Der Fassadenkletterer - Angela Schmidt-Bernhardt - E-Book

Der Fassadenkletterer E-Book

Angela Schmidt-Bernhardt

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Beschreibung

Am Anfang (2022) steht ein Stapel vergilbter Briefe aus den 1960er und 70er Jahren, die zwischen Deutschland und Polen hin- und hergingen. Als Mona in einem unerwarteten Anruf davon erfährt, nimmt sie spontan den Zug nach Westpolen. Ihr Bruder Richard begleitet sie; die erwachsene Tochter Alisa kommt später nach. Alle drei wollen mithilfe polnischer Bekannter tief vergrabenen Familiengeheimnissen auf die Spur kommen. Das Trio zerbricht, noch ehe es die Arbeit aufgenommen hat. Während Mona nach Danzig weiterfährt, zwischen Spurensuche, Selbstfindung und Verliebtheit strauchelnd, erwartet Richard und Alisa in Pozna eine Intensivnachhilfe in polnischer Nachkriegsgeschichte. Die Verwicklung des verstorbenen Vaters in den Posener Aufstand von 1956 lässt Richard nicht mehr los. Allmählich ahnt er, warum sein Vater als junger Mann Polen verlassen hat. Jahrzehntelang lastete das Schweigen auf der familiären Vergangenheit.

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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Angela Schmidt-Bernhardt

D e r F a s s a d e n k l e t t e r e r

Roman

Literki Verlag

Für Robert

Botschaft an die Leser

Liebe Leserin, lieber Leser,

Reisen Sie mit mir in das Land unserer östlichen Nachbarn, das ich in den vergangenen Jahren staunend kennenlernte. Nah und doch so fern, so erschien mir Polen, antwortete ich meinen Freundinnen, wenn ich von einer Reise zurückkam. Und ergänzte, ich führe schon bald wieder hin.

Plötzlich kam Corona und versperrte den Weg.

Was blieb? Reisen im Kopf, im Herzen, auf Laptop und Papier.

Lesen Sie, was ich mit Mona und Richard, mit Gosia und Piotr erlebte. Tauchen Sie mit mir ein in die Wirrnisse von Verliebtheit und Liebe, in lastendes Schweigen, uralte Geheimnisse, schmerzhafte Trennungen und zarte Annäherungen.

Kommen Sie, der Berlin-Warschau-Express steht abfahrbereit!

Angela Schmidt-Bernhardt

Kapitel 1

MONA

Die unbekannte Nummer auf dem Display hatte sie irritiert. Und gestört. Getränke holen, Blumen aussuchen, Küche aufräumen, dann sorglos ins Wochenende starten. Und wenn sie den Anruf ignoriert hätte? Einfach nicht reagiert hätte? In ihrem alten Leben geblieben wäre? Der Anrufer entschuldigte sich für die Störung, fragte, ob sie tatsächlich die Tochter von Martin Czernowicz sei, entschuldigte sich erneut, und begann zu erzählen; etwas holpriges aber deutliches Deutsch, osteuropäischer Akzent. Der singende Klang der Stimme brachte vergessene Erinnerungen zurück. Mona blieb zunächst in der Tür stehen, den leeren Getränkekasten noch in der linken Hand; bei der zweiten Entschuldigung stellte sie den Kasten ab; einige Minuten später schloss sie die Wohnungstür, verharrte im Flur, schälte sich aus der Daunenjacke ohne das Handy vom Ohr zu nehmen, machte ein paar Schritte in Richtung Küche, öffnete mit der freien Hand die Schublade des Küchenschranks, wühlte, zog einen Zettel heraus, wühlte weiter, ein Bleistift, zum Glück nicht abgebrochen. Sie ließ sich auf den Küchenstuhl sinken, wechselte das Handy in die linke Hand, notierte Namen und Telefonnummer. Sie fragte noch einmal nach, ob sie auch alles richtig verstanden hätte, besonders die Zahlen.

Zunächst nahm sie sich vor, sich ihr Wochenende nicht durcheinander bringen zu lassen. Sie räumte auf, gönnte ihrem Zyperngras einen größeren Topf, machte sich mit den leeren Kästen auf den Weg zum Getränkemarkt, traf sich abends mit Freunden zu Kino und Vino; sie wollte am Sonnabend ausschlafen und war um fünf Uhr hellwach. Sie dachte hin und dachte her; sie machte Pläne und verwarf sie sogleich; sie ging zur Haustür, doch die Zeitung war noch nicht da; sie holte die Zeitung von gestern, die sie nicht gelesen hatte, die sie aber nicht mehr interessierte, sie versuchte, noch einmal einzuschlafen und gab den Versuch gleich wieder auf. Irgendwann war es dann endlich so spät, dass sie Alisa anrufen konnte. Seitdem ihre Tochter selbst Mutter war, war diese morgens gut erreichbar. Dennoch legte sie den Telefonhörer auf. Die schnelle Zusage von Alisa. Vielleicht etwas missmutig zwar, aber egal. Sie öffnete den Laptop und suchte nach Verbindungen. Gute Sparpreise würde es nicht geben, dazu war nicht genug Zeit, andererseits keine Touristensaison, mal sehen, nur Geduld, doch, besser als erwartet, Zugverbindung, zwei Personen, von Berlin aus Reservierungspflicht, auf der polnischen Strecke. Sollte sie nochmal kurz Alisa zurückrufen? Nein, lieber schnell buchen, ehe das weg war, so wie neulich, als sie nach Frankfurt wollte.

Eine halbe Stunde später kam Alisas Nachricht. Zwei Tage später ginge es, wäre ja sicher nicht schlimm, alles ok? Was jetzt? Alisa anrufen? Alles neu buchen? Stornieren? Zu hohe Gebühren. Und der Zug zwei Tage später? Wie teuer? Viel teurer. Erst Storno zahlen, und dann ein viel teureres Ticket? Die Rückfahrt war richtig teuer. Viel Geld für nichts. Miese Stimmung. Sie wollte nun gar nicht mehr fahren. Könnte auch alles lassen. Einfach sein lassen.

Mona drückte auf die Fernbedienung, egal was im Fernsehen kommt, Mittagsfernsehen, was war das denn? Und dann holte sie sich ein Glas Wein aus der Küche.

