Was ist los?«

Da sah ich, was los war. Lydia Startright, die Starreporterin des Toad News Network, wollte ihn interviewen. Die makellos frisierte Journalistin beendete gerade ihre Anmoderation und wandte sich zu uns um. Boswell trat elegant beiseite, knuffte mich neckisch in die Rippen und ließ mich allein im grellen Scheinwerferlicht der Fernsehkameras zurück.

». . . von Martin Chuzzlewit, das heute aus dem Dickens-Museum in Gad’s Hill gestohlen wurde. Bei mir ist Spezialagentin Thursday Next. Sagen Sie, Officer, wie konnte es den Dieben gelingen, in das Haus einzudringen und einen der größten Schätze der Weltliteratur zu entwenden?«

Ich raunte Boswell, der grinsend davonschlich, ein halblautes »Arschloch!« hinterher und trat verlegen von einem Bein aufs andere. Die anhaltende Begeisterung der Bevölkerung für Kunst und Literatur erschwerte unsere Arbeit, von unserem äußerst begrenzten Budget gar nicht zu reden. »Die Diebe verschafften sich durch ein Parterrefenster Einlaß und interessierten sich offenbar ausschließlich für das Chuzzlewit-Manuskript«, sagte ich mit meiner besten Fernsehstimme. »Sie waren nach kaum zehn Minuten wieder draußen.«

»Wenn mich nicht alles täuscht, wird das Museum videoüberwacht«, fuhr Lydia fort. »Konnten Sie den Raub auf Band festhalten?«

»Die Untersuchung läuft noch«, antwortete ich. »Sie werden sicher Verständnis dafür haben, daß wir bestimmte Einzelheiten aus ermittlungstaktischen Gründen vorerst geheimhalten müssen.«

Lydia ließ ihr Mikrofon sinken und gab dem Kameramann ein Zeichen. »Haben Sie überhaupt etwas für mich, Thursday?« fragte sie. »Auf dieses Blabla kann ich verzichten.«

Ich lächelte. »Ich bin erst seit ein paar Minuten hier, Lydia. Versuchen Sie’s in einer Woche noch mal.«

»Thursday, in einer Woche ist das Schnee von gestern. Okay, Kamera.« Brav schulterte der Kameramann die Kamera, und Lydia setzte ihren Bericht fort. »Gibt es schon erste Hinweise?«

»Wir ermitteln in verschiedene Richtungen. Wir gehen jedoch davon aus, daß wir die beteiligten Personen in Kürze dingfest machen und dem Museum das Manuskript zurückgeben werden.«

Ich wollte, ich hätte meinen Optimismus teilen können. Da ich eine Zeitlang den Objektschutz hier geleitet hatte, wußte ich, daß Gad’s Hill der Bank von England in puncto Sicherheit nicht nachstand. Die Täter hatten gute Arbeit geleistet. Sehr gute Arbeit. Aber nicht nur deshalb hatte ich das Gefühl, daß die Sache eine persönliche Herausforderung war.

Das Interview war zu Ende, und ich schlüpfte unter der SpecOps-Absperrung hindurch, wo Boswell auf mich wartete. »Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße«, sagte er. »Turner, bringen Sie Thursday auf den neuesten Stand.«

Boswell ließ uns stehen und machte sich auf die Suche nach etwas Eßbarem.

»Wenn du dahinterkommst, wie die Jungs das Ding gedreht haben«, murmelte Paige, die aussah wie eine etwas ältere und natürlich weibliche Ausgabe Boswells, »fresse ich meine Stiefel, samt Schnallen und allem Drum und Dran.«

Paige Turner und Boswell hatten den LitAgs schon angehört, als ich – nach Abschluß meiner Militärausbildung und einem kurzen Intermezzo bei der Polizei Swindon – dazugestoßen war. Kaum jemand verließ die LitAgs je wieder, es sei denn er ging in Rente oder starb; wer nach London versetzt wurde, hatte das Ende der Karriereleiter erreicht. Einer Redensart zufolge war ein Posten als Literatur-Agent lebenslänglich und nicht auf Bewährung.

»Boswell steht auf dich, Thursday.«

»Inwiefern?« fragte ich argwöhnisch.

»Insofern als er dich an meinem Schreibtisch sehen will, wenn ich ausscheide – ich habe mich am Wochenende nämlich mit einem sehr netten Herrn von SO-3 verlobt.«

Ich hätte wahrscheinlich größere Begeisterung an den Tag legen sollen, aber Paige hatte sich schon so oft verlobt, daß sie sich an jeden Finger und jeden Zeh zwei Ringe hätte stecken können.

»SO-3?« fragte ich neugierig. Obwohl ich selbst bei SpecOps arbeitete, hatte ich keinen Schimmer, welche Abteilung wofür zuständig war – Otto Normalverbraucher war da vermutlich besser informiert. Die einzigen SpecOps-Abteilungen unterhalb von SO-12, über die ich hundertprozentig Bescheid wußte, waren SO-9, die Sektion TerrorBekämpfung, und SO-1, die Dienstaufsicht – die SpecOps-Polizei, die dafür sorgte, daß wir nicht aus der Reihe tanzten.

»SO-3?« wiederholte ich. »Wofür sind die denn zuständig?«

»Für die bizarren Fälle.«

»Ich dachte, das macht SO-2?«

»Die erledigen die noch bizarreren Fälle. Ich habe meinen Verlobten gefragt, aber er ist leider nicht dazu gekommen, mir eine Anwort zu geben – wir waren sozusagen beschäftigt. Schau dir das an.« Paige hatte mich in den Saal mit den Manuskripten geführt. Die Glasvitrine, in der Martin Chuzzlewit gelegen hatte, war leer.

»Gibt’s was Neues?« fragte sie eine Beamtin der Spurensicherung.

»Nein.«

»Handschuhe?« erkundigte ich mich.

Die SpuSi stand auf und streckte sich; sie hatte keinerlei Abdrücke gefunden.

»Nein; und genau das ist das Komische daran. Es sieht aus, als ob sie den Kasten gar nicht angefaßt hätten; keine Handschuhe, kein Tuch – nichts. Wenn ich’s nicht besser wüßte, würde ich sagen, der Kasten ist gar nicht geöffnet worden und das Manuskript liegt noch darin!«

Ich inspizierte die Vitrine. Sie war fest verschlossen, und keines der anderen Exponate hatten die Diebe auch nur angerührt. Die Schlüssel wurden getrennt aufbewahrt und sollten jeden Augenblick aus London eintreffen.

