Wo ist Thursday Next? - Jasper Fforde - E-Book

Wo ist Thursday Next? E-Book

Jasper Fforde

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Beschreibung

Der 6. Band der Kultserie um Thursday Next - jetzt im Taschenbuch Panik in der BuchWelt: ein Krieg der Genres scheint bevorzustehen. Nur Thursday Next kann mit ihren speziellen diplomatischen Fähigkeiten das Schlimmste verhindern. Doch kurz vor den Friedensgesprächen verschwindet sie spurlos. Es ist nun an BuchThursday, der geschriebenen Version von Thursday Next, die bisher ein beschauliches Dasein in einem ruhigen Eckchen der Fantasy führte, die Lage zu retten. Tatsächlich kommt sie einer finsteren Verschwörung auf die Spur. Dann stürzt zu allem Überfluss ein eBook ab, die Trümmer verunstalten die halbe BuchWelt. Schon werden die Metaphern knapp ... 

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Jasper Fforde

Wo ist Thursday Next?

Roman

Deutsch vonJoachim Stern

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2013

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2011 Jasper Fforde

© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe:

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41838-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21453-7

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

Für Tif Loehnis,

der ich meine Karriere

und in der Folge noch eine Menge

anderes verdanke

Ein Hinweis des Autors

Dieses Buch ist mit Special Features ausgestattet. Dazu gehören: The Making of … und eine später gestrichene Szene. Diese Features finden sich mit zahlreichen Special Features zu Thursdays anderen Büchern unter www.jasperfforde.com/features.html

Inhalt

1. Das BuchWelt-Remake

2. Eine Frau namens Thursday Next

3. Carmine O’Kipper

4. Der rothaarige Gentleman

5. Sprockett

6. Das möblierte Zimmer

7. Die Lady von Shalott

8. Der Stern

9. Zu Hause

10. Epizeuxis

11. Der Plot wird dicker

12. Jurisfiktion

13. Der 14. Mai 1931

14. Zu den Akten

15. Das Pantomimenfeld

16. Commander Bradshaw

17. Der GattungsRat

18. Senator Jobsworth

19. Juristech, Inc.

20. Lebendig!

21. Landen Parke-Laine

22. Jenny

23. Der Stiltonista

24. Die Goliath Corporation

25. Eine Intervention

26. Bei der Familie

27. Vorzeitig zurück

28. Wieder zu Hause

29. GattungsTransferTaxis

30. Große Umlaufbahn

31. Die Biografien

32. Heimkehr

33. Die Liga der Zahnradmänner

34. Die Metaphoric Queen

35. Flussaufwärts

36. Die Mittelstation

37. Revision

38. Antworten

39. Optionen, um der Geschichte ein Ende zu machen

40. Thursday Next

41. Das Ende des Buches

Danksagung

1.Das BuchWelt-Remake

Das Große Remake war einer der Augenblicke, in denen man sich wirklich als Teil der Literatur fühlte und nicht bloß von ihr getragen wurde. In weniger als zehn Minuten änderte die BuchWelt ihre gesamte Struktur. Das alte System wurde weggefegt, und nichts blieb, wie es war. Aber gerade die Leute, zu deren Nutzen das alles geschah, merkten glücklicherweise gar nichts davon: die Leser. Für die meisten von ihnen waren Bücher nach wie vor einfach nur Bücher. Ach, wenn das nur alles so einfach wäre …

Bradshaws Führer zur BuchWelt

Jeder weiß noch genau, wo er gerade war, als die BuchWelt komplett umgekrempelt wurde. Ich war zu Hause und erholte mich zwischen zwei Lesungen, was ein höflicher Euphemismus für »beinahe verramscht« ist.

Das hieß aber nicht, dass ich untätig war. Nein, ich nutzte die Zeit, um mich mit EZ-Reads neuesten arbeitssparenden Erzähltechniken vertraut zu machen, die es einem Ich-Erzähler wie mir erleichtern sollten, den Stress einer fünfbändigen Serie am spekulativen Ende der Fantasy zu bewältigen, die nicht weniger als achtundsechzig Schauplätze hat.

Leisten konnte ich mir keine von diesen Tinkturen, Geräten und sonstigen Hilfsmitteln – nicht mal Verb-Ease™ gegen lästige Unregelmäßigkeiten bei Verben –, aber darum ging es auch gar nicht. Was mich interessierte, war eigentlich nur die Gesellschaft des regionalen EZ-Read-Vertreters, eines fröhlichen Prospektiven Liebhabers namens Whitby Jett.

»Wir haben eine neue Produktlinie bei der Vorausdeutung«, sagte er und zeigte mir einen kleinen blauen Flakon.

»Muss die Flasche ausgerechnet die Formen von Lola Vavoom haben?«, fragte ich.

»Ach, Sie wissen ja … Marketing.«

Ich zog den Stöpsel heraus und schnupperte vorsichtig.

»Und? Was meinen Sie?«, fragte er.

Whitby war einer der gut aussehenden Männer, die man als »jugendliche Mittvierziger« anpreist.

Ich wusste damals noch nicht, dass er eine dunkle Vergangenheit hatte und unsere wechselseitige Anziehung wegen seiner zurückliegenden Missetaten nur böse enden konnte. Aber an Wahnsinn, Verzweiflung und gegenseitige Schuldzuweisungen denkt man ja immer zuletzt.

»Ich ziehe Vorausdeutungen vor, die nicht ganz so intensiv riechen«, sagte ich und verschloss den Flakon wieder. »Ich habe hier gerade jede Menge Hinweise auf eine dunkle Vergangenheit bei Ihnen gewittert.«

»Schön wär’s«, sagte Whitby trübsinnig. Sein Buch war schon lange makuliert und gelöscht worden und er gehörte zu den Abertausenden von Figuren, die in der BuchWelt mit Gelegenheitsjobs mühsam ihr Dasein fristen und dabei immer hoffen, sie würden irgendwann doch noch mal eine brauchbare Rolle abkriegen. Wegen seines Status als minderer Prospektiver Liebhaber hatte man ihm nie eine vernünftige Vorgeschichte gegeben. Diejenigen, die keine Vergangenheit hatten, versuchten das oft als geheimnisvoll zu verkaufen, obwohl es das gar nicht war. Aber Whitby war in dieser Hinsicht erfrischend ehrlich. »Keine Vergangenheit zu haben wäre natürlich eine tolle Story«, hatte er mir mal in einem intimen Augenblick anvertraut, »aber in Wirklichkeit war mein Autor bloß zu faul, mir eine zu geben.«

Ehrlichkeit weiß ich immer zu schätzen, selbst wenn sie mir in diesem Fall fast zu persönlich war. In der BuchWelt gab es kaum jemanden, der von den oft sehr egoistischen Bedürfnissen seines Autors unbeschädigt geblieben wäre. Eine schlecht geschriebene charakterliche Grundausstattung voller widersprüchlicher Motive kann eine Figur nämlich jahrzehntelang, wenn nicht gar für immer in die Therapie verbannen.

»Hatten Sie in letzter Zeit Jobangebote?«

»Man hat mir eine Statistenrolle in einem Martin Amis in Aussicht gestellt.«

»Und wie ist es gelaufen?«

»Ich hab eine halbe Seite gelesen, und dann haben sie mich gefragt, was ich davon halte. Ich hab gesagt, ich hätte jedes Wort verstanden, und da wurde ich weggeschickt. Ich war überqualifiziert.«

»Das tut mir leid.«

»Nicht so schlimm«, sagte er. »Letzte Woche hat man mir eine Vierhundertsechs-Wort-Rolle in einem Horror-Roman angeboten, aber ich weiß nicht so recht. Der Autor ist Anfänger und hat bloß einen kleinen Verlag, da gibt es vielleicht gerade noch eine zweite Auflage. Und wenn ich verramscht werde, bin ich noch schlechter dran als zuvor.«

»Mich haben sie auch schon mal verramscht«, sagte ich.

»Aber Sie waren früher wenigstens echt populär«, erwiderte er. »Sie haben gute Chancen für ein Comeback. Wissen Sie überhaupt, wie viele Figuren ihren Weg mit den größten Hoffnungen beginnen, einen dauerhaften Platz im Herzen der Leser erobern zu können, und dann erleben müssen, dass man sie brutal in die ewige Ungelesenheit im hintersten Winkel der Menschlichen Tragödie zurückstößt?«

Damit hatte er recht. Das Leben eines Buches kann äußerst lang sein, und obwohl die Freizeit, die man in einem ungelesenen Buch hat, nicht zu verachten ist, kann einen der ständige Bereitschaftsdienst ziemlich zermürben. Man weiß ja nie, ob nicht plötzlich doch jemand kommt, der lesen will, was man so treibt. Für mich gab es zum Glück fast immer eine Zweitbesetzung, die einspringen konnte. Das erlaubte mir, gelegentlich eine Auszeit zu nehmen, aber dieses Privileg haben nur wenige.

»Und?«, fragte Whitby. »Hätten Sie vielleicht Lust, heute Abend mit mir ins Duftkino zu gehen? Ich habe gehört, im Rex läuft Gartenerbsen mit Minze.«

Gerüche waren ziemlich knapp in der BuchWelt. Gartenerbsen mit Minze war dieses Jahr die beste Premiere. Beim Wettbewerb um den literarisch wertvollsten Duft hatte sie Vanilla Coffee und Räucherschinken vom Grill zwar nur um eine Nasenlänge geschlagen, aber es hieß, der Noscar™ in der Kategorie »Bester adaptierter Geruch« sei künstlerisch hoch verdient.