Am Sonntagmorgen rief sie Richard an. Warum hatte sie nicht gleich an ihren Bruder gedacht, fragte sie sich gleich nach dem Anruf. Sie ärgerte sich; sie hätte doch wissen können, dass es mit Richard unkompliziert sein würde, dass sie ganz schnell übereinkommen würden, dass es so wäre wie früher; vierzig Jahre her, nein fast fünfzig Jahre, als er der kleine Bruder war, mit dem sie tatsächlich immer und überall durch dick und dünn gehen konnte. Sie hatte vorgeschlagen, mit den Fahrrädern einen ganzen Sonntag unterwegs zu sein, Richard war sofort einverstanden. Sie hatte vorgeschlagen, für die Familie und, weil das außer ihnen beiden nur Mama und Papa wären, auch für die Freundinnen Ingrid, Vera und Doris, und wenn er wollte, auch für seine Freunde Olaf und Werner, also für alle zusammen, Pommes Frites in der Fritteuse zu machen. Sie hatten gemeinsam Kartoffeln gewaschen, geschält, geschnitten, frittiert, Unmengen an Fett verbraucht und noch viel mehr Kartoffeln. Es war grandios geworden. Und später hatten sie Marmelade gekocht, Erdbeere, Johannisbeere, Himbeere und Pflaumenmus.

Also, Richard hätte ihr wirklich schon gleich einfallen können. Warum nicht gleich? Vielleicht machte er es ihr zu leicht. Mit seinem Anhimmeln. Er stellte sie auf alle möglichen Podeste. So weit oben wollte sie gar nicht stehen. Der kleine Bruder bewundernd zu ihren Füßen. Na ja, sie wusste schon, dass sie sich immer den großen Bruder gewünscht hatte, so einen wie ihn ihre Freundin Anita hatte. Manche Wünsche konnten sich einfach nie erfüllen.

ALISA

Alisa hatte sich auf das Treffen mit Dorota gefreut. Sie diskutierten über die Van-Gogh-Ausstellung, die sie zusammen besucht hatten, sie regten sich über Tassen, Gläser, Feuerzeuge und Handytäschchen mit dem Konterfei des Künstlers auf, wahlweise auch mit Sonnenblumen. Anfangs war alles ganz nett. Dann kam Dorotas kritische Phase. Was war mit der denn los? Worauf wollte sie hinaus? Nach zwei Stunden reichte es. Alisa spürte ein Kribbeln in den Zehen, in den Fingern, keine Kälte, eher Unruhe und Unbehagen.

„Ich muss dann langsam mal ...“

„Schon?“

„Gemüse kaufen, frisches Obst, bevor ich Jonas abhole.“

„Ach so, ich dachte, du hättest länger Zeit. Hast du das nicht gesagt, du hättest heute viel Zeit?“

„Ja, stimmt, habe ich gesagt, aber sicher nächstes Mal.“

Eine flüchtige Umarmung, Alisa schaute sich beim Weggehen nicht um. Sie lenkte ihren Schritt ins Café Frida, tief durchatmen, da ging Dorota nicht hin, jedenfalls jetzt nicht; sie hatte aus den Augenwinkeln gesehen, dass Dorota die Gegenrichtung eingeschlagen hatte.

Machst du nicht viel zu viel? Was musst du dir beweisen? Kannst du auch einfach mal Löcher in die Luft starren? Große Löcher. Riesengroße Löcher.

Was war in Dorota gefahren?

Alisa hatte zögernd geantwortet, sich gerechtfertigt, wie sie sich dafür hasste, für dieses ewige Rechtfertigen; sie hatte sich gewunden wie ein Aal in der Reuse, wie eine dumme Fliege im Spinnennetz, wie? Ja, wie denn? Wie vor tausend Jahren, wie früher bei Mama. Deshalb regte sie das so auf. Dorota konnte nichts dafür. Es war wegen Mama. Immer war das so gewesen. Immer dieselbe Litanei. Besonders am Telefon. Schluss jetzt damit. Nicht mehr dran denken. Weggewischt. Beim kleinen Espresso schrieb Alisa ihren Einkaufszettel, beim Salat die To-Do-Liste.

Alisa holte ihr Smartphone aus der Tasche. Anruf von Dorota.

„Ja, was gibt’s?“

„Ach, ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung bei dir ist? So schnell, wie du verschwunden warst eben.“

„Mach dir keine Gedanken. Alles ok. War nur in Eile. Ach so, mit Jonas? Alles gut mit dem Kleinen. Hab ihn gerade abgeholt.“

„Na ja dann, ok. Bis die Tage.“

Endlich Wochenende.

Der Anruf am Samstagmorgen war merkwürdig. Alisa hatte erwartet, es wäre Dorota, die schon wieder was erzählen wollte und natürlich auch gleich wieder was Kritisches auf Lager hätte. Warum war sie gestern so schnell abgehauen? Was war mit ihr los? Sollte sie Dorota mal sagen, dass sie enttäuscht von ihr war? Oder würde sich das sowieso wieder geben, in nichts auflösen? Wie von selbst.

Es war Mona. Wann hatte Mona sie zuletzt angerufen? Ihre Freundinnen hatten ständig Anrufe von ihren Müttern. Sie nie. Und wenn, dann dauerte es nicht lange, bis so was Oberkritisches kam.

„Es gibt da solche Briefe. In Poznań. Willst du mit mir hinfahren?“

„Mama, mal langsam. Was ist überhaupt los? Wovon redest du? Was für Briefe?“

„Weiß ich doch auch nicht. Hab’s gerade erst gehört.“

„Was soll der Quatsch? Von wem gehört?“

„Ach, den kennst du nicht.“

„Was sagst du da? Und dann belämmerst du mich damit. Kennst du ihn denn? Was willst du überhaupt von mir?“

Und schließlich hatte sie doch zugestimmt. Na ja, so halb zumindest.

Jetzt saß sie da. Briefe. Poznań. Der Bekannte von Opa. Mama war wie immer in ihrem eigenen Film. Die hatte schon immer alles ganz gut abwälzen können. Besonders auf sie natürlich. Sie zog jemand Komischen an Land, irgendwen, der sie interessierte, war Feuer und Flamme, und kurze Zeit später, wenn es irgendwie anstrengend wurde, – schwupp die wupp – landete ein Riesenpaket Arbeit bei Alisa.

Wie mit dem Typ mit den Gesangstunden. Zwanzig Jahre her. Im Zug von Berlin. Mama mit glänzenden Augen, verfolgte jedes seiner Worte, hing an seinen Lippen wie eine Verdurstende in der Sahara am letzten Schluck aus der Wasserflasche, lachte unnatürlich, gekünstelt über seine Witze, die keine waren, nestelte an ihrem Pullover rum, zog den Saum mit ihrem rechten Daumen in die Länge, ließ ihn wieder los, also den Pulli, raffte mit links alles zusammen, grinste nur schief, spitzte die Lippen, als wollte sie einen Erdbeercocktail wie in der Werbung schlürfen. Alisa hatte ein ganzes Jahr lang nicht enden wollende Gesangstunden bei dem Typ. Solange, bis Mama ihn nicht mehr sehen konnte oder wollte, was ja dasselbe war.

