Der Friede im Osten. Drittes Buch - Erik Neutsch - E-Book

Der Friede im Osten. Drittes Buch E-Book

Erik Neutsch

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Beschreibung

Was bleibt nur Symbol und worin besteht der tatsächliche geschichtliche Sinn, wenn in den Niederschachtöfen von Eisenstadt »die Feuer verlöschen«? Ein Werk, mit seiner Produktion einst lebensnotwendig für den jungen Arbeiter- und Bauern-Staat, wird »umprofiliert«, verschrottet. Dieser Prozess greift tief in die Schicksale, bis in die intimsten Beziehungen jener Figuren ein, die dem Leser bereits aus Erik Neutschs vorangegangenen Büchern seines großangelegten Romanwerkes »Der Friede im Osten« bekannt sind: Achim Steinhauer und seine Frau Ulrike, Erich Höllsfahrt und Frank Lutter. Und andere treten neu in die Handlung, so der Parteisekretär Kühnau und der Werkleiter Diepold, die, jeder auf seine Art, von den Konflikten bis an die Grenze ihrer physischen Existenz getrieben werden. Überzeugend wird sichtbar, unter welcher Anspannung die Menschen am Ende der fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre um den Aufbau der neuen Gesellschaft kämpfen, wie sie die Macht der Arbeiter und Bauern verteidigen. Dabei erweist sich Erik Neutsch wiederum als ein Erzähler mit großem Atem, Sachkenntnis und geistig-moralischem Anspruch, dem es stets auch auf die »Profilierung« seiner Helden in erregenden Bewährungssituationen ankommt. Das Buch erschien erstmals 1985 im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig. INHALT: Prolog: Zu zweit Teil I: Es wiederholt sich nichts Teil II: Enge und Weite Teil III: Unser Werk

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Impressum

Erik Neutsch

Der Friede im Osten. Drittes Buch

Wenn Feuer verlöschen

ISBN 978-3-86394-399-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 bei Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Prolog: Zu zweit

Es geht in der Menschengeschichte wie in der Paläontologie. Sachen, die vor der Nase liegen, werden prinzipiell, durch a certain judicial blindness, selbst von den bedeutendsten Köpfen nicht gesehn. Später, wenn die Zeit angebrochen, wundert man sich, daß das Nichtgesehne allüberall noch seine Spuren zeigt.

Karl Marx (1868 in einem Brief an Friedrich Engels)

Es brauchte noch lange, fast das gesamte Jahr über, bis Achim auch im Letzten begriff, was mit Ulrike geschehen war. Dann endlich, so glaubte er jedenfalls, gab sie ihm keine Rätsel mehr auf, und es gelang ihm, sich in sie hineinzuversetzen und ihre Welt während ihrer Trennung voneinander so weit für sich zu erschließen, daß sie auch ihm gehörte.

Noch und noch hatte er seine Fragen gestellt. Es war ein Drängen und Bohren, Trachten und Quälen. Was ist gewesen... Warum hast du mir nicht geschrieben... Gab es andere nach mir? Ulrike fügte sich drein mit großer Geduld. Sie antwortete ihm, so gut sie vermochte, spürte jedoch bei jedem Mal, daß er sie morgen wiederum fragen und aushorchen und sie ihm wiederum würde antworten müssen wie am Tage zuvor.

Ihr fiel es leichter, ihn zu verstehen. Studentenzeit! Was war daran denn schon Besonderes, Außergewöhnliches. Jeder besaß seine Chancen, sie selber inzwischen ihre eigenen Erfahrungen.

Oft aber verließen sie tagelang nicht ihre Wohnung, die beiden Mansarden, das Nest unterm Dach, und suchten erstaunt nach Stunde und Datum, wenn sie erwachten und sich wieder berührten, irgendwann in der Nacht und im Sonnenlicht, und schon alles Gefühl für Maße und Grenzen, erst recht für etwas wie Anfang und Ende verloren hatten. Zwei verzauberte Seelen! Sie lasen gemeinsam Romain Rolland. Die Uhren waren längst stehengeblieben, und Liebende sind ohnehin egoistisch (höchstenfalls füreinander empfänglich). Sie stürzten sich tief ineinander, umschlangen, verkrallten sich, mit Seufzern und Küssen und den unzähligen Erfindungen ihrer Leiber. Wie Bäume waren sie dann im Sturm, deren Äste und Zweige sich gegenseitig peitschten. Danach aber, nach der gestillten Gier, lagen sie Mund an Mund, hörten ihr Blut pulsen, zählten ihre Atemzüge und die Schläge ihrer Herzen. Dann war es, als würden sie weit von hier fortgetragen, im Halbtraum vielleicht, im Dämmer, als dehnte sich vor ihnen der unendliche Raum. Sie genossen dieses Gelöstsein, die Schwebe zwischen Ermattung und erneutem Verlangen. Bis die Glut wieder aufbrach und sie entfachte, der leiseste Windhauch bereits genügte, ein zärtliches Tasten, die kleinste Bewegung von ihm zu ihr...

Manchmal half die Nachbarin ihnen mit Einkäufen, hängte ein Netz mit Brötchen an die Tür und stellte zwei Flaschen mit frischer Milch vor die Schwelle. Kehrte sie abends jedoch aus der Schokoladenfabrik zurück, fand sie nicht selten beides noch unberührt.

Vorsichtig klopfte sie an. Es mußte sie doch der Hunger plagen! Die Klinke gab nach. Die Nachbarin trat in den Korridor. Auch die Zimmer waren nicht abgeschlossen. Aber nur Ulrike vernahm die Geräusche. Sie erhob sich über ihm auf der Couch. Ihr Blick schien jedoch weit entrückt. Ihre Augen spiegelten Erschrecken und Wollust, Empörung und Triumph. Schließlich lächelte sie, wandte sich ihm wieder zu und schämte sich offenbar nicht einmal ihrer Nacktheit.

Später entschuldigte sie sich.

"Ach, laß man sein, Kindchen", entgegnete die Nachbarin. "Tobt euch nur aus. Bei uns war es nicht anders."

"Vier Jahre, jeden Tag, jede Nacht hab ich auf ihn gewartet."

"Ja. Aber ihr müßt auch wieder vernünftig werden. Fahrt euer Heu nicht schon ein, wenn es noch naß ist."

Hin und wieder (und wirklich nur hin und wieder) fragte Achim Ulrike, wie alles geschehen sei, damals, nach seinem letzten Besuch in der Klinik, als er gekommen war, um sie abzuholen, statt ihrer jedoch in dem Krankenbett nur ein altes Mütterlein angetroffen habe.

Sie küßte ihn. Und was wäre ihr sonst für eine Entgegnung geblieben?

Die Mutter hatte ihr bereits einen Koffer mit Kleidung gebracht und fuhr tags darauf in Begleitung Ingeborgs mit einem Auto vor, an dessen Steuer ein Chauffeur saß. Ulrike glaubte zunächst, es sei ein Taxi, und zweifelte keinen Augenblick, daß sie nun wieder in Bad Solau, in der Villa der Frau von Pfuel wohnen würde. Alle Schmerzen, alle Bitternis ließ ich hinter mir, und nicht einmal mein kurzes und dünn gewordenes Haar störte mich noch.

Neben der Schwester im Fond, schloß sie die Lider und lehnte sich glücklich mit den Gedanken an ihn, Achim, zurück ins Polster. Ein wenig erschöpft aber war ich wohl ebenfalls.

Doch dann, nach halbstündiger Fahrt, als sie zum ersten Mal am Straßenrand Schilder mit fremden Ortsnamen auftauchen sah, wurde sie mißtrauisch.

Die Mutter entschloß sich zu einer Erklärung. Bereits nach Weihnachten hätten sie, Ingeborg und der Vater den Wohnsitz gewechselt. Die Luft im Erzgebirge sei Medizin für sein Asthma... Eine fadenscheinige Begründung, wie sich später herausstellte. Es war allein die Angst vor dem Gerede der Leute, die sie von Graubrücken forttrieb, die Furcht vor der Schande, in die Ulrike, wie sie meinten, die Familie gestürzt habe.

Sie aber dachte: Und wenn sie mich bis ans Ende der Welt verschleppen, er wird mich finden. Ich schreibe ihm meine Briefe, und alles wird gut.

Das Dorf bestand im wesentlichen (womit es der Regel für seinesgleichen in dieser Landschaft folgte) aus einer langgestreckten, sich dem Tal und den Hängen in sanften Windungen anpassenden Hauptstraße, von der nur ein paar steinige, jedoch ungepflasterte, sich bald in Wiesen und Felder verlierende Nebenwege abzweigten. Hier wurden die Häuser immer kleiner und hutzliger, die Bewohner darin von Tür zu Tür ärmer. An der Straße hingegen, besonders im oberen Teil, der hügelan führte, befanden sich die Grundstücke der wenigen Reichen, und als deren wuchtigstes, gleich mehrere Gebäude umfassend und nur noch überragt von der Kirche, beherrschte der Besitz des Bürstenfabrikanten Kilian den Ort.

Als Ulrike dort einzog, war sie knapp neunzehnjährig und, was viel schwerer wog, von der reinsten Naivität. Sie ahnte nicht im entferntesten, was auf sie zukommen würde. Sie wunderte sich nicht einmal darüber, daß bereits am Tage ihrer Ankunft die neuen Verwandten sich mit Christus und seinen Jüngern, besonders dem Johannes, so angeregt unterhielten, als säßen sie mit ihnen bei Tische, und den Propheten Elias sogar zum Abendbrot einluden. Ähnliches, wenngleich nicht mit solch okkultistischem Aufwand, war sie ja von Hause gewöhnt.