»Ich hab gehört, Minze wird stark überschätzt«, behauptete ich, obwohl ich nichts dergleichen gehört hatte. Whitby hatte mich schon fast so oft zu einem Rendezvous eingeladen, wie ich abgelehnt hatte. Ich hatte ihm den Grund nie genannt, deshalb glaubte er, dass es jemand anderen gebe. Nun, das stimmte und stimmte auch wieder nicht. Es war ziemlich kompliziert, sogar nach den Maßstäben der BuchWelt. Trotzdem wollte er weiterhin mit mir ausgehen, und ich konnte immer aufs Neue ablehnen. Es war so eine Art Spiel.

»Wie wäre es nächste Woche mit dem Bumbles-Rennen? Gefährlich, aber sehr aufregend.«

Das Bumbles-Rennen war ein Höhepunkt im Kalender der BuchWelt: Ein Dutzend empörte und haferschleimsüchtige Mr Bumbles, die ständig »Mehr? MEHR?!?« schrien, wurden auf ein unbenutztes Kapitel von Oliver Twist losgelassen, und besonders sportliche oder wagemutige Besucher der Veranstaltung durften vor ihnen herlaufen. Jedes Jahr wurde mindestens ein glückloser junger Besucher von den Rasenden zu Tode getrampelt.

»Mich auf diese Art zu beweisen hab ich nicht nötig«, erwiderte ich. »Und Sie, glaube ich, auch nicht.«

»Und wie wäre es mit einem gemeinsamen Abendessen?«, fragte er dreist. »Ich könnte einen Tisch im Inn Uendo kriegen. Der Besizerin fehlt ein ›t‹ und ich hab ihr eins versprochen.«

»Das passt nicht zu mir.«

»Wie wäre es dann mit der Bar Humbug? Die Atmosphäre ist fabelhaft öde.« Das war drüben bei den Klassikern, und man hätte mit dem Taxi fahren müssen.

»Da würde ich eine Stellvertreterin brauchen, die sich um mein Buch kümmert.«

»Was ist denn mit Stacey?«

»Dasselbe wie mit Doris und Enid.«

»Ärger mit Pickwick?«

»Ja, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen.«

In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Das war ungewöhnlich, denn zufällige Ereignisse waren in der weitestgehend vorherbestimmten BuchWelt nicht vorgesehen. Ich machte die Tür auf und stand drei Dostojewskiten gegenüber, die mich aus einer dicken Wolke von moralischem Relativismus misstrauisch anstarrten.

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte der erste, der aussah wie einer, den ein schlechtes Gewissen der Schwergewichtsklasse zu Boden gestreckt hat. »Wir waren gerade auf dem Heimweg von einem Erlösung-durch-Leiden-Training, als plötzlich diese Ausgangssperre verhängt worden ist. In der TextZentrale ist irgendwas los, und bis auf weiteres darf niemand mehr unterwegs sein.«

Eine Ausgangssperre war selten, kam aber gelegentlich vor. In solchen Notfällen waren alle Bewohner der BuchWelt gehalten, denen, die vor ihren Büchern gestrandet waren, Gastfreundschaft zu gewähren. Normalerweise fand ich so etwas lästig, aber diese Typen waren aus Schuld und Sühne und richtige Prominente. An diesem Ende vom Fantasy Boulevard hatten wir keine Prominenten dieses Kalibers mehr gesehen, seit Pamela, die belohnte Tugend, einen Platten bei mir vor der Tür hatte. Das hätte sich natürlich innerhalb einer Stunde erledigen lassen, aber sie bestand darauf, den epistolären Abschleppdienst rufen zu lassen, und das bedeutete, dass wir sie tagelang im Gästezimmer unterbringen mussten, während ein komplizierter Reifen-Briefwechsel in Gang kam.

»Willkommen in meiner bescheidenen Hütte, Rodion Romanowitsch Raskolnikow«, sagte ich.

»Oh!«, sagte Raskolnikow, sichtlich beeindruckt davon, dass ich ihn gleich erkannt hatte. »Woher wussten Sie, dass ich es bin? Ist es vielleicht die subtile Aura, mit der ich den zweifelhaften Eindruck vermittle, dass man einen Mord womöglich irgendwie rechtfertigen könnte? Oder ist es mehr die komplexe Art und Weise, in der ich mich vom anfänglichen Leugnen meiner Schuld zur Anerkennung einer absoluten Gerechtigkeit hin entwickle und mich dem Gesetz unterwerfe?«

»Nö«, sagte ich. »Es liegt vor allem daran, dass Sie eine Axt in der Hand haben, an der Blut und menschliches Haar kleben.«

»Stimmt, das ist ziemlich verräterisch«, musste er zugeben und betrachtete betreten die Axt. »Aber entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit! Darf ich Ihnen Arkadi Iwanowitsch Swidrigailow vorstellen?«

»Eigentlich«, sagte der zweite Mann und streckte mir freundlich die Hand hin, »bin ich Dimitri Prokofitsch Rasumikin, Raskolnikows treuer Freund.«

»Ach, wirklich?«, sagte Raskolnikow. »Was ist dann aus Swidrigailow geworden?«

»Der versucht gerade, deine Schwester ins Bett zu kriegen.«

Raskolnikows Augen verengten sich. »Meine Schwester? Das wäre dann Pulcheria Alexandrowna Raskolnikowa, hab ich recht?«

»Nein«, sagte Rasumikin mit der ganzen Demut eines leidgeprüften treuen Freundes, »das ist deine Mutter. Deine Schwester ist Awdotja Romanowna Raskolnikowa.«

»Ach, die beiden verwechsle ich immer. Wer ist denn dann Marfa Petrowna Swidrigailowa?«

Rasumikin runzelte die Stirn und dachte einen Augenblick nach. »Tja, das weiß ich auch nicht.« Er wandte sich an die dritte Person. »Sagen Sie mal, Pjotr Petrowitsch Luschin: Wer genau ist Marfa Petrowna Swidrigailowa?«

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte die dritte Person, die geistesabwesend auf ihre Schuhe gestarrt hatte. »Ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor. Ich bin gar nicht Pjotr Petrowitsch Luschin, sondern Aljona Iwanowna.«

Rasumikin wandte sich an Raskolnikow und senkte die Stimme: »Ist das die Dienerin deiner Vermieterin, die unter ihrem Stand heiratet? Oder ist sie das Mädchen, das sich prostituiert, um ihre Familie vor dem Schuldturm zu retten?«

Raskolnikow zuckte die Achseln. »Weißt du«, sagte er, »ich bin jetzt seit über hundertdreißig Jahren in diesem Buch, und trotzdem weiß ich es immer noch nicht.«

»Ist doch ganz einfach«, sagte der dritte Russe, der eigentlich eine Russin war, und zählte es an den Fingern ab: »Nastasja Petrowna ist die Dienerin von Raskolnikows Vermieterin; Awdotja Romanowna Raskolnikowa ist Ihre Schwester, die damit droht, dass sie unter ihrem Stand heiratet; Sofia Semjonowna Marmeladowa wird Prostituierte, und Marfa Petrowna Swidrigailowa, nach der Sie sich so angelegentlich erkundigt haben, ist natürlich Arkadi Swidrigailows ermordete erste Frau.«

»Das weiß ich doch«, sagte Raskolnikow mit der Miene eines Mannes, der es durchaus nicht weiß, »aber sagen Sie … wer sind jetzt Sie noch mal?«

»Ich«, sagte der dritte Russe, der eigentlich eine Russin war, mit einem Hauch von Verärgerung, »bin die gierige alte Pfandleiherin, deren angeblicher Reichtum Sie dazu treibt, mich zu ermorden.«

»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Raskolnikow höchst beunruhigt.

»Absolut.«

»Und Sie sind noch am Leben?«

»Sieht so aus.«

Er starrte die blutige Axt an. »Und wen hab ich dann gerade umgebracht?«

Sie schauten sich alle gegenseitig verlegen an.

»Hören Sie«, sagte ich. »Spätestens im Epilog ist das sicher alles geklärt. Aber für den Augenblick kommen Sie doch einfach herein.«

Jede Figur aus den Klassikern hatte einen Prominenten-Status, der alles andere in den Schatten stellte, und seit der tugendhaften Pamela war schon viel Zeit vergangen. Mir wurde plötzlich heiß und kalt, als ich an den Zustand meiner Behausung dachte, und ich versuchte ungeschickt, etwas aufzuräumen, indem ich meine Söckchen von der Heizung wischte und die Pistazienschalen verschwinden ließ, die Pickwick auf der Anrichte hinterlassen hatte.

»Das ist Whitby Jett von der Firma EZ-Read«, sagte ich und stellte dann auch die Russen namentlich vor. Dass ich sie heillos durcheinanderbrachte, war zum Glück nicht so schlimm, weil sie es selbst nicht merkten. Whitby schüttelte ihnen allen die Hand und fragte dann, ob er Autogramme von ihnen kriegen könnte, was mir ziemlich peinlich war.

»Und wieso hat die TextZentrale eine Ausgangssperre verhängt?«, fragte ich, nachdem sich endlich alle gesetzt hatten und ich Mrs Malaprop gebeten hatte, den Tee zu servieren.

»Ich glaube, die BuchWelt soll rekonstruiert werden«, sagte Rasumikin mit dramatischer Geste.

»Jetzt schon?«

Das Große Remake war schon seit Jahren ein heiß umstrittenes Thema. Seit Imagination™ in den frühen Fünfzigerjahren liberalisiert worden war, hatte der Ausbruch sogenannter alternativer Schöpferkraft dem GattungsRat große Schwierigkeiten gemacht. Jetzt suchte man nach einer transparenteren Ordnung, um die einzelnen Werke in der BuchWelt genauer verorten zu können. Der GattungsRat ließ sich inspirieren von der RealWelt und kam zu dem Ergebnis, eine geografische Ordnung sei optimal. Wie die physische Welt tatsächlich aussah, wusste allerdings keiner so genau. Kaum jemand hatte die RealWelt je aufgesucht, und diejenigen, die schon mal da gewesen waren, hatten meist nur zwei Dinge beobachtet: erstens, dass die RealWelt einerseits irrsinnig komisch und andererseits maßlos traurig war, und zweitens, dass es weit mehr Hauskatzen als Affenbrotbäume gab, obwohl es nach Ansicht von Experten eigentlich eher umgekehrt sein sollte.