Alisa sendete ihrer Mutter eine Sprachnachricht. So schnell könne sie doch nicht mitkommen. Sie habe mit Thomas gesprochen. Ihr Partner würde ihr zwar raten, sich auf den Weg zu machen, doch sie habe noch einiges zu organisieren, ehe sie fahren könnte. Sie würde nachkommen.

MONA

Was konnte das sein? Wovon war da die Rede? Was für Briefe hatte Piotr entdeckt? Im Nachlass seines Vaters Dariusz. Sie hatte Piotr eine Ewigkeit nicht gesehen, aber so geheimnisvoll brauchte er trotzdem nicht zu tun. Ob sie die Tochter von Martin Czernowicz sei? Er hätte sie schließlich gleich an ihrer Stimme erkennen können. Jetzt ging es um etwas anderes. Nicht um sie. Jetzt ging es um die Briefe. Papas bester Freund. Könnte interessant sein. Falls sie mehr über ihren Vater erfahren wollte. Ja, falls. Was hatte Papa ihnen allen vorenthalten, vielleicht wissentlich verheimlicht? Richard hatte auch keine Idee. Wie auch? Sie hatte da von seiner Seite gar nichts erwartet. Die Vaterspezialistin oder Expertin war sie selbst. Und sie musste passen. Zu doof.

Mona ging im Zimmer hin und her, was wollte sie doch gleich? Sie rannte in die Küche, holte eine Mandarine aus dem Kühlschrank, schälte sie, pulte die weißen Streifen ab, besah jede Scheibe einzeln, zog noch einmal zarte weiße Flechten ab, schob eine Mandarinenscheibe in den Mund, ließ die anderen auf dem Küchentisch liegen, öffnete in ihrem Schreibtisch die große mittlere Schublade; Papiere und Briefe in Mappen, Datum obendrauf, fünf Mappen lagen übereinander, ewig nicht angesehen, 1980 stand auf der ersten, die sie herauszog. Beim Öffnen der Mappe flog ihr alles entgegen; Briefe, Postkarten, Zeichnungen, alles ergoss sich auf den Parkettboden. Mona griff zwei Zeichnungen und flitzte wieder in die Küche; die Mandarinenscheiben warteten noch auf sie; ein starker Kaffee könnte auch nicht schaden; Landschaftszeichnungen in hellem Blaugrau, Hügel, Baumgruppen, Wolkenhimmel, wo war das? In Vaters geheimnisvollem Polen? In seiner Heimatstadt? Er, ein kleiner Junge, kann man als Junge so schön zeichnen? Nicht als kleiner Junge, als Jugendlicher, seine kleinen Fluchten, sein Von-Zu-Hause-Fort-Sein, Landschaften, die noch genauso waren, würde sie davon was zu sehen bekommen, auf der Fahrt mit Alisa, nein, mit Richard?

Sie besah sich die eine Zeichnung genauer und entdeckte ihren Vornamen unten rechts in der Ecke, ganz klein, genauso auf der anderen Karte, hatte etwa sie selbst das gezeichnet? ‚Ach, du mein Schreck!‘ Ja, natürlich, das war ja sie selbst.

Papa hatte sie so gelobt, jetzt fiel es ihr wieder ein. Er hatte ihr manchmal polnische Lieder vorgesungen, wenn sie zu zweit waren, und hatte mit ihr gezeichnet. Sollte das Polen sein, was sie gezeichnet hatten? Er hatte ihre Hand, in der sie den Stift hielt, geführt. Und sie nachher dann lächelnd mit ihrem Namen signieren lassen. Und dann hatte er gesagt, sie könne so schön zeichnen wie Hanka, überhaupt habe sie Ähnlichkeit mit Tante Hanka. Etwas Schöneres hätte er ihr nicht sagen können, das spürte sie damals.

Tante Hanka. Piotr hatte Briefe von ihr erwähnt. Mona wusste, warum sie jetzt nach Polen wollte. Jetzt oder nie. Im Februar freute sich ihr Chef über jeden Urlaubsantrag. Was war im Gartenbau bei Raureif, Graupel oder Matsch schon los.

RICHARD

Was war das mit Mona? Sie ließ lange nichts von sich hören, seit Vater tot war, die Treffen wurden immer seltener, Mona hatte wenig Zeit – Arbeit, Ehrenamt, politische Aufgaben, Freundinnen und so weiter und so fort. Er rief sie an, immer wieder, dann trafen sie sich, aber eben nur dann.

Nun aber ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter. Lustig. Das würde er nicht gleich löschen. Könnte ein bisschen draufbleiben. Zurückrufen würde er sie, gleich, nach der Tagesschau, dann hatte er Zeit, alle Zeit der Welt.

Es sprudelte aus ihr heraus, Dariusz, der Vater von Piotr, er wüsste sicher mehr über ihn, sicher mehr als sie, sein Gedächtnis, phänomenal, sagte sie; das fand er leider nicht.

Vater hatte von Dariusz gesprochen, das wusste er, jemand in seinem früheren Leben, in seinem polnischen Leben. Alt war er, Vater wäre jetzt 87, kam mit 29 nach Deutschland, dann könnte dieser Dariusz allenfalls ein, zwei Jahre jünger sein, er war ja schließlich mit ihm zur Schule gegangen, und Kontakt mit Jüngeren gab es bei Schulkindern eher weniger, wenn keine Gleichaltrigen verfügbar waren. Man erinnerte sich normalerweise an diejenigen, die eine Klassenstufe höher waren als man selbst. Weniger an die jüngeren. Also, wenn der noch lebte, dann musste der auf jeden Fall jetzt Ende Achtzig sein. Aber hatte Mona nicht auf der Mailbox was von Nachlass gesagt? Von diesem Dariusz?

Und dann hatte sie Piotr erwähnt, natürlich wusste er von Piotr, mehr als er Mona jemals sagen würde.

Liebend gerne würde er mit Mona recherchieren, was es mit diesen Briefen auf sich hätte. Als sich Mona bei ihm gemeldet hatte. Endlich, dachte er, sagte es aber natürlich nicht.

Mona und Richard – als Kinder wurden sie immer in einem Atemzug genannt, dabei waren sie doch über drei Jahre auseinander. Man hätte auch Mona-Richard sagen können oder schreiben, wie in den tausenden von Doppelnamen, noch besser Richard als französischer Nachname, dann verschwände er ganz in ihrem Namen und tauchte doch bei jeder Unterschrift wieder auf.