Hinter dem mehrstöckigen, mit einem steilen Schieferdach und zur Straße hin mit sechs Fenstern in jeder Etage gebauten Wohnhaus ihres Onkels (den sie so nennen mußte, obwohl er nicht einmal von seiten ihrer Mutter den Namen Großcousin verdient hätte – aber er war ihrer aller Wohltäter) lagen auch ein Hof und ein Garten und auf der Grenze zwischen beiden ein Gatter, das ein junges Reh in Gefangenschaft hielt.

Ulrike freundete sich schnell mit ihm an. Sie reichte ihm täglich Futter. Es war so zahm, daß es die Nahrung, Heu aus einer Raufe, Rüben und gestampfte Kartoffeln, auch Moose, Flechten und Gräser, die bereits unter dem Schnee hervorsproßten, aus ihrer Hand nahm. Um so erstaunter war sie, als das Reh eines Morgens entlaufen schien und für immer verschwunden blieb.

Das geschah zu Ostern, Anfang April. Seit einem Monat weilte sie nun in dem Dorf. Die Tante (des Onkels Schwester), die Mutter, Ingeborg und weit über tausend andere Leute aus der Umgebung wallfahrteten nach einem Ort, der sich auf einem Berg hoch über der Landschaft erhob.

Ich verstehe dich nicht, sagte Achim, wir hatten uns doch versprochen, mit Schwüren und Küssen, uns nie voneinander zu trennen!

SIE HATTEN EINEN TEMPEL. Ich mußte schwarze Strümpfe tragen...

Ihr Onkel, wie sich nun während des Festes herausstellte, war das Haupt einer Sekte, die sich "Gemeinde von der Wolke der Zweitausend" nannte, und ließ sich mit Bruder und dem Titel Oberwächter anreden.

Die Leute, Männer und Frauen, Greise und Kinder, wanderten den Berg hinauf mit Rucksäcken, die, nach ihren eigenen Wünschen und Angaben von den Sattlern der Gegend extra für sie gefertigt, die normalen Maße oft weit überschritten und in die sie getrocknetes Brot, Reis und neuerdings auch Konservenbüchsen mit Etiketten amerikanischer Firmen getan hatten. Es sollte ihre Wegzehrung sein für den Fall, daß zum Jüngsten Gericht gerufen würde, womit sie noch zu ihren Lebzeiten rechneten.

Dann nämlich würden nur sie, die wahren Christen, vom Heiland gerettet. Ihrer würden nicht mehr sein als zweitausend (und warum sich das Heilswunder gerade auf diese Zahl beschränkte, wußte Ulrike bis heute nicht). Eine Wolke, weiß wie ein Segel, nähme sie auf und entrückte sie auf eine ferne Insel der Erde. In den Stillen Ozean vielleicht, wo es mehrere davon gibt. Nach Tahiti oder einem anderen Eilande Cooks, des Weltumschiffers... Dort könnten sie dann unbesorgt abwarten, bis die übrige, sündenbeladene Menschheit von der neuerlichen Sintflut verschlungen und in die Hölle gestürzt sei. Wie gern hätte ich einmal bei dieser Gelegenheit unter Bambusstauden und Palmen am Strand der Südsee gebadet.

Jetzt machst du dich lustig darüber, Ricke...

Damals jedoch, als ich von diesen Plänen erfuhr, war mir keineswegs danach zumute.

Damals mußten es stets zweitausend gläubige Seelen sein, die die Sekte umschloß, keine mehr und keine weniger. Erst wenn jemand starb, konnte ein anderer an seine Stelle treten. Offenbar war die Wolke von ihrem Gründer selbst konstruiert worden, gehorchte physikalischen Gesetzen und besaß ihre statischen Schwachpunkte. Für mich jedenfalls war noch lange kein Platz frei. Ich gehörte ja auch zu einer Art Aussätziger. Ich hatte ein Kind abgetrieben, ein uneheliches, gegen Gottes Gebote verstoßen, und da nur die Unberührten, die Jungfrauen, die Unverheirateten, Jugend genannt, gleich ob sie achtzehn waren oder achtzig, sich in Weiß kleiden durften, mußte ich schwarze Strümpfe tragen.

Mit dem Pfarrer im Ort lebten sie in Zwietracht. Zwar fühlten sie sich der evangelisch-lutherischen Kirche ebenfalls zugehörig, empfanden sich aber zugleich als Bevorzugte, als die einzig Auserwählten. Kompliziert wurde es für die Wolke der Zweitausend allerdings, nachdem einige ihrer Mitglieder das Dorf und andere von ihr beeinflußte Gemeinden verlassen hatten, manche sogar bis nach Australien und in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren. Die schickten zwar Care-Pakete, jedoch Bruder Oberwächter, dem es stets um die volle Auslastung seines himmlischen Flugkörpers ging, hatte nun alle Mühe, über ihr sonstiges Tun und Treiben genaue Informationen einzuholen. Früher war das viel einfacher gewesen, zumindest was die exakte Buchführung betraf. Jetzt aber erreichten ihn die Abmeldungen von jenen, die in der Fremde verstorben waren, oft nur mit beträchtlicher Verspätung. Die Wirren der Welt, klagte er, brächten eben auch die heilige Ordnung der Wolke in Gefahr, und das sei ein untrügliches Zeichen dafür, daß die Herrschaft des Antichrist begonnen habe.

Von Mal zu Mal jedoch rückte auch Ulrike auf der Passagierliste weiter nach vorn. Ihre Anwärterzeit schien sie fügsam und fromm nahezu wie ein alttestamentarisches Lamm zu durchlaufen, wenngleich es ihr manchmal an der nötigen Konsistenz noch mangelte. So schrieb sie zum Beispiel Briefe an ihren Verführer. Doch vielleicht konnte man ihr das, zählte sie erst zum Kreis der Auserwählten, ebenfalls abgewöhnen. Zum Tanze, dem Satanswerk, wie einst in Graubrücken, lockte es sie schon seit ihrer Ankunft nicht mehr, und auch nach anderen Vergnügungen, Radiomusik und Reisen in die benachbarten Städte, die Baalsgründe der Wismut, spürte sie kein Verlangen. Natürlich wachten auch Ingeborg und die Mutter darüber. Sie nahmen ihr Diakonissenamt jederzeit ernst, halfen ihr, der Gefallenen, doch sichtlich Genesenden, freundlich und fest im Glauben und galten bald als zwei der treuesten Schwestern. Vor allem Zeitungen kommen uns nicht ins Haus. So sprach und mahnte der Onkel. Politik ist weltlich. Unseres aber ist das Ewige, das Göttliche. Wir haben uns nicht mit den Nationalsozialisten gemein gemacht, also werden wir es auch mit den Kommunisten nicht tun.

Er war der Nachfolger seines Vaters. Und der, ein Roßhaarhändler, hatte bereits während des Ersten Weltkrieges in einem Frontlazarett die Bibel ausgelegt. Ein Tag in der Schöpfungsgeschichte sei nach der heutigen Zeitrechnung nur mit einem Jahrtausend vergleichbar. Sechstausend Jahre also sei inzwischen die Erde alt, und nun befinde sich die Menschheit im siebenten Tag. In ihm würde die Errettung des Geschlechts der wahren Christen erfolgen. Es sei ein Kampf auf Leben und Tod. Denn auch der Antichrist verstärkt jetzt seine Kräfte, so daß alle anderen Religionen dem Worte Gottes lästerten, abtrünnig würden und zerfielen. Nur wenige blieben davon verschont, und allein durch seine, Vater Kilians Erleuchtung habe der HERR sich entschlossen, seine schützende Hand über das südliche Sachsen zu breiten.

Man müsse ihm nur vertrauen, sich einen unbeirrbaren Glauben anschaffen und Rucksäcke, groß genug, um mit der Verpflegung für zehn oder vierzehn Tage darin die Reise in die Ewigkeit überstehen zu können.

Nicht wenige bauten darauf. Sie sahen ein neues Licht für sich flackern, eine winzige Hoffnung auf ein nicht gar so karges Dasein wie bisher. Denn das Elend war groß im Gebirge.

Zu Ostern pilgerten sie auf den Berg. Dort stand ihr Tempel, die ELIAS-BURG, wie mächtige Lettern aus leuchtendem Messing an seiner Stirnseite verkündeten. Architektonisch war es ein seltsamer Bau. Aus gelben Backsteinen errichtet und mit hohen Fenstern ringsum versehen, wirkte er halb wie eine Turnhalle aus der Zeit der Jahrhundertwende und halb wie der Torso einer Kirche, da ohne den dazugehörigen Turm. Statt seiner, turmhoch eben, erhob sich über dem Giebel ein schlichtes und schlankes Kreuz, ebenfalls aus Messing und offenbar nur dem Himmel verpflichtet. Vor dem Tempel befand sich die letzte Ruhestätte seines Gründers, des alten Kilian. Die Menschen standen in Schlangen davor an, verbeugten sich tief vor dem Grab, versammelten sich dann und beteten zu den Gesängen eines Chores um ihre Erlösung...

Unwillkürlich wurde Achim an seine frühe Begegnung mit Ludwig Maier erinnert, dem Zeugen Jehovas. Doch für ihn war es nur eine Episode gewesen, die, dachte er heute über sie nach, Abscheu einflößte.

Und bei alledem hast du stillgehalten, fragte er, mitgemacht wie – nun, wie ein Opferlamm eben? Ulrike! Warum bist du nicht einfach davongelaufen, ausgerissen wie das Reh aus dem Gatter?

Wenn du recht hättest, wäre ich jetzt bei dir?

Sie sah, daß es noch Wochen und Monate dauern würde, bis er sich, wenn überhaupt, in ihre Lage würde hineinfinden können.

Du warst doch früher nicht so, so – auf Gott versessen.