Whitby stand auf und schaute zum Fenster hinaus. Natürlich war da nicht viel zu sehen, denn der Bereich zwischen zwei Büchern ist nicht sehr klar definiert und hat meist keine Bedeutung. Auch vor meiner Haustür befand sich eigentlich nicht viel. Wenn man sich zu weit aus seinem Buch entfernt, verliert man sich ziemlich schnell im Inter-Buch-Nichts. Ich gebe zu, das ist ein bisschen verwirrend, aber das gilt immerhin auch für Tristram Shandy, den Magus und die meisten russischen Romane. Und an denen haben die Leute schon seit Jahrzehnten Spaß.

»Und was passiert jetzt?«, fragte Whitby.

»Ich habe eine gute Freundin in der TextZentrale«, sagte Aljona Iwanowna, die sich klugerweise so weit weg wie möglich von Raskolnikow und der blutigen Axt gesetzt hatte. »Sie hat mir erzählt, dass sie sämtliche BildÜbertragungsMaschinen abstellen müssen, um einen reibungslosen Übergang von der GroßenBibliotheks-BuchWelt zur Geografischen BuchWelt zu ermöglichen, ehe sie die Leitungen wieder hochfahren.«

Das war eine erstaunliche Vorstellung. Die BildÜbertragungsMaschinen waren die Sender, mit denen all die subtilen Herrlichkeiten der BuchWelt in die Köpfe der Leser geschickt wurden. Wenn sie abgeschaltet wurden, konnte das nur eins bedeuten: Für einen gewissen Zeitraum musste das Lesen – jegliches Lesen – vollkommen aufhören. Whitby und ich warfen uns ängstliche Blicke zu.

»Wollen Sie damit sagen, dass der GattungsRat die gesamte BuchWelt anhalten will?«

Aljona Iwanowna nickte. »Die Alternative wäre gewesen, dass man es Stück für Stück macht, aber das wollte man nicht, denn dann hätte die halbe BuchWelt nach dem neuen und die andere Hälfte nach dem alten System gearbeitet. So ist es viel praktischer: Neun Minuten lang kann gar nicht gelesen werden, aber danach ist die ganze BuchWelt mit einem Schlag umgestellt.«

»Aber das ist doch Wahnsinn!«, schrie Whitby. »Die Leute werden es merken. Irgendwo liest doch immer jemand.«

Seit ich vor Jahren vergeblich versucht hatte, der Sicherheitsorganisation der BuchWelt beizutreten, wusste ich, dass er recht hatte. Hoch oben an der Wand im Konferenzsaal des GattungsRats hing eine elektronische Schautafel, auf der die AußenLand-Leserate angezeigt wurde – die Gesamtzahl aller zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiven Leserinnen und Leser. Sie sprang mal nach oben und mal nach unten, fiel aber kaum je unter zwanzig Millionen. Während die Spitzen ziemlich vorhersehbar waren, zum Beispiel wenn ein neuer Bestseller veröffentlicht wurde oder ein prominenter Autor starb – immer eine gute Zeit für seine Werke, wenn auch nicht immer für seine Verwandten –, waren die Durchhänger viel schwerer vorherzusagen. Der optimale Zeitpunkt für das Große Remake, wäre eine Leserate von »unter fünfzigtausend« gewesen, aber das wäre ein ganz außergewöhnliches Tief gewesen.

Um uns etwas mehr Klarheit zu verschaffen, suchte ich nach der Morgenausgabe des Word und schlug die Vorhersage auf, die natürlich nichts mit dem Wetter, sondern mit den Isobaren des Leserdrucks und deren voraussichtlicher Entwicklung zu tun hatte. Urbane Vampire dominierten mal wieder, allerdings bestand ab Mittwoch die Gefahr einzelner Lyrik-Schauern und zum Wochenende hin wurden stark aufgelockerte Daphne-Farquitt-Romanzen erwartet. Aber vor allem gab es eine aktuelle Sturmwarnung für Sportfans und die Aufforderung, sich gut aufzustellen.

»Da haben wir’s«, sagte ich, tippte auf die Zeitung und zeigte der Versammlung die entsprechende Seite. »Die Swindon Mallets müssen heute Abend den Titel gegen die Gloucester Meteors verteidigen. Das Spiel wird weltweit übertragen, und man rechnet mit einer fantastischen Quote. Da ist es sehr wahrscheinlich, dass die Leserate heute stark abfällt.«

»Glauben Sie wirklich, dass sich viele Leute für Erstliga-Krokett interessieren?«, fragte Rasumikin.

»Also, hier spielt Swindon gegen Gloucester!«, sagte ich einigermaßen empört. »Und seit die Flügelspielerin Penelope Hrah letztes Jahr beim Angriff auf den mittleren Reifen an der Vierzig-Yard-Linie explodiert ist, erwarte ich schon, dass mindestens zweiundneunzig Prozent der Weltbevölkerung zuschauen. Genau der richtige Zeitpunkt, um mit der BuchWelt mal offline zu gehen.«

»Hat man eigentlich je herausgefunden, warum Miss Hrah explodiert ist?«

»Die Angelegenheit ist nie ganz aufgeklärt worden«, warf Iwanowna ein, »aber in ihren Schienbeinschützern sind Spuren von Semtex gefunden worden. Ein Verbrechen kann man deshalb nicht ausschließen. Unter diesen Umständen verspricht so eine Revanche natürlich eine Menge Spa…«

Ihre Stimme brach abrupt ab, aber nicht so, als hätte sie plötzlich aufgehört zu sprechen. Ihre Stimme wurde vielmehr irgendwie abgeschnitten – so als wäre das Tonband gerissen.

»Hallo?«, sagte ich.

Die drei Russen antworteten nicht, sondern starrten bloß stumm in die Luft, als wären sie Mannequins. Im nächsten Moment verloren ihre Gesichter jeglichen Ausdruck und wurden zu einer Ansammlung komplexer, irregulärer Polyeder. Dann verminderte sich die Zahl der Flächen, und die Gesichter hatten gar nichts Menschliches mehr, sondern waren nur noch unregelmäßige hautfarbene Klumpen. Nach einer Minute waren sie gar nichts mehr.

Die Klassiker waren heruntergefahren worden, und die Fantasy kam bestimmt auch gleich dran. Und so war es auch. Ich sah Whitby an, der mir ein sehnsüchtiges Lächeln schenkte und dabei meine Hand hielt. Der Raum wurde kalt und dann dunkel, und innerhalb kürzester Zeit verschwand alles, was ich je gekannt hatte, vor meinen Augen. Alles wurde ganz flach und verlor seine Form, und in der nächsten Sekunde spürte ich, wie mein Gedächtnis verblasste. Gerade, als ich anfing, mir Sorgen zu machen, löste sich alles in einer vollkommenen Dunkelheit auf.

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»Thursday?«

Ich schlug die Augen auf und blinzelte. Ich lag auf dem Sofa und sah zu Whitby auf, der ein äußerst besorgtes Gesicht machte.

»Alles in Ordnung?«

Ich setzte mich auf und rieb mir den Schädel. »Wie lange war ich bewusstlos?«

»Elf Minuten.«

Ich sah mich um. »Und wo sind die Russen?«

»Draußen.«

»Draußen gibt’s nicht.«

Er lächelte. »Jetzt schon. Schauen Sie mal raus!«

Ich stand auf und merkte plötzlich, dass mein Wohnzimmer viel realistischer aussah. Die Farben waren subtiler, und die Raufasertapeten hatten viel mehr Struktur. Was aber noch interessanter war: Es war viel heller im Raum, und das Licht kam von draußen! Es war richtiges Licht, das durch die Fenster hereinfiel und Schatten warf, und nicht mehr dieses Kunstlicht, bei dem man nur so tun konnte, als ob es echt wäre. Ich griff nach der Klinke, machte die Haustür auf und trat ins Freie.

Das Zwischen-Buch-Nichts, das früher die Bücher getrennt hatte, war durch Felder und Wälder, Straßen, Berge und Flüsse ersetzt worden. Die Landschaft vor meinen Augen öffnete sich zu einer Reihe von reizvollen Ausblicken mit einem vollkommen neuen Effekt: der Entfernung. Wir waren in der südwestlichen Ecke einer Insel, die ungefähr hundert Meilen lang, fünfzig Meilen breit und auf allen Seiten von der TextSee umgeben war. Auch diese war nicht mehr die alte, sie war jetzt durch eine azurblaue Färbung und eine leichte Brise aufgewertet worden, die das Wörtermeer in eine sachte wellenförmige Bewegung versetzte. Das Ganze war ein malerisches Panorama der Qualitätsstufe IV.

Aber die Erneuerung der BuchWelt hatte nicht nur ästhetische, sondern auch praktische Vorteile. Im Gegensatz zur Real-Welt, die unpraktischerweise auf der Außenseite einer Kugel liegt, befand sich die neue BuchWelt im Inneren einer Kugel, so dass die Horizonte ganz anders wirkten als in der RealWelt. Je weiter weg die Gegenstände waren, desto höher standen sie im Gesichtsfeld, so dass man jeden Ort in der BuchWelt von überall sehen konnte. Ich konnte deutlich erkennen, dass wir nicht allein waren: Überall auf der Innenseite der Kugel schwammen Hunderte mehr oder weniger große Inseln im Meer, die ganz ähnlich wie unsere waren. Jede von ihnen beherbergte eine Literaturgattung.