»Hoppla, das ist ja merkwürdig . . .«, murmelte ich und beugte mich vor.

»Hast du was entdeckt?« fragte Paige erwartungsvoll.

Ich deutete auf eine Stelle an einer der Seitenscheiben, die kaum merklich pulsierte. Der Bereich hatte in etwa die Ausmaße des Manuskripts.

»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Paige. »Ich dachte, das Glas hat einen Fehler.«

»Gehärtetes Panzerglas?« sagte ich. »Auf keinen Fall. Und bei der Montage war das noch nicht da; das kannst du mir glauben, ich war dabei.«

»Was dann?«

Als ich über das harte Glas strich, kräuselte die blanke Oberfläche sich leicht. Mir lief ein Schauer über den Rücken, und mich beschlich ein unangenehmes Gefühl der Vertrautheit, als hätte mich ein ehemals verhaßter Mitschüler nach Jahren wie ein alter Freund begrüßt. »Diese Handschrift kommt mir irgendwie bekannt vor, Paige. Ich habe das dumpfe Gefühl, daß ich den Täter kenne.«

»Du bist seit sieben Jahren LiteraturAgentin, Thursday.«

Ich wußte, was sie damit sagen wollte. »Seit acht, und du hast ganz recht – du kennst ihn vermutlich auch. Könnte Lamber Thwalts dahinterstecken?«

»Er könnte durchaus, wenn er nicht noch hinter Gittern säße – für die Fälschung von Gewonnene Liebesmüh muß er noch vier Jahre schmoren.«

»Was ist mit Keens? Das ist genau seine Kragenweite.«

»Milton weilt leider nicht mehr unter uns. Er hat sich in der Bibliothek von Parkhurst eine Analepsie geholt. Und war nach vierzehn Tagen mausetot.«

»Hmm.«

Ich zeigte auf die beiden Videokameras. »Wen haben die gesehen?«

»Nichts und niemanden«, antwortete Paige. »Ich kann dir die Bänder gern vorspielen, aber danach bist du genauso schlau wie zuvor.«

Sie zeigte mir das vorhandene Material. Der diensthabende Wachmann wurde auf dem Revier vernommen. Die Kollegen hofften, daß die Sache auf das Konto eines Angestellten ging, doch danach sah es nicht aus; der Wachmann war ebenso fassungslos wie alle anderen.

Paige spulte das Video zurück und drückte auf PLAY. »Paß genau auf. Der Recorder geht die fünf Kameras nacheinander durch und nimmt jeweils fünf Sekunden auf.«

»Das heißt, niemand bleibt länger als zwanzig Sekunden unbeobachtet.«

»Du hast’s erfaßt. Siehst du? Da haben wir das Manuskript . . .« Sie zeigte auf das Buch, das gut sichtbar in der Bildmitte lag, als der Videorecorder auf die Kamera über dem Eingang schaltete. Es war alles ruhig. Dann weiter zur Innentür, durch die jeder Einbrecher hätte kommen müssen; die anderen Eingänge waren vergittert. Dann kam der Korridor, danach das Foyer; schließlich wechselte der Apparat in den Manuskriptsaal zurück. Paige drückte die PAUSE-Taste, und ich beugte mich vor. Das Manuskript war verschwunden.

»Zwanzig Sekunden Zeit, um einzusteigen, den Kasten zu knacken, Chuzzlewit abzugreifen und die Fliege zu machen? Ausgeschlossen.«

»Glauben Sie mir, Thursday, genau so ist es gewesen.« Letztere Bemerkung stammte von Boswell, der mir über die Schulter geblickt hatte. »Ich habe keine Ahnung, wie es die Kerle geschafft haben, aber sie haben es geschafft. Gerade hat Supreme Commander Call angerufen, der Premierminister macht ihm die Hölle heiß. Im Parlament wird heftig debattiert, und der eine oder andere Kopf wird rollen. Und meiner wird das nicht sein, darauf können Sie wetten.«

Er sah uns betont eindringlich an, und mir wurde ein wenig mulmig zumute – schließlich war ich diejenige, die das Museum in Sicherheitsfragen beraten hatte.

»Wir arbeiten auf Hochtouren, Sir«, sagte ich und ließ das Video weiterlaufen. Die Perspektive wechselte im Fünfsekundentakt, ohne jedoch neue Erkenntnisse ans Licht zu bringen. Ich nahm mir einen Stuhl, spulte das Band zurück und sah es mir noch einmal an.

»Wozu soll das gut sein?« fragte Paige.

»Wer sucht, der findet.«

Aber ich fand nichts.

3.

Wieder am Schreibtisch

Das Special Operations Network wird direkt von der Regierung finanziert. Obwohl die Arbeit der Behörde im wesentlichen zentral gesteuert wird, verfügen sämtliche SpecOps-Abteilungen über örtliche Repräsentanten, die auf die Vorgänge in der Provinz ein wachsames Auge haben. Diese unterstehen wiederum örtlichen Kommandanten, die mit den staatlichen Behörden für Informationsaustausch, geistige Führung und Grundsatzentscheidungen in ständigem Kontakt stehen. Wie bei den meisten großen Behörden ist das alles bloß Theorie, und in der Praxis herrscht heilloses Chaos. Interne Querelen, Intrigen, politische Interessenkonflikte, Arroganz und schlichte Sturheit führen nachgerade zwangsläufig dazu, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut.

MILLON DE FLOSS

– Eine kurze Geschichte des Special Operations Network

 

Nach achtundvierzig Stunden ergebnisloser Jagd auf Martin Chuzzlewit hatten wir nicht den geringsten Hinweis auf seinen Verbleib. Von Konsequenzen war die Rede, doch dazu mußten wir erst einmal herausbekommen, wie das Manuskript entwendet worden war. Es hatte schließlich wenig Sinn, jemanden dafür zur Rechenschaft zu ziehen, daß im Sicherheitssystem eine Lücke klaffte, wenn man gar nicht wußte, worin sie bestand.