War ich es denn? Und außerdem: Damals hatte ich dich, auch die Schule, vor allem aber wohl dich. Doch hier? Begreifst du denn nicht... Ich war noch geschwächt, auf die Hilfe der anderen angewiesen, und zunächst tröstete mich auch der Gedanke, nein, die feste Gewißheit, wir würden uns wiedersehen. Bald aber, je weniger Aussicht darauf bestand, quälte es mich um so mehr und bestärkte nur meine Niedergeschlagenheit. Manchmal bereute ich schon, daß ich noch lebte und mich nicht im Morphiumrausch davongestohlen hatte. Was für ein schöner Tod wäre das gewesen. Das alles schrieb ich dir in meinen Briefen, heimlich, nur mit Ingeborg als meiner Vertrauten, wobei sie nicht selten mit mir um die Wette heulte. Du warst ihr nicht gleichgültig, und um mich, als ich in der Klinik so nahe am Sterben war, hat sie nicht weniger gebangt und gelitten als du. Irgendwie, glaube ich, liebte sie mich, sogar sehr leidenschaftlich, und alles, was später von ihr ausging, war nur ein Umbruch ihrer Gefühle, rührte her von der Enttäuschung, daß ich ihr nicht versprechen konnte, wie unser Zimmer zugleich auch mit ihr ihren Weg zu teilen.

Ja, ich nehme sie in Schutz. Sie und meine Mutter wollten für mich das Beste, jedenfalls das, was sie darunter verstanden. Ihre Sorge um mich war ehrlich. Im Sommer, kaum daß ich es aufgegeben hatte, dir zu schreiben, befiel mich erneut eine Krankheit, die Osteomyelitis, wie die Ärzte sie nannten, eine Knochenmarkentzündung, Folge der Vergiftung, die ich mir – na, du weißt schon – nach dem Kind zugezogen hatte. Sie schnippelten an mir herum, meißelten mein Schienbein auf, wo der Abszeß sich gebildet hatte, und wiederum wurde mir Penicillin gespritzt, und wiederum mußte ich lange das Bett hüten.

Von ihrer Krankheit hatte er erstmals geahnt, nachdem sich Ulrike mit Kisten und Koffern bei ihm einquartiert, vor ihm gestanden und sich gewaschen hatte. Sie setzte ihren linken Fuß auf einen Schemel und frottierte sich. Dabei fiel sein Blick auf die Narbe. Knapp über dem Knöchel beginnend, furchte sie etwa eine Messerklinge breit und hoch ihre Haut, leicht violett gefärbt und mit weißlichen Streifen, den Spuren der Nähte.

Er war betroffen gewesen. Aber sie nach dem Grund ihrer Verletzung zu fragen, wagte er nicht.

Ingeborg pflegte sie, und eine aufmerksamere Krankenschwester als sie hätte sie sich nicht wünschen können. Als ihre Genesung voranschritt, saßen sie sich oft gegenüber, sie auf dem Bettrand, Ingeborg auf einem Stuhl, und sprachen, debattierten – was sonst – über Gott und die Welt.

Sie sagte: "Bis an mein Lebensende halte ich's hier nicht aus. Oder bist etwa du von den religiösen Grundsätzen in diesem Haus überzeugt?"

Ingeborg verschloß ihr sanft mit den Fingerspitzen die Lippen. Sie sollte schweigen. Erst nach einer Weile, in der sie wie abwesend aus dem Fenster und in eine weit dahinterliegende Ferne geblickt hatte, entgegnete sie:

"Es ist mit Vernunft nicht zu fassen, Schwesterchen, und weder ein Gegenstand der uns anerzogenen Begriffsstutzigkeit noch des Denkens. Das alles ist viel zu menschlich und steckt voller Irrtümer. Es ist eine Herzenssache. Du mußt glauben. Und hast du dich dazu erst einmal durchgerungen, wirst du spüren, wie sich alles um dich her verklärt, vergoldet und wie in dir selber nur noch das Licht der Ewigkeit, auch des ewigen Lebens strahlt."

Nein, solche Empfindungen gelangen ihr nicht, obgleich sie sie manchmal bereits erzwingen wollte, sich alle Mühe gab zu glauben und sich danach um so mehr ihrer Unfähigkeit wegen bedauerte. Sie würde wohl nie zu den Auserwählten gehören.

Als sie dann wieder gehen konnte, wenigstens das mit höchstem Genuß, schon über die Straße und in die Geschäfte des Dorfes lief, um einzukaufen, wurden ihr größter Greuel die schwarzen Strümpfe. Absichtlich zerriß sie sich ein Paar nach dem anderen an Rosenbüschen und Zäunen, um sie nicht länger tragen zu müssen. Doch es nützte nichts. Das Erzgebirge war des lieben Gottes unversiegbarer Quell der Strumpfwirkerei. Tante Malwine unterhielt überallhin Beziehungen, schaffte nach jedem Fetzen ein neues Glanzstück aus Seide herbei, bis schließlich die Mutter Ulrike deren angebliche Ungeschicktheit nicht mehr abnahm und mit ihr ins Gericht ging.

Da aber stellte sich Ingeborg noch schützend vor ihre Schwester. Im selben Augenblick warf auch sie ihre Strümpfe den Dornen im Garten zum Fraß vor.

Eines Tages jedoch – nein, laß mich nachdenken und genau sein –, an einem Sonntag im Frühling war es, dem Exaudi des darauffolgenden Jahres, da traf etwas ein, das sich wie ein Unwetter über dem Dorf entlud. Wie Hagelschlag die Baumblüte zerstörte es dessen Abgeschiedenheit und Stille.

Ulrike war in die Kirche gegangen, sehr zum Verdruß ihrer Mutter, Ingeborgs und, selbstverständlich, auch des Onkels und der Tante Kilian. Der evangelische Pfarrer aber, und zwar mit hochrotem Kopf, hatte damals noch von der Kanzel herab ebenfalls nur gegen den Baalsdienst gedröhnt und nichts Erbauliches an seine Stelle zu setzen vermocht, was sich später freilich änderte.

Die Glocken läuteten zur Heimkehr. Sie war enttäuscht und spürte zu aller Ratlosigkeit auch noch eine tiefe Bedrückung. Denn was würde sie nun wieder erwarten? Eine heuchlerische Freundlichkeit, mit erhobenen Zeigefingern zelebriert, oder doch schon ein Schwall von drohenden Bibelzitaten? Hier wie dort, dieser wie jener – sie malten stets nur den Teufel an die Wand. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Zweiundvierzigster Psalm. Es ist als ein Mord in meinen Gebeinen, daß mich meine Feinde schmähen, wenn sie täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott?

Als sie durch das Portal ins Freie trat, noch benommen und wie auf der Flucht vor dem Dämmer des Kirchenschiffs, mit halbgeschlossenen Lidern ins grelle Sonnenlicht blinzelte, gewahrte sie an dem ungewöhnlichen Lärm auf dem Platz, daß das Dorf von einer heftigen Unruhe geplagt und schon mitten in seiner Empörung war. Gegen was oder wen aber wußte sie zunächst nicht. Später schob der Bürstenfabrikant, ihr Onkel, alle Schuld an der Anstifterei auf den Holzarbeiter Julius Sennwitz, der in einer der ärmlichsten Katen an den Feldwegen wohnte und bereits während der Nazizeit als ein ungehobelter Klotz, ein vaterlandsloser Geselle gegolten hatte. Den haben sie vergessen zu vergasen, mokierte sich der Bäckermeister des Ortes. Pscht, pscht, machte Kilian, die Zukunft sei fortan dein Streben und Leben, nicht die Vergangenheit.

Nur mit größter Mühe hielt sich Sennwitz noch auf den Beinen. Er stand vor einem Lastkraftwagen mit Hänger, fuchtelte mit den Armen, warf seine Fäuste immerzu in dieselbe Richtung und stieß, weithin nach Alkohol stinkend, die unflätigsten Schimpfwörter aus. Auf den beiden Plattformen hockten Jungen und Mädchen in Blauhemden. Hinter der Fahrerkabine, unmittelbar neben dem Holzgasgenerator, waren an Stangen rote Fahnen aufgesteckt. Ein paar Frauen und Männer, meist die als freidenkerisch bekannten Hungerleider des Dorfes, aber nun, nach beendetem Gottesdienst, auch einige Kirchgänger, beobachteten den Tumult wohl eher betroffen und scheu aus neutraler Entfernung.

"Dorthin, dorthin", hörte Ulrike über den Klang der Glocken hinweg den Arbeiter Sennwitz schreien. Von seinen Lippen troff Speichel wie aus dem Maul einer Kuh. "Der vergiftet die Leute. Der beutet sie aus."

"Los jetzt", befahl ein stämmig gewachsener Bursche mit wirren schwarzen Locken und gab dem Fahrer durch das geöffnete Kabinenfenster einen Wink. "Zeig uns den Tempel des Mammons, Jule!"

Ulrike begriff: Die Blauhemden stammten aus der Wismut, dem Uranbergbau unter sowjetischer Verwaltung um die Städte Aue und Schneeberg. Großlettrig prangte der Name unter den Buchstaben SAG an der Wagentür.

Sennwitz lief dem Auto voran. Doch da ihn seine schwergewordenen Füße kaum noch tragen konnten, stolperte er bei jedem Schritt und wühlte schlurfend den Straßenstaub auf. "Kilian! Kilian!" vernahm sie jetzt seine Rufe. "Wir werden dich hängen, hallihallo, hängen!"

In gemächlichem Trab, doch die Augen nun schon voller Neugier und Schadenfreude, folgten auch einige Dorfarme dem Zug, und ihnen nach wiederum, von den Jungen aus der Wismut inzwischen bemerkt, rannte ein recht putzig anzusehendes Ding in schwarzen Strümpfen, grauem Kleid, mit Blondhaar und einem im Nacken nur gewaltsam zusammengebundenen Knoten. Oho! Aha! Pfiffe. "Laß das Gesangbuch nicht fallen, Mäuschen!"

"Knüpft die Ausbeuter an die Laternen! Zieht sie die Lichtmasten hoch!"

Das Glockengeläut verstummte. Für Ulrike war es, als hielte das Dorf jetzt den Atem an. Sie befürchtete für ihre Verwandten das Schlimmste. Totschlag und Mord, Revolution.