In einem Winkel von zehn Grad über uns konnte man unseren nächsten Nachbarn erkennen: das Eiland der Literaturkritik, eine ungewöhnlich schöne Insel, die allerdings heftig geplagt und verworren, unter einem dichten Schleier von nahezu undurchdringlichem Gesabbel lag. Dahinter lagen Psychologie, Philatelie und Software-Handbücher. Das größte und strahlendste Archipel, das ich im Wörtermeer entdecken konnte, war eine Gruppe von verschiedenen Gattungen, die zusammen die Non-Fiktion bildeten. Sie lagen uns im Inneren der Kugel direkt gegenüber, das heißt, sie schwebten über unseren Köpfen. Auf der Windseite wurden die schroffen Klippen des Irrationalismus Stück für Stück abgetragen, während auf der windabgekehrten Seite die Strände und Marschen des Wissens ins Meer hinauswuchsen.

Während ich mit offenem Mund nach oben starrte, bewegte sich ein ständiger Strom von Büchern in verschiedenen Höhen kreuz und quer durch den Himmel. Dabei handelte es sich nicht um die kleinen gebundenen Papierpakete, die man im AußenLand findet. Was da durch die Luft segelte, waren die kompletten Schauplätze der Bücher, die durch eine Reihe von Tragbalken, Kabeln und Streben zusammengehalten wurden und mit Laufstegen, Treppen und Brücken verbunden waren. Sie sahen deshalb auch gar nicht wie Bücher aus, sondern wie stachlige Klumpen. Während die Kurzgeschichten, deren Handlung in einem einzigen Raum spielte, nur etwa halb so groß wie ein Doppeldecker-Bus waren und dementsprechend rasch durch den Himmel flitzten, bewegten manche komplexen Romane sich so behäbig, dass wir den Insassen zuwinken konnten, die uns ihrerseits grüßten. Als wir gerade unsere neue Welt bewunderten, zog die Urschrift von Doktor Schiwago mit ihren unendlichen russischen Weiten über uns hinweg, verdunkelte für einen Augenblick das helle Licht und bestäubte uns mit etwas Schnee.

»Na, was sagen Sie?«, fragte Whitby.

»Oh, schöne neue Welt«, flüsterte ich und umarmte ihn unauffällig, »die solche Bücher mit sich führt!«

2.Eine Frau namens Thursday Next

Ein wesentlicher Vorteil des Hohlkugel-Modells bestand darin, dass die Schwerkraft in der neuen BuchWelt nach oben hin abnahm, was bedeutete, dass man Gegenstände umso leichter bewegen konnte, je höher man kam. Man musste allerdings vorsichtig sein, denn wenn man in die Nähe des Mittelpunkts der Kugel geriet, wurde man von allen Seiten so angezogen, dass es kein Entrinnen mehr gab …

Bradshaws Führer zur BuchWelt

Mein Vater hat ein Gesicht, das eine Uhr stoppen kann. Nicht, dass er hässlich gewesen wäre; nein, mit diesem Ausdruck bezeichnet die ChronoGarde Personen, die in der Lage sind, den Strom der Zeit in ein träges Rinnsal zu verwandeln – und genau das passierte eines Tages, als ich gerade in einem kleinen Café in der Nähe meiner Arbeitsstätte ein spätes Frühstück verzehrte. Die Welt flackerte, bebte kurz und blieb stehen. Der Besitzer des Cafés erstarrte mitten im Satz, und das Bild auf dem Fernsehschirm gefror. Vögel hingen bewegungslos am Himmel. Auch der Ton stoppte und wurde durch ein stumpfes Summen ersetzt: Das Geräusch der Welt verharrte an einem bestimmten Punkt und blieb auf einer gleichmäßigen Lautstärke und Tonhöhe stehen.

»Hallo, meine Kichererbse.«

Ich drehte mich um. Mein Vater saß an einem Tisch hinter mir und stand auf, um mich liebevoll zu umarmen.

»Hallo, Dad.«

»Gut siehst du aus«, sagte er.

»Du aber auch«, erwiderte ich. »Du siehst jedes Mal jünger aus, wenn ich dich sehe.«

»Das bin ich auch. Kennst du dich mit Geschichte aus?«

»Einigermaßen.«

»Weißt du, wie der Herzog von Wellington starb?«

»Na klar«, sagte ich. »Er wurde gleich zu Beginn der Schlacht von Waterloo erschossen. Von einem französischen Scharfschützen. Warum fragst du?«

»Ach, nur so«, brummte mein Vater mit Unschuldsmiene und kritzelte etwas in sein kleines Notizbuch. Als er fertig war, zögerte er einen Moment.

»Dann hat Napoleon in Waterloo also gewonnen?«, fragte er langsam und mit großer Nachdrücklichkeit.

»Natürlich nicht«, erwiderte ich. »Marschall Blüchers rechtzeitiges Eingreifen hat die Sache zu unseren Gunsten entschieden. Das ist doch alles Stoff der achten Klasse, Dad. Worauf willst du hinaus?«

»Na ja, das ist doch alles ein bisschen …«

»… warten Sie mal«, sagte mein Vater, oder genauer, der Typ, der im Buch meinen Vater spielte. »Ich glaube, jetzt sind sie weg.«

Ich hob die Nase und witterte. Er hatte recht. Unser einsamer Leser hatte uns verlassen, und wir hingen erzählerisch in einer Totzone. Das ist ein eigenartiges Gefühl: Man meint, auf eine Stufe zu treten, die nicht mehr da ist, oder mit jemandem zu sprechen, der den Hörer längst aufgelegt hat, oder ins obere Stockwerk gegangen zu sein, ohne zu wissen, warum. Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass Spaniels ihr ganzes Leben in diesem Zustand verbringen.

»Also, ich war hervorragend«, erklärte mein Buch-Vater, womit er gleichzeitig andeuten wollte, dass es meine Schuld gewesen sei, dass der Leser nicht mal bis zum Ende der zweiten Seite bei uns geblieben war. »Sie sollten sich mehr ins Zeug legen, Schätzchen, um die Leser zu fesseln. Sie müssen die Figur lebendig werden lassen, verstehen Sie?«

Ich war zwar keineswegs der Ansicht, dass ich etwas falsch gemacht hatte, aber ich hatte keine Lust, mit ihm zu streiten. Er hatte meinen Vater schon weitaus länger gespielt als ich Thursday Next, und das höhere Dienstalter verschaffte ihm eine gewisse Autorität, obwohl ich die Hauptfigur und obendrein noch die Ich-Erzählerin war.

»Manchmal wünsche ich mir die alten Zeiten zurück«, sagte er zu Hector, seinem Garderobier, aber laut genug, dass ich es hören konnte.

»Was wollen Sie damit sagen?«

Er starrte mich einen Augenblick an. »Das kann ich Ihnen sagen: Als wir noch die vorige Thursday hatten, war es viel besser.«

»Die frühere Thursday war gewalttätig und unmoralisch. Wie können Sie sagen, das wäre besser gewesen?«

»Sie war vielleicht ein hochgradiges Miststück, Schätzchen, aber sie hat ’ne Menge Leser gebracht. Ich bin dann in meiner Garderobe. Komm, Hector.« Und mit diesen Worten verließ er die Café-Kulisse, gefolgt von seinem allgegenwärtigen Garderobier, der eine unverschämte Schnute in meine Richtung zog, als sie abrückten.

Mein Vater hatte natürlich nicht unrecht, aber ich hatte mich nun mal der Aufgabe verschrieben, die Rolle so zu spielen, wie sich die echte Thursday das wünschte. Die Serie war ursprünglich um eine gewalttätige Schlampe namens Thursday Next herum konzipiert worden, die überall in der BuchWelt herumschlief und jede Menge Morde, Unglück und Verzweiflung verursachte. Das genau wollte ich ändern, war dabei aber auf heftigen Widerstand der übrigen Figuren gestoßen. Sie empfanden meinen Versuch, ein etwas realistischeres Bild der Heldin zu zeigen, als völlig verfehlt, weil er angeblich die Lesbarkeit in Gefahr brachte – und für eine Romanfigur ist es weitaus besser, als »böse« gelesen zu werden, als böse ungelesen zu bleiben.

Ich seufzte. Meine Rolle zu spielen war nicht halb so schwer, wie die Leute in meiner Serie alle bei Laune zu halten. Manche Bücher hatten dafür einen PageManager, der den ganzen langweilen Kram erledigen musste, aber das konnten wir uns aus finanziellen Gründen nicht leisten. Ich musste alles allein machen und hatte zu meiner Unterstützung nur eine leicht beschädigte Mrs Malaprop. Uns lesbar zu halten war meine geringste Sorge.

Mit langsamen Schritten ging ich durch das Swindon nach Hause, das wir in unserem Buch hatten. Diese Buch-Version ist gegenüber dem realen Swindon, das vierzig Mal größer sein soll, stark komprimiert. Dank der geringen Anzahl von Örtlichkeiten, die in der Serie erwähnt werden, war der Weg vom Café beim SpecOps-Hauptquartier an der GSG-Kirche vorbei zum Haus meiner Mutter nur zwei Minuten lang. Im sogenannten Real-Swindon, hieß es, hätte ich dafür fast eine Stunde gebraucht. Aber bei uns gab es ein paar sehr praktische Abkürzungen. Wenn man durch die Hintertür in der Apsis der Kirche der Heiligen Jungfrau der Hummer hinausging, war man gleich in Thornfield Hall. Und wenn ich die erste Tür rechts hinter Janes Schlafzimmer nahm, war ich in Wales im Hotel Penderyn. Wenn man alles zusammenzählt, kommt die Serie auf ungefähr zwanzigtausend Quadratmeter auf sechs Ebenen. Sie wäre allerdings größer, wenn wir nicht die Ostfassade von Thornfield Hall zugleich als Vorderseite des Brontë-Hauses in Haworth benutzt hätten, und das Museum in Gad’s Hill nicht als Lobby des SpecOps-Hauptquartiers. Solche Einsparungen sind ganz üblich im Modernen Antiquariat, aber immerhin konnten wir das Personal fast in voller Besetzung an Bord halten. Natürlich war es möglich, einzelne Figuren verschiedene Rollen spielen zu lassen, aber wenn sie in derselben Szene auftreten mussten, wurde es schwierig. Manche Figuren wurden ohne weiteres damit fertig, andere nicht. Einen spektakulären, wenn auch ziemlich einsamen Höhepunkt erreichte die Kunst der Mehrfachbesetzung, als Wronski in einer gekürzten Fassung von Anna Karenina einmal sämtliche Rollen gleichzeitig spielen musste, weil der Rest des Ensembles wegen der mangelnden Versorgung mit Blinis in einen Warnstreik getreten war. Als er gefragt wurde, wie es gewesen sei, sagte er: »Also irgendwie total geil, Alter!«

»Guten Morgen, Pickwick! Guten Morgen, Mrs Malaprop!«, sagte ich, als ich in die Küche kam, die nicht nur als Kommandozentrale für meine Serie dient, sondern auch als eine gemütliche Ecke, wo man Tee und Toast machen kann.