Ewigkeiten hörte er nicht von ihr, aber das spielte jetzt keine Rolle.

Wenn sie sich sahen, war es wieder Mona Richard, wie immer, ging gar nicht anders. Er würde gleich morgen zum Chef gehen, er hatte noch Urlaubstage, das war kein Problem. Er könnte fahren. Vielleicht brauchte er auch gar nicht die Urlaubstage, er könnte sich kurz auf der Baustelle blicken lassen, wenn dort alles nach Plan liefe, könnte er die nächsten Tage das Weitere elektronisch voranbringen.

Kapitel 2

RICHARD und MONA

Verabredet hatten sie sich am Hauptbahnhof Hannover. Mona kam von Osnabrück, Richard aus Hildesheim dorthin. Natürlich hatte er genug Umsteigezeit eingeplant.

Er kam vierzig Minuten vor Abfahrt des ICE nach Berlin an. Was war daran besonders? Zu früh war er fast immer. Besonders waren nur die vierzig Minuten. Das war ungewöhnlich viel. Richard warf einen Blick auf El País, irgendwas mit Fridays for future, rechtsextreme Bewegungen in halb Europa, für die Reise geeignet, sein Spanisch wollte er schon lange auffrischen, noch was? Ratgeber zum ‚Bei-Sich-Selbst-bleiben’, Reiseführer für Kinder, die gezwungen waren mit ihren Eltern Urlaub zu machen, Ratgeber für Halbstarke – aber so hießen die doch schon längst nicht mehr – und solche für Eltern mit Säuglingen, der siebenundachtzigste Moselkrimi, fleischlos mit Genuss gleich neben Lowcarb mit viel Fleisch, das, was bei den einen eingespart wurde, hüpfte auf den Teller der anderen ... und immer noch zwanzig Minuten bis zur Abfahrt, Mona würde sicher noch auf sich warten lassen; schon stand sie neben ihm, dunkle Jeans und leuchtend rote Jacke, die kannte er noch nicht, er kannte sowieso nicht viel von Mona, jedenfalls nicht von ihrer Garderobe. Sie stand da und lachte: „Willst du jetzt etwa lowcarb machen? Bitte warte damit bis nach der Reise.“ Er lachte auch, dachte an seine gut geschmierten und reichlich belegten Brote, doppelte Portion, Mona würde sicher keine mithaben. Keine Zeit, Mona hatte nie Zeit. „Hast du was gegen Regen mit? Sieht gar nicht so aus.“

„Doch, der Schirm ist in der Reisetasche, und außerdem soll es nicht regnen.“ Wieso konnte sie nicht einfach eine Regenjacke mitnehmen und vielleicht sogar anziehen, so wie andere Menschen auch? Ein Schirm, den sie oft im Hotel ließ, wenn’s drauf ankam; in wie vielen Restaurants sammelten sich Monas Schirme? Und hässlich waren all diese Exemplare, Drogeriemarktware, zum Stehenlassen gekauft, für Achtlosigkeit gemacht.

Richard wollte zum Bahnsteig; doch Mona stand nur deshalb schon neben ihm, weil sie unbedingt noch einen Kaffee brauchte, weil sie ohne den Kaffee unterwegs nur ein halber Mensch war. Außerdem fehlte, das war das Wichtigste, noch ein typisches Mitbringsel für Piotr und seine Kasia. Keine Ahnung, was denen Spaß machen könnte, deshalb dachte sie an deutsches Konfekt, es gab da diesen Süßwarenladen gleich vorne in der Bahnhofshalle –Blumen würden nur vor sich hinwelken, und Wein wollte sie auf keinen Fall, vielleicht tranken sie keinen Alkohol, wer weiß. Ehe Richard was sagen konnte, war Mona schon in den Laden gegangen, er stolperte hinterher; sie richtete gezielt das Adlerauge auf die Schokoladen, Richard den Blick nur auf sie geheftet, zwischendurch auf die Uhr, das Handy zeigte 09:37, also noch zehn Minuten bis zur Abfahrt.

„Dunkle oder helle Schokolade, was meinst du? Mit Alkoholfüllung oder lieber nicht?“

„Nee, lieber nicht.“ Dann hätte sie auch gleich einen guten Wein kaufen können.

„Diese 300 Grammpackung, davon gleich zweimal, oder die anderen mit dem moderneren Design, oder einmal mit heller und einmal mit dunkler Schokolade? Lindt, schweizerisch, ginge das auch?“

Richard war klar, er musste das jetzt abkürzen. Nicht zu grob, aber zögern durfte er auch nicht, noch acht Minuten, der Aufgang zu Gleis 4 war einige Gehminuten entfernt, an der Kasse stand glücklicherweise niemand. „Nimm doch diese avantgardistische Packung, und die zweimal, das passt zu dir.“

„Oh nein, Kasia ist eine Dame; und wir kennen sie überhaupt nicht; das geht glaub ich nicht; das geht höchstens für Piotr.“ Nur noch fünf Minuten; ein Herr näherte sich bedrohlich zielsicher mit seinem gefüllten Süßigkeiten Körbchen der Kasse; Mona stand neben der Kasse, in jeder Hand eine Packung, klassisch oder modernistisch, zögernd, abwägend; in drei Schritten war Richard an der Kasse, sagte im Gehen zu Mona: „Wir nehmen das klassische Konfekt und das modernistische, damit sind wir auf der sicheren Seite.“

Sie erreichten den Bahnsteig, als der Zug einfuhr, Richard mit dem Konfekt in der Hand, mit seinem Rucksack auf dem Rücken, als Erster. Diesmal war es Mona, die folgte, mürrisch, weil es nicht für ihren Kaffee gereicht hatte.

Wagen 23, glücklicherweise nicht weit, Großraumwagen, zwei gegenüberliegende Plätze am Tisch. Richard ließ das Gepäck auf seinem Sitz, reichte Mona die beiden Konfekt Schachteln, stand wortlos auf. Nach fünf Minuten war er mit zwei Kaffeebechern aus dem Bordrestaurant wieder da. Mona strahlte.

Schließlich bekam Mona beim Umsteigen in Berlin dann noch einen Kaffee. Im Berlin-Warschau-Express hatten sie reservierte Plätze in einem Abteil. El País auf dem Klapptischchen. Daneben Apfelscheiben, Mandarinen und belegte Brote auf einem Küchenkrepp. Sie sprachen gleichzeitig, dann abwechselnd und dann wieder lachend gleichzeitig.

