Irgendwo ganz anders - Jasper Fforde - E-Book

Irgendwo ganz anders E-Book

Jasper Fforde

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Beschreibung

Thursday Next ist wieder da - und das in neuer Ausstattung!  Thursday Next betrügt ihren Mann. Und das nicht erst seit gestern, sondern schon seit vierzehn Jahren! Als mehr oder weniger glückliche Mutter von Friday, Tuesday und Jenny lebt sie mit ihrem geliebten Ehemann Landen zusammen und geht auch jeden Morgen zur Tarnfirma Acme-Carpets, um die schöne Stadt Swindon mit Teppichen und Parkett zu versorgen. In Wirklichkeit ist Thursday natürlich weiter Geheimagentin für SpecOps und verschwindet regelmäßig in die BuchWelt, in der sie jetzt auch Lehrlinge ausbilden muss. Ganz zu schweigen vom lebhaften Käseschmuggel, mit dem sie die kümmerlichen Finanzen der Firma aufzumöbeln versucht. Von alledem darf ihre Familie nichts wissen. Dass diese Täuschungsmanöver auf Dauer nicht gutgehen können, liegt auf der Hand ... Der 5. Band der Reihe!  

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Seitenzahl: 541

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Jasper Fforde

Irgendwo ganz anders

Roman

Deutsch von Joachim Stern

Deutscher Taschenbuch Verlag

© 2009 der deutschsprachigen Ausgabe

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41942-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21297-7

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

Für Cressida, die allerbeste Schwester der Welt

Es ist das Jahr 2002. Vor vierzehn Jahren gab Thursday beim Krocket-SuperHoop beinahe den Löffel ab, aber inzwischen ist ihr Leben fast wieder normal ...

Anmerkung des Autors:

Dieses Buch ist reichlich mit Special Features ausgestattet, als da sind:

»Making of«-Wordamentary, gestrichene Szenen, alternative Schlüsse und vieles mehr.

All diese kostenlosen Extras finden Sie unter www.jasperfforde.com/features.html, wo Sie nur noch den Anweisungen auf dem Bildschirm folgen müssen.

Inhalt

1. Frühstück

2. Mum, Polly und Mycroft

3. Acme Carpets

4. Jurisfiktion

5. Ein reger Tag

6. Die Große Bibliothek und der GattungsRat

7. Pinocchio wird überprüft

8. Julian Sparkle

9. In der KernKammer

10. Der Brunnen der Manuskripte

11. Die Werkstatt

12. Kinder

13. Cross Lewis

14. Die ChronoGarde

15. Wieder zu Hause

16. Käse

17. Wieder Frühstück

18. Aornis Hades

19. Die Goliath Corporation

20. Der Austen Rover

21. Holmes

22. Next

23. Das Klavierproblem

24. Der Strategiekreis

25. Das Paragon

26. Thursday Next

27. Gestrandet im Außenland

28. Der diskrete Charme des Außenlands

29. Die Zeit aus den Fugen

30. Nun ward der Winter

31. Den Überschuss ausgeben

32. Der Austen Rover in Fahrt

33. Ganz woanders

34. Rettung/Gefangennahme

35. Die Bienen, die Bienen

36. Senator Jobsworth

37. Das Große Samuel-Pepys-Fiasko

38. Das Ende der Zeit

39. Eine Frau namens Thursday Next

Danksagung

Fußnoten

1.Frühstück

Das Swindon, das ich im Jahre 2002 gekannt habe, hatte die besten Aussichten. Es war ein erfolgreiches Finanzzentrum mit einer hervorragenden Infrastruktur, lag mitten in einer grünen, friedlichen Landschaft und war vielleicht der beliebteste Ort in ganz England. Wir hatten ein Krocket-Stadion mit 40.000 Sitzplätzen, die neu erbaute St-Zvlkx-Kathedrale, eine Konzerthalle, zwei örtliche Fernsehsender und die einzige Radiostation in ganz England, die sich ausschließlich auf Mariachi-Musik spezialisiert hat. Die zentrale Lage im südlichen England hatte unseren neuen Clary-LaMarr-Travelport überdies zu einem Knotenpunkt des Überland-Schnellverkehrs werden lassen. Es ist wohl nur allzu verständlich, dass wir Swindon Das Juwel an der M4 nannten.

Der gefährlich hohe DummheitsÜberschuss war an diesem Morgen wieder einmal Gegenstand des Leitartikels der Owl. Der Grund für die Krise war klar: Premierminister Redmond Van de Poste und seine Commonsense-Partei hatten ihre Pflichten mit rücksichtslosem Scharfsinn erfüllt. Anstatt von einer Krise zur nächsten zu stolpern und das Land mit ständigen Ad-hoc-Gesetzen und schlagzeilenträchtigem, aber sinnlosem Aktionismus zu beruhigen, hatten sie ein Netzwerk von vernünftigen, nachhaltigen Entscheidungen und Plänen geschaffen, das auf Einheit, Toleranz und Fairness beruhte. Für Alfredo Traficcone und seine oppositionelle Fähnchen-nach-dem-Wind-Partei, die das Land wieder auf das solide Fundament informationsloser Dummheit zurückführen wollten, war das ein unerträglicher Zustand.

»Wie konnten sie das nur zulassen?«, fragte Landen, als er in die Küche kam. Er hatte gerade unsere Töchter zur Schule geschickt. Sie gingen natürlich alleine; Tuesday war jetzt dreizehn und sehr stolz darauf, dass sie auf die zehnjährige Jenny aufpassen durfte.

»Wie bitte?«, sagte ich; denn ich hatte gerade überlegt, ob Pickwicks Federkleid womöglich gar nicht mehr nachwachsen und sie ihr ganzes Leben lang wie ein bratfertiges Hühnchen von Tesco’s aussehen würde.

»Der DummheitsÜberschuss«, sagte Landen, während er sich an den Küchentisch setzte. »Ich bin ja sehr dafür, dass vernünftig regiert wird, aber solche Überschüsse an Dummheit aufzutürmen, muss früher oder später zu Problemen führen. Selbst mit ihrer Klugheit hat sich die Regierung als Verein von Idioten erwiesen.«

»Es gibt eine Menge Idioten in diesem Land«, sagte ich geistesabwesend. »Die müssen auch vertreten werden.«

Aber er hatte natürlich recht. Im Gegensatz zu früheren Regierungen, die unsere kollektive Dummheit auf das ganze Jahr verteilt hatten, war die gegenwärtige Regierung auf die Idee gekommen, die Dummheit zu sammeln und dann auf einen Schlag zu verjubeln. Eine einzige Mega-Blödheit alle zehn Jahre, sagten sie, ist weniger schädlich als eine wöchentliche Dosis politischer Eselei. Das Problem bestand darin, dass die Reserven jetzt eine solche Höhe erreicht hatten, dass sie nur durch einen absolut gigantischen Patzer abgebaut werden konnten. Über die Natur dieses bevorstehenden markerschütternden Schwachsinns wurde in der Presse viel spekuliert.

»Sie geben es ja selbst zu«, sagte Landen, der sich allmählich in Rage redete, seine Brille für eine ordentliche Schimpftirade zurechtrückte und mit dem Zeigefinger auf die Zeitung tippte. »Der DummheitsÜberschuss ist ein viel größeres Problem, als sie gedacht haben.«

Ich hielt Pickwick den gestreiften Dodo-Pullover, den ich für sie strickte, an die rosige, nackte Haut, um die Größe zu prüfen, und sie versuchte vergeblich sich aufzuplustern, um attraktiver zu wirken. Als sie merkte, dass es nichts nutzte, machte sie entrüstet plock! plock!, das einzige Geräusch, das sie je von sich gab.

»Meinst du, ich sollte ihr noch einen Party-Pullover dazu stricken? Du weißt schon, schulterfrei, schwarz mit Pailletten und so?«

»Aber unser Premierminister«, schnaubte Landen, »war sich ja zu fein, um Traficcones Vorschlag zu folgen und unsere überschüssige Dummheit in der Dritten Welt abzuladen, wo man sie nur allzu gern genommen hätte. Hätte uns bloß ein paar Säcke Bargeld und den einen oder anderen Mercedes gekostet!«

»Der Premierminister hat recht«, sagte ich leise seufzend. »Die Dummheit ist unser eigenes Problem. Der Ausstoß muss auf individueller Basis bekämpft werden. Aber in den Haushaltsmüll darf man sie nicht tun, und auf der Müllkippe darf man sie auch nicht verbuddeln.«

Dabei dachte ich an das Debakel in Cornwall, wo in den Sechzigern 40.000 Tonnen Schwachsinn in alten Bergwerksschächten eingelagert worden waren. Zwanzig Jahre später war das Material prompt wieder an die Oberfläche gekommen und hatte die Einwohnerschaft zu gefährlichen Idiotien veranlasst. Zu Dutzenden hatten sich die Leute in der Badewanne die Haare geföhnt oder einen Mittelscheitel gekämmt.