»Kutten borgen, Mistförster!«, sagte die leicht beschädigte Mrs Malaprop unter höflichem Wippen.

»Können wir mal unter vier Augen reden?«, fragte Pickwick auf wenig diskrete Weise.

»Ist es sehr wichtig?«

»Es ist absolut essenziell«, sagte Pickwick und rollte intensiv mit den Augen.

Wir gingen hinaus in den Flur.

»Also, was ist los?«, fragte ich etwas ungeduldig, denn Pickwick hatte ständig irgendwelche Beschwerden. Mal war es die Kälte, mal war es die Hitze, mal waren es die Farbe der Wände oder tausend andere Dinge, die ihr nicht passten. Whitby und ich nannten sie »Goldlöckchen, bloß ohne die guten Manieren«, aber natürlich nie, wenn sie in Hörweite war.

»Es geht um Mrs Malaprop«, sagte Pickwick empört, »sie redet immer unverständlicher. Das wäre ja nicht so schlimm, wenn es irgendwie witzig wäre, aber das ist es natürlich kein bisschen. Ehrlich gesagt hab ich Angst, dass es ansteckend sein könnte.«

Bei allen textbasierten Lebensformen sind Sprachstörungen eine Ursache großer Beunruhigung. Schlecht sitzende Grammatik ist schlimmer als ein drückender Schuh. Eine Zeitlang denkt man, man könnte sich daran gewöhnen, aber eines Tages fallen einem die Zehen ab und man schafft es nicht mal mehr dahin, wo angeblich auch Monarchen zu Fuß hingehen. Schlechte Syntax ist noch schlimmer. Wenn man die Wortstellung vermurkst, versteht keiner Yoda außer die Sätze man hat.

»Also bitte«, sagte ich und benutzte ein Oxymoron, um die Schelte besonders wirksam zu machen, »es ist völlig unbewiesen, dass der Malapropismus ansteckend ist, und was hatten wir uns noch mal vorgenommen hinsichtlich derer, die weniger privilegiert als wir selbst sind?«

»Trotzdem«, beharrte Pickwick. »Ich finde, Sie müssen ihr sagen, dass es so nicht weitergehen kann.« Sie flatterte nervös mit den kurzen Flügeln. »Außerdem quietschen ihre Schuhe. Und wenn wir schon dabei sind: Bowden hat mich wieder als ›diesen Vogel‹ bezeichnet, und der Affenbrotbaum im Garten nimmt meinem Zimmer das Licht weg. Am Mittwoch nehme ich frei, um mir den Schnabel ölen zu lassen, also müssen Sie eine Vertretung besorgen – und nicht wieder so einen Pinguin wie letztes Mal. Der hat meine dynamische Persönlichkeit und lyrischen Feinfühligkeiten überhaupt nicht erfasst. Bei ihm war das alles so … fischzentrisch. Sie wissen schon, was ich meine.«

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte ich und nahm mir fest vor, den Pinguin auf jeden Fall wieder zu buchen.

»Brauchen Sie die Zeitung noch?«, fragte Pickwick.

Wir kehrten in die Küche zurück, und um sie versöhnlich zu stimmen, holte ich ihr das Word, obwohl ich es selbst noch nicht ganz gelesen hatte.

»Hmm«, sagte sie und starrte nachdenklich in den Wirtschaftsteil. »Metaphern sind schon wieder gestiegen, um siebzehn Pfund pro Barrel. Ich sollte meine Metonymien verkaufen und das Geld in Synekdoche Futures investieren.«

»Wie läuft’s denn mit den Scharfen Romanen?«, fragte ich. Die politischen Spannungen im Norden beherrschten seit Tagen die Nachrichten. Der Konflikt zwischen den Scharfen Romanen, der Erotik, den Frauenromanen und dem Dogma hatte sich stark zugespitzt und man rechnete jeden Tag mit dem Ausbruch von offenen Feindseligkeiten. Solche Gattungskriege waren entsetzlich.

»Die Friedensgespräche sollen am Freitag fortgesetzt werden«, erwiderte Pickwick. »Als ob die irgendwas nutzen. Manchmal denke ich, man müsste bloß diesen bekloppten Speedy Muffler plattmachen. Ach, übrigens«, fügte sie hinzu, »haben Sie schon von Raphael’s Walrus gehört?«

»Nein?«

»Denen haben sie heute Morgen einen Räumungsbefehl zugestellt.«

Das kam nicht unerwartet. Raphael’s Walrus war ein Buch, das sechs Häuser weiter wohnte und schon seit geraumer Zeit nicht mehr gelesen wurde. Ich kannte die Leute zwar nicht sehr gut, aber das spekulative Ende der Fantasy ist eine äußerst begehrte Wohnlage und die Grundstückspreise sind astronomisch. Wenn die Walross-Leute weg waren, würden wir sofort neue Nachbarn kriegen.

»Ich hoffe bloß, es kommen keine Schwert- und Zaubergeschichten«, sagte Pickwick, und ein Schauder erschütterte ihren Bürzel. »Geister und Kobolde ziehen die Immobilienpreise echt runter.«

»Wer weiß, vielleicht sagen die Kobolde über Dodos dasselbe.«

»Unmöglich!«, fauchte sie wütend. »Dodos sind knuffig und niedlich und liebenswert und, und … sie stehlen nichts und verbreiten auch keine Krankheiten.«

Die Leute haben mich schon oft gefragt, warum mein geschriebener Dodo so nervt, wo die echte Pickwick doch so ein Schatz ist. Der Grund ist ganz einfach: Es gibt keine Auswahl. Es gibt nur drei Dodos in der Literatur. Der eine ist ein gefährlicher Irrer (psychotisch), der zweite (im Naturgeschichtlichen Museum) ist viel zu groß, und deshalb blieb nur noch einer: der bebrillte Dodo aus Alice im Wunderland, und der ist genau so ein Klugscheißer bzw. so eine nervige Zicke wie meine. Mein Dodo hieß auch gar nicht Pickwick, sondern Lorina Peabody III, aber wir nannten sie Pickwick, und das schien sie auch nicht weiter zu stören. Sie legte die Zeitung weg, erklärte der Küche im Allgemeinen, dass sie jetzt ihre Siesta machen würde, und watschelte davon.

»Mrs Malaprop«, sagte ich, als Pickwick gegangen war, »gehen Sie eigentlich noch regelmäßig zur Therapie?«

Mrs Malaprop zog eine Augenbraue hoch. Sie wusste nur allzu gut, wer sich über sie beschwert hatte.

»Austern wahr noch fiel zu Gutt führ die Ganz«, sagte sie grantig. »Abba Ichtu alles wassi Wolle.«

Das Arbeitsleben einer Mrs Malaprop in Sheridans Stück betrug durchschnittlich etwa fünfzig Lesungen oder Aufführungen. Die ununterbrochenen Wortverdrehungen führten unweigerlich dazu, dass sie früher oder später eine »Postsyntaktische Belastungsstörung« erlitten. Sobald ihre Sprechweise vollends unsinnig wurde, ersetzte man sie einfach. Die meisten dieser »in Rente« geschickten Mrs Malaprops wurden rücksichtslos in der BuchWelt ausgesetzt, wo sie allmählich verwilderten, aber neuerdings hatten verschiedene Fürsorgeeinrichtungen ihr elendes Schicksal entdeckt. Man unterzog sie einer intensiven Homofonie-Behandlung, die es ihnen ermöglichte, so zu sprechen, dass ihre Aussagen zumindest ungefähr richtig klangen, auch wenn sie nicht richtig lasen, dann wurden sie zu Leuten wie mir geschickt, die sie im Haushalt beschäftigen sollten. Unsere Mrs Malaprop war ein frühes Modell – Nummer 862, um genau zu sein. Im Allgemeinen war sie ganz hilfreich, wenn auch nicht leicht zu verstehen. Es war die Rede davon, dass man Shakespeares Dogberry-Stammzellen benutzen könnte, um sie zu heilen, aber wir blieben septisch.

Ich starrte auf die Diagnosetafel, die sich an der Stirnwand der Küche befand. Das Read-O-Meter zeigte beharrlich auf 0, obwohl sich immerhin zweiunddreißig Exemplare meiner Bücher in Umlauf befanden. Achtzehn davon waren gerade in einer Lesepause, der Rest lag wahrscheinlich irgendwo unter einem Haufen anderer nicht zu Ende gelesener Bücher. Ich warf einen Blick auf die RealWelt-Uhr. Es war gerade erst 8 Uhr 42. Vor Jahren war ich noch im Zug und in der U-Bahn gelesen worden, aber das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Ungelesenheit war ein zweischneidiges Schwert. Man hatte mehr Freizeit, aber kein klares Ziel mehr. Ich wandte mich wieder Mrs Malaprop zu.

