Im Brunnen der Manuskripte - Jasper Fforde - E-Book
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Im Brunnen der Manuskripte E-Book

Jasper Fforde

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Beschreibung

Ein Riesenspaß für alle, die Literatur lieben! Die Welt der Literatur gegen alle möglichen Missetäter zu verteidigen, ist eine ehrenvolle, aber auch nervenaufreibende Aufgabe. Wen wundert es also, dass Thursday Next sich zu ihrem Mutterschaftsurlaub in die tiefsten Tiefen des Brunnens der Manuskripte zurückzieht. Genauer gesagt auf ein gemütliches Flug-Hausboot in einem drittklassigen, unlesbaren Krimi, der wahrscheinlich nie veröffentlicht wird. Aber das Leben hier ist nicht ungefährlich: Gleich am ersten Tag steht Thursday Next einer wilden Meute von Grammasiten gegenüber, Big Martin scheint sie vernaschen zu wollen und eine gruppentherapeutische Sitzung zur Verminderung der Wut in Wuthering Heights wird ihr fast zum Verhängnis. - Erneut gelingt es Jasper Fforde, in einer kühnen Mischung von Spott und heißer Verehrung die Welt der Literatur auf gänzlich ungewohnte Weise in Szene zu setzen.  

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Seitenzahl: 569

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Über das Buch

Herrlich abgedreht und voll überbordender Fantasie: Der dritte Fall für Thursday Next!

Die Welt der Literatur gegen alle möglichen Missetäter zu verteidigen, ist ein ehrenwerter, aber äußerst stressiger Job. Um ihr Kind nicht zu gefährden, zieht sich Thursday Next daher während ihrer Schwangerschaft in die BuchWelt zurück. Genauer gesagt auf ein gemütliches Flug-Hausboot in einem drittklassigen, unlesbaren Krimi, der wahrscheinlich nie veröffentlicht wird. Ihr Plan ist es, sich dort in aller Ruhe auf die Große Dienstprüfung der Jurisfiktion vorzubereiten. Doch auch in den tiefsten Tiefen des Brunnens der Manuskripte ist das Leben nicht ungefährlich: Gleich am ersten Tag steht Thursday Next einer wilden Meute von Grammasiten gegenüber, eine gruppentherapeutische Sitzung zur Verminderung der Wut in ›Sturmhöhe‹ wird ihr fast zum Verhängnis – und obendrein ist ein Serienmörder unterwegs, der es auf Jurisfiktion-Agenten abgesehen hat. Wird Thursday sein nächstes Opfer?

»Eine wahre Freude für jeden, der gerne liest.« Time Out

Jasper Fforde

Im Brunnen der Manuskripte

Roman

Deutsch vonJoachim Stern

Für Mari,

die alle Lichter leuchten lässt

1.Die Abwesenheit des Frühstücks

Um den Brunnen der Manuskripte richtig einschätzen zu können, muss man eine gewisse Vorstellung von der Großen Bibliothek haben. Die Bibliothek ist der Ort, wo alle literarischen Werke aufbewahrt werden, die je veröffentlicht worden sind. Sie hat 26 Stockwerke, eins für jeden Buchstaben des Alphabets. Der Grundriss ist kreuzförmig, so dass von der zentralen Halle jeweils vier Korridore abgehen. An den Wänden stehen endlose, hohe Bücherregale. Hunderte, Tausende, Millionen von Büchern. Hardcover, Taschenbücher, in Leder gebundene Bücher und Paperbacks, alles. Aber unter der Großen Bibliothek sind noch einmal sechsundzwanzig Stockwerke, eine Unterwelt von chaotischen, nicht immer ganz sauberen Gängen, Lagerhallen und Arbeitsräumen, die als Brunnen der Manuskripte bekannt ist. Hier werden die Texte geschmiedet, zusammengebaut, geputzt und poliert, die später als Bücher einen Platz in der Bibliothek einnehmen sollen. Die Bücher in der Bibliothek sind allerdings etwas anders als die Nachdrucke, die wir zu Hause in unseren Wohnzimmern haben. Sie sind nämlich lebendig.

THURSDAY NEXT– Die Jurisfiktion-Aufzeichnungen

In einem unveröffentlichten Roman zu wohnen hatte durchaus seine Vorteile. Die ganzen Alltagsgeschäfte, die uns im sogenannten wirklichen Leben auf Trab halten, wären für eine Erzählung in der Regel zu langweilig und werden deshalb meist ausgeblendet. Der Wagen brauchte nie aufgetankt zu werden, ich wählte nie die falsche Nummer, es gab immer ausreichend heißes Wasser, und die Beutel für den Staubsauger passten auch immer. Das Beste war, dass man die Bösewichter immer schon kannte und dass es – wenn man Chaucer mal außer Acht ließ – kaum Furzerei gab. Ein paar Nachteile gab es allerdings auch. Die relativ häufige Abwesenheit eines Frühstücks war eine ziemlich störende Änderung meines Tageslaufs. Mittag- und Abendessen gab es viel häufiger, vermutlich, weil sich dabei die Handlung besser vorantreiben lässt. Es gab auch einen auffälligen Mangel an Kinobesuchen, Tapeten, Toiletten, Farben, Büchern, Tieren, Unterwäsche, Gerüchen, Friseurbesuchen und kleineren Krankheiten. Wenn jemand in einem Buch krank wurde, dann war es immer gleich tödlich oder zumindest lebensbedrohlich.

Dass ich überhaupt in einem Buch wohnen konnte, verdankte ich dem FigurenAustauschProgramm. Um zu verhindern, dass immer mehr gelangweilte Romanfiguren aus ihren Büchern ausbrachen und zu sogenannten Seitenläufern wurden, hatten die zuständigen Stellen ein Programm eingerichtet, das Buchmenschen einen gelegentlichen Tapetenwechsel erlaubte. Jedes Jahr gibt es etwa zehntausend Figuren, die nicht in ihrem ursprünglichen Werk wohnen – was die Handlung und die Dialoge meist gar nicht beeinträchtigt – die Leser merken in der Regel nicht das Geringste. Obwohl ich aus der wirklichen Welt stammte und eigentlich gar keine Romanfigur war, hatten der Protokollführer und Miss Havisham mir aufgrund meiner Tätigkeit bei Jurisfiktion gestattet, für die Dauer meiner Schwangerschaft in der BuchWelt zu leben, wo ich vor meinen Widersachern geschützt war.

Das Buch für mein selbstgewähltes Exil hatte ich mit Bedacht ausgesucht. Als mich Miss Havisham fragte, in welchem Roman ich mich aufhalten wolle, hatte ich lange nachgedacht. Robinson Crusoe wäre rein klimatisch ideal gewesen, aber dort gab es kein weibliches Wesen, mit dem ich mich hätte austauschen können. Ich hätte auch in Stolz und Vorurteil wohnen können, aber ich war nicht gerade scharf auf bebänderte Hauben, geschnürte Korsetts und delikate Manieren. Nein, um die Wahrscheinlichkeit zu vermindern, dass ich womöglich umziehen musste, schien es mir unumgänglich, ein Werk von so zweifelhafter Qualität zu finden, dass eine Veröffentlichung höchst unwahrscheinlich erschien. Ich fand dieses Werk tief unten im Brunnen der Manuskripte unter anderen gescheiterten Projekten und halbfertigen Texten von so erschütternder Unbeholfenheit, dass sie gewiss nie ans Licht der Öffentlichkeit kommen würden. Es handelte sich um einen drögen, in Reading angesiedelten Krimi mit dem Titel Caversham Heights. Eigentlich wollte ich dort nur ein Jahr bleiben, aber es kam alles ganz anders. Meine Pläne sind immer ein bisschen wie die Romane von Millon de Floss – man weiß nie genau, wie sie ausgehen.

Ich las mich in aller Ruhe in Caversham Heights ein. Ich befand mich am Ufer eines kleinen Sees in der Nähe von London. Es war Sommer, und nach den winterlichen Wetterbedingungen zu Hause roch die Luft süß und warm. Ich stand auf einem breiten, hölzernen Landesteg vor einem großen, altertümlichen Flugboot, wie sie bei uns noch gelegentlich auf den Küstenstrecken eingesetzt werden. Erst vor einigen Monaten war ich selbst noch in so einer Kiste geflogen, als ich jemanden aufsuchen sollte, der behauptete, einige unveröffentlichte Burns-Gedichte gefunden zu haben. Aber das war in einem anderen Leben, als ich noch für SpecOps in Swindon arbeitete, in einer Welt, die ich fürs Erste hinter mir gelassen hatte.

Ich setzte eine dunkle Sonnenbrille auf und betrachtete das Flugboot, das leicht im Wellengang schaukelte und an den Haltleinen zog. Ich fragte mich gerade, wie lange es der alte Kahn wohl noch machen würde, als eine junge Frau mit einem Reisekoffer aus der Kabinentür trat. Ich hatte Caversham Heights bereits einmal kurz überflogen, daher kannte ich Mary schon.

»Guten Tag!« sagte sie, kam die Gangway herauf und schüttelte mir die Hand. »Ich bin Mary. Sie sind wahrscheinlich Thursday, nicht wahr? Ach, du meine Güte, was ist denn das?«

»Ein Dodo. Ihr Name ist Pickwick.«

Pickwick plockte und starrte Mary misstrauisch an.