»Wie wäre es, wenn die Bewohner der Britischen Inseln alle gleichzeitig irgendwelchen Internet-Betrügern ihre Bankdaten und Geheimnummern schicken würden?«, sinnierte Landen. »Oder in irgendwelche Gruben hineinfallen?«

»In Frankreich hat man ein massenhaftes Gegen-den-nächsten-Laternenpfahl-Rennen versucht, um La Dette Idiote zu vermindern«, sagte ich. »Aber dieser Plan war so offensichtlich vernünftig, dass die Leute am Ende nur Beulen davontrugen, ohne dass sich die Dummheit ernstlich verringert hätte.«

Landen trank einen Schluck Kaffee, faltete die Zeitung auf, um den Rest der Seite zu lesen, und sagte geistesabwesend: »Ich bin deinem Vorschlag gefolgt und hab meinem Verleger ein Exposé für diesen Ratgeber geschickt.«

»Wem soll der denn helfen?«

»Na ja, mir und meinem Verleger, würde ich sagen. Ist das nicht das Übliche? Es sieht ziemlich einfach aus. Wie findest du: Männer sind von der Erde und Frauen auch – Lernt, damit fertig zu werden. Ist das ein guter Titel?«

Er sah mich an und lächelte. Ich lächelte zurück. Ich liebte ihn nicht nur, weil er groß war, ein schönes Knie hatte und mich zum Lachen brachte, sondern weil wir Teil eines Ganzen waren und uns ein Leben ohne den anderen nicht vorstellen konnten. Ich wünschte, ich könnte es besser ausdrücken, aber ich bin kein Poet. Im Privatleben war er mein Ehemann und der Vater unserer größtenteils prächtigen Kinder, und beruflich war er ein Schriftsteller. 1988 hatte er mit seinem Roman Schlechtes Sofa den Armitage-Shanks-Preis für erzählende Prosa gewonnen, aber seither hatte eine Reihe von Flops die Beziehungen zu seinem Verleger erheblich belastet. Neuerdings durfte er nur noch Point-of-Sale-Klassiker wie Die niedlichsten Kätzchen oder Lustiger Kindermund schreiben. Wenn er nicht an diesen Dingen arbeitete, beaufsichtigte er unsere Kinder oder schrieb an seinem Opus magnum, das ein richtiger Bestseller werden sollte. Leicht war es nicht, aber das war nun einmal sein Leben, und da ich ihn liebte, lebten wir von meinem Gehalt, das noch ein wenig kleiner als Pickwicks Gehirn war.

»Hier, das ist für dich«, sagte Landen und schob ein kleines, in rosa Papier gewickeltes Päckchen über den Tisch.

»Aber Liebling«, sagte ich ärgerlich und glücklich zugleich. »Ich feiere doch meine Geburtstage nicht.«

»Ich weiß«, sagte er, ohne den Kopf zu heben, »du musst dich mir zuliebe freuen.«

Ich wickelte das Päckchen aus und fand ein kleines Medaillon an einer silbernen Kette. Ich trage eigentlich keinen Schmuck, aber Landen ist mir sehr wichtig, und deshalb hielt ich brav meine Haare hoch, damit er mir die Kette um den Hals legen konnte. Ich bedankte mich und gab ihm einen Kuss, den er erwiderte. Und weil er wusste, dass ich Geburtstage hasste, wechselte er sofort das Thema.

»Ist Friday schon auf?«

»So früh am Tag?«

Friday war unser Ältester. Er war jetzt sechzehn, und statt sich auf eine Karriere bei der Elite der Zeitindustrie, der ChronoGarde, vorzubereiten, gab er sich alle Mühe, dem Klischee eines mürrischen Teenagers zu entsprechen. Er grunzte und maulte bei der kleinsten Bitte, lag bis Mittag im Bett und gammelte dann in einem Zustand herum, der einem Karriere-Zombie alle Ehre gemacht hätte. Dass er bei uns wohnte, hätten wir vielleicht gar nicht gewusst, wenn nicht ab und zu schmutzige Cornflakes-Schüsseln in der Nähe der Spüle aufgetaucht wären. Den dumpfen Heavy-Metal-Rhythmus aus Fridays Zimmer hielt Landen für nützlich. Er glaubte, er würde die Schnecken aus unserem Garten vertreiben. Ab und zu erschienen auch irgendwelche muffligen jungen Schlafmützen an unserer Tür und murmelten: »Ist Friday zu Hause?« Worauf ich sagte: »Darüber kann man nur spekulieren.«

»Wann geht er wieder zur Schule?«, fragte Landen, der sich zwar täglich um die Kinder kümmerte, aber wie so viele Männer Probleme damit hatte, wenn er sich einen Termin merken sollte.

»Nächsten Montag«, erwiderte ich und holte die Post, die gerade durch den Briefschlitz gefallen war. »Er hat wirklich Glück gehabt mit der befristeten Sperre. Wenn die Polizei eingeschaltet worden wäre, hätte es wesentlich schlimmer ausgehen können.«

»Was hat er denn schon getan?«, sagte Landen. »Er hat die Mütze von Barney Plotz in eine Pfütze geworfen und dann ein bisschen drauf rumgetrampelt.«

»Ja«, sagte ich, »das Problem war nur, dass Barney Plotz die Mütze dabei auf dem Kopf gehabt hat.« Im Stillen dachte ich, dass es eine gute Idee wäre, die gesamte Familie Plotz in eine schlammige Pfütze zu schubsen, aber laut sagte ich: »Friday hätte das wirklich nicht machen dürfen. Gewalt ist nun mal keine Lösung.«

Landen hob die linke Augenbraue und sah mich skeptisch an.

»Na schön«, sagte ich. »Manchmal kann man Dinge schon mit Gewalt lösen. Aber für ihn ist das nicht das Richtige. Jedenfalls noch nicht.«

»Ich frage mich gerade«, setzte Landen das Gespräch fort, »ob man nicht die Jugend des Landes dazu bewegen könnte, in einer großen Alkoholorgie den Blödheitsüberschuss zu verbrauchen.«

»Wir haben einen Überschuss an Dummheit«, sagte ich. »Jugendlicher Weltschmerz hilft uns dabei nicht weiter.« Ich nahm einen der Umschläge und studierte die Briefmarke. Ich erhielt immer noch jeden Tag ein halbes Dutzend Fanbriefe, obwohl sich meine Bekanntheit im Lauf der Jahre auf die Stufe »Z-4« reduziert hatte, wie das Amt für Prominentenbewertung festgestellt hatte. Wer sich in dieser Kategorie befindet, wird nur noch in Was macht eigentlich ...?-Artikeln erwähnt, es sei denn er wird gerade verhaftet oder geschieden oder befindet sich im Entzug.

Die Fanpost kam von eingefleischten Fans, denen es völlig egal war, dass ich nur noch Z-4 war. Meistens fragten sie sehr spezielle Dinge über meine verschiedenen Abenteuer, die inzwischen im Druck vorlagen. Manche teilten mir auch mit, dass der Film ziemlich schlecht war, oder fragten, warum ich nicht Krocket-Profi geblieben bin. Die Mehrzahl waren aber Fans von Jane Eyre, die wissen wollten, ob ich Bertha Rochester wirklich erschießen musste und ob ich tatsächlich mit Edward Rochester geschlafen hätte; denn das waren die beiden hartnäckigsten Gerüchte, die nach der Veröffentlichung meines zweifelhaften ersten Romans Der Fall Jane Eyre aufgetaucht waren.

»O je«, sagte Landen. »Schon wieder eine Ablehnung von meinem Verleger. Tödliche Fallschirmunfälle und wie man sie nicht wiederholt, finden sie, ist kein guter Ratgeber-Titel.«

»Wahrscheinlich haben sie keine Toten in ihrer Zielgruppe.«

»Könnte sein«, sagte er.

Ich machte einen weiteren Brief auf.

»He«, sagte ich und studierte den Inhalt genauer. »Die Gesellschaft der Dodo-Liebhaber bietet uns dreißigtausend für Pickers.«

Ich warf Pickwick einen begehrlichen Blick zu. Sie war gerade dabei, im Stehen einzuschlafen, und würde jeden Augenblick umfallen. Ich hatte sie selbst gebaut, als Do-it-yourself-Klonen die große Mode war. Mit ihren neunundzwanzig Jahren und der Seriennummer D-009 war sie der älteste lebende Dodo. Sie war eine frühe 1.2-Version und hatte keine Flügel, weil der genetische Baukasten damals noch nicht ganz komplett war. Dafür hatte sie aber auch keine eingebaute Zellalterung. Es war durchaus denkbar, dass sie ewig leben würde. Oder jedenfalls länger als ... nun ja, alles andere. Jedenfalls war ihr Wert in den letzten Jahren erheblich gestiegen, weil das Interesse an der Rückzüchtungsrevolution der siebziger Jahre plötzlich sehr groß war. Ein V1.5.6-Mammut aus dem Jahre 1978 hatte kürzlich für sechzigtausend den Besitzer gewechselt; Riesenalke waren immer fünftausend wert, egal in welchem Zustand sie waren; und wenn man einen Trilobiten von vor 1972 hatte, konnte man verlangen, was man wollte.

»Dreißigtausend?«, sagte Landen. »Wissen die, dass Pickwick hirn- und federmäßig behindert ist?«

»Ich glaube, das ist denen völlig egal. Die Hypothek könnten wir damit abzahlen.«

Pickwick war plötzlich hellwach und sah uns mit einem Blick an, als hätte sie an einer rohen Zwiebel gerochen.

»... und einen von diesen Bio-Diesel-Hybrid-Wagen kaufen.«

»Oder mal richtig Urlaub machen.«

»Wir könnten Friday ins Heim für weltschmerzige Teenager schicken«, schlug Landen vor.

»Und Jenny ein neues Klavier kaufen.«

Das war zu viel: Pickwick fiel mitten auf dem Tisch in Ohnmacht.

»Viel Humor hat sie nicht, was?« Landen lächelte und kehrte zu seiner Zeitung zurück.

»Nee«, sagte ich und riss den Brief der Dodo-Freunde in kleine Stücke. »Aber für einen Vogel mit Unermesslich Kleinem Gehirn ist sie ziemlich sensibel. Ich glaube, sie versteht, was wir sagen.«

Pickwick war inzwischen wieder aufgewacht und starrte ihren linken Fuß äußerst misstrauisch an. Sie fragte sich offenbar, ob er schon immer dagewesen war oder ob er womöglich etwas Übles im Schilde führte.

Landen warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Das ist ziemlich unwahrscheinlich.«

»Wie geht’s denn mit deinem Buch?«, fragte ich und nahm das Strickzeug wieder auf.