»Wie ist denn der Status?«

Sie starrte auf ihr Klemmbrett. »Propp lähme. Sechsundzwanzig Figuren sind auf Uhr Laub oder bei Fortbildungsküssen; die können aber alle durch andere Katarakte ersetzt werden. Von den Schauplätzchen ist nur Hayworth House geschlossen wegen einer Grammasiten-Plage.«

»Ist Jurisfiktion informiert worden?«

»Wir haben eine niedrige Pietät, deshalb kommen sie erst in acht Stunden.«

»Wie weit weg ist denn unser nächster Leser?«

»Siebenundneunzig Minuten Leser Zeit.«

Das war kein Problem. Unser nächster Leser würde das Buch wahrscheinlich erst heute Abend wieder zur Hand nehmen, und bis dahin wären die Grammasiten erledigt.

»Wenn er aus irgendeinem Grund vorzeitig anfängt zu lesen, müssen wir auf das Wohnzimmer in Thornfield Hall ausweichen. Ach ja, noch etwas: Mein Vater hat irgendeinen Floh im Ohr, also behalten Sie ihn bitte im Auge, falls er anfängt, seinen Text zu verändern. Ich habe erst letzte Woche eine Verwarnung von der TextZentrale gekriegt wegen illegaler Dialogänderungen.«

Mrs Malaprop nickte und machte sich eine Notiz. »Komm Hand Ehering hat Tang er Ufer«, sagte sie.

»Wie bitte?«

»Komma daher Inga Tanger uffn!«

»Ich … verstehe immer noch nicht.«

Mrs Malaprop überlegte angestrengt, wie sie die Wörter zusammenstellen musste, damit ich sie endlich verstand. Es war schrecklich qualvoll für sie, und wenn Sheridan gewusst hätte, welches Unglück er mit seinen Acyrologien verursachen würde, hätte er sich vielleicht gehütet, so was zu machen.

»Komm ander Hering hattan gerufen!«, schrie Mrs Malaprop völlig entnervt. Sie zitterte vor Anstrengung und hatte zu schwitzen begonnen.

Plötzlich verstand ich. »Commander Herring hat angerufen?«, sagte ich. »Was wollte er denn?«

»Ein Romanzusammenstoß«, sagte sie aufgeregt. Offenbar hatte ein Buch einen Unfall gehabt.

»Und warum ruft er mich an, wo ich’s letztes Mal so vermurkst habe?«

»Hat mich auch vernascht. Hier.« Sie hielt mir einen Zettel hin.

Commander James »Red« Herring war der Oberbefehlshaber sämtlicher Sicherheitsorgane der BuchWelt. Ihm unterstanden nicht nur die Jurisfiktion, sondern auch die Metaphernschutztruppe der TextZentrale und achtzehn weitere Organisationen. Eine davon war die BuchVerkehrsPolizei, zu der auch der Jurisfiktion-VerkehrsUnfallDienst (JVUD) gehörte, für den ich gelegentlich arbeitete. Der Buch-Flugverkehr, so praktisch er sein mochte, hatte nämlich auch seine Probleme. Allein in der Belletristik hatten wir bis zu zweitausend Flugbewegungen täglich, und beim ständigen Transport von Romanen über den fiktionalen Himmel kam es immer wieder zu Unfällen. Mindestens einen Tag in der Woche musste ich damit verbringen, heruntergefallene Requisiten oder ganze Schauplätze von Romanen zu identifizieren, damit sie wieder an Ort und Stelle gebracht werden konnten. Und natürlich sollte ich auch herausfinden, warum sie abgestürzt waren. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, verbesserter Klebstoffe und sorgfältigster Behandlung verloren die Bücher immer wieder einige ihrer Bestandteile. Der berühmteste Fall war der Absturz eines fetten Schweins aus Farm der Tiere. Es fiel über dreitausend Meter herunter und landete in einer Kurzgeschichtensammlung von Graham Greene. Eine Katastrophe wurde nur dadurch verhindert, dass eine beherzte Jurisfiktion-Agentin schnell genug reagierte und das Schwein fachgerecht in die Handlung einbaute. Es war ein Höhepunkt der Jurisfiktion.

»Hat Mr Herring gesagt, um welches Buch es sich handelt und was genau er von mir erwartet?«

»Schlimmer Schlamassel, war alles Wasser gesagt hat. Sisol Lenin Andy sera Dresse treffen.«

Behutsam nahm ich den Zettel, den sie mir hinhielt. Dass Commander Herring mich persönlich anrief, war schon etwas Besonderes.

»Sonst noch was?«

»Ihre neue Zweitbesetzung möchte sich bei Ihnen verstellen.«

Das war eine gute Nachricht. Meine Bücher sind nun mal Ich-Erzählungen, und wenn ich jenseits der gelegentlichen Lesungen noch ein Privatleben – wie meine seltenen Treffen mit Whitby – oder gar einen Zweitberuf haben wollte, brauchte ich unbedingt jemanden, der mich vertrat.

Beschwingten Fußes ging ich ins Wohnzimmer. Meine potenzielle Stellvertreterin sah sehr nett aus. Sie hatte sich sogar bemüht, ein bisschen so auszusehen wie ich, und trug bereits das typische Thursday-Next-Outfit. Sie wollte diesen Job offenbar unbedingt haben.

»Ich bin die geschriebene Thursday Next«, sagte ich und schüttelte ihr die Hand.

»Carmine O’Kipper«, erwiderte sie mit einem ängstlichen Lächeln. »ID: A4-5619-23. Ich bedanke mich sehr für die Einladung.«

»Sie sind eine A4, Miss O’Kipper?«

»Nennen Sie mich Carmine. Ist das ein Problem?«

»Ganz im Gegenteil.«

Eine A4-Figur stand theoretisch nur drei Stufen unter einer Jane Eyre oder einer Scout Finch. Um eine Ich-Erzählung bestreiten zu können, musste man natürlich Kategorie A sein, aber keine meiner anderen Zweitbesetzungen war jemals höher als A9 gewesen.

»Sie sind mindestens eine A2, nicht?«, fragte sie.

»So etwas in der Art«, erwiderte ich. »Sie kennen die Serie?«

»In meinem Sammelalbum habe ich alles über die reale Thursday Next gesammelt, was ich nur kriegen konnte. Ich bin ein richtiger Fan.«

»Also, wenn Sie hier sind, um sie persönlich kennenzulernen oder sie auch nur aus der Ferne zu sehen – das vergessen Sie lieber gleich. Kurz nach dem Großen Remake war sie einmal da, aber seither ist sie nicht mehr gesehen worden.«

»Mir geht es nur um ernsthafte Arbeit, Miss Next.«

Sie gab mir ihren Lebenslauf. Er war weder sehr lang noch sehr eindrucksvoll. Sie stammte aus einem Originalmanuskript, das irgendwo im AußenLand unveröffentlicht in einer Schublade lag. Sie hatte offenbar ein gutes Händchen für Verlust, Liebe und Unsicherheit, und ihr Verrat war anscheinend Spitze. Eigentlich gar keine schlechte Rolle, die sie da gehabt hatte. Aber nach fünfzehn Jahren ohne Leser war es natürlich Zeit, sich nach etwas anderem umzusehen.

»Ja … warum wollen Sie in meiner Serie arbeiten?«

»Ich möchte eine neue anregende Aufgabe übernehmen«, sagte sie munter. »Wenn ich weiterkommen will, brauche ich eine Herausforderung und ein Buch, in dem ich von einem echten Profi lernen kann.«

Das war der übliche Schwachsinn und beeindruckte mich überhaupt nicht. »Sie kriegen doch überall eine Rolle«, sagte ich und gab ihr ihren Lebenslauf zurück. »Warum kommen Sie ausgerechnet zum spekulativen Ende der Fantasy?«

Sie biss sich auf die Lippen und starrte mich an. »Bisher bin ich immer nur von einer Person gleichzeitig gelesen worden«, gestand sie. »Ich war ja in einem Originalmanuskript. Aber neulich hatte ich einen kurzen Auftritt als Dulcinea-Stellvertreterin in einer Reader’s-Digest-Ausgabe des Don Quijote, und als die Leserzahl über sechsundzwanzig ging, hatte ich eine Panikattacke und musste auf den Snooze-Knopf drücken.«

Ich hörte, wie Mrs Malaprop in der Küche eine Tussi fallen ließ. Aber ich selbst war auch ziemlich schockiert. Der Snooze-Knopf war nur für extreme Notfälle reserviert, wenn man sich gar nicht mehr anders zu helfen wusste. Wenn man den Knopf drückte, entzogen die BildübertragungsMaschinen den Lesern mit Hilfe eines Umkehr-Kondensators jegliches Vorstellungsvermögen, was unweigerlich zu starker Müdigkeit, Gähnen und Einschlafen führte. Einfach und schnell – und die Leser merkten gar nicht, dass etwas nicht stimmte.

»Sie haben tatsächlich den Snooze-Knopf gedrückt?«

»Ich wurde rechtzeitig gestoppt.«

»Da bin ich aber froh.«

»Ich auch. Rosinante hat dann meine Rolle übernommen. Sie hat ziemlich gut gespielt, muss ich sagen.«

»Hat Don es gemerkt? Ich meine, dass Rosinante Ihre Rolle übernommen hat?«

»Nein.«

Carmine war genau richtig für mich. Überqualifizierte Zweitbesetzungen blieben meist nicht sehr lange, weil sie ständig was Besseres suchten. Aber wenn sie unter einer ernsten Leserphobie litt, würden die niedrigen Leseraten ihr gerade recht sein. Ihre Bereitschaft, aus nichtigem Anlass den Snooze-Knopf zu drücken, beunruhigte mich allerdings etwas. Um den Missbrauch einzudämmen, hatte der GattungsRat bekannt gemacht, dass jedes Mal, wenn der Snooze-Knopf gedrückt wurde, irgendwo in der BuchWelt ein bis zwei Kätzchen ertränkt wurden. Das genügte in der Regel zur Abschreckung.