»Wirklich?« sagte Mary. »Ich bin natürlich keine Expertin, aber … ich dachte, Dodos wären ausgestorben?«

»Da, wo ich herkomme, sind sie als Haustiere ziemlich beliebt. Fast schon ein bisschen lästig.«

»Ach. Von einem Buch mit lebendigen Dodos drin hab’ ich noch nie gehört, glaub’ ich.«

»Ich bin auch keine Romanfigur«, sagte ich, »sondern wirklich.«

»Ach!« sagte Mary mit weit aufgerissenen Augen. »Eine Außenländerin.« Sie berührte mich neugierig mit ihrem schlanken Zeigefinger. »Ich habe noch nie mit jemandem von der anderen Seite zu tun gehabt«, sagte sie und schien erleichtert, als ich bei der Berührung nicht in tausend Stücke zersprang. »Sagen Sie, stimmt das eigentlich, dass Sie sich regelmäßig die Haare schneiden müssen? Ich meine, wachsen Ihre Haare tatsächlich?«

»Ja«, lächelte ich. »Und meine Fingernägel auch.«

»Wirklich?« murmelte Mary. »Ich habe Gerüchte darüber gehört, aber ich dachte, es wäre bloß eine dieser außenländischen Legenden. Ich vermute, dann müssen Sie auch essen, damit Sie am Leben bleiben, nicht wahr? Nicht bloß, wenn es die Geschichte verlangt, oder?«

»Es ist eine der größten Freuden im Leben«, erklärte ich ihr. Ich hatte nicht die Absicht, ihr von den Nachteilen des wirklichen Lebens wie Karies, Inkontinenz oder Altersdemenz zu erzählen. Mary lebte in einem Zeitfenster von etwa drei Jahren, sie würde nie heiraten oder Kinder kriegen, sie alterte nicht, sie musste nicht sterben, sie wurde nie krank, sie veränderte sich überhaupt nicht. Dass sie resolut und stark erschien, lag nur daran, dass sie so geschrieben war. Trotz all ihrer Qualitäten war Mary bloß eine Kontrastfigur zu Jack Spratt, dem Privatdetektiv in Caversham Heights, die loyale Zuhörerin, der Jack alles erklärte, was der Leser wissen musste. Sie war das, was der Schriftsteller eine Expositionshilfe nennt, aber ich wäre nie so unhöflich gewesen, ihr das zu sagen.

»Ist das mein neues Zuhause?« Ich zeigte auf das zerschrammte Flugboot.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Mary voll Stolz. »Ist es nicht wunderbar? Eine Short Sunderland, 1943 gebaut und zuletzt im Jahr 1968 geflogen. Ich bin gerade dabei, sie zum Hausboot umzubauen, und Sie können gern dabei helfen. Vor allem müssen die Bilgen ständig gelenzt werden, und wenn Sie einmal im Monat den Motor Nummer drei laufen ließen, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Die Checkliste für den Start liegt auf dem Flugdeck.«

»Äh – ja, natürlich!« stammelte ich.

»Gut. Ich habe eine kurze Inhaltsangabe der Geschichte an den Kühlschrank geklebt, aber machen Sie sich keine Sorgen, da wir bisher nicht gedruckt sind, können Sie so ziemlich tun, was Sie wollen. Wenn es im Rahmen bleibt, meine ich.«

»Ja, natürlich.«

Ich dachte einen Augenblick nach.

»Ich bin ziemlich neu bei diesem Austauschprogramm«, sagte ich. »Wann wird man mich denn zur Teilnahme an der Handlung auffordern?«

»Der Austauschbeauftragte in diesem Buch ist Wyatt, der sagt Ihnen Bescheid. Jack Spratt wirkt am Anfang immer ein bisschen mürrisch, aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen, er hat ein goldenes Herz. Wenn Sie seinen Austin Allegro fahren, müssen Sie die Kupplung fest durchtreten, ehe Sie schalten. Seinen Kaffee trinkt er schwarz, und die Liebesgeschichte zwischen mir und Detective Constable Baker ist absolut überflüssig, ist das klar?«

»Völlig klar«, erwiderte ich. Liebesszenen wollte ich sowieso keine spielen.

»Hat man Ihnen die nötigen Ausweise und die sonstigen Papiere gegeben?«

Ich klopfte auf meine Jackentasche, und sie gab mir einen Schlüsselbund und einen Zettel.

»Gut. Das hier ist meine FußnotofonNummer, nur für Notfälle. Das hier sind die Schlüssel für das Flugboot und den BMW. Wenn so eine Flasche namens Arnold vorbeikommt, dann sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren. Noch Fragen?«

»Ich glaube, nein.«

Sie lächelte. Ein gelbes Taxi mit der Aufschrift Gattungstransfererschien aus dem Nichts. Der Fahrer erschien ziemlich gelangweilt, als Mary die hintere Tür öffnete.

»Dann ist ja alles in Ordnung. Es wird Ihnen hier gefallen. Ich seh’ Sie dann in einem Jahr. Bis dahin!«

Sie wandte sich dem Fahrer zu und murmelte: »Bringen Sie mich aus diesem Buch raus!« Das Taxi und sie verblassten, und ich blieb allein auf der staubigen Schotterstraße zurück.

Ich sah ihr nach, bis sie verschwunden war, dann setzte ich mich auf eine Bank neben einen Pflanztrog mit vertrockneten Blumen und ließ meinen Dodo aus seiner Reisetasche heraus. Pickwick schüttelte beleidigt ihre zerzausten Federn und blinzelte in die Sonne. Ich sah auf den See und ein paar weit entfernte Segelboote hinaus, die kaum mehr als farbige Dreiecke waren. Dann beobachtete ich ein Schwanenpaar, das sich mit heftigen Flügelschlägen und energischem Paddeln vom Wasser löste und wegflog, dann aber gleich wieder landete und eine lange Bremsspur auf dem stillen See hinterließ. Es erschien mir ein ziemlicher Aufwand, um sich ein paar hundert Meter weit zu bewegen.

Ich wandte mich dem Flugboot zu. Der Anstrich, der den Rumpf bedeckte, war zum Teil abgeblättert und enthüllte die Kennfarben längst vergessener Fluglinien. Die Plexiglasfenster waren vom Alter getrübt, und aus den drei leeren Motorgehäusen hoch oben auf den Flügeln, in denen irgendwelche Vögel ihre Nester gebaut hatten, hingen nutzlose Kabel. Goliath, Aornis und SpecOps waren weit weg – aber leider auch Landen. Landen. Die Gedanken an meinen Ehemann waren stets bei mir. Ich dachte an all die schönen Stunden, die wir miteinander verbracht hatten und die es nie gegeben hatte. An all die Orte, die wir nicht besucht, all die Dinge, die wir nicht getan hatten. Sie hatten ihn mit zwei Jahren genichtet, aber ich hatte all die Erinnerungen an ihn. Allerdings gab es niemanden, mit dem ich sie hätte teilen können.

Plötzlich hörte ich lautes Knattern, und ein Motorrad kam auf mich zu. Der Fahrer schien sein Gerät nicht sehr gut zu beherrschen, und ich war froh, dass er nicht auf den Landesteg fuhr, sonst wäre er womöglich noch im Wasser gelandet.

»Hallo!« sagte er fröhlich und nahm seinen Helm ab. Es erschien ein junges Gesicht von mediterranem Schnitt. »Mein Name ist Arnold. Hab’ ich Sie hier schon mal gesehen?«

Ich stand auf und schüttelte ihm die Hand. »Mein Name ist Next. Thursday Next. Ich gehöre zum Figurenaustausch-Programm.«

»Oh, verdammt!« sagte er. »Heißt das, ich hab’ sie verpasst?«

Ich nickte, und er schüttelte traurig den Kopf.

»Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?«

»J-ja«, sagte ich unsicher. »Sie sagte, sie würde, äh, sie würde mit Ihnen reden, wenn sie wieder zurück ist.«

»Wirklich?« Arnolds Miene hellte sich auf. »Das ist ein gutes Zeichen. Normalerweise sagt sie, ich wäre ein Schlappschwanz und soll mich zum Teufel scheren.«

»Sie wird allerdings nicht so bald wieder zurückkommen«, fügte ich hastig hinzu, um zu vertuschen, dass ich Marys Nachricht so offensichtlich geschönt hatte. »Vielleicht bleibt sie ein ganzes Jahr weg, vielleicht auch länger.«

»Verstehe«, sagte er, seufzte und starrte aufs Wasser hinaus. Dabei entdeckte er Pickwick, die sich bemühte, einen fremdartigen Wasservogel zu hypnotisieren.

»Was ist das für ein Vogel?« fragte er.

»Ich glaube, das ist eine Ente, aber ich bin mir nicht ganz sicher – da, wo ich herkomme, gibt es die nicht.«

»Nein, ich meine den anderen.«

»Das ist ein Dodo.«1

»Wie bitte?« fragte mich Arnold.

Ich erhielt gerade eine Fußnotifikation, das gebräuchlichste Verständigungsmittel für Buchmenschen. Aber das Gebrabbel störte mich doch erheblich.

»Es ist wohl eine FNF«, sagte ich. »Aber keine persönliche Mitteilung, sondern mehr so ein Sammelruf wie zu Hause das Radio. Ich weiß auch nicht recht, was das soll.«2

Arnold starrte mich verblüfft an. »Sie sind wohl nicht hier aus der Gegend?«

»Nö. Ich bin von der anderen Seite. Was ihr das Außenland nennt.«3

Er riss die Augen auf, und sein Unterkiefer klappte herunter. »Soll das heißen, dass Sie wirklich sind?«

»Ich fürchte, ja«, sagte ich leicht amüsiert.

»Du meine Güte! Ist es wahr, dass ihr Außenländer nicht roter-Buick-blauer-Buick ganz schnell hintereinander sagen könnt?«

»Das stimmt. Wir nennen das einen Zungenbrecher.«

»Das ’s ja irre! Bei uns gibt es so etwas nicht. Ich kann the sixth sheik’s sixth sheep’s sick sagen, so oft ich will!«

Und das tat er dann auch. Dreimal hintereinander.

»So, und jetzt versuchen Sie es mal!«

Ich holte tief Luft. »The sixth spleeps sics sleeks … sick.«

Arnold lachte wie eine Dachtraufe. Ich glaube, er hatte noch nie so etwas Lustiges erlebt. Ich lächelte freundlich.

»Versuchen Sie’s noch mal!«

»Nein, danke.4Sagen Sie, wie kann ich dieses Geplapper in meinem Schädel abstellen?«

»Denken Sie einfach ganz entschieden: AUS.«

Ich folgte seiner Empfehlung, und das Fußnotofon verstummte sofort.

»Ist es jetzt besser?«

Ich nickte.