Ihr Onkel Hartmut, Bruder Elias, wie er nach Sektenritus zuweilen genannt wurde, erwartete die Störenfriede an der Vorgartentür seines Grundstücks. Da warm die Sonne schien, trug er keine Jacke. Stramm wölbte sich sein Bauch unter einer silbergrauen Weste, die so eng anlag, daß es ihre Knöpfe zu sprengen drohte. Hinter der unteren Fensterreihe des Hauses, in den Werkstätten der Bürstenmacher, rührte sich an diesem arbeitsfreien Sonntag nichts. In der oberen Etage jedoch, wo sich die Wohnungen aller Familienmitglieder befanden, lugte, mit einem Inhaliergerät seinen Husten und seine Erregung bekämpfend, ihr Vater durch den schmalen Schlitz zweier faltenreicher Gardinen. Ingeborg, die Mutter und Tante Malwine, kalkbleich im Gesicht, verharrten steif auf dem Steintritt.

Sennwitz schleuderte seine Flüche und Fäuste gegen sie, geiferte, spie.

Der Lastkraftwagen hielt. Im August, im August blühn die Rosen, sangen die Blauhemden. Dann sprangen sie ab und bildeten einen Halbkreis um den Onkel.

Jener Lockenkopf, der offenbar die Befehlsgewalt über sie hatte, trat vor. "Sie also sind der Bonze, der die Proletarier kujoniert..."

"Der Herr sei mit Ihnen, junger Mann, und verzeihe Ihnen diese infame Verleumdung..."

"Hängen, den Lumpen! Hängen, den Hund!" krähte Sennwitz. Ermunternde Zurufe kamen nun auch aus der Gruppe der Kätner im Hintergrund. Ihm aber versagten in diesem Augenblick die Beine. Er stürzte auf das Pflaster, schlug mit dem Schädel auf die Bordsteinkante, holte sich eine klaffende Wunde an der Stirn und rollte sich mit schmerzverzerrter Grimasse auf den Rücken. Da lag er, die Arme weit von sich gestreckt, mit Blut und Staub verschmiert, wie am Kreuz von Golgatha. "Schnaps", röchelte er, "gebt mir doch Schnaps", und als nichts dergleichen geschah: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen."

"Und mit so einem haben Sie sich verbrüdert?" fragte der Onkel, die Stimme zittrig und voller Ekel. "So höhnt nur ein Übeltäter."

Doch der Anführer der Blauhemden ließ sich nicht beirren. "Räumt ihn weg", kommandierte er kurz, wies flüchtig auf Sennwitz und wandte sich sofort wieder scharf an den Onkel: "Wir sind gekommen, um Sie daran zu erinnern, daß sich die Zeiten gründlich geändert haben und neue Machtverhältnisse im Lande herrschen." Er hob die Hand und schnippte mit den Fingern. Einer aus der Runde reichte ihm einen Schalltrichter, und nachdem er ihn an den Mund gesetzt hatte, begann er eine Rede zu halten, die sich laut und bellend bis tief ins Tal wälzte. Von der Sekte der Wolke der Zweitausend sprach er. Von den raffinierten Tricks der beiden Kilians, Vaters und Sohnes, die sich die Leute mit religiösem Brimborium, Opium fürs Volk, unterwürfig gemacht hätten, um leichter an ihnen verdienen zu können. Als umherwandernde Roßhaaraufkäufer für Bürsten und Besen hätten sie angefangen, doch heute befänden sich in ihrem Besitz mehrere Fabriken. "Jetzt aber ist damit Schluß. Eines Tages werden Sie sowieso enteignet. Bis dahin jedoch, unserem Jüngsten Gericht, fordern wir: gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Entweder Sie zahlen den Frauen und Mädchen das gleiche Geld wie den Männern, entweder Sie lassen in Ihren Betrieben die Gründung von Gewerkschaftsgruppen zu, entweder Sie hören endlich damit auf, sich als Prophet und Wundertäter auszugeben – oder: Wir bringen Sie hinter Schloß und Riegel, Sie biederer Gottesmann, – Sie – Sie Wolf im Schafspelz, Halsabschneider, Sie erbärmlicher Kapitalist!"

Er rang nach Luft und schwieg.

Stürmischer Beifall dankte ihm. Die Jungen und Mädchen johlten und kreischten und sangen wieder eins ihrer Lieder: Dem Morgenrot entgehegen... Dann heulte der Motor auf. Noch immer geleitet von dem betrunkenen Sennwitz, der sich aufgerappelt hatte und nun auf der Pritsche des Lastkraftwagens kniete, zogen sie weiter, die Straße bergab, vor das Haus eines Bierkastenfabrikanten. Bald scholl von dort eine ähnliche Rede herüber.

Ulrike hatte abseits am Zaun gestanden und nicht gewagt, sich an den Reihen der Blauhemden vorbeizudrücken. In ihren Augen gebärdete sich die Menge wie ein wildes, zähnefletschendes Tier, das auf Rache für alle Beleidigungen sann, die ihm Wunden geschlagen hatten. Wort für Wort hatte sie die Drohungen vernommen, und einmal war ihr dabei auch ein erschreckender Gedanke gekommen. Hätte der schwarzhaarige Anführer aus der Wismut nicht ebensogut Achim sein können? Er in seinem furchtbaren Zorn damals auf alle Fabrikbesitzer. Küsse im Regen unter den Säulen des Lindenbads und die Revolutionen... Sein Parteieintritt trotzdem, obwohl sie ihm den Fragebogen zerrissen hatte... Oder hätte er nicht doch ganz anders gehandelt? Ruhiger, nicht friedlicher, nein, aber gelassener? Ohne das Geschrei durch eine Lautsprechertüte wie auf Rummelplätzen?

Der Vater schloß die Gardine. Als sie das Haus betrat, wurde sie reihum mit Vorwürfen empfangen. Evangelischer Gottesdienst und kommunistische Propaganda. Aus beiden töne die Lästerzunge des Antichrist, aber weder gegen das eine noch gegen das andere, sagte Ingeborg, habe sie sich, Ulrike, zur Wehr gesetzt.

Ich war danach so einsam wie noch zu keiner Stunde.

Achim versuchte sie zu trösten. Nun ist ja alles vorbei. Jetzt hast du mich. Obwohl... Seit Monaten sind auch wir beide allein. Wir besitzen keine Freunde, kaum Bekanntschaften. Wir sperren uns ein, als existiere außer uns kein Mensch, kein anderes Wesen, als sei die Welt erloschen. Vielleicht sollten wir das einmal ändern, Ulrike.

Nein. Ich bin glücklich genug. Wir haben unser eigenes Zuhause.

Sie hatte die beiden Mansardenzimmer mit dem winzigen Korridor davor in ein freundliches Heim verwandelt. Nach ihren Wünschen mußte er mit einigem Holz Zwischenwände einziehen, hier das Mauerwerk roh lassen, es dort verputzen und weiß tünchen und wiederum anderswo mit einer Tapete bekleben, die sie ausgewählt hatte. Sie nähte dazu Vorhänge und Stores. Hier schlafen wir, dort wird gekocht und gegessen, und hier lieben wir uns... Jeden Morgen stand sie am geöffneten Fenster, mit dem Blick auf den Dom, und trainierte mit Freiübungen ihren Körper.

Und wie, fragte Achim, ging es dann weiter?

Er dachte: So wie die sich aufführten, waren es bestenfalls Anhänger von Bakunin oder Max Hoelz, Anarchisten, und mit der Politik der Partei hatte ihr Überfall auf das Dorf am wenigsten zu tun. Er irrte sich nicht. Jule Sennwitz und den Schwarzhaarigen, einen Jugendbrigadier, verband seit längerem eine Zechfreundschaft. In irgendeiner Kneipe des Reviers hatten sie sich kennengelernt, mehrmals zusammen getrunken und, angeheizt vom Branntwein des Wirtes und dem noch zusätzlich aus den Manteltaschen geholten Deputatschnaps der Wismut, jene revolutionären Reden geschwungen, in denen gewöhnlich das R doppelt und dreifach gerollt wird. Während eines solchen Gelages hatte sich schließlich der Brigadier den ständigen Quengeleien seines Kumpanen, die Kapitalisten zu hängen, ergeben und mit Handschlag verpflichtet: Das kriegen wir hin, unser ganzer Streb macht sich daraus ein Sonntagsvergnügen.

Im Winter fand man dann beide in einer Wehe am Waldrand hinter Schneeberg, nachdem sie in der Stadt einen Kiosk aufgebrochen und von Alkohol und Tabakwaren geplündert hatten. Im Rausch waren sie vom Weg abgekommen, hatten den Flockenwirbel für die daunigsten Bettfedern der Frau Holle gehalten und sich schlafen gelegt. Ein Schneesturm deckte sie zu. Jule Sennwitz überlebte es nicht. Er war schon erfroren, als ein Polizeihund sie aufschnüffelte.

Ihre Behauptungen aber am Sonntag Exaudi hatten sie nicht aus der Luft gegriffen. Ulrike überprüfte sie heimlich. Denn nachdem sie das Jahr ihrer Eingewöhnung bestanden, stellte der Onkel sie in seinem Kontor als eine Art Buchhalterin an, und dort konnte sie sich Einblick auch in die Geschäftsakten älteren Datums verschaffen. Die Angaben darüber, wie die Kilians an ihren Besitz gelangt und zu Fabrikanten aufgestiegen waren, die neben den Bürstenmachern in ihren Werkstätten noch an die hundert Heimarbeiterinnen in den Gemeinden ringsum beschäftigten, stimmten genau. Zum Gefühl ihrer Einsamkeit beschlich sie nun auch noch Mißtrauen gegenüber der eigenen Familie. Ingeborg und die Mutter, auch ihr Vater mußten von den Machenschaften ihrer sächsischen Verwandten gewußt haben, und wäre es an dem, verzieh sie es vor allem ihm nicht, dessen Gesinnung ihr stets als gerecht und unbestechlich, vor jedem materiellen und geistigen Betrug gefeit erschienen war.