»Okay«, sagte ich. »Sie haben den Job. Unter einer Bedingung: Ich werde Ihnen den Zugangscode für unseren Snooze-Knopf nicht verraten. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

»Sehr gut. Und wie viel Lesezeit haben Sie bisher?«

»Also, außerhalb meines eigenen … Buches insgesamt siebenundachtzig Seiten.«

Das war ein erschreckend niedriger Wert. Ein einziger neugieriger Leser, der ein bisschen mehr wissen wollte und nach verborgenen Bedeutungen suchte, würde sie innerhalb von zwei Sekunden zum Stottern bringen.

»Ziehen Sie Ihre Jacke an und stecken Sie sich ein Notizbuch ein«, sagte ich. »Wir müssen bei den neuen Nachbarn vorbeischauen, und es gibt auch einiges zu besprechen.«

3.Carmine O’Kipper

Der Tourismus ins AußenLand war schon seit langem verboten, und sogar Jurisfiktion-Mitglieder, die zur Elite der BuchWelt-Sicherheitskräfte gehörten, durften die Grenze zur RealWelt nicht mehr überschreiten. Die Gründe dafür waren zahlreich und äußerst umstritten, aber in einem war man sich einig: Die Wirklichkeit war eine Schlangengrube und steckte voller Gefahren für Unvorsichtige. Wenn man zu atmen vergaß, die Schwerkraft nicht richtig berechnete, den falschen Gott oder das falsche Fußballteam unterstützte, wurde man ratzfatz in einem Zinksarg nach Hause geschickt.

Bradshaws Führer zur BuchWelt

Ich nahm meinen Pager von der Kommode und steckte ihn mir an den Gürtel, damit Mrs Malaprop mich jederzeit erreichen konnte, wenn unversehens ein Leser auftauchte, dann verließen wir den Roman durch den Hauptausgang und gingen die Straße hinunter. Die schöne neue Geografische BuchWelt war tatsächlich so geografisch, wie der Name besagte, und unsere Umgebung sah aus wie eine normale Wohngegend im AußenLand. Zwischen den Büchern verlief eine richtige Straße mit Bürgersteigen, grasbewachsenen Rändern, Hydranten und Bäumen. Links und rechts lagen Anwesen mit kompletten Romanen, einschließlich sämtlicher Schauplätze. Auf einem davon stand ein verkleinerter Kilimandscharo und auf einem anderen ein dichter Bambuswald. Auf einem dritten war ein Gewitter mit Blitz und Donner in Gang.

»Wir sind direkt an der äußersten Grenze der Fantasy«, sagte ich. »Geradeaus geht’s zum Menschlichen Drama und rechts finden Sie Comedy. Mittwochs kann ich Ihnen freigeben, aber sonst müssen Sie mit ständigem Bereitschaftsdienst rechnen.«

»Je mehr Ich-Erzählung ich machen kann, umso besser«, sagte Carmine. »Was kann man denn hier in der Freizeit so anstellen?«

»Jede Menge, wenn man Fantasy mag«, sagte ich. »In eine andere Gattung zu gehen würde ich aber nicht empfehlen, denn die Grenzbeamten sind ziemlich stur, und wenn Sie sich gerade woanders aufhalten, während Sie bei uns gebraucht werden, kann das leicht Ärger geben. Ach ja, noch etwas: Bitte tun Sie nichts, was mein Dodo missbilligen könnte.«

»Was wäre das denn zum Beispiel?«

»Ach, die Liste ist endlos. So, da wären wir.«

Wir befanden uns auf einem kleinen Hügel, wo man freundlicherweise eine gemütliche Bank aufgestellt hatte. Von diesem Aussichtspunkt konnte man fast die ganze Insel überblicken.

»Das ist sehr eindrucksvoll!«, sagte Carmine.

Es gibt praktisch keinen Dunst in der BuchWelt, und da unsere Insel ebenso wie alle anderen leicht nach innen gekrümmt ist, konnten wir bis weit nach Norden hinaufsehen, wo die umstrittene Grenze zwischen den Scharfen Romanen und der FemLit lag. Sogar die unerforschten Bösen Wälder waren noch gut erkennbar.

»Das ist der Metaphoric«, erklärte ich und zeigte auf den schimmernden, gemächlich dahingleitenden Wasserlauf mit seinen vielen Mäandern, Altwässern, Seitenarmen und Sümpfen, der in einem mächtigen Delta ins Wörtermeer strömte und die Millionen von Büchern an seinen Ufern mit erzählerischen Zweideutigkeiten und zahllosen überflüssigen Wörtern versorgte. »Östlich von den Scharfen Romanen liegt übrigens das Gebiet der Überholten Religiösen Lehren, kurz Dogma.«

»Warum sind die denn nicht in der Non-Fiktion?«, fragte Carmine.

»Das ist eine der großen Fragen«, sagte ich. »Man hat sie aus der Theologie rausgenommen, weil sie ›in einem modernen Zusammenhang nicht mehr vermittelbar‹ waren, heißt es. Sie hätten die Kirche ›mittelalterlich‹ aussehen lassen.«

»Und die Insel da vor der Küste von Dogma?« Sie zeigte auf ein felsiges Eiland, das zur Hälfte von Wolken verdeckt war.

»Die kleinere beheimatet die Atteste und Krankmeldungen, auf der größeren findet man Selbsttäuschungen, Lügen, Entschuldigungen und Ausreden für schlechtes Benehmen. Südlich von Dogma liegt Horror, dann kommen wir, und die Südküste wird ganz von Sciencefiction und Abenteuerromanen beherrscht.«

»Puh, das werd ich mir nie merken können.«

Ich gab ihr meine abgewetzte, mit vielen Eselsohren versehene Ausgabe von Bradshaws Führer zur BuchWelt. »Nehmen Sie den«, sagte ich und zeigte ihr die hinten eingeklebte Faltkarte und die Eisenbahnfahrpläne. »Die neue Auflage ist schon bestellt.«

Während wir so auf der Bank saßen und plauderten, war das Buch, dem heute Morgen der Räumungsbefehl zugestellt worden war, von einem Team von Arbeits-Danvers aus der Verankerung gelöst worden.

»Raphael’s Walrus ist seit über zwei Jahren nicht mehr gelesen worden«, erklärte ich meiner künftigen Stellvertreterin. »Deshalb werden sie jetzt in die literarische Vorortwüste geschickt. Natürlich nur vorläufig – wenn das Interesse an dem Roman wieder steigen sollte, können sie sofort wieder in eine bessere Nachbarschaft umziehen.«

»Wieso ist dann unsere Serie noch hier?«, fragte sie und schlug sich sofort die Hand vor den Mund. »Entschuldigung, war das taktlos von mir?«

»Nein, nein, das fragen die meisten Leute. Die Planungskommission der TextZentrale hat das so bestimmt. Aus Respekt.«

»Vor Ihnen?«

»Nein – vor der realen Thursday Next.«

Ein kleiner Erd- und Kieselschauer rieselte herunter, als Raphael’s Walrus sich in die Lüfte erhob, während die Schließautomatik der Bildleitungsrohre einrastete und ein paar letzte Wölkchen zerquetschter Wörter entließ. So funktionierte die neue Geografische BuchWelt. Bücher kamen und gingen, und die Grenzen zwischen den Genres verschoben sich ständig, im monatlichen Wechsel von Flut und Ebbe des Leserinteresses. Die Gattung Kriminalromane war immer recht groß, genau wie Comedy, Fantasy und Sciencefiction. Horror war dank der Urbanen Vampirgeschichten in letzter Zeit ziemlich gewachsen, während einige der weniger bekannten Genres praktisch völlig verschwunden sind. Abenteuer mit Riesenkalmaren waren erst vor kurzem abgeschafft worden und Pferde-Sciencefiction würde wahrscheinlich bald folgen.

Aber das geräumte Grundstück blieb nicht lange leer. Noch während wir auf der Bank saßen, trafen die ersten vorgefertigten Teile des neuen Buches ein, die frisch aus einer Werft im Brunnen der Manuskripte geliefert wurden. Die Ingenieure verschafften sich einen kurzen Überblick über das Grundstück, steckten die Grundrisse ab und gaben den riesigen Transport-Schubern, die plötzlich herangeschwebt kamen, das Signal, die einzelnen Elemente etwa zehn Meter über dem Boden in Position zu bringen. Halteseile wurden heruntergelassen, eine kleine Armee von Arbeits-Danvers wuchtete die schweren Bauteile unter Fluchen und Johlen an Ort und Stelle und schraubte sie dann mit großen Schraubenschlüsseln auf den Fundamenten fest. Der erste Schauplatz war eine halb zerfallene Ritterburg, dann kam eine Bergkette, dann ein riesiger Wald. Jeder Baum, jedes Kaninchen, jedes Einhorn und jede Elfe waren liebevoll einzeln verpackt. Danach trafen weitere Schauplätze ein, und innerhalb von vierzig Minuten war der ganze Roman Stück für Stück ausgepackt, festgeschraubt und an die telemetrischen Leitungen angeschlossen.