Er dachte einen Augenblick nach, dann sah er sich auffällig unschuldig um und sagte: »Wollen Sie ein paar Verben kaufen? Erstklassiger Stoff, direkt aus der TextSee. Ich hab’ einen Freund auf einem KritzelKutter.«

Ich lächelte. »Nein danke. Und Sie sollten mich lieber nicht fragen, Arnold. Ich gehöre zur Jurisfiktion.«

»Oh«, sagte er und erbleichte. Er warf mir einen so kläglichen Blick zu, dass ich beinahe gelacht hätte.

»Keine Sorge, ich werd’ Sie nicht anzeigen«, sagte ich.

Er seufzte erleichtert, bedankte sich murmelnd und stieg wieder auf sein Motorrad. Schwankend fuhr er davon und hätte beinahe noch die Briefkästen auf der Uferböschung umgefahren.

Das Innere des Flugboots war heller und luftiger, als ich gedacht hatte, aber es roch etwas muffig. Der Umbau war noch nicht sehr weit fortgeschritten. Die Wände hatten ein halbhohes Kiefernpaneel, aus dem hier und da noch die Isolierwolle und elektrische Kabel herausquollen. Der hohe Rumpf hatte Platz für zwei Stockwerke. Als erstes betrat ich ein großes offenes Wohnzimmer mit ein paar alten Sofas und einem Fernseher. Ich versuchte, ihn einzuschalten, aber es kam nichts. In der BuchWelt gab es kein Fernsehen, wenn es nicht von der Handlung ausdrücklich verlangt wurde. Das meiste, was ich sah, waren bloße Kulissen, die für die Szene gebraucht wurden, in der Jack Spratt auf die Sunderland kommt, um den Fall zu besprechen. Auf dem falschen Kaminsims standen Bilder, die Mary in der Polizeischule zeigten. Auch ihre Beförderung zur Kriminalassistentin war fotografisch dokumentiert worden.

Ich öffnete die Tür zu einer kleinen Küche. Am Kühlschrank hing eine Zusammenfassung der Handlung von Caversham Heights. Ich studierte sie noch einmal kurz, fand aber nichts Neues. Die Ereignisse entsprachen in etwa dem, was ich noch von meiner ersten Lektüre im Kopf hatte, obwohl Mary ihre eigene Rolle noch etwas weiter ausgebaut hatte, als der Autor tatsächlich geplant hatte. Ich füllte eine Wasserschale für Pickwick, holte ihr Ei aus der Tasche und legte es ihr behutsam aufs Sofa, wo sie sich gleich mit mütterlicher Zärtlichkeit darüber hermachte. Ich ging weiter und entdeckte dort, wo früher die Bugkanone gewesen war, ein gemütliches Schlafzimmer. Eine schmale Aluminiumleiter führte aufs Flugdeck hinauf. Von hier aus bot sich die schönste Aussicht des Hauses. Große Plexiglasfenster zeigten ein herrliches Panorama des Sees. Die beiden massiven Steuerknüppel und zwei bequeme Pilotensitze ergänzten die Einrichtung. Die Instrumententafel war größtenteils verblasst, und die Kontrollhebel waren zum Teil abgebrochen. Zu meiner Rechten sah ich den letzten verbliebenen Motor, der ziemlich einsam aussah. Die Propellerblätter waren vollgekleckert mit Möwenscheiße.

Hinter den Pilotensitzen, wo der Navigator gesessen hätte, stand ein Schreibtisch mit Leselampe, Schreibmaschine und Fußnotofon. Auf dem Bücherregal standen kriminalistische Fachzeitschriften und forensische Lehrbücher. Ich trat durch eine niedrige Tür und fand ein weiteres kleines Schlafzimmer. Es war nicht sehr hoch, aber gemütlich. Die Wände hatten Kieferpaneele, und über dem Doppelbett war eine Lichtkuppel. Dahinter befand sich ein kleiner Lagerraum mit Holzscheiten, einem Boiler und einer Wendeltreppe. Ich wollte gerade wieder hinuntergehen, als ich Stimmen aus dem Wohnzimmer hörte.

»Was meinst du, was das ist?«

Die Stimme klang irgendwie leer und hatte keinerlei Farbe. Ich vermochte nicht einmal zu sagen, ob sie männlich war oder weiblich.

Ich blieb abrupt stehen und zog instinktiv meine Pistole aus ihrem Halfter. Nach dem Manuskript lebte Mary allein. Während ich mich leise die Treppe hinunterbewegte, hörte ich eine zweite, praktisch identische Stimme: »Ich glaube, irgendein Vogel.«

Die zweite Stimme war genauso farblos wie die erste, und wenn sie nicht geantwortet hätte, hätte ich wahrscheinlich gedacht, dass sie derselben Person gehörte.

Als ich weit genug unten war, sah ich zwei Gestalten in der Mitte des Raumes, die Pickwick anstarrten, die hinter dem Sofa hockte und tapfer zurückstarrte, um ihr Ei zu beschützen.

»He!« sagte ich und hob meine Pistole. »Keine Bewegung!«

Die beiden Gestalten hoben die Köpfe und sahen mich ausdruckslos an. Ihre Gesichter waren genauso wenig unterscheidbar wie ihre Stimmen. Ihre Arme hingen ohne Körpersprache an ihnen herunter. Ob sie neugierig, ärgerlich oder besorgt waren, hätte ich nicht zu sagen gewusst.

»Wer seid ihr?« fragte ich.

»Wir sind niemand«, sagte der Linke.

»Jeder ist irgendwer«, sagte ich.

»Das ist nicht ganz richtig«, sagte der Rechte. »Wir haben eine Codenummer, aber sonst nichts weiter. Ich bin TSI-1404912-A, und das ist TSI-1404912-C.«

»Aha. Und was ist mit Nummer B passiert?«

»Die wurde am Dienstag von Grammasiten gefressen.«

Ich senkte meine Pistole. Was ich da vor mir hatte, waren Figuren-Rohlinge. Miss Havisham hatte mir davon erzählt. Die Rohlinge wurden hier im Brunnen der Manuskripte erzeugt, um die Bücher zu bevölkern, die gerade entstanden. Im Augenblick ihrer Entstehung waren sie lediglich menschliche Leinwände – ungeprägte Münzen gewissermaßen, die ihren Wert und ihre Individualität erst später erhielten. Sie hatten keine Geschichte, keine Schwächen und keine Konflikte oder Probleme. Es gab nichts, was sie irgendwie interessant machte. Um sie zu nützlichen Mitgliedern der BuchWelt zu machen, bedurfte es verschiedener Institutionen. Sie waren allerdings von vornherein klassifiziert. Von A bis D, und von eins bis zehn. Rohlinge der Klasse D wurden normalerweise nur für Menschenmengen und stumme Passanten gebraucht. Die Klasse C erhielt schon mal kleinere Sprechrollen, während die Nebenrollen aus der Klasse B besetzt wurden. Hauptrollen gingen grundsätzlich nur an die A-Klasse. Diese Rohlinge waren handverlesen und hinsichtlich ihrer Vielschichtigkeit und ihrer Tragfähigkeit für besondere Charaktereigenschaften geprüft. Huckleberry Finn, Tess d’Urberville, Anna Karenina und Oskar Matzerath gehörten alle zur Klasse A, aber natürlich auch Franz Moor, Mr Hyde und Hannibal Lecter. Ich betrachtete die Rohlinge erneut. Waren sie Helden oder Mörder? Es war noch völlig offen, was aus ihnen werden würde, und im jetzigen Stadium ihrer Entwicklung waren sie harmlos. Ich steckte meine Knarre weg.

»Ihr seid Rohlinge, stimmt’s?«

»Genau«, sagten sie unisono.

»Was macht ihr denn hier?«

»Erinnern Sie sich noch an den Minimalismus?«

»Ja?« sagte ich und trat etwas näher heran, um ihre leeren Gesichter genauer studieren zu können. Es gab noch eine Menge, was ich über den Brunnen der Manuskripte nicht wusste. Sie waren zwar harmlos, aber doch ziemlich unheimlich. Pickwick versteckte sich immer noch hinter dem Sofa.

»Der wurde durch die große Lieferkrise der frühen Sechziger ausgelöst, als diese voluminösen Romane erschienen«, sagte der Linke. »Jetzt heißt es, ein gewisser Vikram Seth plant einen neuen, umfangreichen Roman, und ich glaube, der GattungsRat möchte nicht, dass die Figuren plötzlich wieder so knapp werden wie damals. Deshalb werden wir jetzt auf Vorrat produziert und dann in unveröffentlichte Romane geschickt, bis wir in Dienst gestellt werden.«

»Eine Art Zwischenlager, gewissermaßen?«

»Also ich persönlich bevorzuge das Wort Einquartierung«, sagte der Linke, und der leicht empörte Unterton in seiner Stimme deutete darauf hin, dass er nicht auf Dauer ohne Persönlichkeit bleiben würde.

»Wie lange seid ihr denn schon hier?« fragte ich.

»Seit zwei Monaten«, sagte der Rechte. »Wir warten auf einen Studienplatz am St. Tabularasa’s Generic College. Dort erfolgt das Charaktergrundstudium. Ich wohne im Gästezimmer im Heck.«

»Ich auch«, sagte der Linke.

Das verblüffte mich denn doch für eine Sekunde. »O-kay«, sagte ich schließlich. »Da wir offenbar alle im selben Boot leben müssen, gebe ich euch vielleicht besser Namen. Du«, sagte ich und zeigte auf den Rechten, »heißt künftig ibb. Und du« – dabei zeigte ich auf den anderen – »heißt ab sofort obb.«

Für den Fall, dass sie mich nicht verstanden hatten, zeigte ich noch einmal auf sie und sagte: »Du bist ibb, und du bist obb.«

Ich zögerte. Irgendwie klangen ihre Namen nicht richtig, aber ich wusste nicht gleich, was es war. »ibb«, sagte ich, und dann: »ibb-obb. Klingt das irgendwie komisch?«

»Keine großen Anfangsbuchstaben«, sagte obb. »Die kriegen wir erst, wenn wir mit dem Studium anfangen. Wir hatten auch gar nicht so früh mit Namen gerechnet. Dürfen wir die behalten?«

»Die sind ein Geschenk von mir«, sagte ich.