»Der Ratgeber?«

»Nein, das Opus magnum.«

Landen dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Ich überlege immer, ob man die mangelnden Fortschritte jetzt eine Schreibblockade, Zögern, Trödelei oder Unfähigkeit nennen soll.«

»Nun ja«, sagte ich mit vorgetäuschter Ernsthaftigkeit, »das ist schwer zu entscheiden. Hast du schon mal daran gedacht, dass alle vier Gründe zutreffen könnten?«

»Bei Gott!«, sagte er und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Da könntest du recht haben!«

»An welchem Buch arbeitest du gerade?«

»Bananen für Edward.«

»Ach, es wird dir schon etwas einfallen.« Ich ließ eine Masche fallen und nahm sie wieder auf. Dann warf ich einen Blick auf die Wanduhr. »Mum hat mir gestern eine SMS geschickt.«

»Kann sie das denn jetzt endlich?«

»Na ja, die Nachricht hieß: KL&KsamSNTGzAbrt??«

»Hmm«, sagte Landen. »Das ist ja ziemlich verständlich. Bedeutet wahrscheinlich: Keine Ahnung, wie man eine SMS schreibt. Ich frage mich wirklich, warum sie sich in ihrem Alter noch mit diesen modernen Technologien herumplagt.«

»Ach, du weißt doch, wie sie ist. Ich werde auf dem Weg zur Arbeit mal fragen, was sie eigentlich wollte.«

»Vergiss nicht, dass heute Abend die Berufsberatung der ChronoGarde stattfindet. Ich denke, das Motto müsste Friday gefallen: Wenn du Zeit für uns hast, haben wir Zeit für dich!«

»Ich weiß«, sagte ich. Schließlich hatte ich Friday jetzt schon seit Wochen auf diese Veranstaltung einzustimmen versucht.

»Er muss noch Hausaufgaben machen«, teilte Landen mir mit. »Und weil du mindestens sechsmal bedrohlicher bist, als ich es je sein könnte, wäre ich dir dankbar, wenn du ihn noch wecken könntest, ehe du gehst. Gegenwärtig scheint er fest ans Bett geklebt zu sein.«

»In Anbetracht seines derzeit stark reduzierten Engagements für Hygiene«, gab ich zu, »könnte das durchaus sein.«

»Wenn er nicht aufstehen will, könntest du ihm vielleicht mit einer Flasche Shampoo und einem Stück Seife Angst machen«, schlug Landen vor.

»Und den armen Jungen damit lebenslang traumatisieren? Schämen Sie sich, Mr Parke-Laine!«

Landen lachte, und ich ging mit angestrengt guter Laune die Treppe hinauf.

Ich klopfte an die Tür, erhielt keine Antwort und drückte behutsam die Klinke hinunter. Eine tödliche Geruchsmischung schlug mir entgegen: alte Socken und ungewaschene Jugend. Wenn man das in Flaschen abfüllen und destillieren könnte, dachte ich, wäre es ein hervorragendes Mittel gegen Haifischattacken, aber das sagte ich nicht. Junge Menschen vertragen Sarkasmus so schlecht. Die Wände waren bedeckt mit Jimi-Hendrix- und Che-Guevara-Plakaten. Die beherrschende Figur aber war Wayne Skunk, der Sänger und Lead-Gitarrist von Strontium Goat. Der Fußboden war mit Hemden, Hosen und Schuhen, nicht erledigten Hausaufgaben und Tellern voller Essensreste bedeckt. Ich glaube, früher gab es mal einen Teppichboden in diesem Zimmer, aber davon war nichts zu sehen.

»Hallo, Friday«, sagte ich zu dem reglosen Bündel unter der Bettdecke. Ich setzte mich auf den Bettrand und gab dem kleinen Stück Ellenbogen, das ich entdeckte, einen Schubs.

Aus dem Daunenberg kam ein knurriges Grunzen.

»Dein Vater sagt, du hast deine Hausaufgaben noch nicht gemacht.«

»Grunz.«

»Ja, kann schon sein, dass du für zwei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen bist, aber das heißt nicht, dass du die Hausaufgaben nicht machen musst.«

»Grunz.«

»Wie spät? Es ist jetzt neun Uhr, und ehe du nicht aufrecht und mit offenen Augen im Bett sitzt, kann ich nicht zur Arbeit gehen.«

Es folgten ein Furz und ein weiteres Grunzen. Ich seufzte und gab ihm einen weiteren Stoß. Langsam hob sich ein ungewaschener schwarzer Schopf aus der Bettdecke. Zwei Augen mit schweren Lidern sahen mich an.

»Grunz«, sagte er. »Grunz-grunz.«

Ich überlegte, ob ich ihn darauf hinweisen sollte, dass es sehr nützlich ist, wenn man beim Sprechen den Mund öffnet, aber ich unterließ es dann doch lieber. Ich brauchte seine Kooperation, und obwohl ich selber kein Murmelgrunz sprach, verstand ich es doch einigermaßen.

»Wie läuft’s denn so mit der Musik?«, fragte ich. Wenn er nicht einen bestimmten Grad an Bewusstsein erreichte, bestand die Gefahr, dass er sofort wieder einschlafen würde – für die nächsten acht Stunden oder mehr.

»Murmel«, sagte er langsam. »Wir haben jetzt eine grunz-murmel.«

»Eine Band? Wie heißt sie denn?«

Friday holte tief Luft und rieb sich das Gesicht. Er wusste, dass er mich nicht loswerden würde, ehe er nicht mindestens drei Fragen beantwortet hatte. Er sah mich mit seinen hellen, intelligenten Augen rebellisch an, zog die Nase hoch und sagte: »Die Klugscheißer.«

»So könnt ihr euch doch nicht nennen!«

Friday zuckte die Achseln. »Na schön«, brummte er, »dann nehmen wir halt wieder den ursprünglichen Namen.«

»Und der wäre?«

»Die Wichser.«

»Ach, ich glaube, Die Klugscheißer ist gar kein so schlechter Name für eine Band. Prägnant und gleichzeitig degeneriert. Hör mal, ich weiß, du bist nicht sehr scharf auf eine Karriere in der Zeitindustrie, aber du hast mir versprochen, heute Abend mit mir zu dieser Berufsberatung zu gehen. Ich möchte also, dass du frisch gewaschen, munter und anständig angezogen bist, wenn ich zurückkomme. Und die Hausaufgaben machst du auch, bitte.«

Ich starrte das Häufchen »sonnige Jugend« an, das da vor mir im Bett saß, und wäre schon zufrieden gewesen, wenn er wenigstens aufstand, aber man soll seine Ziele nicht zu niedrig ansetzen.

»Okaymum«, sagte er langsam.

Als ich die Tür hinter mir zumachte, hörte ich, wie er zurück aufs Kopfkissen fiel. Auch egal. Er war jetzt wach, und sein Vater konnte ja auch noch was tun.

»Ich nehme an, er brennt darauf loszulegen?«, sagte Landen, als ich die Treppe herunterkam.

»Klar«, sagte ich. »Ich musste ihn in seinem Zimmer einschließen, um seinen Enthusiasmus zu bremsen. Er wirkte wie eine erschöpfte Schnecke, die Beruhigungsmittel geschluckt hat.«

»Komisch«, sagte Landen und reichte mir meinen Tee. »Woher hat er das bloß? Ich war nicht so schlapp, als ich in seinem Alter war.«

»Ach, das ist das moderne Leben. Aber mach dir keine Sorgen. Er ist ja erst sechzehn. Das ändert sich noch gewaltig.«

»Das will ich hoffen.«

Aber genau da lag das Problem. Friday musste sich ändern. Meine Ängste waren nicht nur die üblichen Sorgen einer frustrierten Mutter. Ich hatte den künftigen Friday nämlich in der Vergangenheit schon ein paar Mal gesehen, und da war er nicht mehr und nicht weniger als der Generaldirektor der ChronoGarde geworden und trug die Verantwortung für die gesamte EreignisLinie der StandardGeschichte. Er hatte nicht nur mein Leben, sondern auch den gesamten Planeten nicht weniger als 756 Mal vor der Zerstörung gerettet. An seinem vierzigsten Geburtstag hieß er überall »Apocalypse Next«. Aber davon waren wir offensichtlich noch weit entfernt. Solange er sich nur für Strontium Goat, Schlafen, Che Guevara, Jimi Hendrix und noch mehr Schlafen interessierte, musste man sich fragen, ob die entscheidende Wende je eintreten würde.

Landen sah auf die Uhr.

»Musst du nicht in die Arbeit gehen, Schatz? Die guten Leute von Swindon sind doch teppichmäßig verloren, wenn du ihnen nicht beistehst.«

Er hatte wieder mal recht. Ich war schon zehn Minuten zu spät dran. Zum Abschied küsste ich ihn gleich mehrfach, nur für den Fall, dass etwas Unerwartetes geschah und wir für länger getrennt wurden. Immerhin war er von der Goliath Corporation schon einmal für zwei Jahre genichtet worden. Ich hoffte sehr, dass der multinationale Konzern seine Lektion gelernt hatte und uns in Ruhe ließ, aber man konnte nie wissen.

»Viel zu tun heute?«, fragte Landen, während er mich zum Gartentor brachte.

»Der neuen Bank im Finanzzentrum einen Riesenteppich liefern – maßgeschneiderten Hochflor in Direktionsqualität, und ein paar Kostenvoranschläge. Außerdem müssen Spike und ich noch einen Treppenläufer in einem alten Fachwerkhaus mit unregelmäßigen Stufen verlegen, das wird wahrscheinlich ein ziemlicher Albtraum.«

Landen zögerte und biss sich auf die Unterlippe.