»Es empfiehlt sich immer, die Nachbarn gut zu behandeln«, sagte ich. »Man weiß ja nie, wann man mal ein Tässchen Ironie borgen muss. Außerdem ist es sicher eine interessante Erfahrung für Sie.«

Wir gingen die Auffahrt hoch, über die Zugbrücke und unter dem Fallgitter durch in den Innenhof. Überall klebten noch Zettel mit nützlichen Hinweisen: »Hier geht’s zur Auflösung«, »In der Vorgeschichte bitte keine Stiefel und Sporen«, und sogar: »Mehrdeutigkeiten füttern verboten!«

Die Ingenieure nahmen noch letzte Anpassungen vor. Sechs von ihnen schoben die Wolken in Position, zwei schlossen die SatzzeichenSchleuder ans Steuerpult an, während drei andere sich bemühten, ein Knacken und eine Rückkoppelung einzufangen, die nichts in der Geschichte zu suchen hatten. Zwei Spezialisten begannen gerade damit, einen großen Ballon mit Atmosphäre aufzuschlitzen. Sie entwich wie ein Mückenschwarm und bedeckte den ganzen Roman mit einer subtilen Aura. Es war sehr stilvoll und vornehm.

»Hallo! Guten Morgen!«, sagte ich zu den Figuren, die verwirrt im Hof herumstanden und einen Haufen unrealistischer Träume im Kopf hatten. »Bestes Debüt der Saison« träumten sie oder »ein fester Platz im Herzen der Leser« und so weiter. Sie standen kurz vor ihrer Veröffentlichung, sollten bald zum ersten Mal gelesen werden und waren dementsprechend aufgeregt, ängstlich und durcheinander. Sie brauchten unbedingt Zuspruch und Führung, und ich war heilfroh, dass ich nicht in ihrer Haut steckte.

»Mein Name ist Thursday Next. Ich wollte bloß mal vorbeischauen, um Sie hier in der Nachbarschaft zu begrüßen.«

»Das ist eine große Ehre für uns, Miss Next«, sagte der König. »Willkommen im Castle of Skeddan Jiarg. Wir haben schon viel von Ihren Abenteuern in der BuchWelt gehört, und im Namen des ganzen Ensembles möchte ich …«

»Die bin ich nicht«, sagte ich rasch, ehe das alles zu peinlich wurde. Ich habe schon so oft dementieren müssen, die reale Thursday Next zu sein, dass ich mir manchmal wie ein Papagei vorkomme. Bisweilen habe ich eine ganze Woche lang nichts anderes getan.

»Ich bin bloß die geschriebene Thursday Next«, sagte ich.

»Ah«, sagte einer der verschiedenen Zauberer, Druiden, Magier und Hexer, die im Hof herumwimmelten. »Dann gehören Sie wohl gar nicht zur Jurisfiktion?«

»Na ja, ich habe mal ein Vierundzwanzig-Stunden-Probetraining gemacht«, sagte ich. Das war immer noch etwas, worauf man sehr stolz sein konnte, auch wenn man zum aktiven Dienst nicht zugelassen worden war. Nur sehr wenige Kandidaten schaffen es, in diese Elite-Einheit aufgenommen zu werden. Ich war nicht zäh genug dafür, aber das war nicht meine Schuld. Ich war ja so geschrieben worden, dass ich viel weicher und freundlicher war. Ich war die Thursday, die Thursday gern sein wollte. Leider bedeutete das auch, dass ich zu viel Empathie hatte, um mich in der gefährlichen, dynamischen BuchWelt als knallharte Jurisfiktion-Agentin behaupten zu können.

Sie nickten freundlich und erwiderten meinen Gruß, aber es war deutlich, dass sie das Interesse verloren hatten. Ich fragte, ob ich Carmine ihr Buch zeigen dürfte, und sie hatten keine Einwände. Also wanderten wir in die Große Halle mit ihren wuchtigen Balken, weiß gekalkten Wänden, flackernden Fackeln und Steinplatten. Einige der kleineren Requisiten waren allerdings nur aus Pappe ausgeschnitten und eine Obstschale war sogar nur ein gelbes Post-it, auf dem das Wort »Obstschale« stand.

»Warum bloß ein Post-it?«, fragte Carmine. »Warum haben sie keine richtige Obstschale?«

»Jeder Roman«, sagte ich, »hat aus ökonomischen Gründen nur so viel Beschreibung wie unbedingt nötig. Früher wurden Bücher oft bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, aber das war noch in den Zeiten von BLB.«

»BLB?«

»Begrenzte LeserBildung. Heute werden die Leute von den Medien mit solchen Massen an Informationen gefüttert, dass sie die weniger ausgearbeiteten Details eines Textes mühelos selbst ergänzen.«

»Das Feedback?«

»Genau. Sobald der Leser anfängt zu lesen, spült ihm das Feedback seine eigene Interpretation der Geschichte ins Buch. Bis vor einigen Jahrzehnten wurden manche Bücher fast ausgelesen, das heißt, die Leser nahmen so viel daraus mit, dass die Bücher durch Überlesen völlig ausgeräumt wurden. Am Schluss waren sie nur noch öde und kahl. Aber seit Erfindung der Feedback-Schleife bleiben die Bücher beim Lesen fast unversehrt, es gibt praktisch keine Abnutzung mehr, und viele Leser bringen sogar noch eigenes Material mit, um die Bücher mit ihrer Interpretation auszuschmücken. War das gerade ein Kobold?«

Ich hatte ein kleines Geschöpf mit spitzen Ohren und scharfen Zähnen entdeckt, das hinter einem Sessel hockte und uns beobachtete.

»Sieht so aus, ja.«

Ich seufzte. Jetzt hatte Pickwick einen neuen Grund, sich zu beschweren.

»Wie ist Thursday eigentlich so?«, fragte Carmine.

Das wurde ich oft gefragt.

»Sie kennen wahrscheinlich die ganzen Geschichten?«

Sie nickte. Die meisten Leute hatten die Geschichten gehört. Mehr als fünfzehn Jahre hatte Thursday Next für Jurisfiktion gearbeitet und wie ein fahrender Ritter die Gefilde der BuchWelt durchstreift. Frieden und Gerechtigkeit hatte sie bis an die Grenzen der Prosa verteidigt. Den anderen Helden, auch wahren Giganten wie Commander Bradshaw, Emperor Zhark, Mrs Tiggy-Winkle und sogar der Betrunkenen Vikarin war sie haushoch überlegen.

»Hat sie wirklich mal Hamlet in die RealWelt mitgenommen?«, fragte Carmine aufgeregt.

»Unter anderem.«

»Und den heimtückischen Yorrick Kaine besiegt?«

»Natürlich.«

»Und was war mit dem Großen Samuel-Pepys-Fiasko? Musste man wirklich zwei Wochen aus seinem Tagebuch streichen, um alles wieder in Ordnung zu bringen?«

»Das war das geringste Problem. Sogar Thursday muss gelegentlich Niederlagen einstecken – das bleibt einfach nicht aus, wenn du eine Spitzenfrau bist. Außerdem«, fügte ich – aus dem unbewussten Bedürfnis, meine berühmte Namensschwester zu verteidigen – hinzu, »wenn Samuel Pepys seine Debbie nicht im Souterrain von Sons and Lovers untergebracht und zum Zweck der Kostenersparnis an ungeraden Wochentagen seinem Freund Jago überlassen hätte, wäre es nie zu der Katastrophe gekommen. Fast wären die kompletten Tagebücher verloren gegangen, weil Pepys die Panik gekriegt hat. Erst als Thursday die historischen Aufzeichnungen dahingehend ergänzte, dass es plötzlich ein ›Großes Feuer von London‹ gab, das in Wirklichkeit niemals stattgefunden hat, konnte man aus dem Debakel noch einen Nutzen ziehen. Die Historiker wollten wochenlang nicht mit dem GattungsRat reden, aber Sir Christopher Wren war entzückt.«

Wir kehrten auf den Burghof zurück. Der König und die Königin luden uns noch zu einer »Vor-Lesungs-Party« am Abend ein, und ich erwiderte die Einladung, indem ich sie zu Tee und Kuchen am nächsten Tag bat. Nachdem wir uns dergestalt gut mit den neuen Nachbarn bekannt gemacht hatten, traten wir den Heimweg an.

»Haben Sie besondere Wünsche, wie ich Sie anlegen soll?«, fragte Carmine.

»Sie spielen nicht mich«, sagte ich. »Sie spielen Thursday. Das ist ein Riesenunterschied. Obwohl ich jetzt schon so lange Thursday gewesen bin, dass ich manchmal denke, ich wäre sie, bin ich das keineswegs. Ich bin nur die geschriebene Thursday. Aber, um Ihre Frage zu beantworten: Ich versuche, sie würdig zu spielen, mit Anstand. Ich habe diesen Job von der anderen geschriebenen Thursday übernommen – fragen Sie bitte nicht nach den näheren Umständen, das ist eine lange Geschichte –, ich habe diesen Job übernommen, kurz nachdem Das Große Samuel-Pepys-Fiasko endgültig gelöscht werden musste – eine noch viel längere Geschichte, nach der man schon gar nicht fragen sollte. Meine Vorgängerin spielte Thursday immer ein bisschen respektlos, und deshalb versuche ich, das etwas auszugleichen.«

»Ich habe gehört, die gewalttätige Thursday mit dem vielen überflüssigen Sex hatte erheblich mehr Leser.«

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu, aber Carmine sah mich mit großen runden Augen in aller Unschuld an, als hätte sie keine Kritik äußern, sondern einfach nur eine Tatsache feststellen wollen.

»Wir werden die Leser schon irgendwie zurückholen«, sagte ich, obwohl ich das selbst nicht recht glaubte.

»Würden Sie mich irgendwann der realen Thursday vorstellen?«, fragte Carmine in hoffnungsvollem Ton. »Also nur zu Studienzwecken, natürlich.«

»Sie ist sehr beschäftigt, und ich behellige sie deshalb nicht gern.«

Ich übertrieb meinen Einfluss. Obwohl sie meine Erschaffung persönlich beaufsichtigt hatte, mochte die reale Thursday mich nicht besonders. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil sie mich als ihr besseres Ich konstruiert hatte. Ich glaube, das gab es häufiger in der RealWelt: diesen Bruch zwischen der Person, die man sein wollte, und der, die man tatsächlich war.