»Ich bin ibb«, sagte ibb, als ob er das besonders hervorheben müsse.

»Ich bin obb«, sagte obb.

»Ich bin Thursday«, sagte ich und streckte ihnen die Hand hin. Sie schüttelten sie nacheinander, langsam und ausdruckslos. Mir wurde klar, dass ich mit den beiden nicht allzu viel Spaß haben würde.

»Und das ist Pickwick.«

Sie musterten Pickwick, die leise plockte, hinter dem Sofa hervorkam, sich auf ihr Ei setzte und so tat, als würde sie schlafen.

»So«, sagte ich und klatschte in die Hände. »Kann von euch einer kochen? Ich kann’s nämlich nicht, und wenn ihr nicht ein Jahr lang Bohnen auf Toast essen wollt, dann solltet ihr’s schleunigst lernen. Ich bin der Ersatz für Mary, und wenn ihr mich nicht stört, dann stör ich euch auch nicht. Ich geh spät ins Bett und wache früh auf. Ich habe einen Ehemann, der nicht existiert, und im Laufe der nächsten Monate werd’ ich ein Kind kriegen. Wundert euch also nicht, wenn ich übellaunig werde und zunehme. Noch Fragen?«

»Ja«, sagte der auf der Linken. »Welcher von uns ist noch mal obb?«

Ich packte meine Sachen aus und verstaute sie in dem kleinen Schlafzimmer hinter dem Flugdeck. Ich hatte eine kleine Skizze von Landen gemacht und stellte sie mir auf den Nachttisch. Ich vermisste ihn schrecklich und fragte mich zum hundertsten Mal, ob es nicht ein Fehler war, dass ich mich hier versteckte. Hätte ich nicht da draußen in meiner eigenen Welt sein und versuchen müssen, ihn wiederzukriegen?

Das Problem war, dass ich das ja schon einmal versucht hatte und völlig gescheitert war. Wenn mich Miss Havisham nicht gerettet hätte, säße ich jetzt noch in einem Verlies der Goliath Corporation. Vielleicht hätte ich anders gehandelt, wäre ich nicht schwanger gewesen, aber so erschien es mir besser, mich an einen ruhigen Ort zu begeben. Wenn das Baby erst mal auf der Welt war, konnte ich meine Rückkehr planen und Landens Rettung organisieren.

Ich ging in die Küche hinunter und erklärte obb die Prinzipien des Kochens, die ihm genauso fremd waren wie die Tatsache, dass er jetzt einen Namen besaß. Glücklicherweise fand ich ein zerlesenes Exemplar von Mrs. Beeton’s Complete Housekeeper, das ich ihm halb im Spaß in die Hand drückte. Drei Stunden später servierte er uns einen Lammbraten mit Kräuterkartoffeln und Minzsoße, und ich hatte etwas Wichtiges gelernt: Rohlinge waren zwar schrecklich langweilig, aber sie lernten verdammt schnell.

2.Im Inneren von Caversham Heights

Projekt/YGIO/1204961/: Arbeitstitel: Caversham Heights. Ursprungsland: UK. Letzte Fassung: 1976.

Umfang: 90 000 Wörter. Gattung: Kriminalroman.

Betriebssystem: Book V7.2.

Grammasitenbefall: 1 Brutpaar der geschützten Art parenthium. Beurteilung: Standard-Krimi mit Kommissar Jack Spratt. Schauplatz der Handlung ist Reading (England). Die Handlung (soweit erkennbar) kreist um einen Drogenbaron, der die Kontrolle über die Unterwelt der Stadt übernimmt. Schematischer Aufbau, blasse Figuren, wenig überzeugende Polizeiarbeit und ein Erzähltempo, das zu lahm ist, um Schnecken zu fangen. Empfehlung: Nicht zur Veröffentlichung geeignet.

Gegenwärtiger Status: Die untere Naturschutzbehörde hat gegen die geplante Verschrottung Einspruch erhoben. Der endgültige Bericht der vom GattungsRat eingesetzten Prüfungskommission wird erwartet.

Wochenblatt des unliterarischen Untergrunds,1982, Bd. CLXI, Sp. 564

Am nächsten Morgen hatte ich Gelegenheit, mit ibb und obb den Zerfall des Frühstücks zu diskutieren. Ich erklärte ihnen, dass die Getreideflocken üblicherweise vor dem Speck und den Eiern verzehrt werden, während der Toast und der Kaffee keinen festen Platz in der Abfolge haben. Dass Zitronen- und Orangenmarmelade fast ausschließlich zum Frühstück serviert werden, wollte ihnen gar nicht einleuchten. Ich war gerade dabei, ihnen die technischen Möglichkeiten eines in Milchkaffee getunkten Croissants zu erläutern, als der Briefschlitz klapperte und ein Exemplar der Toad auf den Fußboden plumpste.

Der einzige Bericht befasste sich mit irgendwelchen Schießereien zwischen Drogenbanden in Reading. Das gehörte zur Handlung von Caversham Heights und erinnerte mich schmerzlich daran, dass ich früher oder später – wahrscheinlich früher – in die Rolle von Mary würde schlüpfen müssen, wenn ich meinen Verpflichtungen aus dem FigurenAustauschProgramm gerecht werden wollte.

Ich las mir die von Mary gelieferte Zusammenfassung noch einmal durch, die mir zwar einen umfassenden Eindruck vom Inhalt der einzelnen Kapitel verschaffte, aber keine Angaben darüber enthielt, was ich denn genau sagen oder tun musste. Ich hatte auch nicht sehr lange Zeit, darüber nachzudenken, denn plötzlich klopfte es, und ein Mann mit einem Hut namens Wyatt erschien.

»Entschuldigung«, sagte er verlegen. »Natürlich heißt nicht der Hut Wyatt.«

»Das hab’ ich mir fast gedacht, Mr Wyatt.«

Ausgeleiert und hölzern hielt er sein Klemmbrett.

»Oh, verflixt!« sagte er wie jemand, der gerade George Sand in einem Saal voller Französischlehrerinnen mit dem Personalpronomen »er« zu bezeichnen versucht hat. »Jetzt ist es schon wieder passiert.«

»Stört mich überhaupt nicht«, sagte ich. »Was kann ich für Sie tun, Mr Wyatt?«

»Sehr liebenswürdig. Als Angehörige des FigurenAustausch-Programms möchte ich Sie bitten, sich nach Reading zu begeben, äh –« Seine Schultern sanken herab. »Nein, ich bin ja gar keine Angehörige des FigurenAustauschProgramms, das sind Sie. Und deshalb möchte ich Sie bitten, nach Reading zu fahren.«

»Gewiss doch. Haben Sie eine genaue Adresse für mich?«

Schmutzig und eselsohrig reichte er mir den Lieferschein von seinem Klemmbrett. Und noch ehe er sich erneut entschuldigen konnte, sagte ich: »Alles klar, ich habe verstanden.«

Sein Zustand war offenbar chronisch, aber als er merkte, dass ich ihm sein Leiden nicht übel nahm, hellte seine Stimmung sich auf.

»Trotz des seit zehn Jahren über uns schwebenden VerschrottungsBefehls sollten Sie das bitte ernst nehmen«, sagte er. »Die letzte AustauschFigur war da sehr nachlässig. Wir mussten sie staubig und asphaltbedeckt auf der Straße davonjagen.«

Er hob fragend eine Augenbraue.

»Ich werde Sie nicht enttäuschen«, versicherte ich.

Er bedankte sich klein, braun und buschig, lüpfte den Hut namens Wyatt und machte sich dünn.

Ich nahm Marys Wagen und fuhr auf der M4 nach Reading. Die Autobahn schien genauso belebt wie zu Hause, wo ich dieselbe Strecke schon oft zurückgelegt hatte, wenn ich von Swindon nach London oder zurück musste. Erst als ich auf der Höhe der Burghfield Road war, wurde mir bewusst, dass nur ungefähr sechs verschiedene Fahrzeugtypen mit mir unterwegs waren. Bewusst wurde mir dieses merkwürdige Phänomen, als mir der dritte weiße Lieferwagen mit der Aufschrift Dr. Spongg’s Fußpflege entgegenkam, die alle denselben Fahrer im blauen Overall hatten. Das nächste Fahrzeug war ein von einer jungen Frau gesteuerter roter VW, gefolgt von einem älteren Mann mit einem verbeulten Morris Marina. Als ich den Tatort des ersten Mordes in Caversham Heights endlich erreicht hatte, hatte ich dreiundvierzig weiße Fußpflege-Lastwagen, dreiundzwanzig rote Käfer und sechzehn blaue Morris Marinas mit identischen Beulen gezählt. Außerdem gab es noch ein paar grüne Ford Escorts und einige weiße Chevrolets. Das konnte nur daran liegen, dass der Text ein bisschen beschränkt war, deshalb stellte ich eilig den BMW ab, las noch einmal Marys Notizen, holte tief Luft und stöckelte über den Platz. Den uniformierten Polizisten zeigte ich meinen Ausweis und duckte mich unter der Absperrung weg.

Der Tatort war ungefähr sechs Meter breit und acht Meter lang und von hohen Ziegelmauern mit bröckelndem Mörtel umgeben. Ein großes, weißes SOCO-Zelt erhob sich über der Szene, und neben der detailliert beschriebenen Leiche kniete eine Gerichtsmedizinerin und diktierte ihre Beobachtungen auf ein Tonbandgerät.

»Hallo!« sagte eine joviale Stimme neben mir. Ich drehte mich um und sah einen fülligen Mann in einem Trenchcoat, der mich leutselig angrinste.