Mich langsam, aber sicher der Verzweiflung nähernd, saß ich an meinem Schreibtisch auf dem Revier, als mir mein Gespräch mit Dad einfiel. Ich rief meine Mutter an und bat sie, das Schlafzimmer keinesfalls mauve zu streichen. Der Schuß ging insofern nach hinten los, als sie diese Idee für grandios hielt und auflegte, bevor ich widersprechen konnte. Seufzend blätterte ich in den Telefonprotokollen, die sich im Lauf der letzten beiden Tage angesammelt hatten. Die meisten Anrufe kamen von Informanten oder besorgten Bürgern, die überfallen oder betrogen worden waren und nun wissen wollten, wie wir mit den Ermittlungen vorankamen.

Aber all das waren Kleinigkeiten im Vergleich zu Chuzzlewit – es gab schließlich jede Menge gutgläubiger Menschen, die zu Schleuderpreisen Byron-Erstausgaben kauften und sich bitter beklagten, wenn sie im nachhinein feststellten, daß sie einer Fälschung aufgesessen waren. Wie die meisten meiner Kollegen hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer hinter alldem steckte, aber die großen Fische fingen wir nie – nur die »Veräußerer«, die Händler, welche die Ware weiterverkauften. Das Ganze roch nach Korruption an höchster Stelle, aber das konnten wir nicht beweisen. Normalerweise las ich die Protokolle mit Interesse, doch heute schien mir nichts furchtbar Wichtiges dabei zu sein. Die Gedichte von Byron, Poe und Keats sind und bleiben schließlich Originale, Raubdruck hin oder her. Dem Lesevergnügen tut das keinen Abbruch.

Ich zog meine Schreibtischschublade auf, holte einen kleinen Spiegel daraus hervor und sah hinein. Eine junge Frau mit reichlich unscheinbaren Zügen starrte mich an. Ihr halblanges, mattbraunes Haar war im Nacken achtlos zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Wangenknochen ließen sich bestenfalls erahnen, und in ihrem Gesicht zeichneten sich unverkennbar erste Falten ab. Ich dachte an meine Mutter, die schon mit fünfundvierzig runzlig wie eine Walnuß gewesen war. Schaudernd legte ich den Spiegel in die Schublade zurück und holte ein verblichenes, leicht zerknittertes Foto heraus. Es zeigte mich im Kreise einer Handvoll Kameraden auf der Krim: Corporal T. E. Next, 33550336, Fahrer (TTP), Leichte Panzerbrigade.

Ich hatte meinem Vaterland gewissenhaft gedient, ein militärisches Desaster überlebt und war dafür ehrenhaft entlassen worden, mit einem Orden als Beweis. Sie hatten von mir erwartet, bei Rekrutierungsveranstaltungen Vorträge über Tapferkeit und Effizienz zu halten, doch ich hatte sie enttäuscht. Ich ging zu einem Bataillonstreffen, weiter nichts; ich hatte unwillkürlich nach Gesichtern gesucht, die gar nicht da sein konnten.

Auf dem Foto stand Landen links von mir und umarmte mich und einen zweiten Soldaten, meinen Bruder, seinen besten Freund. Landen hatte zwar ein Bein verloren, war aber glücklich heimgekehrt. Mein Bruder war immer noch da draußen.

»Wer ist das?« fragte Paige, die mir über die Schulter geblickt hatte.

»Boah!« kreischte ich. »Mußt du mich unbedingt so erschrekken?«

»Tut mir leid. Die Krim?«

Ich reichte ihr das Foto, und sie betrachtete es eingehend. »Das muß dein Bruder sein – ihr habt dieselbe Nase.«

»Ich weiß, wir haben sie immer abwechselnd getragen. Ich war montags, mittw-«

». . . dann muß der andere Landen sein.«

Ich drehte mich um und sah sie stirnrunzelnd an. Ich redete nie mit Fremden über Landen. Das war Privatsache. Ich haßte das Gefühl, daß sie mir nachspionierte.

»Woher weißt du von Landen?«

Als sie den Zorn in meiner Stimme bemerkte, zog sie lächelnd eine Augenbraue hoch. »Du hast mir selbst von ihm erzählt.«

»Ach ja?«

»Allerdings. Du hast zwar gelallt und fast nur dummes Zeug geredet, aber es ging eindeutig um ihn.«

Ich zuckte zusammen. »Bei der Weihnachtsfeier letztes Jahr?«

»Oder vorletztes. Du warst aber beileibe nicht die einzige, die gelallt und dummes Zeug geredet hat.«

Ich warf noch einen Blick auf das Foto. »Wir waren verlobt.«

Mit einem Mal wirkte Paige verlegen. Verlobte von der Krim waren ein äußerst heikles Thema. »Ist er . . . äh . . . heimgekehrt?«

»Größtenteils. Er hat ein Bein zurückgelassen. Wir haben uns aus den Augen verloren.«

»Wie heißt er mit Nachnamen?« erkundigte sich Paige; endlich erfuhr sie etwas über meine Vergangenheit.

»Parke-Laine. Landen Parke-Laine.« Ich konnte mich nicht entsinnen, wann ich seinen Namen das letzte Mal laut ausgesprochen hatte.

»Parke-Laine? Der Schriftsteller?«

Ich nickte.

»Gutaussehender Typ.«

»Danke«, sagte ich artig, ohne recht zu wissen, weshalb. Ich legte das Foto in die Schreibtischschublade zurück. Paige schnippte mit den Fingern, als ihr wieder einfiel, was sie eigentlich von mir wollte.

»Du sollst zu Boswell kommen«, verkündete sie.

 

Boswell war nicht allein. Ein Mann um die vierzig erwartete mich und stand auf, als ich hereinkam. Er hatte eine lange Narbe im Gesicht. Boswell druckste einen Augenblick herum, warf hüstelnd einen Blick auf seine Armbanduhr, schob wichtige Termine vor und ging hinaus.

»Polizei?« fragte ich, als wir allein waren. »Ist ein Verwandter gestorben oder so?«

Der Mann schloß die Jalousien, damit wir gänzlich ungestört waren. »Nicht daß ich wüßte.«

»SO-1?« Ich rechnete fest mit einem Rüffel.

»Ich?« erwiderte der Mann. Seine Verwunderung war nicht gespielt. »Nein.«

»LitAg?«

»Warum setzen Sie sich nicht?«

Er bot mir einen Platz an und ließ sich dann auf Boswells großem Eichendrehstuhl nieder. Er klatschte einen gelbbraunen Ordner mit meinem Namen auf den Schreibtisch. Die Akte war erstaunlich dick.