Der Tod von Sennwitz und besonders die kriminellen Umstände, die ihn begleiteten, veranlaßten Gerhard Jaro dann eines Tages zu Äußerungen, die Ulrike sofort in Erregung versetzten und zum Widerspruch reizten. Er fühlte sich noch immer als Preuße, als Offizier, und lebte, was ihm in gewisser Weise wohl auch mit größerem Mut die heimtückische Krankheit ertragen half, in seliger Verklärung von seiner Soldatenehre. Niemandem und nichts gab er schuld an seinem Leiden. Er hatte es sich nun einmal im Krieg geholt, in treuer Pflichterfüllung gegenüber seinem Vaterland.

Schicksal – so lautete sein Beschluß. Und obwohl er sich mit dem Onkel darin keineswegs einig war, sich auch sonst mit ihm stritt, sobald das Gespräch die Religion und andere transzendente Dinge wie etwa die Wolke der Zweitausend anrührte, hatte er ihm dennoch, als die Blauhemden vor sein Haus gezogen waren und ihm mit Enteignung gedroht hatten, zur Seite gestanden und damals bereits die Kommunisten verflucht. Nun erklärte er, nachdem Ingeborg während des Abendbrots die Nachricht sozusagen brühwarm mit der Suppe serviert hatte:

"Daran sieht man, wozu dieser Pöbel taugt. Trunkenbolde und Diebe, Totschläger und Zuchthäusler sind es, die unser Volk jetzt regieren. Wohin soll das alles noch führen? Das größte Unglück für unser Land war nicht die militärische Niederlage Hitlers und seiner Mordbanden, sondern es ist die Herrschaft der Kommune, die jene mit ihrem Untergang vorbereiteten und die jetzt über Deutschland oder das, was davon noch übrigblieb, wie eine Knute schwebt. Wir können nur hoffen, daß sich unsere Nation nicht auch im Westen überfremden läßt, gleich, ob nun wie hier von der russischen Gleichmacherei oder dort von der amerikanischen Geld- und Gewinnsucht, und sich wieder in stolzer Größe zu allen sittlichen Werten des deutschen Volkscharakters bekennt und erhebt. Vielleicht erreicht uns dann bald von dort die Befreiung. Ja, und wenn es mit einem Krieg sein muß, mit einem ritterlichen Krieg selbstverständlich wie einst gegen Napoleon und auch später noch gegen die Franzosen. Ja, vielleicht kann uns wirklich nur noch eine Katharsis helfen, damit wir vom Aussatz des Marxismus und Kommunismus gereinigt werden."

Mit jedem Wort schnürte sich Ulrikes Kehle enger zusammen, und sie entgegnete: "Krieg? Du willst wieder Krieg?"

"Nicht ich, mein Kind. Die unselige Entwicklung der deutschen Geschichte will es."

"Aber der Pöbel, wie du sie nennst, die Kommunisten, wollen wenigstens eins: den Frieden."

"Was ist das schon, dieser Friede. Sagte ich's nicht? Eine Schmach. Schändlicher noch als jene nach dem Versailler Diktat. Und nun halte den Schnabel. Wir wollen essen und es uns munden lassen."

"Nein! Nein! Es schmeckt mir nicht, wenn du so redest."

"Ach, ich vergaß. Natürlich, auch du bist ja auf einen von diesem Gesindel hereingefallen. Ja, auch das können sie: Unter Verhöhnung aller Moralgesetze und besonders denen der Ehe den Frauen und Mädchen in die Betten steigen. Als freie Liebe bezeichnen sie das."

Sie saßen wie üblich zu sechst um den Tisch, der in der Mitte des spärlich möblierten und ziemlich fahl und kalt von elektrischen Kerzen beleuchteten Gemeinschaftssalons stand und außerhalb der Mahlzeiten gelegentlich auch zum Meditieren benutzt wurde. Dann freilich fehlte stets ihr Vater, zog sich zurück, vom Murmeln der Gebete nicht weniger angewidert als sie, Ulrike, und gab sich den Nachrichten westlicher Sender aus einem Rundfunkgerät hin, das er sich, entgegen den Geboten in diesem Haus, aus schrottreifen Teilen selber gebastelt hatte. Euer ist die Telepathie, pflegte er spöttisch zu sagen, mein die Telephonie oder besser: die Radiotechnik. Da weiß ich wenigstens, wer zu mir spricht. Der Onkel bewegte daraufhin seine Kaumuskeln, tupfte nervös mit einem Taschentuch über die Stirn und knirschte zur Antwort: Lästermaul... Ihr Vater lachte, und manchmal erstickte dann der Husten sein Lachen.

Trotz ihrer grundverschiedenen Ansichten stimmten sie jedoch in diesem und jenem überein. Die beiden Männer haßten die Kommunisten, der eine unter dem Namen Antichrist und der andere mit der Begründung, die er soeben seiner Tochter beizubringen versucht hatte. Beide, wenngleich ebenfalls aus unterschiedlichen Motiven, liebten eine spartanische (oder asketische) Lebensweise und unterließen kaum eine Gelegenheit, die Familienmitglieder daran zu erinnern. An diesem Abend nickten sie sich nach den letzten Worten des Vaters verständnisinnig zu, und der Onkel sagte: "Wir wollen dem Herrn danken für die Gnade, daß er uns wieder unser tägliches Brot beschert hat, und also beten. Und du, liebe Schwester", wandte er sich an Ulrike, "achte und ehre deine Eltern und widersprich ihnen nicht." Die Mutter drückte eine Träne der Betrübnis über die Aufsässigkeit ihrer Tochter aus den Augen. Ingeborg lächelte nicht ohne Schadenfreude vor sich hin und beugte ihren Nacken mit dem streng gehaltenen, bei der Fülle ihres Haares sehr dichten Knoten über die gefalteten Hände.

Deine Leute, sagte Achim, sind entweder sehr dumm oder maßlos borniert, was an ihrer Herkunft und ihrer Erziehung liegen könnte und nicht selten dasselbe ist.

Er hörte genau hin, denn diesmal betraf es ihn selber. Ein sittenloser Strolch sei er gewesen, ein Kumpan der Anarchisten. Welche Verleumdung! Gegen die Ehe? Ja, sobald sie den bürgerlichen Hausstand meinte, die Institution zur Unterdrückung der Frau. Für freie Liebe? Ja, ebenfalls ja, wenn dabei allein die Gefühle entschieden, kein Dünkel mehr und kein Geldsack. Aber hatten denn nicht die Jaros und Hochs und Kilians, die von der anderen Klasse, Ulrike von ihm gerissen?

Inzwischen wußte er, daß er sein Studium zwar beenden, sich danach aber von der Biologie trennen würde. Münz hatte ihm einen Platz in den Redaktionen angeboten.

In einer Zeitung kann ich kämpfen. Für unsere Moral und für unsere Ideen.

Sie bestärkte ihn darin. Tu es.

Doch wie war dir zumute, als dein Vater dich beschimpfte?

Ich stand vom Tisch auf und ging... Ulrike suchte ihr Zimmer auf und überlegte zum ersten Mal mit aller Entschiedenheit, wie sie diesem Teufelskreis, ja, Teufelskreis von religiösem Wahn und nationaler Überheblichkeit entrinnen könnte. Fort, nur fort von hier, dachte sie. Als sie dich dann angriffen, Achim, und obwohl ich mich weit schon von dir entfernt und längst damit abgefunden hatte, dich niemals wiederzusehen, war mir speiübel.

Später, nunmehr mit der Leichtigkeit ironischen Abstands zu den Dingen, fragte sich Ulrike noch oft, warum sie ihren Onkel nicht schon eher durchschaut und es erst dieses Teufels aus der Wismut bedurft hatte, ihr die Augen zu öffnen. Ihrerseits hatte es doch bereits vorher genügend Aversionen gegeben. Ihre Skepsis war stets größer gewesen als ihr Glaube, auch der Kelch der Verheißungen von Mal zu Mal schaler geworden im Inhalt.

Aber nein, sie irrte sich. Sie legte hinein, was sie erst heute empfand.

Tatsache war: Von Achim fühlte sie sich verraten (und später mied sie vor ihm dieses harte Wort). Er schrieb ihr nicht, suchte sie nicht. Ihr kamen die schon früher einmal gehegten Befürchtungen, und durch den Auftritt der Bergarbeiter im Dorf wurden sie gar noch gesteigert. Da stand eine andere Klasse auf, bereit, über alles hinwegzuschreiten, was ihrem Aufstand hinderlich war. Und Ulrike konnte von sich nicht sagen, sie sei es nicht.

Kilian hatte sie bei sich aufgenommen, und zunächst war es für sie sogar tröstlich, diesen beleibten, behäbigen Mann in sich und seiner Welt (selbst wenn er die nur zu seinem Eigennutz geschaffen haben sollte) ruhen zu sehen. Kein Getöse wie sonst im Lande, immer nur Sanftmut und Seelenheil. Die Männer und Frauen der Sekte hielten fest zusammen, halfen sich gegenseitig, wo sie nur konnten. Das war es, was sie in diesem Augenblick brauchte. Entspannung, Geborgenheit, Frieden. Eine Republik, und war sie auch noch so klein, zweitausend auf einer Wolke und vielleicht noch einmal so viele als Anwärter dazu, einen Ort, wo keiner des anderen Feind war, wo man sich einigte auf die Residenz eines Königs im Himmel.