»Detective Sergeant Mary«, sagte ich diensteifrig. »Aus Basingstoke hierher versetzt.«

»Darum brauchen wir uns jetzt noch nicht zu kümmern«, lächelte er. »Die Handlung beschäftigt sich gerade mit Jack. Er redet draußen auf der Straße mit Officer Tibbit. Ich bin Detective Chief Inspector Briggs, ihr freundlicher, aber leidgeprüfter Chef. Knurrig und gelegentlich zu Zornesausbrüchen neigend, aber letztlich doch fürsorglich. Ich werde Jack im Verlauf der Handlung mindestens einmal suspendieren.«

»Guten Tag, Sir!« stotterte ich.

»Schon gut«, sagte Briggs und schüttelte meine Hand. »Mary hat mir gesagt, dass Sie für Jurisfiktion arbeiten. Stimmt das?«

»Ja.«

»Wissen Sie vielleicht, wann die Prüfungskommission des GattungsRats kommt?« fragte Briggs. »Es wäre gut, wenn wir uns vorbereiten könnten. Sie haben doch sicher schon von dem VerschrottungsBefehl gehört, oder?«

»Der GattungsRat?« wiederholte ich und versuchte, meine Unwissenheit nicht allzu deutlich werden zu lassen. »Tut mir leid, ich bin noch nicht so lange in der BuchWelt.«

»Eine Außenländerin?« sagte Briggs staunend. »Hier? In Caversham Heights?«

»Ja, ich –«

»Sagen Sie, wie sehen Wellen aus, wenn sie sich am Strand brechen?«

»Wer ist eine Außenländerin?« fragte die Pathologin, die plötzlich aufgesprungen war und mich fasziniert anstarrte. »Sie?«

»J-ja«, gab ich zu.

»Ich bin Dr. Singh«, sagte sie und schüttelte lebhaft meine Hand. »Ich bin eine ältere Inderin, sehr sachlich und scheinbar völlig humorlos. Ich mag Katzen und Leute, die Katzen mögen. Ich dulde keinen Unsinn, zeige aber doch gelegentlich Wärme. Sagen Sie, habe ich irgendeine Ähnlichkeit mit einer richtigen Pathologin?«

»Aber natürlich«, sagte ich und versuchte, mich an ihren kurzen Auftritt in Caversham Heights zu erinnern.

»Wissen Sie, ich habe nie eine echte Pathologin gesehen«, sagte sie leicht melancholisch. »Und ich weiß eigentlich gar nicht genau, was ich tun muss.«

»Sie machen das schon sehr gut«, versicherte ich.

»Und was ist mit mir?« fragte Briggs. »Finden Sie, ich müsste meine Persönlichkeit irgendwie weiterentwickeln? Bin ich so wie die richtigen Leute, die Sie kennen, oder bin ich ein bisschen eindimensional?«

»Na ja –«

»Ich habe es gewusst!« rief er unglücklich. »Es liegt an meinem Haar, oder? Finden Sie, dass es kürzer sein müsste? Oder länger? Wie wäre es mit einem ungewöhnlichen Hobby? Ich habe mal Trompete gelernt – wäre das ungewöhnlich genug?«

»Jemand hat gesagt, eine Außenländerin wäre im Buch!« unterbrach uns einer der beiden uniformierten Beamten, die gerade hereingekommen waren. »Ich bin der Namenlose Polizist Nr. 1; das ist mein Kollege, der Namenlose Polizist Nr. 2. Kann ich Sie etwas über das Außenland fragen?«

»Klar.«

»Was ist der Sinn einer Buchstabensuppe?«

»Keine Ahnung.«

»Sind Sie auch bestimmt aus dem Außenland?« fragte er misstrauisch. »Dann sagen Sie mir doch wenigstens, warum es keinen Singular für Scampi gibt!«

»Weiß ich auch nicht.«

»Ach, Sie sind gar nicht aus dem Außenland«, sagte Polizist Nr. 1 traurig. »Sie sollten sich schämen, uns anzulügen und falsche Hoffnungen bei uns zu wecken.«

»Ich kann es Ihnen beweisen«, sagte ich und hielt mir die Augen zu. Reden Sie einfach abwechselnd weiter, aber lassen Sie die Hinweise auf die Sprecher weg. Dann zeige ich’s Ihnen.«

»Okay«, sagte Polizist Nr. 1. »Wer bin ich?«

»Und wer bin ich?« fragte Dr. Singh.

»Ich habe gesagt, Sie sollen die Sprecherhinweise weglassen. Versuchen Sie es noch mal.«

»Das ist schwerer, als Sie denken«, grummelte Polizist Nr. 1.

Es entstand eine Pause.

»Wer von uns redet jetzt?«

»Dr. Singh. Hab ich recht?«

»Erstaunlich!« sagte Dr. Singh. »Wie machen Sie das?«

»Ich kann Ihre Stimmen erkennen. Und übrigens habe ich auch einen Geruchssinn.«

»Wirklich? Kennen Sie vielleicht auch jemand bei einem Verlag?«

»Niemanden, der uns helfen kann. Mein Ehemann ist oder war Schriftsteller, aber seine Lektoren würden mich garantiert nicht erkennen. Ich bin SpecOps-Agentin; mit heutiger Literatur hab ich nur wenig zu tun.«

»SpecOps?« fragte Polizist Nr. 2. »Was ist das?«

»Wir sollen nämlich verschrottet werden«, unterbrach Briggs, »wenn wir keinen Verlag finden.«

»Wir könnten wieder in einzelne Wörter zerlegt und in die TextSee gekippt werden«, sagte Polizist Nr. 1 trübsinnig. »Dabei habe ich in meiner Vorgeschichte eine Frau und zwei Kinder.«

»Da kann ich leider auch nicht helfen«, sagte ich. »Ich bin ja nicht einmal –«

»Auf die Plätze, bitte!« rief Briggs plötzlich, und ich beeilte mich, an die richtige Stelle zu kommen. Auch die Pathologin und die beiden Namenlosen Polizisten rannten eilig zu ihren Plätzen, um dort auf Jack zu warten, den ich bereits im Haus mit jemandem reden hörte.

»Viel Glück«, zischte Briggs aus dem Mundwinkel und zog mich auf eine niedrige Mauer. »Ich werde Ihnen soufflieren, wenn nötig.«

»Vielen Dank.«

Als Jack aus dem Haus trat, saß DCI Briggs mit einer jungen Frau, die eifrig Notizen machte, auf einer niedrigen Mauer im Hof. Er stand auf und schaute ostentativ auf die Uhr.

»Tut mir leid, Sir, ich bin so schnell wie möglich gekommen«, sagte Spratt, merkte aber sofort, dass es keine gute Idee gewesen war, sich zu entschuldigen.

Briggs grunzte und wedelte mit der Hand in Richtung der Leiche. »Sieht so aus, als wäre er an Schussverletzungen gestorben«, sagte er grimmig. »Wurde heute Morgen um acht Uhr siebenundvierzig gefunden.«

»Muss ich sonst noch etwas wissen?« fragte Spratt.

»Ja, einiges. Erstens: Der Verstorbene ist der Neffe von Gangsterboss Angel DeFablio, deshalb brauche ich jemanden, der gut mit der Presse umgehen kann, falls die Medien sich darauf stürzen. Zweitens: Ich gebe Ihnen den Auftrag bloß, weil ich ein weiches Herz habe. Sie sind zur Zeit nicht gerade besonders populär bei den Leuten im Siebten Stock.«

»Gibt es noch einen dritten Punkt?«

»Na ja. Außer Ihnen ist zur Zeit keiner frei.«

»Vorher klang es irgendwie besser.«

»Hören Sie, Jack«, sagte Briggs. »Sie sind ein guter Polizist, nur manchmal ein bisschen sprunghaft. Ich will Sie in meinem Team, aber ich will keinen Ärger.«

»Ist das die Stelle, wo ich mich bedanke?«

»Allerdings. Und geben Sie mir so rasch wie möglich einen Bericht, ja?«

Briggs nickte in Richtung der jungen Dame, die immer noch geduldig wartete. »Jack, ich möchte Ihnen Thurs- ich meine Detective Sergeant Mary Jones vorstellen.«

»Hallo«, sagte Jack.

»Erfreut, Sie kennen zu lernen, Sir«, sagte die junge Frau.

»Ebenfalls. Mit wem arbeiten Sie?«

»Next – Ich meine, Jones ist Ihre neue Partnerin«, sagte Briggs und fing aus unerfindlichen Gründen an, heftig zu schwitzen. »Sie ist aus Swindon zu uns versetzt worden.«

»Basingstoke«, sagte Mary.

»Sorry, Basingstoke.«

»Ich will ja nicht unhöflich sein, Sir. Detective Sergeant Jones ist bestimmt eine ausgezeichnete Polizistin, aber ich hatte gehofft, vielleicht mit Butcher, Spooner oder –«

»Ausgeschlossen«, sagte Briggs in einem Tonfall, der keine Diskussion zuließ. »Ich lasse euch zwei jetzt allein, damit Sie sich bekannt machen können. Bitte denken Sie daran, dass ich so bald wie möglich einen Bericht brauche. Verstanden?«

Jack beobachtete verdrossen, wie sich Briggs auf den Weg machte.

»Sie sind also Mary Jones«, sagte er schließlich fröstelnd.

»Ja, Sir.«

»Was haben Sie bisher herausgefunden?«

Sie suchte in ihrer Tasche nach dem Notizbuch, konnte es aber nicht finden und zählte deshalb die einzelnen Punkte mit den Fingern ab.

»Der Name des Verstorbenen ist Sonny DeFablio.«

Es entstand eine Pause. Jack sagte nichts, und deshalb blieb der leicht verwirrten Mary Jones nichts anderes übrig, als so zu tun, als hätte er etwas gesagt.

»Der Zeitpunkt des Todes konnte bisher noch nicht genauer bestimmt werden. Vermutlich zwischen zwei und vier Uhr letzte Nacht. Die genaue Todesursache und das Kaliber der Waffe werden wir erfahren, sobald Dr. Singh mit der Leiche fertig ist …«

»Jack? Ist alles in Ordnung?«

Er hatte sich müde auf die kleine Mauer gesetzt und hielt seinen Kopf in den Händen.