Zwanzig Minuten vor Poznań kam Leben in das Abteil. Taschen wurden gepackt, Essensreste und Verpackungen in den Abfall geworfen, Mäntel angezogen und Schals umgebunden.

Recht nett, so ein Abteil, dachte Mona, wie eine kleine Gemeinschaft, aber keine Familie, auch keine Freunde, die Unverbindlichkeit gefiel ihr, sie lächelte der Dame im blauen Kostüm zu. Erst jetzt fielen ihr die Mitreisenden auf. Auch das gefiel ihr an dieser Gemeinschaft, alle hatten an ihrem Geschwistergespräch teilgenommen ohne teilzunehmen. So sie denn Deutsch verständen. Alle würden aussteigen, etwas von ihrem und Richards Leben im Gepäck, kein schweres Gepäck, eher wie ein leichtes Tüchlein oder wie ein sommerliches Parfum, nur eben etwas Neues, etwas, was sie vorher nicht dabei hatten, sie würden es wieder vergessen, morgen schon, oder sie würden am Kaffeetisch zu Hause erzählen: „Ja, ich hatte eine gute Fahrt, ein Paar, so mittelalt, aber vielleicht doch kein richtiges Paar, eher Geschwister, saß im Abteil, die mochten sich, die hatten sich viel zu sagen, es war eine nette Abwechslung auf der Fahrt.“ Ja, vielleicht würden sie das sagen, vielleicht auch nicht.

Richard und Mona packten die ungelesenen Zeitschriften wieder ein, verstauten die Reste vom Proviant in der Tasche und holten die Rollkoffer aus der Ablage über ihren Köpfen.

‚Wie früher‘, ging es Mona durch den Kopf, als sie belegte Brote, Mandarinen und Schokolade wegpackte, wie auf ihren Reisen als Kinder, einmal im Jahr, große Ferien, die ganze Familie mit der Bahn unterwegs, so viele Gummibärchen, wie sie wollten, und Salzstangen in Hülle und Fülle, die Packung riss leicht, dann musste man gleich alle auf einmal essen, die wollten gar nicht mehr in das zerrissene Zellophan zurück. Papa hatte nur gelacht. Zu Hause hätte er geschimpft, beim Zugfahren unterwegs herrschten andere Regeln, oder keine.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Ein Gewimmel und Gewusel auf dem Bahnsteig. Noch ehe sich die Türen öffnen. Dann schieben sich Mona und Richard durch die schmale Gasse, sie schieben sich und werden geschoben. Der Sog zieht sie den Bahnsteig entlang. Vor der Rolltreppe gelingt es ihm, nach links auszuscheren. Mona wird weitergeschoben. Vorbei an Richard, der ihr irgendetwas zuruft und wild gestikuliert. Mit der linken Hand stößt Mona ihren Rollkoffer aus dem Sog heraus, wendet ruckartig ihren Oberkörper zur Seite und macht mit dem rechten Fuß einen riesigen Ausfallschritt in Richtung Richard. Er fängt seine Schwester, ihren Koffer, ihre Umhängetasche und ihre Handtasche gleichzeitig auf.

Sie rühren sich nicht vom Fleck.

Immer noch strömen die Menschen auf die Rolltreppe zu. Inzwischen drängeln auch welche in die entgegengesetzte Richtung, um den Zug besteigen zu können. Dazwischen kleinere Trauben von Abholenden.

Der Bahnsteig ist viel schmaler als alle Bahnsteige, die die Geschwister je gesehen haben. Der Strom in Richtung Rolltreppe lässt nach. Die Trauben der Abholenden werden größer und größer. Sie haben sich mit Ankommenden gemischt, Umarmungen, Küsse, Schulterklopfen – „Wie war die Reise?“ „Nein, wie ist der Junge gewachsen!“ „Ja, wir sind mit dem Auto da, nur ein paar Meter, da drüben. Ihr werdet euch wundern!“ Die Gruppen der Abholenden und Ankommenden lösen sich auf.

Die Geschwister rühren sich nicht vom Fleck. Jetzt ist das Ende des Bahnsteigs zu erkennen. Jetzt steigen die letzten Nachzügler ein und die letzten Grüppchen lösen sich auf. Ein Paar kommt auf die Geschwister zu.

„Darf ich vorstellen, meine Frau Kasia. Gut, dass ihr hier gewartet habt.“ Im Hotel hat Piotr zwei Einzelzimmer reserviert.

„Erholt euch von den Strapazen der Reise. Ich hole euch in zwei Stunden mit dem Auto ab. Wir essen dann eine Kleinigkeit bei uns.“

Richard denkt beim Auspacken, wie schade, er hätte gerne ein Zimmer mit Mona geteilt. Alleinsein möchte er gar nicht.

Mona denkt beim Auspacken: ‚Na ja, das ist für zwei Nächte ganz in Ordnung so; aber danach, wenn Alisa kommt, dann teilen wir uns ein Zimmer, das muss ich gleich unten an der Rezeption klären. Ist ja auf die Dauer zu teuer, lauter Einzelzimmer.‘

‚Hätte ich Doofe doch nicht vorhin im Hotelzimmer die letzten Hasenbrote von der Reise in mich reingestopft. Aber was blieb mir übrig, die lagen ja rum, und ein Kühlschrank war nicht zu sehen.‘ Das ging Mona durch den Kopf, als sie zwei Stunden später mit Richard, Piotr und Kasia am Tisch saß. Eine Kleinigkeit zu essen, so hieß es. Gefüllte Wachteleier, Schafskäsecreme, Lammfilets, Ofenkartoffeln, Rote-Bete-Salat, Kraut-Salat.... Als Kasia zum Nachtisch Eis mit heißen Himbeeren auf den Tisch zauberte, glaubte Mona zu platzen. Der italienische Rotwein verlieh ihr milde Schläfrigkeit. Sie konnte stolz auf ihren kleinen Bruder sein, der lässig die Unterhaltung auf Englisch managte. Mist, sie hätten bei Vater nachbohren müssen, darauf bestehen müssen, Polnisch-Unterricht, wenigstens einmal die Woche, das wäre doch wohl drin gewesen. Vater hatte das nie richtig gewollt, hatte immer gesagt, die polnische Sprache sei die Schwierigste auf der ganzen Welt. Dann hatten sie sich beide geärgert und gemeint, er traue ihnen wohl nichts zu. Dann hatte er umgelenkt und gesagt, es nütze ihnen doch viel mehr, wenn sie Englisch und Französisch und vielleicht noch Spanisch lernen würden. Irgendwann hatte er gemeint, selbst Russisch zu lernen sei sinnvoller als sich mit Polnisch zu quälen. Irgendwann hatten sie aufgehört, ihn zu bedrängen und hatten die Lust dran verloren. Das fiel Mona bei Tisch alles wieder ein. Warum nur hatte Vater nichts davon wissen wollen? Heute würde er damit nicht mehr durchkommen. Heute war Mehrsprachigkeit schon bei Säuglingen angesagt. Später hatte sie dann doch Polnisch gelernt. Davon wusste Vater nichts. Sie lernte schnell, so verliebt war sie damals. Doch daran wollte sie jetzt lieber nicht denken. Sie ließ sich noch Wein nachschenken. Würde Vater, der Mehrsprachige, verstehen, was hier abging? Wahrscheinlich wäre er wütend, nach allem, was er jahrzehntelang verheimlicht hatte. Würde er verstehen, dass sie was wissen wollten von seinem früheren Leben? Dass sie nicht einfach so weitermachen konnten als wäre nichts gewesen? Nein, er würde nichts verstehen wollen, er würde schweigen und irgendwann wortlos vom Tisch aufstehen und gehen. Einfach gehen.