»Geht es darin nur um mich?«

Er ignorierte meine Frage. Statt den Ordner aufzuschlagen, beugte er sich vor und fixierte mich, ohne zu blinzeln. »Wie beurteilen Sie den Fall Chuzzlewit?«

Ich starrte unwillkürlich auf seine Narbe. Sie zog sich von der Stirn bis zum Kinn und war ähnlich klein und unauffällig wie die Schweißnaht eines Schiffsbauers. Sie zerrte an seiner Oberlippe, doch davon abgesehen war sein Gesicht eigentlich recht hübsch; ohne die Narbe wäre es vielleicht sogar schön gewesen. Mein Benehmen war taktlos. Instinktiv hob er die Hand, um die Narbe zu verdecken.

»Kosake vom feinsten«, scherzte er gequält.

»Das tut mir leid.«

»Nicht nötig. Sie ist schließlich kaum zu übersehen.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Ich arbeite für SpecOps-5«, verkündete er zögernd und zeigte mir eine polierte Marke.

»SO-5?« stieß ich hervor, außerstande, mein Erstaunen zu verbergen. »Was treibt ihr da eigentlich genau?«

»Das ist geheim, Miss Next. Ich habe Ihnen die Marke nur gezeigt, um Ihnen klarzumachen, daß Sie offen mit mir reden können und sich über die Geheimhaltungsvorschriften keine Gedanken zu machen brauchen. Ich kann das aber auch von Boswell bestätigen lassen, wenn Ihnen das lieber ist . . .«

Mein Herz schlug schneller. Gespräche mit ranghöheren Spec-Ops-Beamten führten mitunter dazu, daß man versetzt wurde . . .

»Also, Miss Next, wie denken Sie über Chuzzlewit?«

»Wollen Sie meine persönliche Meinung hören oder die offizielle Version?«

»Ihre Meinung. Für die offiziellen Versionen ist Boswell zuständig.«

»Ich glaube, es ist noch zu früh, um etwas Genaues zu sagen. Wenn Erpressung das Motiv ist, können wir mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß das Manuskript noch vollständig und unversehrt ist. Gleiches gilt, wenn es gestohlen wurde, um es zu tauschen oder zu verkaufen. Wenn allerdings Terroristen dahinterstecken, sollten wir uns Sorgen machen. In den Fällen eins und drei haben die LitAgs nichts mit der Sache zu tun. Dann übernimmt SO-9, und wir sind aus dem Spiel.«

Der Mann sah mich eindringlich an und nickte.

»Sie fühlen sich hier nicht besonders wohl, nicht wahr?«

»Ehrlich gesagt, ich habe die Nase gestrichen voll«, sagte ich, vielleicht eine Idee zu ehrlich. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Entschuldigen Sie. Schlechte Kinderstube; die Mantel-und-Degen-Geschichten sollten Sie nicht allzu ernst nehmen. Meine Name ist Tamworth, Einsatzleiter SO-5. Aber«, setzte er hinzu, »das hört sich dramatischer an, als es ist. Noch sind wir nur zu dritt.«

Ich schüttelte seine ausgestreckte Hand. »Zu dritt?« fragte ich neugierig. »Ist das für eine SpecOps-Abteilung nicht ein bißchen dürftig?«

»Ich habe gestern mehrere Mitarbeiter verloren.«

»Das tut mir leid.«

»Nein, nein. Wir haben lediglich gute Fortschritte gemacht, und das ist nicht immer von Vorteil. Einige Mitarbeiter der Abteilung sind zwar erstklassige Ermittler, drücken sich aber vor jedem Einsatz. Sie haben Kinder. Ich nicht. Insofern kann ich das verstehen.«

Ich nickte. Das ging mir ähnlich. »Was wollen Sie eigentlich von mir?« fragte ich so beiläufig wie möglich. »Ich bin nur eine kleine LiteraturAgentin. Wie mir der SpecOps-Versetzungsausschuß quasi durch die Blume zu verstehen gegeben hat, reicht mein Talent allenfalls für einen Job am Schreibtisch oder Küchenherd.«

Tamworth lächelte. Er klopfte auf den Aktenordner, den er vor sich liegen hatte. »Ich weiß. Da die SpecOps-Personalabteilung nicht weiß, wie man anständig Nein sagt, speist man die Antragsteller immer mit Ausflüchten ab. Darin sind diese Leute ganz groß. Dabei ist man sich Ihrer Fähigkeiten dort vollauf bewußt. Ich habe eben mit Boswell gesprochen, und er ist durchaus bereit, Sie gehen zu lassen, vorausgesetzt, Sie möchten überhaupt in unsere Abteilung wechseln.«

»Sie kommen von SO-5, da hat er wohl keine andere Wahl, oder?«

Tamworth lachte. »Nein. Aber Sie. Ich würde nie jemanden einstellen, der nicht mit mir zusammenarbeiten will.«

Ich sah ihn an. Er meinte es ernst.

»Ist das eine Versetzung?«

»Nein«, antwortete Tamworth. »Ich brauche Sie nur, weil Sie über Informationen verfügen, die wir dringend benötigen. Sie werden als Beobachterin fungieren, weiter nichts. Wenn Sie erst mal wissen, womit wir es zu tun haben, werden Sie dafür noch dankbar sein.«

»Mit anderen Worten, wenn der Fall abgeschlossen ist, werde ich wieder hierher zurückversetzt?«

Er sah mich eine Zeitlang schweigend an und überlegte, wieviel er mir versprechen konnte, ohne mich anzulügen. Das machte ihn mir sympathisch.