Ich sah mich nach den anderen um, aber Dr. Singh, ihr Assistent, die Leute von der Spurensicherung und die übrigen Polizisten waren völlig mit ihren Rollen beschäftigt und schienen sich mit Jacks plötzlichem Schwächeanfall nicht befassen zu wollen. Vielleicht war es ihnen auch einfach nur peinlich.

»Ich kann so nicht weitermachen«, murmelte Jack.

»Sir«, versuchte ich zu improvisieren, »wollen Sie sich die Leiche ansehen oder kann sie in die Pathologie gebracht werden?«

»Ist doch sowieso alles egal«, schluchzte der gebrochene Protagonist. »Es liest uns doch sowieso keiner.«

Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ich habe ja versucht, es irgendwie interessanter zu machen«, jammerte er, »aber nichts funktioniert. Meine Frau spricht nicht mehr mit mir, meinen Job bin ich bald los, Reading wird mit Drogen überschwemmt, und wenn es mir nicht gelingt, die Geschichte irgendwie lesbar zu machen, werden wir alle verschrottet. Alles, was bleibt, ist ein leerer Platz auf dem Bücherregal und die schwache Erinnerung an ein gescheitertes Projekt im Kopf des Autors.«

»Ihre Frau hat Sie doch bloß verlassen, weil alle eigenwilligen Detektive Einzelgänger sind und Probleme mit dem häuslichen Glück haben«, sagte ich. »In Wirklichkeit liebt Ihre Frau Sie bestimmt.«

»Nein, tut sie nicht«, schluchzte er. »Es ist alles vorbei. Verstehen Sie nicht? Üblicherweise fahren Detektive irgendwelche außergewöhnlichen Autos, und ich hatte einen wunderbaren Delage-Talbot Supersport. Aber dann wurde die Idee gestohlen, und ich kriegte diesen schrecklichen Austin Allegro. Wenn jetzt noch irgendwelche Szenen gestrichen werden, sind wir erledigt.«

Er unterbrach sich und sah mich an. »Wie heißen Sie noch mal?«

»Thursday Next.«

Er richtete sich plötzlich auf. »Sie meinen die Thursday Next? Die Jurisfiktion-Agentin, die bei Miss Havisham in die Lehre geht?«

Ich nickte. Nachrichten reisen schnell im Brunnen der Manuskripte.

Seine Augen begannen zu glänzen. »Ich habe im Word einen Artikel über Sie gelesen. Sagen Sie, haben Sie eine Möglichkeit herauszukriegen, wann die Prüfungskommission unseren Roman liest? Ich habe sieben dreidimensionale Freiberufler der Klasse B-2 organisiert, die unsere Geschichte eine Stunde lang ganz schön aufpeppen könnten. Auf diese Weise könnten wir vielleicht noch etwas weitermachen; ich müsste nur wissen, wann die Kommission kommt.«

»Tut mir leid, Mr Spratt«, sagte ich. »Das alles ist mir noch ziemlich neu. Was genau ist denn der GattungsRat?«

»Der GattungsRat ist für Erzählkonventionen, die Gesetze der Dramaturgie und Ähnliches zuständig. Und mit Hilfe ihrer Prüfungskommissionen entscheiden die Mitglieder des Gattungs-Rats, ob ein unveröffentliches Manuskript verschrottet oder weiter aufbewahrt wird.«

»Oh«, sagte ich. »Da kann ich leider nicht helfen.«

»Und wie steht’s mit TextGrandCentral? Kennen Sie da jemanden?«

Von der Textzentrale hatte ich schon gehört. Ich wusste, dass sie die Bücher in der Großen Bibliothek überwachte und etwaige Probleme an die Jurisfiktion übergab, aber mehr wusste ich auch nicht. Wieder schüttelte ich den Kopf.

»Verdammt!« sagte er. »Ich habe schon drei verschiedene Überarbeitungen beantragt – cross-over, hardboiled, all age –, aber die sind ja so stur. Da könnte man gleich verlangen, den Großen Pandjarum persönlich zu sprechen.«

»Warum versucht ihr nicht, das Buch von innen zu ändern?«

»Änderungen ohne Erlaubnis?« sagte er voller Entsetzen. »Das wäre ja Meuterei. Ich will zwar, dass sich der GattungsRat mit uns beschäftigt, aber nicht so! Der Aufstand würde sofort niedergeschlagen, und wir wären schon nach wenigen Seiten erledigt.«

»Aber wenn die Prüfungskommission noch gar nicht da war«, sagte ich langsam, »dann würden sie ja gar nicht wissen, dass etwas anders ist.«

Er dachte einen Augenblick nach. »Leichter gesagt als getan – wenn ich anfange, an der Handlung zu drehen, bricht womöglich alles wie ein Kartenhaus zusammen.«

»Dann fangen Sie doch mit kleinen Veränderungen an. Ändern Sie erst mal sich selbst. Wenn das funktioniert, können Sie damit beginnen, die Handlung zu biegen.«

»Mmmh«, sagte Jack langsam. »Woran hatten Sie denn gedacht?«

»Wie wär’s, wenn Sie aufhören zu saufen?«

»Woher wissen Sie von meinem Alkoholproblem?«

»Weil alle eigenwilligen, einsamen Detektive mit Eheproblemen auch saufen. Hören Sie mit dem Schnaps auf, und gehen Sie nach Hause zu Ihrer Frau.«

»Aber so bin ich doch nicht geschrieben«, sagte Jack langsam. »Das kann ich nicht machen – das würde nicht meinem Charakter entsprechen – die Leser – ich –«

»Jack, es gibt keine Leser. Und wenn Sie es nicht wenigstens versuchen, wird es nie welche geben – und bald auch keinen Jack Spratt mehr. Aber wenn es klappt, gibt es vielleicht sogar … eine Fortsetzung.«

»Eine Fortsetzung?« Ein träumerischer Gesichtsausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Sie meinen, es könnte eine Jack-Spratt-Serie geben?«

»Wer weiß« – ich zuckte die Achseln – »vielleicht gibt es sogar mal eine Kassettenausgabe.«

Seine Augen begannen zu glänzen, und er stand auf. »Eine Kassettenausgabe«, flüsterte er und starrte ins Leere. »Es hängt alles von mir ab, nicht wahr?«

»Ja. Ändern Sie sich selbst, ändern Sie den Roman – und wenn die Prüfung kommt, ist Caversham Heights ein Buch, das die Kommission gar nicht mehr aus der Hand legen will!«

»Okay«, sagte er schließlich. »Gleich im nächsten Kapitel fangen wir an. Statt mit Briggs darüber zu streiten, dass wir einen Verdächtigen wieder laufen lassen, werde ich meine Ex zum Essen ausführen.«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Weil Sie sich nicht im nächsten Kapitel, auf der nächsten Seite oder im nächsten Absatz ändern sollen – sondern sofort.«

»Das geht nicht. Wir müssen jetzt mindestens noch neun Seiten lang mit Dr. Singh den Zustand der Leiche erörtern und diesen ganzen langweiligen forensischen Kram diskutieren.«

»Überlassen Sie mir das. Wir springen ein, zwei Absätze zurück, ja?«

Er nickte, und wir kehrten auf die Mitte der vorigen Seite zurück.

Jack beobachtete verdrossen, wie sich Briggs auf den Weg machte.

»Sie sind also Mary Jones«, sagte er fröstelnd.

»Ja, Sir.«

»Was haben Sie bisher herausgefunden?«

Sie suchte in ihrer Tasche nach dem Notizbuch, konnte es aber nicht finden und zählte deshalb die einzelnen Punkte mit den Fingern ab.

»Der Name des Verstorbenen ist Sonny DeFablio.«

»Sonst noch was?«

»Ihre Frau hat angerufen.«

»Ach … wirklich?«

»Ja. Sie hat gesagt, es wär’ wichtig.«

»Ich kann ja heute Abend mal vorbeigehen.«

»Sie hat gesagt, es wäre … sehr wichtig.«

Jack zögerte. »Können Sie die Stellung für mich halten, Jones?«

»Natürlich, Sir.«

Jack verließ den Tatort und ließ Mary mit der Pathologin allein.

»Okay«, sagte Mary. »Wie sieht’s aus, Dr. Singh?«

Wir spielten die Szene zusammen. Dr. Singh erzählte mir alles, was sie sonst Jack erzählt hatte. Da war vom Todeszeitpunkt, von Einschusswinkeln, von der Verteilung der Blutspritzer und zahllosen anderen Einzelheiten die Rede.

Als sie endlich fertig war, sagte sie: »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, Thursday.«

»Ich auch«, sagte ich.

»Wissen Sie«, sagte die Pathologin. »Diese lange Rede, die ich gerade gehalten habe … über Einschusswinkel, Schmauchspuren, Hautverfärbungen und so weiter …?«

»Ja?«

Sie schob sich noch ein bisschen näher an mich heran. »Ich versteh’ überhaupt nichts davon. Vier Seiten technischer Monolog, und ich hab keine Ahnung, wovon ich überhaupt rede. Ich habe doch bloß eine Ausbildung als Krankenschwester in Schicksalsromanen gemacht. Wenn ich gewusst hätte, was mir bevorsteht, hätte ich wenigstens mal ein paar Stunden bei Kay Scarpetta genommen. Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was ich eigentlich tun soll?«

Ich schnappte mir die braune Arzttasche, die man ihr gegeben hatte, wühlte ein bisschen darin herum und zog schließlich ein großes Thermometer heraus. »Versuchen Sie’s doch mal damit.«

»Was soll ich denn damit machen?«

»Stecken Sie’s in die Leiche!« Ich zeigte mit dem Finger, wohin.

»Sie machen Witze!« sagte Dr. Singh voller Entsetzen.