In Monas Kopf drehte sich der Rotwein und verhalf ihr zum Sprechen. Plötzlich war Polnisch gar nicht mehr so schwer. Die Briefe? Ja, natürlich waren sie deswegen gekommen. Ja, gerne nähmen sie gleich die Stapel mit. So schwer zu verstehen wäre das sicher nicht. Sie könnten ja schon mal anfangen zu entziffern. Richard staunte über seine Schwester.

Natürlich begleiteten die höflichen Gastgeber sie zu Fuß zum Hotel. Richard hatte gesehen, wie es um seine Schwester stand. Er reichte ihr den Arm, sie hängte sich ein. Der Weg war nicht lang.

Piotr und Kasia schlugen ein Treffen am übernächsten Tag vor. Wenn auch Alisa angekommen wäre. Dann könnten sie gemeinsam über die Briefe sprechen. Er hatte einen Bekannten, fast zweisprachig. Der könnte ihnen helfen, sollten sie mit den Briefen nicht weiterkommen. Er könne zwar Deutsch, aber so sicher sei er doch nicht darin, meinte er. Vielleicht besser, der Bekannte käme dazu. Und in der Stadt wollte er ihnen alles Mögliche zeigen.

Richard begleitete Mona bis zu ihrem Zimmer; wartete, bis sie den Schlüssel aus ihrer Tasche hervorgekramt hatte, aufgeschlossen hatte, ein paar Schritte gemacht hatte und sich aufs Bett fallen ließ. Mit Mantel, Schal, Umhängetasche. Darin waren alle Briefe.

ALISA

Ist denn das Geld so knapp? Wofür hebt sie es auf? Hortet es? Für das, was ein Zimmer in, sagen wir mal, Düsseldorf kostet, kannst du hier eine Woche ins Luxushotel mit Sauna und Pool. Oder sogar zwei. Aber das ist ihr wohl egal. Schnäppchen machen lautet das Motto, das über allem schwebt. Das kleinste Zimmer, kein richtiger Schrank, nur so eine Ablage und ein paar Kleiderhaken und insgesamt vier Kleiderbügel für zwei Personen, ein winziges Duschbad mit einem Puppenwaschbecken, in dem es nichts gab, um die notwendigsten Kosmetikartikel abzustellen; die absolute Krönung war aber das Doppelbett, das seinen Namen nicht verdiente, das vielleicht für anderthalb Personen richtig ist, für Liebespaare in den ersten Wochen ihres Honeymoons, für ausgemergelte Personen mit Streichholzärmchen und ebensolchen Beinchen. Und da drin sollte sie nun mit ihrer eigenen Mutter liegen? Seit zwei Stunden waren sie in diesem Quartier, das man Hotelzimmer nennen sollte; dreimal vierundzwanzig Stunden sollten sie noch bleiben; wenn sie nur genug zu tun hätten, dass sie so wenig Zeit wie irgend möglich von diesen dreimal vierundzwanzig Stunden in der Absteige verbringen müssten; die Nächte ließen sich nicht umgehen, da ließ sich nichts machen. Mama hatte gesagt, hier könne sie sich mal so richtig erholen, ohne Jonas, ohne nächtliche Unterbrechungen. Nein, schließlich würde sie gar nicht erst einschlafen können.

Vielleicht war es gar nicht der Geiz. Möglicherweise steckte der neueste Guru, Heiler, Seelenflüsterer von Mama dahinter.

„Du brauchst die Nähe mit deiner Tochter, die physische Nähe, nur so könnt ihr euch auch seelisch wieder annähern, nur so kann es dir gelingen, wieder eins mit deiner Tochter zu werden; eure Heilung liegt in eurer Zweisamkeit, diese Reise, die ihr antreten werdet, ist eure Chance, ihr werdet beide gestärkt, gereift, geläutert daraus hervorgehen.“

Und warum hatte sie, Alisa, sich das bieten lassen, sich nicht gewehrt? Stumm war sie geblieben, als Mama ihr am Telefon von der Buchung zum Schnäppchenpreis erzählt hatte, stumm war sie, als Mama das Doppelzimmer erwähnt hatte, kein Wort hatte sie herausgebracht, als Mama betont hatte, wie gut ihnen beiden diese Zeit tun würde. Ihre Kehle wie zugeschnürt. Kein Sterbenswörtchen. Kein noch so zaghafter Protest und natürlich auch kein Dankeschön. Einfach nichts.

Na ja, ein bisschen gewehrt hatte sie sich ja schon, wenn sie ehrlich war. Sie hatte Mama das mit dem Schnäppchenpreis vermiest, als sie ihre erzwungene Zusage schnell rückgängig gemacht hatte. Als sie dann für sich alleine gebucht hatte, für zwei Tage später. Das war ganz gut gewesen. Ein Punkt für sie. Die Notlüge als Begründung machte den Punktgewinn gleich wieder zunichte.

Und warum hatte sie nicht Jonas mitgenommen? Dann hätte sie wenigstens ihn hier gehabt, hätte was zu tun gehabt, hätte nicht so doof hinterherdackeln müssen; hätte nicht gehört: „Ach wer ist das? Ach so, deine Tochter“, gut gehen musste es ja, dabei war doch das einzige Wort, das man sich gut merken konnte das źle, sie zog das źle in die Länge und fand, es klang so richtig schlecht, viel schlechter als das deutsche schlecht; durfte man aber hier auf keinen Fall sagen, nie und nimmer. Und das war ja erst der Anfang gewesen. Bisher hatten sie nur Kasia getroffen, die zur Ankunft ihres Zuges am Bahnhof aufgetaucht war.