Hin und wieder nahm der Onkel sich ihrer an. Nein, so einseitig fad war er nicht, daß er sich nur den Gebeten gewidmet hätte. Privat wirkte er nicht einmal ungesellig. Tanzen war zwar verpönt, doch sportliche Betätigung erlaubt. Er selber spielte gern Tennis. Sie hatte es ja gelernt auf der Gudrun-Schule damals in Danzig. Einen entsprechenden Platz gab es in der Nähe des Filzsees. Dort fuhren sie manchmal hin, Ulrike mit besonderem Vergnügen, denn endlich konnte sie sich wieder einmal in Weiß kleiden und durfte einen kurzen Rock tragen. Kilian, das bemerkte sie sofort, beherrschte das Spiel besser als sie. Sie war zwar gewandter und schneller auf den Füßen, doch er besaß die ausgefeiltere Technik und die härteren Schläge und jagte sie mit seinen Bällen, nahezu aus dem Stand, von einer Ecke in die andere des Feldes. Dennoch: Meistens ließ er sie gewinnen, und sie, ohne Illusionen darüber, rechnete es seiner Freundlichkeit an.

Was aber, fragte sie sich später, bezweckte er damit? Was ging in ihm vor, wenn er einerseits ihr gegenüber ausgelassen wie ein Kind sein konnte, jedoch andererseits während der Predigten in der Elias-Burg wie Habakuk wetterte gegen die Stolzen?

Ihr Vater jedenfalls wußte nicht erst seit heute um die recht eigenwilligen Manipulationen der mit der Mutter über einige Nebenlinien verwandten Familie Kilian. Der seinerzeit – wie man annehmen mußte – mehr pfiffige als gläubige Alte hatte eine Sekte gegründet, Erlösung vom schweren Erdendasein versprochen, regen Zulauf erhalten und dann zur Kollekte, schlichter: zur Kasse gebeten. Von den oft beträchtlichen Spenden der um ihr Seelenheil ängstlich besorgten Mitglieder und Anwärter auf die Wolke der Zweitausend konnte er bald nicht nur einen ihn überdauernden prunkvollen Tempel bauen lassen, sondern nach und nach auch etliche Werkstätten und einen in Konkurs geratenen Betrieb aufkaufen. Damals jedoch in Danzig, als junger Leutnant und späterer Gymnasiallehrer mit einer Beinaheberufung zum Privatdozenten an die dortige Technische Hochschule, hatte Gerhard Jaro sich kaum darum gekümmert, die Existenz dieser südsächsischen Roßhaarhändler wohl nicht einmal ernstlich zur Kenntnis genommen. Auch sein Schwiegervater, der Senator, nach dessen Tod sie das prächtige Haus in der Frauengasse geerbt und allein bewohnt hatten, war stets nur mit beißender Ironie über sie hergefallen. Ein wenig hatte man sich ihrer sogar geschämt, sie unter Standeswürde betrachtet und ihnen zu den obligaten Festlichkeiten, Hochzeiten und Kindstaufen beispielsweise, höchstens eine Drucksache mit verschnörkelter Goldschrift nach vollzogenem Anlaß geschickt.

Nun aber, nachdem die durch die Jahrhunderte so heftig umstrittene Reichsstadt von den Polen besetzt war, vorerst auch verloren schien und daher er, Gerhard Jaro, seine Frau und die Töchter heimatlos und ohne Habe umherirrten und eine Bleibe suchten, erwies sich plötzlich und in mehrfacher Hinsicht diese Verwandtschaft wie ein rettender Engel. Zwar ging sie noch immer vor allem Gudrun an, auf deren Drängen sie hierhergereist waren, doch zur Zufriedenheit aller lebte auch er mit ihr in Eintracht, zumal er für seinen desolaten Gesundheitszustand keine Besserung mehr erwartete und sich bereits auf ein langes Siechtum einzurichten begann. Was scherten ihn da Mystik und Schwärmerei, die Hörigkeit von Bürstenmachern und Heimarbeiterinnen, selbst die seiner eigenen Frau und Kinder gegenüber dem neuen Propheten, als den Hartmut Kilian sich ausgab. Seine, Gerhard Jaros, Meditationen waren anderer Art, und Hauptsache blieb, man ließ ihn dabei in Ruhe. Von irgendwoher, dem Bäckermeister des Ortes vielleicht, einem vormals strammen SA-Mann, trieb er ein paar dicke Wälzer zur deutschen Geschichte auf. Er las jetzt die Memoiren des Generalfeldmarschalls Hindenburg, unter dessen Oberkommando Ost er als Kriegsfreiwilliger gedient hatte und dem er einmal in einem Forsthaus nahe dem Hauptquartier in Kowno als erfolgreicher Zutreiber nach einer Jagd auf Wisente und Hirsche im Bjalowjeser Wald persönlich vorgestellt worden war und die Hand hatte drücken dürfen. Er vertiefte sich erneut in Rankes zwölf Bücher über Preußen, und wenn er sich einigermaßen bei Kräften fühlte, machte er sich handwerklich nützlich, bastelte Nistkästen und Futterhäuschen für Vögel, Heuraufen und Tröge, um darin Eicheln und Bucheckern für das Rotwild auslegen zu können.

Eines Tages fing er ein Reh.

Ulrike entsann sich genau. Es geschah in der Woche, nachdem Sennwitz gestorben war. Ihr Vater erzählte mit einem Eifer, den sie sich nicht allein aus seinem Weidglück erklären konnte. Ja, es spornte ihn noch etwas anderes an. Nach einer langen Pause hatte er wieder gewagt, sich Ski anzuschnallen, und schon nach der ersten gelungenen Abfahrt auf der verschneiten Straße talwärts ins Dorf empfand er die klare Winterluft als derart erfrischend und wohltuend für seine Bronchien, daß er darüber die Krankheit vergaß.

Ulrike freute sich mit ihm.

In Begleitung einiger Männer war er dann kurz danach aufgebrochen und hatte die umliegenden Wälder durchpirscht. Die Leute führten ihn an die Futterplätze. Als geübter Jäger wählte er stets die Richtung gegen den Wind und vermied alle lauten Geräusche. Warum er sich jedoch mit einem Netz, wie man es gewöhnlich zum Fischfang benutzt, ausgerüstet hatte, erfuhr sie erst am Abend, als er von seinem Erlebnis berichtete.

Die Männer waren in die Berge gestiegen, wo sich der Schnee bis zu einem Meter hoch stapelte. Nach mehreren vergeblichen Anläufen überraschten sie dort endlich einen Sprung Rehe an der Fütterung. Das Schrecken einer Ricke, wie Gebell klingend, scholl ihnen entgegen. Im Nu ergriffen die Tiere die Flucht. Lärmend brachen die trockenen Zweige.

Doch was Gerhard Jaro vermutet hatte, trat ein. Die Kitze, obwohl schon recht kräftig und ausgefärbt, konnten den älteren Rehen kaum folgen. Immer wieder versanken sie bis über die Läufe im Schnee.

Ihr Vater nahm sich eins davon, wie er sagte, aufs Korn, jagte es wie einen Feind, und nachdem es seine Begleiter auf eine Lichtung getrieben hatten, holte er es auf seinen Brettern ein. Er warf ihm das Netz über, dem es trotz heftigster Gegenwehr nicht mehr entrann.

Sie banden das Kitz mit Stricken und trugen es hinunter ins Dorf, auf Kilians Hof. Dort sperrten sie es in das Gatter, das auf die Gefangenschaft vorbereitet schien. Man hatte es vom Schnee geräumt und Futter ausgelegt.

Als ihr Vater darüber sprach, auch, in bester Laune und zum Vergnügen aller, mit seinem Jägerlatein nicht sparte, unterbrach ihn Ulrike und fragte: "Aber wozu, wozu das alles? In der freien Natur fühlt sich das Wild doch viel wohler."

Er schaute sie an, brauchte eine Weile, um nachzudenken, und entgegnete dann sehr freundlich: "Aber ich weiß doch, wie sehr du dich gegrämt hast, als am Karfreitag vor zwei Jahren das Reh sich – horrido, mir nichts, dir nichts – aus dem Staub gemacht hatte. Im letzten Winter hinderte mich meine Krankheit daran, dir ein anderes zu fangen. Denn gerade dir will ich damit eine Freude bereiten."

Der Onkel fügte hinzu: "Ja, Ulrike, pfleg und füttere es wieder gut und erleichtere somit der Kreatur Gottes ein wenig ihre Bestimmung, ihm und uns zu dienen."

Sie verstand sie nicht, die beiden Männer. Aber ihrer Bitte kam sie nach und gab täglich dem Reh zu fressen und zu trinken.

Indessen näherte sich Ostern, und die beiden Familien versenkten sich zunehmend in eine von heiterem Ernst getragene Geschäftigkeit. Besonders die Frauen wuschelten hin und wuschelten her, verbrachten jedoch andererseits die Abende andächtig und still in vertrauter Runde an dem Tisch im Salon. Ingeborg und die Tante, da sie sich, unverheiratet und auch sonst mit keinem Gelüst dem anderen Geschlecht zugewandt, zur Jugend zählen durften, nähten an weißen Kleidern und bunten Schärpen, ihren Abzeichen. Auch die Arbeiter und Arbeiterinnen in den Werkstätten, die sämtlich entweder der Sekte angehörten oder ihre Anwartschaft auf sie bekundeten, schlossen sich diesem Treiben an. Immerzu fleißig und in allen Belangen gehorsam, gingen die meisten von ihnen nach dem Arbeitsschluß sonnabends erst gar nicht nach Haus, sondern legten an Ort und Stelle ihre Feiertagskleidung an und versammelten sich mit vergnügtem und erwartungsvollem Geschwätz auf dem Hof.

An jedem Wochenende reiste man nämlich nun zu den Gottesdiensten über Land, traf sich reihum in den Gemeinden, überall dort, wo es größere Gruppen von Kilianern gab, wie sie von den Außenstehenden manchmal genannt wurden. Doch eigentlich war das stets vor den hohen Festen so, und Ulrike vermochte jedesmal dann am sichersten zu sagen, auf wen ihr Onkel bereits mit dem Neupietismus (und nicht anders, meinte sie später, sei der Glaube vom Aufschweben einer auserwählten Wolke einzuordnen) seine Herrschaft von sanfter Gewalt ausgedehnt hatte. Als Grundlage seiner Predigten dienten ihm die seines Vaters, die einst im Stenogramm mitgeschrieben worden waren und, unter der Bezeichnung Pergamente, eine Art Anhang zur Heiligen Schrift bildeten.