3.Drei Hexen, Multiple Choice und Sarkasmus

Jurisfiktion ist der Name der Polizeibehörden, die im Auftrag des GattungsRats innerhalb von Büchern arbeiten. Das Personal dieser Behörde besteht aus literarischen Figuren, aber einzelne Beamte, so wie Harris Tweed oder ich, können auch aus der wirklichen Welt stammen. Ihre Aufträge erhalten die Jurisfiktion-Agenten aufgrund der Hinweise von TextGrandCentral, wo Hunderte von »Problemfindern« arbeiten. Deren Beobachtungen werden dann vom Protokollführer an die Agenten weitergegeben. Der Protokollführer ist ein Wahlbeamter, der alle zehn Jahre vom GattungsRat neu bestimmt wird und den Einsatz der Jurisfiktion-Agenten koordiniert. Jurisfiktion hat ein eigenes Dienstreglement, eine äußerst effiziente technische Abteilung, eine passable Kantine und eine sehr tüchtige Waschfrau.

THURSDAY NEXT– Die Jurisfiktion-Aufzeichnungen

Als ich schließlich nach Hause zurückkehrte, war es Abend. Ich stieß die Tür des Flugboots auf und zog die engen Schuhe aus. Pickwick kam eilig zur Tür gerannt und zupfte an meinem Rock. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer, und nachdem ich gewartet hatte, bis sie endlich ihr Ei gefunden hatte, das hinter die Boxen der Stereo-Anlage gerollt war, gratulierte ich ihr ausführlich zu seiner Entwicklung, obwohl keinerlei Veränderung feststellbar war.

Ich ging in die Küche, wo ibb und obb den ganzen Tag Mrs. Beeton’s Kochbuch studiert hatten. ibb versuchte sich an einem Steak Diane mit Pommes frites. Das hatte Landen mir oft gemacht, und ich fühlte mich plötzlich sehr einsam und schrecklich weit weg von zu Hause. obb war gerade dabei, den Zuckerguss auf eine vierstöckige Hochzeitstorte zu spritzen.

»Hallo, ibb«, sagte ich. »Wie geht’s immer so?«

»Wie geht was?« fragte der Rohling, der wie üblich alles wörtlich nahm. »Außerdem bin ich obb.«

»Tut mir leid, obb.«

Ich setzte mich an den Tisch und öffnete das Päckchen, das mit der Post gekommen war. Es stammte von Miss Havisham und enthielt die Unterlagen für die Große Jurisfiktion-Dienstprüfung. Bei meinen Bemühungen um die Re-Aktualisierung meines Ehemanns Landen war ich ja mehr durch Zufall bei Jurisfiktion gelandet. Genauer gesagt: Ich hatte mich in die Organisation eingeschlichen, um aus Gründen, die hier nicht weiter dargelegt werden können, ein Gedicht von Edgar Allan Poe zu besuchen. Aber seit ich sie kannte, hatte Jurisfiktion mich nicht mehr losgelassen. Ich fühlte mich der Bewahrung des geschriebenen Wortes genauso verpflichtet wie alle anderen Mitglieder. Die Aufgaben waren meiner Tätigkeit bei SpecOps ja durchaus vergleichbar. Dennoch fehlten mir wesentliche Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft bei Jurisfiktion, und ich fragte mich, ob Miss Havisham in diesem Falle nicht doch etwas voreilig war.

Die fünfhundert Prüfungsfragen waren größtenteils Multiple Choice, und ihre Beantwortung überwachte sich selbst. Es war äußerst praktisch: Sobald man das Buch aufschlug, das die fünfhundert Fragen enthielt, tickte oben auf der linken Seite die Uhr. Die meisten Fragen waren im weitesten Sinne literarischer Natur, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, gleich anzufangen.

Nach zehn Minuten war ich bereits bei der sechsundvierzigsten Frage: Welcher der folgenden Dichter benutzte in seinem gesamten Werk nie das verbotene Wort majestätisch?

In diesem Augenblick klopfte es, verbunden mit einem Donnerschlag, an die Tür.

Ich schloss das Prüfungsbuch und machte die Tür auf. Auf dem Landungssteg standen drei knochige alte Weiber in schmutzigen Lumpen. Kaum hatte sich die Tür geöffnet, begannen sie eine gut einstudierte Show abzuziehen.

»Wann komm’ wir drei zum selben Platz?« fragte die erste Hexe. »Bei Hašek, Wodehouse, Ringelnatz?«

»Wenn der Wirrwarr stille schweigt«, erklärte die zweite. »Und das Ende sich uns zeigt.«

Es entstand eine Pause. Die zweite gab der dritten Hexe einen ermunternden Schubs. »Das ist, eh’ der Tag sich neigt«, sagte die.

»Wo der Ort?«

»In diesem Text!«

»Da treffen wir die Thursday Next!«

Sie hielten inne, und ich starrte sie unsicher an.

»Vielen Dank«, sagte ich schließlich und wollte die Tür schließen, aber die erste Hexe schnaubte unwillig und stellte ihren Fuß dazwischen.

»Brauchen Sie Prophezeiungen, Vorausdeutungen oder Warnungen?« fragte sie, während die anderen schauerlich lachten.

»Ich glaube nicht«, sagte ich und schob ihren Fuß weg. »Vielleicht ein andermal.«

»Heil dir, Miss Next! Heil dir, Bürgerin von Swindon!«

»Tut mir sehr leid, aber ich habe zu tun – und Kleingeld habe ich auch keins.«

»Heil dir, Miss Next, Agentin der Jurisfiktion!«

»Lasst mich in Ruhe!« sagte ich ärgerlich.

»Heil dir, Miss Next, Protokollführerin sollst du werden!«

»Na, klar. Jetzt haut endlich ab, ihr albernen Hexen. Ihr könnt jemand anderen nerven.«

»Gebt uns einen Shilling, wenn’s recht ist. Dann erzählen wir dir mehr – oder weniger. Ganz wie’s beliebt.«

Unbeeindruckt von ihrem Grummeln, schloss ich die Tür und kehrte zu meinen Prüfungsfragen zurück. Ich hatte gerade erst Frage neunundvierzig beantwortet: Welches der folgenden Wörter ist kein Gerundium?, als es schon wieder an die Tür klopfte.

»Verdammt!« sagte ich und stieß mir beim Aufstehen den Knöchel am Tisch. Es waren wieder die Hexen.

»Ich dachte, ich hätte euch gesagt –«

»Na, dann wenigstens Sixpence«, sagte die Oberhexe und streckte ihre knochige Hand aus.

»Nein«, rief ich energisch und rieb mir den Knöchel. »Ich kaufe grundsätzlich nichts an der Tür.«

Da legten sie gleich zu dritt los: »Dreimal dein und dreimal mein, und dreimal noch, so macht es –«

Wieder schlug ich die Tür zu. Es gab Wichtigeres, und abergläubisch war ich sowieso nicht. Ich hatte mich gerade wieder hingesetzt, nippte an meinem Tee und konzentrierte mich auf die nächste Frage: Wer schrieb ›Die ägyptische Briefmarke‹?, als es erneut an die Tür klopfte.

»So«, rief ich und marschierte zum Eingang. »Jetzt hab ich’s aber satt!«

Ich riss die Tür auf und brüllte: »Verdammte Hexen! Jetzt reicht’s aber endgültig. Ich –«

Dann blieb mir für eine Sekunde die Luft weg. Wer da stand, war Oma Next, meine Lieblingsgroßmutter. Wäre es Lord Nelson persönlich gewesen, hätte es mich auch nicht mehr überrascht.

»Omilein?!« rief ich. »Wo kommst du denn her?«

Wie üblich trug sie ein blau kariertes Kleid, einen blau karierten Mantel und Hut, blau karierte Schuhe und Strümpfe. Sogar die Handtasche war blau kariert. Es war spektakulär.

Sie umarmte mich in der behutsamen Art älterer Damen, und ich roch Bodmin for Women. Eine ältere Dame war sie tatsächlich – mindestens 108, wenn ich richtig gezählt habe.

»Ich bin gekommen, um mich ein bisschen um dich zu kümmern, mein Mädchen.«

»Vielen Dank, Omi«, sagte ich und überlegte, wie sie wohl hierher gekommen sein könnte.

»Du kriegst bald ein Kind, da brauchst du ein bisschen Fürsorge«, erklärte sie großspurig. »Mein Koffer steht auf dem Landesteg, und ich fürchte, du musst noch den Taxifahrer bezahlen.«

»Natürlich«, murmelte ich und ging zur Straße hinauf, wo ein gelbes Taxi vom Gattungstransfer stand.

»Wie viel?« fragte ich.

»Siebzehn Shilling und Sixpence.«

»Ach, ja?« sagte ich. »Da haben Sie wohl noch eine kleine Extra-Runde gedreht?«

»Fahrten in den Brunnen kosten doppelt«, sagte der Fahrer. »Wenn’s Ihnen nicht passt, sag’ ich Jurisfiktion Bescheid. Sie werden schon sehen, was dann passiert. Ich hab’ auch schon Heathcliff gefahren.«

»Ach, wirklich?« sagte ich und gab ihm ein Pfund.

»Ham’ Sie’s nich’ kleiner? Kann leider nich’ wechseln.«

»Behalten Sie den Rest«, sagte ich. »Aber geben Sie mir eine Quittung.« Während er die Quittung schrieb, hörte ich, wie sein Fußnotofon brummelte. Eine Gruppe von zehn Personen aus dem Decamerone wollte dringend eine Landpartie machen. Sekunden später war er verschwunden. Ich schnappte mir Omas Überseekoffer und schleppte ihn in mein Flugboot.

»Das sind ibb und obb«, sagte ich. »Zwei Rohlinge, die bei mir einquartiert sind. Der Linke ist ibb.«

»Ich bin obb.«

»Tut mir leid. Das ist meine Großmutter.«

»Guten Abend«, sagte Granny Next und betrachtete meine Hausgäste.

»Sie ist sehr alt«, stellte ibb fest.

»Hundertundacht«, sagte Granny stolz. »Sagt mal, macht ihr noch was anderes als in der Gegend herumstarren?«

»Nö, eigentlich nicht«, sagte ibb.

»Plock«, sagte Pickwick, die den Kopf um den Türpfosten streckte, ihre Federn aufschüttelte und begeistert auf Granny zulief, von der sie wusste, dass sie immer ein paar Marshmallows einstecken hatte.