»Ich kann für nichts garantieren, Miss Next, aber wer einmal für SO-5 gearbeitet hat, darf getrost davon ausgehen, nicht bis in alle Ewigkeit bei SO-27 versauern zu müssen.«

»Was soll ich tun?«

Tamworth holte ein Formular aus seinem Aktenkoffer und schob es mir über den Tisch. Mit meiner Unterschrift verpflichtete ich mich zu strengstem Stillschweigen und trat nahezu sämtliche Menschenrechte an SpecOps ab – und noch viel mehr, falls ich einem Kollegen mit geringerem Sicherheitsstatus auch nur ein Sterbenswörtchen über meine Tätigkeit verriet. Ich setzte pflichtschuldig meine Signatur darunter und gab ihm das Formular zurück. Dafür bekam ich eine polierte SO-5-Marke mit meinem Namen. Tamworth kannte mich besser, als ich dachte. Als das erledigt war, senkte er die Stimme und begann: »SO-5 ist in erster Linie für die Verhaftung und Eliminierung von Straftätern zuständig. Wir verfolgen einen Verdächtigen so lange, bis wir ihn gefunden und außer Gefecht gesetzt haben, und widmen uns dann dem nächsten. SO-4 macht mehr oder weniger dasselbe; nur daß sie hinter anderen Dingen, äh, Personen her sind. Sie wissen schon. Jedenfalls war ich heute morgen in Gad’s Hill, Thursday – ich darf Sie doch Thursday nennen? – und habe den Tatort persönlich in Augenschein genommen. Der Dieb des Chuzzlewit-Manuskripts hat keinerlei Fingerabdrücke hinterlassen, es gibt keine Hinweise auf einen Einbruch, und auf den Überwachungsvideos ist auch nichts zu sehen.«

»Das ist nicht viel.«

»Im Gegenteil. Das hat meinen ursprünglichen Verdacht bestätigt.«

»Haben Sie Boswell davon erzählt?« fragte ich.

»Warum sollte ich? Uns geht es nicht um das Manuskript, uns geht es um den Mann, der es gestohlen hat.«

»Nämlich?«

»Ich kann Ihnen den Namen nicht sagen, aber ich kann ihn für Sie aufschreiben.« Er zückte einen Filzstift, schrieb »Acheron Hades« auf einen Notizblock und hielt ihn mir hin.

»Kommt Ihnen der bekannt vor?«

»Sehr bekannt sogar. Aber es dürfte kaum jemanden geben, der noch nicht von ihm gehört hat.«

»Ich weiß. Aber Sie kennen ihn persönlich, nicht?«

»Und ob«, antwortete ich. »Er war ’68 einer meiner Anglistikdozenten an der Swindoner Universität. Keiner von uns war sonderlich verwundert, als er zum Kriminellen wurde. Er war ein ziemlicher Frauenheld. Er hat sogar eine meiner Mit-Studentinnen geschwängert.«

»Miss Braeburn, ja; das wissen wir. Wie steht es mit Ihnen?«

»Er hat es versucht, aber es hat nicht geklappt.«

»Haben Sie mit ihm geschlafen?«

»Nein; ich hatte andere Pläne, als mit meinen Dozenten ins Bett zu gehen. Ich fühlte mich zwar geschmeichelt, wenn er mich zum Essen einlud oder so. Er war schließlich ein Genie – aber moralisch war er ein Vakuum. Ich weiß noch, wie er mitten in einem geistreichen Vortrag über John Websters Weißen Teufel aus dem Hörsaal weg verhaftet wurde, wegen bewaffneten Raubüberfalls. Sie konnten ihm zwar nichts nachweisen, aber die Braeburn-Sache kostete ihn dann doch seine Dozentur.«

»Und als er Sie bat, mit ihm zu kommen, haben Sie abgelehnt.«

»Sie scheinen ja bestens informiert zu sein, Mr. Tamworth.«

Tamworth machte sich eine Notiz. Dann hob er den Kopf und sah mich an. »Aber die wichtigste Frage ist: Sie wissen genau, wie er aussieht?«

»Logisch«, antwortete ich, »aber Sie vergeuden Ihre Zeit. Er ist ’82 in Venezuela ums Leben gekommen.«

»Nein; er hat seinen Tod vorgetäuscht. Ein Jahr später haben wir das Grab geöffnet. Von einer Leiche keine Spur. Er hatte die Sache so gut vorbereitet, daß er selbst die Ärzte täuschen konnte; sie beerdigten einen leeren Sarg. Er verfügt über bemerkenswerte Fähigkeiten. Deshalb dürfen wir auch seinen Namen nicht laut aussprechen. Ich nenne das die Regel Nummer Eins.«

»Seinen Namen? Warum nicht?«

»Weil er seinen Namen – selbst wenn man ihn nur flüstert – im Umkreis von mindestens tausend Meilen hören kann. Mit seiner Hilfe nimmt er sozusagen unsere Witterung auf.«

»Und wie kommen Sie darauf, daß er Chuzzlewit gestohlen hat?«

Tamworth holte eine Akte aus seinem Koffer. Sie trug die Aufschrift »Streng geheim – nur für Angehörige von SpecOps-5«. Das Passepartout auf dem Deckel, in dem normalerweise ein Verbrecherfoto steckte, war leer.

»Wir haben kein Bild von ihm«, sagte Tamworth, als ich den Ordner aufschlug. »Auf Film oder Video bleibt er unsichtbar und war nie lange genug in Gewahrsam, als daß ein Zeichner ein Porträt von ihm hätte anfertigen können. Erinnern Sie sich an die Kameras in Gad’s Hill?«

»Ja. Und?«

»Sie haben nichts aufgezeichnet. Ich habe mir die Bänder genau angesehen. Auch wenn alle fünf Sekunden der Kamerablickwinkel wechselt, konnte ihnen der Eindringling unmöglich entgehen. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«

Ich nickte langsam und blätterte in Acherons Akte.

Tamworth fuhr fort: »Ich bin ihm seit fünf Jahren auf den Fersen. In Großbritannien wird er wegen siebenfachem, in Amerika wegen achtzehnfachem Mord gesucht. Diebstahl, Erpressung, Menschenraub. Er ist eiskalt, berechnend und kennt keine Skrupel. Sechsunddreißig seiner achtundvierzig bekannten Opfer waren entweder SpecOps-Agenten oder Polizeibeamte.«

»Hartlepool ’75?« fragte ich.