Das halbe Dorf schien auf den Beinen, vom Kleinstkind bis zur Urgroßmutter. Man fuhr auf Rollwagen mit herausgeputzten Pferden im Gespann, gelegentlich auch in Sonderbussen. All das war nicht schwer zu beschaffen; man fühlte sich eben als verschworene Gemeinschaft, half einander in der Not und erst recht, wenn Gott rief und durch seinen Propheten, den Bruder Elias, zu einem redete. Unter den Mitgliedern fanden sich alle Berufe, sogar ein Dirigent und ein musikalischer Leiter aus einem der nächstgelegenen Theater. In ihrer Freizeit hatten sie in der Sekte ein Orchester und einen Chor aufgebaut, übrigens beide von hoher Klangkultur, wie man hörte, und letzterem, wenngleich lediglich aus dem Bedürfnis nach Abwechslung, war Ulrike beigetreten. Allerdings beschränkte man sich dort auf ein ziemlich begrenztes Repertoire, sang Kirchenlieder, nicht wenige davon mit korrigiertem, streng der Sprache der Pergamente angepaßtem Text, und allenfalls noch einiges Unverfängliche aus dem "Arzgebirgischen Notenbichel for lange Hutzenohmde". Sah ein Knab ein Röslein stehn oder gar die Loreley galten wohl schon als frivol.

Nicht anders konnte sie es empfinden. Denn eines schönen Frühlingstages, als man sich wieder mit Roß und Wagen auf die Reise begab und bei Brüdern und Schwestern in einem Städtchen hinter Schneeberg einquartierte, widerfuhr ihr zum ersten Mal, daß jemand von der Wolke ausgestoßen, sozusagen vom Himmel auf die Erde befördert und in die Hölle gestürzt wurde.

Es handelte sich um einen jungen Mann ihres Alters. Er stammte aus diesem Ort und hatte bereits während der letzten Chorproben für die Ohren der Sekte und ihrer Wächter recht sonderbare und widerspenstige Reden geführt. Er wünsche sich einmal etwas Lebhafteres zu singen, hatte er gefordert und dabei an den Dichter Fleming erinnert, der hier geboren war, von dem ein Denkmal auf dem Marktplatz stand und dessen christlicher Glaube weitaus weltbezogener und daher ihm sympathischer sei als all ihr bisheriges Geplärre. Er zitierte sogar ein paar Zeilen von ihm über die Liebe, was den anderen sofort einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Offenbar hatte es danach mit ihm eine Aussprache gegeben, in der er sich jedoch unbelehrbar und störrisch gezeigt hatte, und nun, während des abendlichen Zirkels in einer Gaststätte – ohne Ausschank von Alkohol, versteht sich –, fragte ihn der Onkel nur noch pro forma, ob er dem Sittenverfall des Antichrist noch länger zu huldigen oder ihm nicht doch besser abzuschwören gedenke.

"Nein", trotzte der Bursche. "Für mich ist der Fall erledigt. Und wenn ich nicht noch hätte mitteilen wollen, wie sehr ich euch alle in eurer Verblendung bedaure, wäre ich hier erst gar nicht erschienen. Damit ihr es wißt: Ich halte mich fortan an die Vernunft" (und allein das, sagte Ulrike, war die Spitze aller Ketzerei) "und werde Lehrer. Die Bildungsanstalt in Zwickau hat mich bereits geprüft und aufgenommen."

Hartmut Kilian, Bruder Elias, betupfte sein rundes Gesicht mit einem Taschentuch, bewegte wütend die Kinnladen unter den Hamsterbacken und setzte zu einer Verdammungsrede an. Mutig und selbstbewußt schnitt sie ihm aber der junge und nunmehr abtrünnige Mann von den Lippen ab, indem er erneut, wie sie später erfuhr, als sie ihn wiedertraf, ein Zitat von Fleming gebrauchte. Wie der Dichter rief er zuvor Gott an, und es klang, als wandte er sich an alle Anwesenden im Saal, die, geduckt und ängstlich, wie sonst nur auf ihre große Erlösung, so jetzt auf eine kleine hofften:

"Der von der heil'gen Höh auf dieses Tiefe schaut,

Daß er das arme Volk, das seiner Gnade traut

Und hart umfesselt ist, aus seinen Ketten reiße

Und den geschwornen Tod der Seufzenden zerschmeiße!"

Er verließ den Raum, aufrecht im Gang, die Hände aber lässig in den Hosentaschen. Und erst danach hob rundum ein empörtes Sabbeln und Brabbeln an, aus dem beständig nur ein Wort, der verfluchte Name des Satans, zu hören war.

Ein einziges Mal noch, sagte Ulrike, habe sie ihre Familie, nachdem sie sie verlassen hatte, in Hundshübel besucht. Das war kurz nach Beginn des Wintersemesters, Ende September vorigen Jahres. Dem Vater ging es nicht gut. Das Asthma höhlte ihn aus. Vor ihrer Ankunft hatte er sich aber ein wenig erholt. Sein Starrsinn, seine Rechthaberei waren nicht mehr zu übertreffen. Er tadelte die Ärzte, die nach seiner Meinung nichts taugten, und versuchte nun selber, sich mit homöopathischen Mitteln zu behandeln. Darüber, über die unterschiedliche Stärke der Dosen und das Prinzip ihrer Heilwirkung, konnte er lange Vorträge halten. Er schimpfte auch auf die Westdeutschen, Adenauer und die Amerikaner, weil sie nicht genug Courage gezeigt und dem Putsch im Juni – Volksaufstand nannte er ihn – die Waffenhilfe verweigert hätten.

Es gab kaum noch ein Wort, womit wir uns hätten verständigen können. Und weißt du, was er inzwischen in seinem Kämmerlein trieb? Millimetergenau baute er im Maßstab von eins zu hundert aus Sperrholz und Pappmaché die Marienburg nach, die unselige Feste des Deutschritterordens, und lebte nur noch von Kriegserinnerungen und der Enttäuschung, daß Danzig und der gesamte Osten bis Riga und Reval nicht mehr zu einem großdeutschen Reich preußischer Prägung gehörten. Es ist gespenstisch, wenn sich einer von der Vergangenheit so sehr beherrschen läßt. Am Fenster sitzt er, gelb im Gesicht, abgemagert bis auf die Knochen, und döst. Seitdem schreiben wir uns nur noch Briefe, meine Mutter jedenfalls und ich, aller zwei Monate einen vielleicht, die letzten zu Weihnachten. Und was an Bemerkenswertem da drinsteht, paßt auf die Rückseite einer Briefmarke.

Ulrike wohnte erst wenige Wochen bei ihm, als sie nach einem üblichen Studientag nach Haus kam und sagte: "Heute hatte ich Ärger. Sie wollen, daß ich sofort in mein Zimmer im Internat zurückkehre. Es schade dem Ansehen des Pädagogischen Instituts, wenn ich, eine künftige Lehrerin, bei dir schlafe."

"Mit mir. Wenn du mit mir schläfst. Meinen sie das?"

"Schon möglich."

"Dann weiß ich dagegen ein Mittel: Wir heiraten."

"Bist du noch zu retten, mein Junge? Wir kennen uns kaum."

"Das darf wohl nicht wahr sein! Im nächsten Monat werden es neun volle Jahre."

"Ja. Aber vier liegen dazwischen, in denen wir nichts voneinander hörten."

"Und warum hast du mir nie eine Nachricht geschickt? Warum hast du nie auf meine Briefe geantwortet?"

Endlich war ausgesprochen, was sie bisher, jeder für sich in der Furcht, den anderen zu verletzen, mit Schweigen umgangen hatten. Achim erschrak nach seiner Frage. Klang sie denn nicht wie ein Vorwurf? Doch nichts hatte er ihr seit ihrer Wiederbegegnung im Botanischen Garten weniger antun wollen als das. Ihre Liebe wäre nicht frei, wenn Mißtrauen sie überschattete. Sie würden sich quälen und schinden, wenn sie sich gegenseitig ihre Vergangenheit aufrechnen wollten. Er wußte ja nun (oder ahnte es wenigstens), wie sehr sie in der bigotten Gesellschaft ihrer Verwandten gelitten hatte, wie sehr sie mißhandelt worden war, mißhandelt, ja, das mochte es ausdrücken. Zwar nur an ihrer Seele, in allem, was sie fühlte und dachte. Doch war eine solche Züchtigung denn nicht viel grausamer, unerträglicher auf Dauer als jeder körperliche Schmerz? Unvorstellbar! Mitten im zwanzigsten Jahrhundert und in einem Land, das die Befreiung des Menschen zum obersten Gesetz erhob. Er entsann sich der Worte des Pfarrers Triebel, seiner wie Blitz und Donner auf die Rotte Korah geschleuderten Flüche. Da wurde die Erde gespalten und hat sie verschlungen... Ihm hätte er glauben sollen, mehr jedenfalls als sich selber, seinem Zorn, seinem Haß, seiner blindwütigen Eitelkeit, die ihn kleinmütig nur an Verrat hatte denken lassen.

Er legte seine Arme um Ulrikes Schultern und zog sie an sich.

"Wieso? Ich...? Ich habe nie von dir auch nur eine Zeile erhalten", sagte sie mit einer Heftigkeit, daß er ihren Atem an seinem Hals spürte. "Ich schwöre es, Achim."

"Allerdings, ich schickte meine Briefe damals nach Hamburg, an Neidhart Jaro, Kaiser-Wilhelm-Straße, weil ich dich dort vermutete und hoffte, er könnte, er würde sie an dich weiterleiten."