Jonas blieb gerne mit Thomas, Thomas blieb gerne mit Jonas; Thomas hatte gleich gesagt: „Mach diese Fahrt mit deiner Mutter, mach es für dich, das wird euch guttun. Und lass deine Mutter ruhig vorfahren, fahr du hinterher, und dann wirst du sehen, du wirst es nicht bereuen.“

Ach ja, Thomas und Mama, das ging gut, hätte er mal fahren sollen, hätte er mal das Alltagsgesicht von Mama erlebt, die zusammengezogenen Lippen, wie von einer dünnen, festen Schnur, zwischen den Enden der Schnur Platz für ein spitzes Lächeln, ein Zusammenziehen der Mundwinkel, besser könnte man Ironie – oder war es Sarkasmus – nicht an der renommiertesten Schauspielschule lernen, vielleicht hätte ihn ja noch nicht mal das gestört, sein verklärter Blick auf Mama; wenigstens hätte Mama dann tiefer in die Tasche greifen müssen, hätte zwei Einzelzimmer buchen müssen; na ja, und dann hätte das Experiment ja auch wieder nicht geklappt, das richtige, echte Alltagsgesicht hätte Thomas doch nicht gesehen, das kam ja nicht im Frühstücksraum zu Tage, geschweige denn bei der Einladung zum Tee.

Alisa spannte die Beinmuskeln an, sie krampfte sich mit angespannten Beinen an der rechten Bettkante fest; jetzt zog sie auch den Bauch und den Nabel fest ein. „Bis zur Wirbelsäule hochziehen“, wie die Trainerin im Fitnessstudio sagen würde, so rutschte sie wenigstens nicht in die Bettmitte. Wann hatte sie zuletzt auf so einer miesen Matratze gelegen? Ausgeleiert, ausgelegen, durchgelegen, ohne Muskeltraining trafen sich die Körper unweigerlich in der Mitte, ekelhaft, dann schon lieber die Bettkante, die sich ins Fleisch bohrte, jedenfalls, wenn man wie Alisa schon mindestens zwei Stunden so lag.

Überhaupt, Thomas, der immer mit seinem grenzenlosen Verständnis für jeden, das sogar für Mona reichte: „Sie weiß es nicht besser, schau sie dir doch mal an, überleg mal, Mona und ihre Mutter…“

„Aber die kennst du doch gar nicht.“

„Nein, aber die Bilder, die kenne ich. Wie soll sie Mütterliches geben, wenn sie es selbst nicht bekommen hat?“

„Ach hör auf mit dem transgenerationalen Kram, wie soll ich denn dann nur ein Fünkchen mütterlich sein, dann sag doch gleich, dass keine in unserer Familie...“ Spätestens dann war der Moment gekommen, an dem Thomas ihre Hand nahm, ihr leicht über den Handrücken strich, „meine Alice, meine süße Alice“, murmelte, und wenn Jonas sich nicht dazwischen gedrängelt hätte, dann hätte er den Tag mit ihr verstreichen lassen, als sei es ihr erster oder ihr letzter gemeinsamer, auf jeden Fall ihr bester gemeinsamer Tag.

Ein bisschen gefreut hatte sie sich auf die unverhofften, freien Tage, auf Polen, und auf das Treffen mit diesem Piotr. Der war ihr damals sympathisch gewesen. Ein netter Typ. Hatte Mama mal wieder nichts von mitbekommen. Die hatte so von Piotr geredet, als würde Alisa ihn gar nicht kennen. Egal, Mama in ihrem eigenen Film. Wollte ihr die Welt erklären, als sei sie keine drei Jahre alt.

PIOTR

Bis kurz vor seinem Tod hatte Dariusz sich alleine versorgen können. Nur eine Hilfe zum Putzen war einmal die Woche gekommen. Auf Wunsch der Kinder.

Mit einer Erkältung fing es an. Die nistete sich in ihm ein, nicht so, wie er es kannte, der Schnupfen, drei Tage kommt er, drei Tage bleibt er, drei Tage geht er. Diesmal blieb der Schnupfen und lockte Halsschmerzen an, nach einer Woche auch Kopfschmerzen. Der Apotheker riet Dariusz zum Arztbesuch. Er bekam Medikamente und die Maßgabe sich zu schonen. ‚Was ist das mit dem Schonen im Alter?‘, dachte Dariusz und machte sich daran, die Rosen zu schneiden. ‚Wenn man nur noch so wenig Zeit hat wie ich, dann bleibt keine Zeit zum Schonen mehr. Das ist ein Luxus für Junge.‘ Der Schnupfen und die Halsschmerzen blieben. Wenigstens die Kopfschmerzen verschwanden dank der Medikamente stundenweise.

Als Piotr nach zwei Wochen nach Łódź fuhr, um nach seinem Vater zu schauen, war er entsetzt, wie dünn der geworden war.

Piotr schrieb eine Whatsapp-Nachricht an seine Geschwister. „Wir müssen reden.“

Piotr kaufte Lauch, Kartoffeln und Krakauer Wurst. Er kochte eine kräftige Suppe und aß selbst das meiste davon. Dariusz freute sich, dass sein Sohn ihm so etwas Gutes zubereitete, bemühte sich, so viel es ging von der Suppe zu essen, aber das war wenig, es ging nicht anders. Piotr telefonierte lange mit seinen Geschwistern Ewa und Janek. Heimunterbringung? Häusliche Pflege? Einer von ihnen mit unbezahltem Urlaub? Sie konnten sich nicht entscheiden, und Vater wollte nichts davon wissen. Sie verteilten die Aufgaben, er wollte die Heime anrufen, Ewa kümmerte sich um häusliche Pflege. Ukrainische Pflegekräfte sind sehr leicht zu bekommen, wusste sie.

Dann ging alles ganz schnell. Fieber, Lungenentzündung, Krankenhaus. Ein Besuch von Ewa am Krankenbett, ein Besuch von Piotr, da schlief Vater, Piotr holte sich einen starken Kaffee im Krankenhausbistro, als er wieder ins Zimmer kam, lächelte sein Vater ihn an, ohne zu sprechen, das Sprechen strengte ihn zu sehr an; am nächsten Morgen ein Anruf vom Krankenhaus. Das war’s.

Mit der Wohnungsauflösung ließen sie sich Zeit, die Miete war niedrig.

Irgendwann musste es doch sein.