»Ja«, antwortete Tamworth zögernd. »Sie haben davon gehört?«

Natürlich. Wer hatte das nicht? Nach einem fehlgeschlagenen Raubüberfall saß Hades im Keller eines mehrstöckigen Parkhauses in der Falle. Ein von der Polizei angeschossener Komplize lag tot in einer nahe gelegenen Bank; Acheron hatte ihn selbst umgebracht, damit er nicht gegen ihn aussagen konnte. Im Keller überredete er einen Polizisten, ihm seine Dienstwaffe auszuhändigen, und erschoß bei seiner Flucht sechs weitere Beamte. Der einzige Überlebende war der Polizist, dessen Waffe er sich angeeignet hatte. Acheron fand das vermutlich witzig. Der fragliche Beamte wußte keine hinreichende Erklärung dafür, warum er Hades seine Schußwaffe gegeben hatte. Er ging vorzeitig in Pension und beging nach einer kurzen Karriere als Alkoholiker und Ladendieb Selbstmord, indem er sich in seinem Wagen mit Kohlenmonoxyd vergiftete. Als »das siebte Opfer« erlangte er eine gewisse Berühmtheit.

»Ich habe den Überlebenden von Hartlepool kurz vor seinem Selbstmord noch vernommen«, fuhr Tamworth fort, »nachdem ich den Auftrag erhalten hatte, ihn um jeden Preis zu finden. Das Ergebnis meiner Ermittlungen führte geradewegs zu Regel Nummer Zwei: Sollten Sie je das Pech haben, ihm persönlich zu begegnen, trauen Sie ihm nicht über den Weg. Er hat noch jeden hinters Licht geführt, sei es mit Worten, Taten, Gedanken oder seinem Äußeren. Ein willensschwacher Mensch ist machtlos gegen seine ungeheure Überzeugungskraft. Habe ich Ihnen schon gesagt, daß wir befugt sind, im Rahmen unserer dienstlichen Tätigkeit alle zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden?«

»Nein, aber das habe ich mir gedacht.«

»Bei unserem Freund schießt SO-5 grundsätzlich scharf . . .«

»He, he, Moment mal. Sie dürfen ihn ausschalten ohne Prozeß?«

»Willkommen bei SpecOps-5, Thursday – was haben Sie sich denn vorgestellt unter Eliminierung?«

Sein Lachen hatte etwas Beunruhigendes.

»Wie heißt es noch so schön? Wer zu den SpecOps will, muß ein bißchen verrückt sein. Wir fackeln nicht lange.«

»Ist das denn legal?«

»Ganz und gar nicht. Aber was SpecOps-1 bis 7 angeht, drückt der Große Bruder beide Augen zu. Bei uns gibt es eine Redensart: Alles unter acht steht über dem Gesetz. Schon mal gehört?«

»Nein.«

»Keine Angst, Sie werden das noch oft genug zu hören bekommen. Regel Nummer Drei lautet jedenfalls: Verhaftung ist Nebensache. Was für eine Waffe tragen Sie?«

Er notierte meine Antwort.

»Ich besorge Ihnen Deformations-Geschosse dafür.«

»Wenn wir damit erwischt werden, ist der Teufel los.«

»Alles nur Selbstverteidigung«, beeilte Tamworth sich zu versichern. »Sie werden ohnehin nichts mit dem Mann zu tun haben; Sie sollen ihn lediglich identifizieren, wenn er sich blicken läßt. Aber eins kann ich Ihnen sagen: Wenn es hart auf hart kommt, sollen meine Leute nicht mit Pfeil und Bogen kämpfen müssen. Gewöhnliche Munition wäre da genauso hilfreich wie eine kugelsichere Weste aus nasser Pappe. Uns liegen keinerlei gesicherte Informationen vor, nicht mal eine Geburtsurkunde. Wir wissen weder, wie alt er ist, noch, wer seine Eltern waren. Nur daß er 1954 als Kleinkrimineller mit literarischen Ambitionen urplötzlich auf der Bildfläche erschien und sich konsequent auf Platz drei der Liste der weltweit meistgesuchten Verbrecher hochgearbeitet hat.«

»Wer belegt die Plätze eins und zwei?«

»Das weiß ich nicht, und man hat mir unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß es durchaus von Vorteil sei, es nicht zu wissen.«

»Und wie geht es jetzt weiter?«

»Ich melde mich. Lassen Sie Ihren Piepser Tag und Nacht eingeschaltet, damit ich Sie jederzeit erreichen kann. Sie sind ab sofort vom Dienst bei SO-27 beurlaubt, also machen Sie sich ein paar schöne Tage. Bis bald!«

Er war im Nu verschwunden und ließ mich mit pochendem Herzen und der SO-5-Marke zurück. Boswell kam wieder herein, gefolgt von einer neugierigen Paige. Ich zeigte ihnen meine neue Marke.

»Gratuliere!« sagte Paige und umarmte mich; Boswell wirkte nicht sonderlich erfreut. Er mußte schließlich an seine Abteilung denken.

»Bei SO-5 geht es nicht so gemächlich zu wie hier, Next«, meinte er väterlich. »Gehen Sie an Ihren Schreibtisch, und lassen Sie sich die ganze Sache noch mal durch den Kopf gehen. Trinken Sie ein Täßchen Kaffee und essen Sie ein Rosinenbrötchen. Nein, lieber gleich zwei. Überstürzen Sie nichts, und wägen Sie das Für und Wider sorgfältig ab. Wenn Sie sich entschieden haben, stehe ich Ihnen gern mit Rat und Tat zur Seite. Verstanden?«

Und ob ich verstanden hatte. Ich stürzte Hals über Kopf aus dem Büro. Fast hätte ich sogar Landens Bild vergessen.

4.

Acheron Hades

. . . Da ich auf diesem Gebiet nicht umsonst als eine Art Koryphäe gelte, darf ich wohl behaupten, daß man abscheuliche Verbrechen am besten um ihrer selbst willen begeht. Zwar ist gegen einen kleinen Kapitalzuwachs durchaus nichts einzuwenden, doch verwässert er den unvergleichlichen Geschmack der Niedertracht derart, daß jeder hergelaufene Dieb sie zu goutieren vermag. Das wahre, grundlos Böse ist genauso selten wie das Gute per se – und wir wissen ja alle, wie selten das ist . . .