»Gut. Das heißt, es gibt keine ... keine ... SpecOps-Geschichten oder dergleichen?«

»Aber Liebling!«, sagte ich und knuddelte ihn noch mal richtig. »Das ist doch passé! Ich beschäftige mich nur noch mit Teppichen, das ist viel entspannender. Warum fragst du?«

»Ach, nur so. Ich dachte nur, wo Diatrymas jetzt schon in Salisbury auftauchen, ist alles möglich. Die Leute sagen, das alte SpecOps-Personal wird wieder einberufen.«

»Zwei Meter große fleischfressende Vögel aus dem späten Paläozän – wenn es sie tatsächlich gibt – fallen in die Zuständigkeit von SO-13«, sagte ich. »Ich war bei SO-27, bei den Literatur-Agenten. Wenn alte Damen in dunklen Gassen von finsteren Gestalten aus Tristram Shandy erschreckt werden, könnte es vielleicht sein, dass ich um Rat gefragt werde. Aber heutzutage liest ja niemand mehr Bücher, ich werde also kaum noch gebraucht.«

»Da hast du leider recht«, sagte Landen. »Schriftsteller zu werden war vermutlich keine so schlaue Idee.«

»Dann schreibst du dein Opus magnum eben für mich«, sagte ich zärtlich zu ihm. »Ich bin dein Publikum, Eheweib, Fanclub, Kritiker und Betthäschen – alles in einer Person. Heute muss ich Tuesday abholen, nicht wahr?«

»Genau.«

»Und du holst Jenny ab?«

»Ich werde es nicht vergessen. Was soll ich denn machen, wenn Pickwick wieder so schrecklich zittert und friert?«

»Steck sie einfach in den Trockenraum. Ich werde versuchen, den Pullover in der Arbeit fertig zu stricken.«

»Dann habt ihr wohl doch nicht so viel zu tun, was?«

Ich gab ihm noch einen Kuss und rannte davon.

2.Mum, Polly und Mycroft

Das wichtigste Lebensziel meiner Mutter bestand darin, den Weg von der Wiege bis zur Bahre mit einem Minimum an Ärger und Aufwand und einem Maximum an Tee und Battenberg zurückzulegen. Ganz nebenbei zog sie noch drei Kinder groß, besuchte jede Menge Treffen des Frauenvereins und schaffte es obendrein immer wieder, das Essen ordentlich anbrennen zu lassen. Erst als ich sechs Jahre alt war, brachte ich in Erfahrung, dass Kuchen nicht zu 87 Prozent aus Kohle besteht und Hühnchen tatsächlich nach etwas schmeckt. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen liebten wir sie sehr.

Meine Mutter wohnte weniger als eine Meile von uns entfernt. Und weil ihr Haus an meinem Weg ins Büro lag, schaute ich fast täglich bei ihr vorbei, um mich davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging und dass sie nicht gerade mal wieder irgendwelche verrückten Pläne verfolgte. Vor ein paar Jahren hatte sie mal Dosenbirnen gehortet. Sie war der Ansicht, wenn sie alle aufgekauft hätte, könne sie »die Preise diktieren« – ein flagrantes Missverständnis der Regeln von Angebot und Nachfrage, das den Erzeugern von Obstkonserven nicht weiter geschadet, uns und unsere gesamte Verwandtschaft aber dazu verdammt hat, drei Jahre lang zu jeder Mahlzeit eingekochte Birnen zu essen.

Meine Mum gehörte zu den Müttern, bei denen man sich freut, dass sie so nahe wohnen. Vor allem deshalb, weil sie dann nie über Nacht bleiben. Ich liebte sie innig, aber nur fein dosiert. Eine Tasse Tee hier, ein Abendessen dort – und natürlich so viel Babysitten, wie ich aus ihr herausquetschen konnte. Die Geschichte mit der SMS, die ich Landen erzählt hatte, war übrigens nur ein Vorwand gewesen. In Wirklichkeit musste ich etwas aus Mycrofts Werkstatt abholen.

»Hallo, mein Schatz!«, sagte Mum, als sie mir die Tür öffnete. »Hast du meine SMS gekriegt?«

»Ja. Aber du solltest wirklich lernen, wie man mit der Rücktaste und der Löschfunktion umgeht. Es war wieder mal völliger Unsinn.«

»KL&KsamSNT&zAbrt??«, wiederholte sie und zeigte mir das Display ihres Handys. »Wieso verstehst du das nicht? Ist doch ganz einfach: Kommen Landen und die Kinder am Sonntag zum Abendbrot? Wirklich, manchmal frage ich mich, wie du überhaupt mit deinen Kindern kommunizierst.«

»Das war doch keine echte Kurzschrift«, sagte ich misstrauisch. »Das hast du eben erst erfunden.«

»Hör mal, ich bin gerade mal zweiundachtzig«, sagte sie wütend. »Deine Abwrackprämie kannst du behalten! Als ob ich es nötig hätte, eine SMS zu erfinden! Willst du zum Mittagessen vorbeischauen?« Sie hatte kaum Atem geholt. »Ein paar Freundinnen kommen, und wenn wir festgestellt haben, wer die schlimmsten Krankheitssymptome hat und was man gegen die allgemeine Staatskrise tun kann, spielen wir vielleicht Cribbage.«

»Hallo, Tante«, sagte ich, als Polly aus dem Wohnzimmer kam. Sie brauchte jetzt einen Krückstock. »Wenn ich dir KL&KsamSNT&zAbrt?? simsen würde, was würdest du dir dann denken?«

Polly runzelte die Stirn, bis sie wie ein gerefftes Segel an einem Viermaster aussah. Sie war jetzt über neunzig und wurde oft für tot gehalten, wenn sie im Autobus einschlief.

»Na ja, ein bisschen wundern würd ich mich schon –«, gab sie zu.

»Siehst du!«, sagte ich triumphierend zu meiner Mutter.

»– weil, wenn du schon Landen und die Kinder am Sonntag zum Abendbrot einlädst, warum schickst du die SMS dann an mich?«

»Ah, ich verstehe!«, sagte ich und hatte das Gefühl, zum Opfer einer Verschwörung geworden zu sein. Ich kam mir vor, als wäre ich gerade erst siebzehn, dabei war ich längst dreimal so alt.

»Happy birthday, übrigens«, sagte meine Mutter. »Hier, ich hab was für dich!« Sie überreichte mir den scheußlichsten selbstgestrickten Pullover, den man sich vorstellen kann.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Mum! Also wirklich – ein hellgrüner kurzärmliger Pulli mit Kapuze und Hirschhornknöpfen aus Plastik!«

»Gefällt er dir?«

»Ein richtiger Hingucker.«

»Na, prima! Dann ziehst du ihn am besten gleich an!«

»Weißt du, ich will ihn nicht ruinieren. Ich geh doch gerade zur Arbeit.«

»Ah!«, sagte Polly. »Das hätt ich ja beinah vergessen!« Sie überreichte mir eine CD in einer neutralen Verpackung. »Das ist ein Vorausexemplar von Hosing the Dolly.«

»Bitte, was?«

»Kannst du nicht wenigstens versuchen, mit der Zeit Schritt zu halten? Hosing the Dolly! Das neue Album von Strontium Goat. Kommt erst im November heraus. Ich dachte mir, Friday freut sich darüber.«

»Es ist wirklich voll cool, Mann«, sagte meine Mutter. »Auf dem zweiten Track gibt’s ein Gitarren-Riff, das mich stark an Fridays letzten Auftritt erinnert hat. Meine Zehen haben gekribbelt! Aber vielleicht waren auch bloß meine Schuhe zu eng. Die Großmutter von Wayne Skunk ist Mrs Arbuthnot – du weißt schon: die putzige alte Dame, die ihre Ellenbogen in beide Richtungen klappen kann. Er hat sie ihr letzte Woche geschickt.«

Ich betrachtete die CD. Friday würde sich wirklich darüber freuen. Da war ich mir sicher.

»Und weißt du«, sagte Polly mit einem vertraulichen Zwinkern. »Du brauchst ihm ja nicht zu sagen, wo du sie herhast. Ich weiß doch, wie Teenager sind, und ein bisschen Respekt vor den Eltern kann ja nicht schaden ...«

»Ich danke dir sehr«, sagte ich, und das war mein voller Ernst. Diese CD war besser als Bargeld.

»Gut!«, sagte meine Mutter. »Hast du Zeit für eine Tasse Tee und eine Scheibe Battenberg?«

»Nein, danke – ich muss nur was aus der Werkstatt abholen.«

»Willst du nicht wenigstens ein Stück Kuchen mit ins Büro nehmen?«

»Danke, nein, ich habe gerade gefrühstückt.«

Es klingelte an der Haustür.

»Juhu!«, sagte Polly und spähte vorsichtig aus dem Fenster. »Sieht aus wie ein Marktforscher!«

»Na, dann!«, sagte meine Mutter in militärischem Tonfall. »Mal sehen, wie lange wir den hier festhalten können, ehe er schreiend davonläuft. Ich tue so, als wäre ich leicht dement, und du beschwerst dich über dein Ischias – aber bitte auf Deutsch! Unser persönlicher Rekord im Marktforscher-Foltern steht bei zwei Stunden und zwölf Minuten.«

Ich schüttelte traurig den Kopf. »Wann werdet ihr beide bloß endlich erwachsen?«

»Du bist immer so eine Spaßbremse, Schatz«, sagte meine Mutter kopfschüttelnd. »Wenn du mal so alt bist wie wir, freust du dich auch über jede Abwechslung. Man muss das Beste aus den Dingen machen!«

Ich murmelte was von Fernsehserien, Töpfern und Korbflechten und ging in die Küche. Marktforscher-Foltern kam mir gemein vor, aber wenn’s ihnen Spaß machte ...