»Wie ist das, wenn man alt ist?« fragte ibb, der sich die rosigen Falten in Grannys Gesicht ganz aus der Nähe ansah.

»Das Alter ist die Jugend des Todes«, erläuterte Granny. »Aber wisst ihr, was das Schlimmste ist? Ich werde mein Begräbnis um drei Tage verpassen.«

»Omi«, rief ich. »Bring sie nicht durcheinander!«

Aber es war schon zu spät.

»Wie können Sie denn Ihr Begräbnis verpassen?« fragte ibb. »Das ist doch nicht möglich.«

»Denk doch mal nach«, sagte obb. »Wenn sie drei Tage länger leben würde, könnte sie die Rede bei ihrem Begräbnis selbst halten!«

»Ja, natürlich. Wie dumm von mir«, sagte ibb.

Damit verschwanden sie in der Küche, wo sie sich lautstark über die Frage unterhielten, wie man Liebesaffären zwischen Hausknecht und Küchenmädchen behandelt – die Ausgabe von Mrs. Beeton’s Kochbuch war offenbar schon ziemlich alt.

»Wann gibt’s Abendbrot?« fragte Granny und musterte das Innere des Flugboots mit Skepsis. »Ich bin völlig verhungert. Aber bitte nichts Hartes. Die alten Beißerchen sind nicht mehr die besten.«

Ich half ihr vorsichtig aus dem blau karierten Mantel und setzte sie an den Tisch. Steak Diane war garantiert zu zäh für sie, also machte ich ihr rasch noch ein Omelette.

»So, Granny«, sagte ich und schlug ein Ei in die Pfanne. »Jetzt sagst du mir, was du hier eigentlich tust.«

»Ich bin da, um dich an gewisse Dinge zu erinnern, die du sonst womöglich vergisst, kleine Thursday.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Na, Landen zum Beispiel. Weißt du, mein Ehemann ist damals auch genichtet worden, und ich hätte dringend jemand gebraucht, der mir half, das zu überstehen.«

»Ich werde ihn nicht vergessen, Omi.«

»Ja«, sagte sie mit einem eigenartigen Unterton. »Und ich sorge dafür, dass wir ganz sicher sein können.«

»Aha«, sagte ich. »Und wie bist du hergekommen?«

»Ach, weißt du, ich habe früher auch gelegentlich für Jurisfiktion gearbeitet. Es war einer der vielen Jobs, die ich in meinem Leben gehabt habe – und es war noch nicht mal der merkwürdigste.«

»Und was war der merkwürdigste?« fragte ich, obwohl ich genau wusste, dass ich das nicht hätte tun sollen.

»Na ja, ich war mal vierundzwanzig Stunden lang Gottkaiser des Universums«, sagte sie so beiläufig, als handle es sich um einen Kinobesuch. »Das war verdammt merkwürdig: einen ganzen Tag in der Haut eines Mannes.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen.«

ibb deckte den Tisch, und zehn Minuten später setzten wir uns zum Essen. Während Granny ihr Omelett mümmelte, versuchte ich ein gepflegtes Gespräch mit den beiden Rohlingen. Leider waren die beiden aber nicht in der Lage, meinen geselligen Äußerungen irgendetwas anderes zu entnehmen als die vordergründigsten Fakten. Ich versuchte, ihnen einen Witz zu erzählen, den ich mal von Bowden, meinem Partner bei SpecOps, gehört hatte, aber als ich zur Pointe kam, starrten sie mich bloß misstrauisch an.

»Warum hatte der Dudelsack einen Schlafanzug an?« fragte ibb.

»Das war gar kein Schlafanzug«, sagte ich. »Der Tintenfisch dachte bloß, dass es ein Schlafanzug wäre.«

»Ich verstehe«, sagte obb unsicher. »Können Sie es noch einmal erzählen?«

»Jetzt reicht’s«, sagte ich. »Ich werde schon noch dafür sorgen, dass eure Persönlichkeit sich entwickelt, und wenn’s mich den letzten Nerv kostet.«

»Wieso Nerv kostet?« fragte ibb ernsthaft.

Ich dachte intensiv nach. Es musste doch einen Ansatzpunkt geben. Schließlich schnippte ich mit dem Finger.

»Sarkasmus«, sagte ich. »Damit fangen wir an!«

Sie sahen mich erwartungsvoll an.

»Tja«, sagte ich. »Sarkasmus ist eng verwandt mit Ironie. Dabei sagt man das Gegenteil von dem, was man meint. Oder besser: Man meint das Gegenteil von dem, was man sagt. Also zum Beispiel: Wenn ihr mich darüber belügt, wer die ganzen Anchovis gegessen hat, die noch im Schrank waren, dann sagt ihr: Wir waren es nicht. Ich weiß aber genau, dass ihr’s wart, und deshalb sagte ich: Natürlich seid ihr’s nicht gewesen! Das ist dann ironisch oder sarkastisch.«

»Was ist ein Anchovi?« fragte ibb.

»Ein sehr kleiner gesalzener Fisch.«

»Verstehe«, sagte ibb. »Geht das auch mit anderen Sachen oder geht Ironie bloß mit Fisch?«

»Plock«, sagte Pickwick im Schlaf und kippte sanft auf die Seite. »Plocketty-plock.«

»Ich glaube, Sarkasmus lässt sich am besten beim Humor erklären«, sagte Granny, die meine Bemühungen mit Interesse verfolgt hatte. »Ihr wisst ja, dass Pickwick nicht allzu intelligent ist, nicht wahr?« Pickwick lag mittlerweile auf dem Kopf, streckte die Krallen in die Luft und bewegte sich unruhig im Schlaf, als ihr Name erwähnt wurde.

»Ja, das wissen wir«, sagten ibb und obb, die ja sehr gute Beobachter waren.

»Wenn ich nun sagen würde, es sei leichter, Hefebakterien zu trainieren als Pickwick, dann benutze ich den Sarkasmus, um einen kleinen Scherz zu machen.«

»Aber Hefe hat doch keine Intelligenz«, sagte ibb.

»Genau«, sagte Granny. »Der Sarkasmus liegt darin, dass ich so tue, als hätte Pickwick weniger Verstand als Hefebakterien. So, und jetzt versucht ihr’s mal!«

Die beiden Rohlinge dachten lange nach.

»Ja«, sagte ibb schließlich. »Wie wäre es mit … Pickwick ist so schlau, dass sie auf dem Fernseher sitzt und das Sofa anstarrt?«

»Nicht schlecht, für den Anfang«, sagte Granny.

obb wollte auch nicht zurückstehen. »Wenn ihr etwas durch den Kopf geht, dann ist das die kürzeste Reise der Welt.«

»Pickwick hat einen Bruder in Oxford. Leider wird er in einem Glas aufbewahrt«, sagte ibb.

»Das reicht«, sagte ich. »Ich weiß, dass Pickwick keine Intelligenzbestie ist, aber sie ist eine sehr zuverlässige Freundin.«

Ich warf ihr einen liebevollen Blick zu, woraufhin sie vom Sofa rutschte und mit einem dumpfen Schlag auf den Fußboden fiel. Sie wachte auf und begann heftig zu plocken. Sie beschwerte sich erst beim Sofa, dann beim Kaffeetisch und schließlich beim Teppich. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zurück auf ihr Ei stieg und wieder einschlief.

»Das war schon sehr nett«, sagte ich. »Das nächste Mal behandeln wir Subtext.«

Kurz darauf zogen ibb und obb sich zurück, und ich hatte endlich Gelegenheit, Granny danach zu fragen, wie es zu Hause in Swindon aussah. Meiner Mutter ging es gut, wie es schien, und Joffy, Wilbur und Orville waren so verrückt wie immer. Weniger gut waren die politischen Nachrichten: Yorrick Kaine war kurz nach dem Zwischenfall mit dem Glatisant wieder aufgetaucht. Seinen Sitz im Parlament hatte er aufgeben müssen, aber er war nach wie vor Chef einer der mächtigsten Zeitungen. Ich wusste, dass er fiktiv war und eine Gefahr für meine Welt darstellte, aber daran ließ sich nichts ändern, solange ich in Caversham Heights war. Wir redeten bis tief in die Nacht über die BuchWelt, Landen, Nichtungen und Kinderkriegen. Granny hatte drei Töchter und Söhne und kannte sich aus. Mit einer gewissen sadistischen Freude erzählte sie mir von all den schrecklichen Dingen, über die einem sonst keiner was sagt, wenn man sich darauf einlässt.

»Geschwollene Knöchel und Krampfadern musst du als Errungenschaften und Ehrenzeichen betrachten«, erklärte sie fröhlich.

Als wir schließlich zu Bett gingen, überließ ich Granny mein eigenes Zimmer und schlief in dem großen Doppelbett unter dem Flugdeck. Das heißt, lange Zeit schlief ich überhaupt nicht. Ich starrte an die Decke, wo die Wellen und das Mondlicht eigenartige Schattenspiele erzeugten, ich dachte an meinen Vater und Emma Hamilton, an Jack Spratt und ans Kinderkriegen. Aber ich machte mir auch große Sorgen um Caversham Heights. Was sollte aus seinen Bewohnern, und was sollte aus mir und dem Baby werden, wenn der Roman tatsächlich für schlecht befunden und demoliert wurde? Mein Aufenthalt an diesem stillen Gewässer konnte gefährlicher werden, als ich gedacht hatte.

4.Landen Parke-Laine

Es heißt, dass niemand wirklich stirbt, solange man ihn nicht vergisst, und im Falle Landens galt das ganz besonders. Seit er genichtet worden war, konnte ich ihn nur in meinen Erinnerungen und Träumen ins Leben zurückrufen, und deshalb freute ich mich immer, wenn ich ins Bett gehen und an ihn denken konnte, weil ich hoffte, dass ihn meine Träume – wenn auch nur flüchtig – zurückbringen würden.

Landen war mit mir auf der Krim gewesen. Eine Landmine hatte ihn sein Bein gekostet, und seinen besten Freund kostete ein taktischer Fehler das Leben.