ACHERON HADES

– Die Lust am Laster

 

Tamworth meldete sich weder in der ersten noch in der zweiten Woche. In der dritten Woche versuchte ich ihn anzurufen, geriet jedoch an einen professionellen Leugner, der rundweg bestritt, daß es Tamworth oder SO-5 überhaupt gab. Ich nutzte die freie Zeit dazu, Akten zu lesen und zu archivieren, den Wagen in die Werkstatt zu bringen und Pickwick – dem neuen Gesetz entsprechend – als Haustier statt wie bisher als wilden Dodo registrieren zu lassen. Ich fuhr mit ihm ins Rathaus, wo ein Veterinärinspektor den ehemals ausgestorbenen Vogel eingehend in Augenschein nahm. Da Pickwick, wie die meisten Haustiere, für Ärzte nur wenig übrighatte, starrte er feindselig zurück.

»Plock-plock«, machte Pickwick nervös, als der Inspektor ihm fachmännisch den großen Messingfußring anlegte.

»Keine Flügel?« fragte der Beamte mit einem neugierigen Blick auf Pickwicks etwas merkwürdiges Äußeres.

»Das ist die Version 1.2«, erklärte ich. »Eins der ersten Modelle. Die komplette Sequenz lag erst ab der 1.7 vor.«

»Dann ist er wohl schon ziemlich alt?«

»Er wird im Oktober zwölf.«

»Ich hatte mal einen Beutelwolf«, sagte der Beamte betrübt. »Version 2.1. Bei der Dekantierung stellte sich heraus, daß er keine Ohren hatte. Stocktaub, das Tier. Keine Garantie, kein Garnichts. Die hauen einen nach Strich und Faden übers Ohr. Lesen Sie den New Splicer?«

Diese Frage mußte ich leider verneinen.

»Letzte Woche haben sie eine Stellersche Seekuh geklont. Wie soll man so ein Vieh bloß durch die Tür kriegen?«

»Einfetten?« schlug ich vor. »Und ihm einen Teller Seetang unter die Nase halten?«

Aber der Beamte hörte mir gar nicht zu; er hatte sich dem nächsten Dodo zugewandt, einem rosaroten Ungetüm mit langem Hals. Sein Besitzer lächelte verlegen. »Wir haben die fehlenden Stränge mit Flamingo aufgefüllt«, erklärte er. »Ich hätte vielleicht lieber Storch nehmen sollen.«

»Version 2.9?«

»2. 9. 1, um genau zu sein. Eine ziemlich bunte Mischung, aber für uns ist er schlicht und einfach Chester. Wir würden ihn um nichts in der Welt hergeben.«

Der Inspektor hatte Chesters Meldeunterlagen überprüft. »Es tut mir leid«, sagte er schließlich, »aber die 2.9.1er fallen unter die neue Chimären-Regelung.«

»Was soll das heißen?«

»Wo Dodo draufsteht, ist nicht unbedingt auch Dodo drin. Zimmer sieben, schräg gegenüber. Immer der Dame mit dem Göbler nach; aber nehmen Sie sich in acht, ich habe den Kollegen heute vormittag einen Elektrolurch rübergeschickt.«

Während Chesters Besitzer und der Beamte sich noch stritten, ging ich in den Park hinunter und führte Pickwick ein bißchen Gassi. Ich ließ ihn von der Leine, und er jagte erst einen Schwarm Tauben hoch und verbrüderte sich dann mit ein paar wilden Dodos, die sich im Teich die Füße kühlten. Sie planschten ausgelassen im Wasser und plocktensich leise etwas zu, bis es Zeit wurde, den Heimweg anzutreten.

 

Gerade als ich endgültig festgestellt hatte, daß ich die Möbel beim besten Willen nicht noch einmal umstellen konnte, rief Tamworth an. Er führe eine Observierung durch, und ich solle ihm dabei helfen. Ich notierte mir die Adresse und war nach kaum vierzig Minuten im East End. Der Einsatzort lag in einer heruntergekommenen, von umgebauten Lagerhäusern gesäumten Straße, die schon vor zwanzig Jahren hatten abgerissen werden sollen. Ich machte die Scheinwerfer aus, versteckte meine Wertsachen und schloß den Wagen ab. Der Pontiac war alt und verbeult genug, um in dieser schäbigen Gegend kein unnötiges Aufsehen zu erregen. Das Mauerwerk bröckelte, und wo sich einst Fallrohre befunden hatten, wucherten jetzt grüne Algen. Die blinden Fensterscheiben waren zerbrochen, und Graffiti und Rußflecken verunzierten die Hauswände. Eine rostige Feuerleiter rankte sich im Zickzack an dem dunklen Bau empor und warf ein schartiges Schattenmuster auf die von Schlaglöchern durchsiebte Straße und mehrere Autowracks.

Tamworths Anweisungen folgend, schlüpfte ich durch eine versteckte Seitentür ins Treppenhaus. Im Verputz klafften Risse, und der Gestank von Desinfektionsmitteln mischte sich mit den seltsamen Gerüchen aus dem Curry-Imbiß im Erdgeschoß. In regelmäßigen Abständen flackerte eine Neonröhre, und ich sah Frauen in engen Miniröcken vor dunklen Zimmertüren stehen. Die Bewohner dieser Gegend waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Wegen der Wohnungsnot in der Hauptstadt tummelte sich hier praktisch alles vom alteingesessenen Londoner über den Anwalt oder Werbeprofi bis zu Nutten und Pennern. Was der Polizei ein Dorn im Auge war, erlaubte es SpecOps-Agenten, sich unauffällig zu bewegen.

Ich kam in den siebten Stock, wo zwei junge Henry-Fielding-Fans Kaugummikarten tauschten. »Ich gebe dir meine Amelia für deine Sophia.«

»Spinnst du?« erwiderte sein Geschäftsfreund entrüstet. »Wenn du eine Sophia haben willst, mußt du mir dafür einen Allworthy, einen Tom Jones und deine Amelia geben!«

Als ihm klar wurde, wie selten die Sophias waren, willigte der Partner widerstrebend ein. Der Tausch war besiegelt, und sie rannten die Treppe hinunter, um nach Radkappen zu suchen. Ich verglich die Wohnungsnummern mit der Adresse, die mir Tamworth genannt hatte, und klopfte an eine pfirsichfarben gestrichene Tür, von der der Lack abblätterte. Ein Mann um die achtzig öffnete zögernd. Er verbarg eine Gesichtshälfte hinter einer runzligen Hand, und ich zeigte ihm meine Marke.

»Sie müssen Next sein«, sagte er mit einer für sein Alter erstaunlich jugendlichen Stimme. Ich ging hinein. Tamworth spähte durch ein Fernglas in ein Zimmer im Haus gegenüber und winkte mir zum Gruß, ohne aufzublicken. Ich sah den Alten lächelnd an.