Ich ging zur hinteren Tür hinaus durch den Garten und betrat den Holzschuppen, in dem mein Onkel Mycroft sein Laboratorium hatte. Ich knipste das Licht an und betrachtete meinen Porsche, der etwas verloren unter einer Abdeckplane versteckt war. Er war seit dem Unfall vor über fünf Jahren noch immer nicht repariert worden. Der Schaden war gar nicht so groß, aber Ersatzteile für einen 356er waren sehr teuer geworden, und wir hatten einfach nicht das Geld, um sie zu bezahlen. Ich griff unter das Armaturenbrett und machte die Kofferraumverriegelung auf. Ich hatte eine Reisetasche mit 20.000 walisischen Tocyns unter der Haube des Porsche versteckt. Auf dieser Seite der Grenze waren sie nicht viel wert, aber in Merthyr hätte man dafür ein schönes Einfamilienhaus kaufen können. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, in die Sozialistische Republik Wales zu ziehen. Ich brauchte das Geld für ein Käsegeschäft. Ich holte die Tasche heraus, überprüfte, ob das Geld noch da war, und wollte gerade die Plane wieder über den Porsche ziehen, als mich ein Geräusch veranlasste, mich umzudrehen.

Im Halbdunkel an der Werkbank stand mein Onkel Mycroft. Er war unbestreitbar ein großes Genie und hatte die Grenzen des Wissens in zahlreichen Fachrichtungen erheblich erweitert, so zum Beispiel in der Genetik, Physik und Romankunst. Er hatte unter anderem das Do-it-yourself-Klonen und möglicherweise ein ErinnerungsLöschGerät, vor allem aber das ProsaPortal erfunden, das mich ins Innere literarischer Werke katapultiert hatte.

Wie immer trug er seinen dreiteiligen Anzug aus Wolle, allerdings ohne die Jacke. Er hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt und war ganz offenbar in Erfinderlaune. Er konzentrierte sich auf einen Apparat, dessen Funktion ich allerdings nicht zu erraten vermochte. Während ich ihn mit wachsendem Staunen beobachtete, hob er plötzlich den Kopf.

»Ah!«, sagte er lächelnd. »Thursday! Hab dich schon lange nicht mehr gesehen. Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte ich unsicher. »Glaube schon.«

»Prächtig! Ich hatte gerade eine Idee für eine neue, preiswerte Form der Energieerzeugung: Wenn wir Pasta und Anti-Pasta zusammenführen, könnte das zur völligen Beseitigung aller Ravioli und der Freisetzung ungeheurer Energiemengen führen. Ich schätze, dass zwei einzelne Canelloni genügen würden, um ganz Swindon ein Jahr mit elektrischem Strom zu versorgen. Aber ich kann mich natürlich irren.«

»Oft hast du dich noch nicht geirrt«, sagte ich leise.

»Ich glaube, es war ein Irrtum, dass ich überhaupt angefangen habe mit dem Erfinden«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Man muss ja nicht alles tun, was man kann. Wenn die Wissenschaftler ein bisschen mehr darüber nachdenken würden, was sie so alles machen –«

Er brach ab und sah mich fragend an. »Du siehst mich so merkwürdig an«, sagte er in einem ungewöhnlichen Anfall von psychologischem Scharfblick.

»Na ja«, sagte ich vorsichtig. »Ich bin ein bisschen überrascht, dich hier anzutreffen.«

»Ach, wirklich«, sagte er und legte sein Werkzeug beiseite. »Warum?«

»Na ja«, sagte ich mit etwas festerer Stimme. »Ich bin überrascht, dich zu sehen, weil ... du bist vor sechs Jahren gestorben!«

»Ach, wirklich?«, sagte Mycroft besorgt. »Warum sagt mir das eigentlich niemand?«

Ich zuckte die Achseln, denn darauf gab es nun echt keine Antwort.

»Bist du sicher?«, fragte er und klopfte sich auf Brust und Bauch, als ob er sich überzeugen wollte, dass ich mich irrte. »Ich weiß ja, dass ich ein bisschen vergesslich bin, aber daran hätte ich mich sicher erinnert.« Zur Sicherheit fühlte er noch seinen Puls.

»Ja, ich weiß es genau«, sagte ich. »Ich war ja dabei.«

»Du meine Güte«, murmelte Mycroft verblüfft. »Wenn du recht hast und ich tatsächlich tot bin, dann ist das hier« – er schlug sich erneut auf den Bauch – »womöglich nur eine holografische Aufzeichnung meiner Person. Lass uns lieber mal schauen, ob hier irgendwo ein Projektor herumsteht.«

Damit begann er, die staubigen Apparate in seiner Werkstatt zu überprüfen, und um ihn nicht zu enttäuschen, machte ich mit.

Wir suchten gute fünf Minuten, aber nachdem wir nichts fanden, was auch nur im Geringsten einem Projektor ähnelte, setzten wir uns auf eine große Transportkiste und sagten eine Weile lang gar nichts.

»Tot«, murmelte Mycroft frustriert. »Das bin ich ja noch nie gewesen. Kein einziges Mal! Bist du dir wirklich sicher?«

»Absolut«, sagte ich. »Du warst siebenundachtzig. Es war zu erwarten.«

»Ja, richtig«, sagte er, als wäre gerade eine vage Erinnerung bei ihm aufgetaucht. »Und Polly?«, sagte er plötzlich. »Wie geht’s ihr?«

»Deiner Frau geht es gut«, sagte ich. »Sie und meine Mutter treiben wieder mal Schabernack. Aber sie vermisst dich natürlich sehr.«

»Ich sie auch.« Plötzlich machte er ein nervöses Gesicht. »Hat sie schon einen Liebhaber?«

»Mit zweiundneunzig?«

»Sie sieht verdammt gut aus, und schlau ist sie auch.«

»Na ja, sie hat keinen.«

»Hm. Wenn du jemand Netten siehst, meine Lieblingsnichte, kannst du ruhig ein bisschen nachhelfen, ja? Ich möchte ja nicht, dass sie einsam ist.«

»Versprochen.«

Wir saßen noch ein bisschen stumm herum, dann fasste ich einen Entschluss.

»Mycroft«, sagte ich fröstelnd, »wir machen mal ein Experiment.« Inzwischen war ich überzeugt, dass es möglicherweise gar keine wissenschaftliche Erklärung für sein Erscheinen gab.

Ich streckte einen Zeigefinger aus, aber als ich sein Hemd und seinen Arm berührte, war da kein Widerstand. Mein Finger sank einfach in ihn hinein. Er war gar nicht da, oder wenn er da war, besaß er keine Substanz. Er war ein Phantom!

»Oooh!«, sagte er, als ich meine Hand zurückzog. »Das hat sich komisch angefühlt.«

»Mycroft! Du bist ein ... Gespenst.«

»Unsinn! Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass es dergleichen nicht gibt. Vollkommen unmöglich.« Er überlegte einen Moment. »Warum sollte ich denn ein Gespenst sein?«

Ich zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht. Vielleicht hast du irgendwas nicht zu Ende gebracht, bevor du gestorben bist, und das hat dich beunruhigt.«

»Great Scott! Du hast recht. Ich habe nie das letzte Kapitel von Liebe in den Begonien zu Ende geschrieben.«

Als er in Rente war, hatte Mycroft angefangen, Liebesromane zu schreiben, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Bücher verkauften sich überraschend gut, so dass er sich sogar die Feindschaft von Daphne Farquitt, der unbestrittenen Auflagenkönigin in diesem Genre, zuzog. Sie schrieb ihm einen bösen Brief und bezichtigte ihn »schamloser Abschreiberei«. Es folgte ein Sperrfeuer von Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, das erst damit endete, dass Mycroft starb. Die Auseinandersetzung war so gehässig, dass Verschwörungstheoretiker den Verdacht äußerten, dass Mycroft von verrückten Farquitt-Fans vergiftet worden wäre. Wir mussten sogar den Totenschein an die Presse verteilen, um die Gerüchte zu stoppen.

»Polly hat Liebe in den Begonien zu Ende geschrieben«, sagte ich.

»Aha«, sagte er. »Vielleicht bin ich zurückgekommen, um diese dämliche Farquitt, diese literarische Seekuh, ein bisschen zu tratzen?«

»Wenn es so wäre, dann wärst du jetzt drüben in ihrer Villa, um mit den Ketten zu rasseln und buh, buh zu machen.«

»Hm«, sagte er. »Das klingt ein bisschen entwürdigend.«

»Und wie steht es mit nicht gemachten Erfindungen? Hattest du da noch spezifische Pläne?«

Mycroft dachte lange und angestrengt nach. Die bizarren Gesichter, die er dabei schnitt, waren ziemlich spektakulär.

»Faszinierend!«, sagte er schließlich und keuchte vor Anstrengung. »Ich kann nichts Originelles mehr denken. Der Erfinder Mycroft existiert nicht mehr. Ich muss wohl tatsächlich tot sein. Sehr deprimierend!«

»Du hast also keine Ahnung, warum du hier bist?«

»Nicht die geringste«, sagte er niedergeschlagen.

»Nun ja«, sagte ich und stand auf. »Ich werde ein paar Erkundigungen einziehen. Soll Polly erfahren, dass du als Geist wieder da bist?«

»Das überlasse ich dir«, sagte er. »Aber wenn du es ihr erzählst, vergiss bitte nicht, ihr zu sagen, dass sie die beste Kameradin war, die man sich wünschen kann. Zwei Herzen, die im Gleichtakt schlagen, zwei Hirne, die dasselbe denken.«

Ich schnippte mit den Fingern. So könnte man Landen und mich auch beschreiben. »Das war gut, darf ich das benutzen?«

»Na klar. Kannst du dir vorstellen, wie ich Polly vermisse?«

Ich dachte an die zwei Jahre, in denen Landen damals genichtet war. »Allerdings. Und Polly vermisst dich auch. Jeden Tag.«

»Ich muss unbedingt rauskriegen, warum ich wieder hier bin«, sagte Mycroft. »Schaust du ab und zu mal nach mir?«

»Na klar. Tschüs, Onkel Mycroft.« Ich streckte den Arm nach ihm aus, aber meine Hand ging durch ihn hindurch und landete auf der Werkbank.