Was blieb, waren stapelweise Bücher und kartonweise Briefe.

Die Bücher schauten sie schnell durch, nahmen sich einige heraus und brachten alles Übrige zur Bibliothek eines nahe gelegenen Altenheims.

Die Briefe nahm Piotr mit nach Poznań.

Geordnete Stapel. Beschriftete Kartons.

Der Briefwechsel mit seinem lebenslangen Freund Martin bis kurz vor dessen Tod knapp drei Jahre zuvor. Den Briefwechsel mit seiner Schwester Małgorzata, ein kleinerer Stapel. Einige Briefe von ihr an Martin. Wie kamen die zu Piotr? Hatte Małgorzata sie ihm überantwortet? Zwecks Reinigung von Erinnerungen?

Auf einem kleinen Karton stand mit Bleistift ‚Hanka‘. Verblichen, aber noch lesbar. Piotr öffnete den Karton, entnahm die Briefe, ungefähr zwanzig, alle in Umschlägen, das Stempeldatum war nicht zu erkennen, nur bei zwei Briefen entzifferte er es, einmal irgendwas mit Februar 1964, konnte genauso gut auch 1966 sein; auf dem zweiten Brief entzifferte er die 1968. Der Absender auf der Umschlagrückseite immer nur ein geschnörkeltes PIEROGI als Großbuchstabe. Er öffnete vier weitere Briefe, alle ohne Datumsangabe der Verfasserin, mit Bleistift fand sich in anderer Schrift eine Jahreszahl. Er las 1970.

Piotr erinnerte sich daran, dass in der Familie manchmal von dieser Hanka gesprochen wurde, als er noch klein war. Er erinnerte sich an die traurigen Stimmen der Eltern, er wusste, dass sie jung gestorben war. Die Stimmen der Eltern viel leiser als sonst, viel tiefer, Mamas Stimme so ähnlich, wie dann, wenn sie beim Spielen mit den Kindern einen Brummbär nachmachte.

Diese tiefen Stimmen waren wie ein Vorhängeschloss, hinter das die Kinder nicht schauen durften, und öffnen ließ es sich schon gar nicht.

Er nahm den kleinen Stapel, ging Richtung Mülleimer und machte kehrt, als er an Mona dachte. Die würde er anrufen, die könnte Interesse daran haben. Schließlich war Hanka die Schwester ihres Vaters gewesen. Schließlich hatte Mona ihm immer erzählt, dass sie leider viel zu wenig über diese früh verstorbene Tante und ihren mysteriösen Tod wusste.

Er scheute ein wenig davor zurück Mona anzurufen, so lange hatte er keinen Kontakt mit ihr gehabt. Die Nummer musste er erst im Internet suchen, sie stand nicht in seinem Adressbuch.

Er hatte die Scheu schnell überwunden, fühlte sich wohl, als er Monas Stimme hörte, wollte in aller Ruhe mit ihr sprechen, und dann, er hatte schon gesagt, dass er Briefe ihres Vaters und den Briefwechsel mit ihrem Vater gefunden hatte, dann hatte er Hanka erwähnt, da spürte er Hektik am anderen Ende der Leitung, dann ging alles ganz schnell. Und so schnell war sie dann auch gekommen. Er hatte Mona angerufen, um ihr seinen Fund bei der Wohnungsauflösung mitzuteilen, er hatte sie und ihre Familie nach Poznań einladen wollen, er hatte nicht mit ihrer Aufregung gerechnet.

Die Briefe hätte er ihr auch schicken können.

Über ihren schnellen Entschluss war er verwundert.

Piotr hatte Mona lange nicht gesehen, zum letzten Mal bei der Beerdigung ihres Vaters. Er war damals zur Beerdigung gefahren, weil er es seinem Vater versprochen hatte. Sein Vater lebte noch, war aber aufgrund einer Erkrankung körperlich zu schwach zum Reisen. Er hatte an dem Tag nicht viel mit der Familie gesprochen, am meisten mit Monas Tochter, einer Enkelin des Verstorbenen. Und beim Beerdigungskaffee hatte er ihr das Geheimnis der Liebe zwischen Martin und Małgorzata anvertraut. Warum? Weil er sie nett fand. Weil sie die Offenste von allen war. Und weil er von Mona und sich ablenken wollte. Es war ihm peinlich gewesen, Mona wiederzusehen. Er wusste nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte.

Kapitel 3

ALISA

Alisa wusste es als Erste. Schon vor dem Frühstück. Aber da glaubte sie es noch nicht. Beim Frühstück zu zweit hatte sie zu ihrem Onkel gesagt: „Die kommt schon wieder, spätestens heute Mittag ist sie wieder da, die will doch hier nichts verpassen. Du kennst doch deine Schwester.“ Am Mittag war Mona nicht wieder aufgetaucht, und abends wollten oder sollten sie sich doch alle mit Piotr und Kasia treffen. Alisa rief Thomas an.

„Mona ist weg!“

„Was soll das heißen?“

„Sie ist weg, sag ich doch.“

„Und wohin ist sie?“

„Ja, wenn ich das wüsste.“

„Was sagt Onkel Richard?“

„Gar nichts.“

„Wie, gar nichts?“

„Ja, einfach gar nichts, er weiß doch nichts.“

„Ihr seid eine komische Familie.“

Alisa brach das Gespräch ab. Dass ihre Familie merkwürdig war, wusste sie auch selbst. Warum hatte Thomas schlechte Laune? Weil sie nicht nach ihm gefragt hatte? Und noch nicht mal nach Jonas?

Nach einem schnellen Mittagessen mit Onkel Richard verzog sie sich. Richard hätte zwar gerne den Nachmittag mit ihr verbracht, hätte mit ihr gemeinsam überlegt, wie das hier alles weitergehen könnte, hätte mit ihr die Suche nach Mona eingeleitet. Das bildete sie sich nicht ein, das sprach aus seinen Blicken, da musste er gar nichts sagen, er war still gewesen. Erst, als sie sich schon bis zum späten Nachmittag verabschiedet hatte, hatte er es gewagt und doch noch mal vorsichtig nachgefragt, ob sie nicht im Hotel bleiben wolle, solange Mona noch nicht wieder da war; er hatte es ihr leicht gemacht zu gehen.

Noch sechs Stunden bis zum Treffen bei Piotr und Kasia. In vier, allerspätestens fünf Stunden müsste sie zurück sein, müsste mit Richard überlegen, was sie Piotr sagen würden, und eine Stunde später entspannt und locker bei ihm zum Essen auftauchen.

Vier Stunden, so lange war sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr ganz alleine gewesen.