»Nennen Sie mich Thursday.«

Er schüttelte mir erfreut die Hand.

»Mein Name ist Snood; Sie dürfen mich Junior nennen.«

»Snood?« wiederholte ich. »Sind Sie mit Filbert verwandt?«

Der Alte nickte.

»Ach ja, Filbert!« murmelte er. »Ein guter Junge und seinem alten Vater stets ein guter Sohn.«

Filbert Snood war der einzige Mann, der mich in den zehn Jahren seit meiner Trennung von Landen auch nur ansatzweise interessiert hatte. Snood war bei den ChronoGarden gewesen; er war nach Tewkesbury abberufen worden und nie wieder zurückgekehrt. Eines Tages erhielt ich einen Anruf von seinem Vorgesetzten, der mir mitteilte, Filbert sei »bis auf weiteres verhindert«. Da konnte eigentlich nur eine andere Frau dahinterstecken. Es hatte wehgetan, obwohl ich in Filbert nicht verliebt gewesen war. Das wußte ich genau, in Landen war ich nämlich verliebt gewesen. Man spürt das, wenn es soweit ist, so wie man ein Turner-Gemälde auf Anhieb erkennt oder die Westküste Irlands.

»Dann sind Sie sein Vater?«

Snood ging in die Küche, aber so leicht kam er mir nicht davon.

»Wie geht es ihm? Wo wohnt er jetzt?«

Der Alte machte sich am Teekessel zu schaffen.

»Es fällt mir schwer, über Filbert zu sprechen«, gestand er schließlich und tupfte sich den Mundwinkel mit einem Taschentuch. »Es ist so lange her.«

»Ist er tot?« fragte ich.

»Nein, nein«, murmelte der Alte. »Er ist nicht tot; man hat Ihnen wahrscheinlich gesagt, er sei bis auf weiteres verhindert, nicht?«

»Ja. Ich dachte, er hätte eine andere oder so.«

»Wir dachten, Sie würden das richtig deuten; Ihr Vater war oder ist vermutlich noch immer bei der ChronoGarde, und wir bedienen uns nun mal gewisser – wie soll ich sagen? – Euphemismen.«

Er starrte mich unschlüssig an, aus stahlblauen Augen unter schweren Lidern. Mein Herz hämmerte wie wild.

»Wie meinen Sie das?« fragte ich.

Der Alte schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber doch anders, hielt einen Moment inne und schlurfte ins Wohnzimmer zurück, um Videobänder zu beschriften. Es steckte offensichtlich weitaus mehr dahinter als eine andere Frau in Tewkesbury, aber die Zeit arbeitete für mich. Ich ließ die Angelegenheit vorerst auf sich beruhen.

Das gab mir Gelegenheit, mich ein wenig umzuschauen. An einer feuchten Wand lehnte ein Tapeziertisch voller erstklassiger Überwachungstechnik. Ein Revox-Tonbandgerät stand neben einem kleinen Mischpult, das die Signale der sieben Abhörmikrofone in der überwachten Wohnung und der dazugehörigen Telefonleitung auf die acht Spuren des Tonbands verteilte. Am Fenster waren zwei Ferngläser, ein Fotoapparat mit leistungsstarkem Teleobjektiv sowie eine Videokamera aufgebaut, die zehn Stunden am Stück aufzeichnen konnte.

Tamworth ließ das Fernglas sinken und hob den Blick. »Willkommen an Bord, Thursday. Sehen Sie mal hier durch.«

Ich schaute durch das Fernglas. In der Wohnung gegenüber, kaum dreißig Meter entfernt, erkannte ich einen gutgekleideten Mann um die fünfzig mit verkniffenem Gesicht und besorgter Miene. Er schien zu telefonieren.

»Das ist er nicht.«

Tamworth lächelte. »Ich weiß. Das ist sein Bruder Styx. Wir haben heute morgen von ihm erfahren. SO-14 wollte ihn sich schnappen, aber unser Mann ist ein viel größerer Fisch; ich habe SO-1 eingeschaltet, und jetzt sind wir für Styx zuständig. Hören Sie mal.«

Er gab mir einen Kopfhörer, und ich sah noch einmal durch das Fernglas. Der Bruder von Hades saß an einem großen Nußbaumschreibtisch und blätterte im London and District Car Trader. Plötzlich legte er das Anzeigenblatt beiseite, griff zum Telefon und wählte eine Nummer.

»Hallo?« sprach Styx in den Hörer.

»Hallo?« erwiderte eine Frau mittleren Alters am anderen Ende der Leitung.

»Haben Sie einen Chevrolet Baujahr ’76 annonciert?«

»Er will ein Auto kaufen?« fragte ich Tamworth.

»Warten Sie’s ab. Jede Woche um dieselbe Zeit, wie es scheint. Pünktlich wie die Maurer.«

»Er hat erst 82 000 Meilen drauf«, fuhr die Frau fort, »und läuft wie eine Eins. TÜV und Steuer sind bis Jahresende bezahlt.«

»Das klingt perfekt«, erwiderte Styx. »Ich bezahle bar. Würden Sie mir den Wagen reservieren? Ich bin in einer knappen Stunde bei Ihnen. Sie wohnen in Clapham, nicht?«

Die Frau bejahte und nannte eine Adresse, die Styx sich jedoch gar nicht erst notierte. Er bekräftigte sein Interesse, legte auf und wählte eine andere Nummer, diesmal wegen eines Wagens in Hounslow. Ich setzte den Kopfhörer ab und zog den Stecker aus der Buchse, so daß wir Styx’ nasale Reibeisenstimme über Lautsprecher hören konnten.

»Wie lange macht er das?«

»Bis ihm langweilig wird, wenn man den Unterlagen von SO-14 glauben darf. Und er ist beileibe nicht der einzige. Wer je versucht hat, einen Wagen zu verkaufen, hatte es mindestens einmal mit jemandem wie Styx zu tun. Hier, die sind für Sie.«

Er reichte mir eine Schachtel mit Spezialmunition, die im Körper des Opfers aufpilzen und größtmöglichen Schaden anrichten würde.

»Dumdum-Geschosse? Seit wann ist er ein Büffel?«