»Wiedersehen, Thursday.«

Er begann zu verblassen. Ich bemerkte, dass der Raum wieder wärmer zu werden schien. Innerhalb weniger Sekunden war er verschwunden. Ich nahm die Tasche mit dem walisischen Bargeld und ging nachdenklich zur Tür. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah die Werkbank genauso verlassen aus wie vor sechs Jahren nach Mycrofts Tod.

3.Acme Carpets

Das Special Operations Network war eine Behörde, die 1928 zur Erledigung von Aufgaben gegründet wurde, die für die reguläre Polizei zu speziell waren. Zu den ungewöhnlicheren Unterabteilungen gehörte die Sektion SO-17, die sich mit Vampiren befasste, SO-12 kontrollierte die Zeitreisen, SO-27 bekämpfte literarische Verbrechen und SO-31 den Käseschmuggel. Der Dienst war geprägt von strengster Geheimhaltung, und so häuften sich die Vorwürfe wegen fehlender Transparenz und bürokratischer Umständlichkeit. Im Winter 1991/92 wurden neunzig Prozent des Dienstes aufgelöst und abgewickelt. Von den zweiunddreißig Abteilungen wurden nur fünf beibehalten. Meine Abteilung, die LiteraturAgenten, gehörte nicht dazu.

Der Name Acme Carpets war irreführend. Wir verkauften nicht nur Teppiche und Teppichböden, sondern auch Fliesen, Linoleum und Parkett. Wir waren preiswert, schnell und zuverlässig und hatten Swindon seit der Auflösung von SpecOps im Jahre 1992 erfolgreich mit Bodenbelägen versorgt. 1996 zogen wir in größere Geschäftsräume ins Gewerbegebiet an der Oxford Road um. Wenn man im Gebiet Swindon seinen Boden bedecken wollte, konnte man sich getrost an uns wenden.

Ich stieß die Tür auf und stellte erstaunt fest, dass niemand anwesend war. Viele Kunden hatte ich zwar nicht erwartet, denn die Zahl der Teppichkäufer war montagvormittags generell nicht so groß, aber auch vom Personal war niemand zu sehen; nicht nur der Verkaufsraum, sondern auch die Büros waren leer. Nicht einmal in der Teeküche und der angeschlossenen Sitzecke war jemand zu sehen. Ich marschierte quer durch den riesigen Laden, wo schwere Teppichrollen von den Wänden hingen und Stapel von erstklassiger Ware im hellen Licht strahlten, stieß die schwere Pendeltür zur Lagerhalle auf – und erstarrte.

Direkt neben einem Stapel Musterbücher vom letzten Jahr stand ein flugunfähiger, fast mannsgroßer Vogel mit einem unglaublich langen Schnabel voller hässlicher Zacken und starrte mich misstrauisch an. Ich sah mich vorsichtig um. Die Lagerarbeiten standen pflichtgemäß still, aber unmittelbar hinter dem Diatryma stand eine stämmige Gestalt in einer Acme-Uniform. Es war ein Mann mit breitem Schädel und wulstigen Brauen, dessen braune Augen tief in den Höhlen lagen. Nach den Gesetzen der Evolution wäre er genauso ausgestorben gewesen wie der hässliche Vogel aus dem Paläozän, aber er war hellwach und äußerst lebendig. Sein Name war Stig, und ich war froh ihn zu sehen. Er war ein geklonter Neandertaler, den ich aus meiner Zeit bei SpecOps kannte. Er hatte mir mehrfach den Arsch gerettet, und ich hatte mit ihm und seinen rückgezüchteten Artgenossen für das Recht auf Selbstbestimmung der Arten gekämpft.

»Rühren Sie sich nicht von der Stelle«, sagte Stig mit dumpf grollender Stimme. »Wir wollen ihm ja nicht wehtun.«

Er wollte nie jemand wehtun. Stig betrachtete jedes auch noch so rebellische Exemplar einer Tierart, die ausgestorben und rückgezüchtet worden war, als Mitglied seiner Familie und versuchte sie immer lebend zu fangen. Chimären allerdings, jene scheußlichen Kreuzungen, bei denen irgendwelche skrupellosen Hobby-Kloner ihre perverse Fantasie hatten spielen lassen, beseitigte er so schnell und schmerzlos wie möglich.

Das Diatryma hackte nach mir. Hastig sprang ich zur Seite, während der messerscharfe Schnabel mit dem Klappern übergroßer Kastagnetten direkt vor mir zuschnappte. Stig machte einen raschen Schritt vorwärts und warf dem Geschöpf einen alten Postsack über den Kopf und die tückischen schwarzen Augen. Das Diatryma blieb regungslos stehen, und Stig gelang es, das Tier zu Boden zu ringen. Ich und sämtliche Lagerarbeiter stürzten sich daraufhin ebenfalls in den Kampf, und nach kurzer Zeit hatten wir den gefährlichen Schnabel mit Klebeband fest umwickelt.

»Danke«, sagte Stig und legte dem jetzt vollkommen harmlosen Vogel ein Halsband und eine Leine an.

»Wo habt ihr ihn gefangen?«, fragte ich, während wir an den Rollen von Wilton Shag und gepolstertem Linoleum in vielen herrlichen Farben entlanggingen. »In Salisbury?«

»Nein«, sagte der Neandertaler. »In Devizes. Wir mussten acht Meilen über offenes Farmland rennen, um ihn zu fangen.«

»Hat Sie jemand gesehen?«, fragte ich. Seit wir nicht mehr offiziell arbeiteten, waren wir ständig in Sorge, dass unsere Operationen bekannt werden könnten.

»Ach, das würde doch eh keiner glauben«, sagte Stig lässig. »Aber da draußen sind noch mehr von den Vögeln. Wir müssen heute Nacht wieder raus.«

Nur gut, dass der Polizeichef von Swindon mein alter Boss Braxton Hicks war. Er ahnte zwar, dass wir hinter der Fassade von Acme weiterhin die Aufgaben von SpecOps wahrzunehmen versuchten, hatte mir aber versprochen, beide Augen zuzudrücken – »jedenfalls solange niemand aufgefressen wird oder so«. Er wusste natürlich, dass sonst er und seine regulären Beamten mit den gefährlichen Begleiterscheinungen des modernen Lebens aufräumen mussten, und das würde Geld kosten. Für alles, was in den Dienstvorschriften nicht vorgesehen war, verlangten die öffentlichen Bediensteten Überstundenzuschläge, und für Braxton Hicks war sein Haushaltsplan das Wichtigste auf der Welt. Die Polizei ließ uns also in Ruhe, und wir gingen ihr auch aus dem Weg.

»Wir haben eine Frage«, sagte Stig, der grundsätzlich nur in der ersten Person Plural von sich sprach, »müssen wir im Fragebogen für die Berufsgenossenschaft das Risiko erwähnen, von einem Mammut zu Tode getrampelt zu werden?«

»Nein, diesen Teil unseres Unternehmens möchten wir nicht weiter bekannt werden lassen. Die Fragen nach der Betriebssicherheit beziehen sich ausschließlich auf das Teppichverlegen.«

»Wir verstehen«, sagte Stig. »Haben Sie eigentlich Landen schon gesagt, was wir hier machen?«

»Ich ... bereite mich intensiv darauf vor.«

»Gut«, sagte Stig. »Und wir gratulieren Ihnen auch zur Wiederkehr des Tages, an dem Ihre Mutter Sie auf die Welt gebracht hat.«

»Vielen Dank.«

Ich wünschte Stig noch einen guten Tag und ging zu den Büros, die sich in einem Zwischenstock auf halber Höhe der Halle befanden. Von hier aus hatte man einen guten Überblick über alles, was vorging – sowohl im Verkaufsraum als auch im Lager.

Als ich eintrat, sprach mich ein Mann an, der unter einem der Schreibtische hockte.

»Habt ihr’s gefangen?«, fragte er mit zitternder Stimme.

»Ja.«

Er kletterte aus seinem Versteck. Er war Anfang vierzig und sein Gesicht zeigte erste Falten. Obwohl er zur Geschäftsleitung gehörte, trug er ebenfalls eine Acme-Uniform. Sie stand ihm allerdings wesentlich besser als allen anderen Angestellten. Sie war offenbar maßgeschneidert, was Bowden allerdings heftig bestritt. Bei den LitAgs war er mein Partner gewesen, und deshalb erschien es nur recht und billig, dass er auch bei Acme eine leitende Position hatte.

»Gibt’s viel zu tun heute?«, fragte ich, während ich mir einen Kaffee einschenkte.

Bowden zeigte auf die Zeitung, die auf seinem Tisch lag. »Hast du das gelesen?«

»Das mit dem DummheitsÜberschuss?«

»Nicht direkt. Ich meinte die neue Reality-Show.«

»Welche?«, fragte ich. »Prominente als Pathologen, Verkauf deine Großmutter oder Bei wem stellen wir die lebenserhaltenden Maßnahmen ein? Das Angebot ist dieser Tage ja riesig.«

Bowden lachte. »Ich gebe zu, das mit der Großmutter war schon ein starkes Stück, aber RTA-TV hat jetzt noch was Geschmackloseres. Es heißt: Wer kriegt die Spenderniere? Zehn Dialyse-Patienten bewerben sich um eine Spenderniere, und das Publikum darf entscheiden, wer sie kriegt.«

Ich stöhnte. Seit den Zeiten, wo die Leute einen Sixpence bezahlten, um die Kranken im Irrenhaus zu beobachten, hatte unsere sadistische Schaulust ganz neue Dimensionen erreicht. Traurig schüttelte ich den Kopf. »Gute Bücher will wohl überhaupt keiner mehr lesen?«

Bowden zuckte die Achseln. Bei der kurzen Aufmerksamkeitsspanne der Leute waren Bücher offensichtlich zu sperrig geworden. Sie würden bald genauso an den Rand gedrängt werden wie das epische Gedicht, die griechische Tragödie, Tarzanheftchen und Kalendergeschichten.

»Wie geht’s der Familie?«, fragte Bowden.

»Alles bestens«, sagte ich. »Bloß Friday ist unfähig zu jeglicher Aktivität außer Dösen.«

»Und Pickwick? Wachsen die Federn allmählich wieder?«

»Nein«, seufzte ich. »Kannst du stricken?«

»Nee«, sagte er. »Warum fragst du?«

»Ach, nichts. Viel zu tun heute?«

Bowden nahm sein Klemmbrett vom Tisch und blätterte in den Notizen. »Spike muss sich mit ein paar Untoten und einem Rudel Heulern im Savernake Forest herumschlagen. Stig ist immer noch hinter den Diatrymas her. Die Geschmacksabteilung muss eine Fassadenverschandelungsepidemie in Cirencester bekämpfen, bei der falscher Klinker und künstliche Feldsteinfolien aus Plastik benutzt werden. Aus Bristol wird eine Slash’n’Burn-Attacke gemeldet, da wird sich die Pampas-Truppe drum kümmern. Und, ach ja, in Chippenham gibt es einen Ausbruch von Doppelgängern.«

»Irgendwas Literarisches?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Nur mal wieder Mrs Mattock und ihre gestohlenen Erstausgaben. Mach dir nichts vor, Thurs, über Bücher regt sich heute kein Mensch mehr auf, und das ist ja auch gut so.« Seit wir keine Beamten mehr waren, sondern Privatunternehmer, waren wir dazu übergegangen, uns kollegial zu duzen, aber manchmal hatte ich das Gefühl, dass er mehr Verständnis für mich gehabt hatte, als wir uns noch gesiezt hatten. »Für so etwas hätten wir auch gar keine Zeit. Wir müssen sechzehn Teppichböden verlegen und außerdem acht Kostenvoranschläge machen, die eigentlich gestern schon fällig waren. Sollen wir Spike von den Zombies abziehen und auf den Treppenläufer in diesem Fachwerkhaus ansetzen?«

»Können wir nicht einfach ein paar Zeitarbeiter engagieren?«

»Wovon sollen wir die denn bezahlen? Mit einem illegalen Diatryma für jeden?«

»Ist es so schlimm?«

»Allerdings! Unser Überziehungskredit steht schon wieder ganz kurz vor dem Limit.«

»Kein Problem. Ich werde heute Abend einen Super-Deal machen.«

»Ich will es lieber gar nicht wissen. Wenn du verhaftet wirst, muss ich glaubhaft sagen können, dass ich nichts damit zu tun habe. Abgesehen davon ginge es uns vielleicht besser, wenn du ab und zu mal ein paar Teppiche verkaufen würdest, statt in der Gegend herumzudüsen und diese heiklen Käsegeschäfte zu machen.«

»Das erinnert mich an etwas«, sagte ich. »Stell bitte keine Gespräche zu mir durch, ich bin den ganzen Tag unterwegs.«

»Das geht wirklich nicht, Thursday!«, rief er verzweifelt. »Du musst unbedingt den Kostenvoranschlag für die Eingangshalle im Hotel Finis machen. Außerdem kommt das Gewerbeamt, um unsere Leute zu überprüfen.«

»Wegen der Sicherheitsvorkehrungen?«

»Um Gottes willen! Sie wollen bloß sehen, ob wir die Formulare richtig ausfüllen können.«

»Hör zu«, sagte ich. »Heute Abend muss ich mit Friday zur Berufsberatung, aber ich komme vorher noch mal rein und mach ein paar Kostenvoranschläge. Sorg dafür, dass ich eine Liste der Anfragen kriege.«

»Schon erledigt«, sagte Bowden und drückte mir ein Klemmbrett mit Kontaktadressen und anderen Details in die Hand.

»Gut. Vielen Dank!«, seufzte ich. Ich nahm meine Kaffeetasse und ging in mein eigenes Büro, ein fensterloses Kabuff neben der Ladestation für die Gabelstapler. Ich setzte mich und starrte verzweifelt die Liste an, die Bowden mir in die Hand gedrückt hatte. Geistesabwesend wippte ich vorwärts und rückwärts.

Schließlich stand ich auf und wollte mich gerade umziehen, als es an meine Tür klopfte. Ich öffnete und sah vor mir einen muskulösen jungen Mann, dem die Acme-Uniform noch weniger als allen anderen stand, obwohl ihm das mit Sicherheit niemand gesagt hätte. Seine Rastalocken reichten bis zur Hüfte hinunter, und er trug massenhaft silberne Totenschädel, Fledermäuse und anderen Grufti-Schmuck. Das diente allerdings nicht der Verzierung, sondern dem Schutz. »Spike« Stoker war ein ehemaliger SO-17-Agent, der erfolgreichste Vampir- und Werwolfjäger im ganzen Südwesten.

»Happy birthday, Bücherwurm!«, sagte er. »Hast du eine Minute Zeit?«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Es wurde Zeit für meine eigentliche Arbeit.

»Geht es um die Sicherheitsvorkehrungen?«

»Nein, es ist wichtig.«

Wir durchquerten die Lagerhalle und gelangten zu den Regalen mit Klebstoff, Nägeln und Klammern. Spike machte eine unauffällige, mit einem Plakat für Brinton-Teppiche getarnte Tür auf und führte mich eine schmale Treppe hinunter. Er zog einen großen Messingschlüssel heraus und schloss eine schwere Tür auf. Dann betraten wir einen betonierten, weitläufigen Keller, den ich die »Sicherheits-Suite« nannte, während Spike vom »Kleinen Monsterkäfig« sprach. Diese Bezeichnung war durchaus zutreffend, denn unsere Arbeit führte uns in Bereiche, wohin selbst hartnäckige Verschwörungstheoretiker uns nicht mehr zu folgen vermochten. Als wir noch SpecOps hießen, hatten wir die ganze Autorität einer staatlichen, wenn auch geheimen Behörde, genügend Mitarbeiter und einen Etat; jetzt, wo wir auf eigene Faust arbeiteten, hatten wir nur noch Geheimhaltung, kostenlosen Tee mit Keksen und einen großen Messingschlüssel. Stig hielt hier unten im Keller seine ausgestorbenen Tiere gefangen, bis er wusste, was er mit ihnen machen sollte. Und Spike benutzte den Käfig als Beobachtungsstation für seine Untoten – für den Fall, dass sie sich entschlossen, halbtot oder beinahe lebendig zu werden. Den Tod, das hatte ich inzwischen begriffen, gab es in den unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen, von denen allerdings keine besonders wohlschmeckend war.

Wir kamen an einer Zelle mit Regalen vorbei, auf denen sich Glasbehälter mit Übelsten Wesen befanden. Es handelte sich um kleine, koboldhafte Gestalten von der Größe und Konsistenz eines Wischlappens, allerdings nicht so fest. Die meiste Zeit stritten sie darüber, wer von ihnen das übelste Übelste Wesen war.

Aber Spike ging an den ÜWs vorbei, ohne sie zu beachten, und steuerte die hinterste rechte Zelle an. Er schloss die Tür auf. In der Mitte des Raumes saß auf einem Stuhl ein Mann in Jeans und Lederjacke. Er starrte zu Boden, so dass ich sein Gesicht nicht gleich sehen konnte. Seine großen manikürten Hände waren zu Fäusten geballt, und sein Knöchel war an den Boden gekettet.

Ich zuckte zusammen. Wenn Spike sich bei diesem Burschen geirrt hatte, saßen wir ganz schön in der Tinte. Etwas erkennbar Menschliches einzusperren war eindeutig illegal und wäre ganz schlecht fürs Geschäft.

»He!«, sagte Spike, und der Gefangene hob langsam den Kopf, um mich anzusehen. Ich erkannte ihn sofort und war ziemlich erschrocken. Es war Felix8, der Killer, den Acheron Hades im Fall Jane Eyre auf mich angesetzt hatte. Der eigentliche Name von Felix8 war Danny Chance, aber Hades hatte ihm seinen freien Willen geraubt und ihn zu seinem gnadenlosen, kaltblütigen Werkzeug gemacht. Das Merkwürdige war allerdings, dass Hades, sein Herr und Meister, vor sechzehn Jahren eines gewaltsamen Todes gestorben war. Felix8 hatte ich zuletzt im Penderyn Hotel in Merthyr gesehen, der Hauptstadt der Volksrepublik Wales.

Felix8 betrachtete mich mit einem leicht amüsierten Blick und nickte unmerklich zur Begrüßung.

»Wo hast du ihn gefunden?«, fragte ich.

»Vor deinem Haus. Vor einer halben Stunde. Er hatte dieses kleine Schmuckstück dabei.« Spike zeigte mir eine hässliche kleine Maschinenpistole mit einem eleganten geschnitzten Kolben. »Es war nur eine einzige Kugel im Magazin.«

Ich beugte mich zu Felix8 herunter und starrte ihm ins Gesicht. »Wer hat Sie geschickt?«

Felix8 lächelte, schwieg und betrachtete die Kette an seinem Knöchel.

»Was wollen Sie?«

Felix8 schwieg noch immer.

»Wo sind Sie in den vergangenen sechzehn Jahren gewesen?«

Alle meine Fragen wurden mit schweigender Unverschämtheit beantwortet, und nach fünf Minuten gab ich auf. Ich verließ den Zellenblock und ging mit Spike wieder nach oben.

»Wer hat ihn gemeldet?«

»Dein Stalker – wie heißt er noch gleich?«

»Millon.«

»Genau. Er dachte, der Bursche wäre ebenfalls ein Stalker und wollte ihn wegscheuchen. Aber als er sah, dass der Kerl gar keine Kamera, kein Notizbuch und nicht mal einen Dufflecoat hatte, rief er mich an.«

Ich überlegte einen Moment. Wenn Felix8 wieder auf mich angesetzt worden war, konnte nur ein Mitglied der Hades-Familie dahinterstecken. Irgendjemand wollte sich rächen, und im Rachenehmen waren sie Weltmeister. Ich hatte Acheron, Aornis und Cocytus persönlich besiegt, und das hieß, dass nur noch Lethe und Phlegthon übrig waren. Lethe war das weiße Schaf der Familie und verbrachte ihre Zeit auf Wohltätigkeitsveranstaltungen. Damit blieb nur noch Phlegthon übrig, der irgendwann in den neunziger Jahren vom Radarschirm verschwunden war.

»Was schlägst du vor?«, fragte ich. »Er fällt in keine der Kategorien, die wir ohne Gerichtsverfahren für unbegrenzte Zeit einsperren könnten. Schließlich trägt er ja auch nur das Gesicht von Felix dem Killer, darunter ist er immer noch der verschwundene Familienvater Danny Chance, den Hades 1985 zu seinem willenlosen Werkzeug gemacht hat.«

»Da hast du recht«, sagte Spike. »Wir können ihn nicht einfach behalten. Aber wenn wir ihn laufen lassen, versucht er bloß, dich zu töten.«

»Ich werde mit Sicherheit über hundert. Das weiß ich genau, denn ich habe mich selbst in der Zukunft getroffen.«

Es klang nicht sonderlich überzeugend. Ich hatte schon genug chronologische Paradoxien gesehen, um zu wissen, dass eine Begegnung in der Zukunft keine Garantie für ein langes Leben war.

»Wir halten ihn vierundzwanzig Stunden lang fest«, sagte ich. »Ich werde ein paar Erkundigungen einziehen und sehen, ob ein Mitglied der Hades-Familie dahintersteckt. Vielleicht versucht er ja nur, den letzten Auftrag zu erfüllen, der ihm vor sechzehn Jahren erteilt worden ist. Hades hat ihm gesagt, er solle mich umbringen, er hat nicht gesagt, wann.«

»Thursday –«, sagte Spike in einem Tonfall, den ich kannte und der mir gar nicht gefiel.

»Nein«, sagte ich, »das kommt nicht infrage.«

»Ich glaube, es ist ihm egal, ob er stirbt«, sagte Spike. »Er würde sich nur darüber ärgern, dass er bei seinem Auftrag versagt hat.«

»Ich weiß, was du meinst. Aber er hat nichts getan. Gib mir einen Tag Zeit, und wenn ich nichts finde, übergeben wir ihn Braxton.«

»Na schön«, sagte Spike. Er war offensichtlich enttäuscht.

»Ach, noch etwas«, sagte ich, als wir die Lagerhalle erreichten. »Mein Onkel Mycroft ist wieder da. Als Gespenst.«

»Kommt vor«, sagte Spike und zuckte die Achseln. »Hat er einen Körper gehabt?«

»Genauso wie du oder ich.«

»Wie lange war er denn sichtbar?«

»Ungefähr sieben Minuten, schätze ich.«

»Dann hast du ihn gleich beim ersten Spuken gesehen. Debütanten sind immer noch am solidesten.«

»Das kann schon sein, aber mich interessiert vor allem, warum.«

»Ich werde mal Erkundigungen einziehen«, sagte er beiläufig. »Es gibt ein paar Leute im Totenreich, die mir noch einen Gefallen schulden. Übrigens, hast du Landen jetzt endlich gebeichtet, dass du immer noch für SpecOps arbeitest?«

»Ich werd es ihm heute Abend erzählen.«

»Na klar, das machst du bestimmt.«

Ich ging in mein Büro zurück, schloss die Tür, streifte meine Acme-Uniform ab und zog etwas Bequemeres an. Ich würde mit Aornis über Felix8 reden müssen. Wahrscheinlich würde sie mir erklären, ich könnte sie kreuzweise, schließlich hing sie wegen mir in einer dreißigjährigen Zeitschleife fest und hasste mich innig, aber versuchen konnte ich es ja mal.

Ich schnürte meine Stiefel, füllte meine Wasserflasche und packte sie in meine Schultertasche. Acme Carpets war eine Tarnfirma und die Acme-Uniform reinste Mimikry, aber was ich jetzt erledigen musste, war so geheim, dass nur Bowden Bescheid wusste.

Wenn Landen erfahren würde, dass ich heimlich für SpecOps arbeitete, wäre er sicherlich böse. Aber wenn er rauskriegen sollte, dass ich auch noch für Jurisfiktion aktiv war, würde er komplett durchdrehen. Nach dem Angriff des Minotaurus im Jahr ’88 hatte er mir so lange ins Gewissen geredet, bis ich ihm versprach, die Jurisfiktion aufzugeben und eine brave Hausfrau und Mutter zu werden. Aber unglücklicherweise hatte ich mich da längst verpflichtet, der Welt der Fantasie zu dienen, der Welt der Bücher und der Fiktion. Ich konnte Landen gar nicht versprechen, darauf zu verzichten, und deshalb musste ich gelegentlich etwas lügen – das heißt, eigentlich ziemlich oft und verdammt viel. Ich tat das nicht leichtfertig und ohne Gewissensbisse, aber in den vergangenen vierzehn Jahren hatte es funktioniert. Das Merkwürdige war, dass mir die Jurisfiktion nichts einbrachte. Sie war gefährlich und total unberechenbar, und ich verdiente keinen Cent damit. Aber ich war nun einmal süchtig nach Geschichten. Es wäre einfacher gewesen, einem anerkannten Käseschlucker, der fünfmal am Tag seinen Limburger brauchte, seine Sucht auszureden, als mich von der Fiktion zu heilen. Aber hey – ich kam ganz gut damit klar!

Ich setzte mich und schlug das Buch auf, das ich in meiner Tasche hatte. Es war ein Geschenk von Mrs Nakijima. Sie hatte es mir vor vielen Jahren geschenkt. Es war mein Reisepass in die Welt auf der anderen Seite der Buchstaben. Ich senkte den Kopf, leerte mein Bewusstsein, so weit es nur ging, und las mir laut vor. Die Worte hallten wider wie ein Windglockenspiel und schwirrten wie Glühwürmchen um mich herum. Der Raum schlug Wellen und streckte sich, aber dann kehrte ich mit einem dumpfen Plopp! an den Acme-Schreibtisch zurück.

Verdammt! Neuerdings passierte das immer öfter. Ich war einmal eine natürliche Buchspringerin gewesen, aber diese Fähigkeit war mit den Jahren geschwunden.

Ich holte tief Luft und versuchte es noch einmal. Das Windglockenspiel und die Glühwürmchen kehrten zurück, und der Raum um mich herum begann sich zu dehnen, bis er von zahllosen Bildern, Empfindungen und Geräuschen ersetzt wurde. Ich überwand die Grenze zwischen der so genannten wirklichen und der fiktiven Welt. Ferne Wasserfälle schienen zu rauschen und eine Wärme wie Kätzchen und eine gemütliche Dusche durchflutete mich, als ich aus meinem Büro bei Acme Carpets in Swindon in die Eingangshalle eines großen Herrenhauses versetzt wurde.

4.Jurisfiktion

Jurisfiktion ist ein Sicherheitsdienst, der im Inneren der Bücher arbeitet, um die Integrität der Texte zu schützen. Diese oft undankbare Aufgabe wird nach den Richtlinien der TextZentrale von den JurisfiktionAgenten in ruheloser Tätigkeit erfüllt. Bei dem Versuch, die Absichten des Autors und die Erwartungen und Fähigkeiten des Lesers und der Leserin mit den bürokratischen und größtenteils sinnlosen Richtlinien des GattungsRats zu versöhnen, sind die Agenten meist ganz auf sich allein gestellt und müssen sich auf ihren Scharfsinn, Geist und Witz verlassen.

Es war eine schöne weiträumige Halle, in der ich stand, mit tiefen Fenstern, die einen herrlichen Ausblick auf den großen Park erlaubten, der sich hinter dem Kies der Auffahrt und den gepflegten Blumenbeeten befand. Die Wände waren mit seidenen Teppichen behängt, das Holz war glänzend poliert und der Marmorboden so spiegelblank, dass ich mich selbst darin sehen konnte.

Rasch trank ich einen großen Schluck Wasser, denn das Buchspringen führte neuerdings oft dazu, dass ich stark dehydriert wurde. Ich zog mein mobiles Fußnotofon heraus und bestellte ein GattungsTransferTaxi. Ich würde es erst in einer halben Stunde brauchen, aber sie waren äußerst begehrt und es lohnte sich, sie im Voraus zu buchen. Dann sah ich mich vorsichtig um. Ich befürchtete zwar keine unmittelbare Gefahr, denn ich befand mich in der friedlichen Backstory von Jane Austens Verstand und Gefühl. Nein, ich wollte bloß sicher sein, dass mein gegenwärtiger JurisfiktionLehrling nicht irgendwo lauerte. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich bis zum Ende des heutigen Morgenappells nicht mit ihr auseinandersetzen zu müssen.

»Guten Morgen, Ma’am!«, rief sie und erschien so plötzlich vor mir, dass ich beinahe laut geschrien hätte. Sie war von tödlichem Übereifer, ein Charakterzug, der mich gleich irritiert hatte, als ich vor vierundzwanzig Stunden eingewilligt hatte, ihre Eignung zu überprüfen.

»Musst du eigentlich immer so abrupt hier hereinspringen?«, fragte ich. »Ich hätte fast einen Herzschlag gekriegt.«

»Oh! Tut mir leid. Aber ich hab was zum Frühstück für Sie.«

»Na, wenn das so ist ...« Ich warf einen Blick in die Tüte, die sie mir überreichte. »Warte mal, wie ein Schinkenbrötchen sieht das aber nicht aus.«

»Ist es auch nicht. Es ist ein knuspriger Linsenkuchen mit Sojamilch und Bohnenquark. Das reinigt die Eingeweide. Von einem Schinkenbrötchen würden Sie wirklich einen Herzanfall kriegen.«