Was für ein Trugschluß! Entweder hatten sie ihre Eltern oder in deren Auftrag bereits Onkel Neidhart vernichtet. Auch das hatte Triebel nicht ausgeschlossen.

Ulrike hingegen erfuhr erst nach Jahren, was mit ihren Briefen geschehen war. Das Rätsel löste sich auf die denkbar einfachste Weise.

Ein Dutzend hatte sie ihm geschrieben, zwölf genau, denn sie hatte sie schon beim zweiten durchgängig numeriert, über ein Vierteljahr hinweg, seine Hilfe erflehend, bittend und bettelnd, daß er ihr antworten möge, aber vergebens. Danach gab sie auf. Die letzten beiden Briefe waren mit dem Vermerk zurückgeschickt worden: Empfänger verzogen, Adresse unbekannt.

Noch längst nicht genesen von ihrer Krankheit, wie eine Gefangene gehalten im Dorf, auch noch im Schock darüber, was sie gelitten hatte und litt, suchte sie Trost im Glauben. Ingeborg und die Mutter, ihr Onkel Hartmut natürlich und die Tante, ohne daß sie zunächst deren wahre Absichten durchschaute, bestärkten sie darin. Erst mit der Zeit kamen ihr Zweifel. Sie geriet immer tiefer in den Gewissenskonflikt mit ihrer Familie, doch für einen erneuten Versuch, Achim zu schreiben, schien es ihr nun zu spät zu sein. Wohin denn auch, wenn er nicht mehr im Lerchenschlag wohnte und niemand seine Adresse kannte. Unzählige Gründe gab es dafür. Seine Mutter könnte gestorben sein. Er selber könnte, wie schon einmal ihretwegen, in den Westen gegangen sein, um sich dort in Abenteuer zu stürzen, obwohl – einen solchen Schritt traute sie ihm nicht mehr zu. Aber er hatte Theaterwissenschaft studieren wollen, und vielleicht war ihm da eine Schauspielerin über den Weg gelaufen, hübscher als sie und mit viel dichterem Haar. Sie gewöhnte sich an den Gedanken, daß er von ihr nichts mehr wissen wollte und deshalb schwieg.

Der Pfarrer des Dorfes klärte sie auf, und zwar an dem Tag, als sie ihm ihren Entschluß mitteilte, aus der Kirche auszutreten. Er bat sie um eine Begründung. Sie nannte ihm ihre Zweifel und erinnerte sich zugleich des Gesprächs, das sie einmal aus ähnlichem Anlaß mit Triebel geführt hatte. Da war sie umgekehrt, hatte bereut oder wenigstens nicht die Kraft aufgebracht. Diesmal jedoch, wußte sie, würde sie unbeirrbar und fest bleiben. Die Heuchelei der Sekte empörte sie, der Mißbrauch, den vor allem Kilian, ihr Oberwächter, der Prophet, mit dem Namen Gottes trieb.

"Du verwechselst die Scheinheiligkeit mit dem reinen Evangelium, meine Tochter", gemahnte sie der Pfarrer.

"Mag sein. Trotzdem. Ich kann nicht anders. Ich glaube an nichts. Ich glaube nicht mehr."

Dennoch scheute er keine Mühe, um sie zu ringen. Er häufte Beweis auf Beweis. Und als sie ihm auch ihre Not gestand, die sie empfunden, nachdem sie auf ihre Briefe keine Antwort erhalten hatte, horchte er auf und sagte:

"Hast du denn niemals daran gedacht, daß sie ganz einfach nur abgefangen sein könnten? Oder hast du je einen woanders als in unserer Gemeinde in den Briefkasten gesteckt?"

Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie. "Nein."

"Ahnte ich's doch. Auch der Herr Amtleiter ist ein eifriger Kilianer."

Ja, das wußte sie. "Doch wieso dieser Vermerk: Empfänger verzogen...?"

"Ach, du heilige Einfalt! Lehre mich die Werke des Teufels. Dergleichen ist doch wohl leicht zu arrangieren."

Noch am selben Abend stellte sie ihre Mutter zur Rede. Die leugnete zwar, doch an ihrem nervösen Verhalten, ihrem Schnuffeln und Naseputzen und der Furcht, ihr in die Augen sehen zu müssen, spürte sie, daß der Verdacht des Pfarrers nicht erfunden war. So oder ähnlich mußte es gewesen sein.

"Komm", sagte Achim, "laß uns jetzt heiraten."

"Wie denn?" flüsterte sie ihm ins Ohr. "Es wird schon dunkel, und um achtzehn Uhr schließen alle Geschäfte, erst recht die Dienststellen und Behörden."

"Mach dich nicht lustig über mich."

Vier Wochen noch hing ihr Aufgebot aus. Dann gingen sie eines Vormittags, nur mit der Nachbarin und einem Kommilitonen aus seiner Seminargruppe als Zeugen, zum Standesamt, ließen sich trauen, und das war alles.

Paul Fleming also, der Dichter, und drei Jahrhunderte nach ihm ein Lehrerstudent aus Hartenstein waren in den nächsten Monaten Ulrikes Begleiter.

Ihr Onkel hatte dem jungen Mann den Namen Luzifer angehängt, wutschnaubend hinter ihm hergeschrien, als dieser in protestantischer Aufwallung gegen die Gemeinde rebelliert und ihr danach den Rücken gekehrt hatte. Schon auf der Schwelle nach draußen, mußte er den Fluch jedoch noch gehört haben. Er trat zurück in den Saal, setzte seine Zeigefinger wie zwei Hörner an die Stirn und steckte ihnen allen zum Entsetzen mit einem lauten schafsähnlichen Blöken die Zunge heraus.

Wenige Tage später traf ihn Ulrike auf einer Straße in Schneeberg wieder. Zum ersten Mal in den Jahren, seit sie hier lebte, war sie allein und auch, ohne ihre Angehörigen zu verständigen, in die Stadt gefahren. Sie kam sich vor (und das mit einundzwanzig demnächst!) wie an Mutters Rockzipfel während ihrer Schulzeit in Danzig: Beeile dich auf dem Heimweg, hüte dich vor bösen Buben, spiele nicht mit Polenkindern... Nein, die Bevormundung und, was noch schlimmer war, die geistige Enge im Haus ihres Onkels hatte sie satt, den Muff, in dem sie zu ersticken drohte. Wie dem Studenten stand jetzt auch ihr der Sinn nach Protest, und sie wunderte sich nur, daß sie nicht schon eher aufbegehrt hatte.

In Schneeberg wollte sie weiter nichts als einkaufen, endlich einmal für sich selber, ohne das Zutun anderer, nach eigenem Gutdünken und Geschmack, eine Tasche, einen Schal – sie wußte es nicht genau –, vielleicht ein Paar Schuhe, doch die dann mit hohen und modischen Absätzen, wie sie in der Sekte verpönt waren. Am Tag würde sie durch die Geschäfte bummeln und abends sich einen Film angucken, ganz gleich welchen Inhalts, spannend oder nicht, Hauptsache wäre, sie säße mal wieder im Kino. Sie durfte nur nicht den letzten Bus, der ins Dorf zurückkehrte, versäumen. Aber wenn schon... Was bedeutete das? Sie ertappte sich dabei, daß ihr Mut noch immer nicht stark genug war, um bis ans Ende zu gehen und auch die Folgen nicht zu fürchten. Das mußte sich ändern. Sie war erwachsen und mußte es zeigen. Denn sonst, dachte sie (wie Jeanne d'Arc) und mußte darüber lächeln, würde sie nie das Joch von sich abschütteln.

So verweilte sie vor dem Laden einer Putzmacherei, betrachtete in aller Ruhe die Kollektion von Damenhüten und amüsierte sich über deren unterschiedliche und ulkige Formen. Nicht einer befand sich darunter, der nicht mit einem Schleier, mit Bändern oder Schleifchen drapiert und aufgetakelt worden wäre. Sie hatte nie begriffen, nach welchem Prinzip die Modelle entworfen und angefertigt wurden, ob es für sie überhaupt so etwas wie einen Goldenen Schnitt oder wenigstens, wenn auch nur zeitbedingt, eine ästhetische Regel, ein Empfinden für Schönheit gab. Sie fand sie allesamt häßlich, und so würde sie ihren Kopf wohl nie unter ein solches Monstrum stecken.

Vor dem dunklen Hintergrund gewahrte sie plötzlich im Schaufenster ihr Spiegelbild. Sie prüfte ihr Gesicht, besonders ihr Haar, bis es sie wiederum ärgerte. Zwar hatte sie den Knoten, diesen Möchtegern im Nacken, schon während der Fahrt hierher gelöst, doch nun überlegte sie, ob sie ihn nicht vollends abschaffen, sich zu einer Kaltwelle entschließen und sofort einen Friseur aufsuchen sollte.

"Guten Tag, Fräulein Ulrike."

Ein freundlicher Gruß riß sie aus der Konspiration gegen ihr Haar. Sie drehte sich um. Vor ihr stand Luzifer und nahm soeben die Hände aus den Hosentaschen. Seine Jacke und den Kragen seines auffällig bunten Hemdes trug er aufgeknöpft. Es war ein warmer Sonnentag.

"Nanu, so ganz ohne Aufsicht? Gestattet das denn der Onkel Kilian?"

Die unverhoffte Begegnung, dazu der leise Spott in seiner Stimme verwirrten sie, und vielleicht benahm sie sich auch sonst sehr blöd. Sie errötete leicht und lächelte verlegen, statt zu antworten.

"Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?"

Warum nicht? Selbst wenn ihre Verwandten davon erführen, woran sie nicht zweifelte, daß sie sich ausgerechnet mit ihm in der Stadt getroffen hatte... Einmal mußte es durchgestanden werden!

"Menschenskind", sagte sie, und jetzt sogar übermütig, "Sie ahnen gar nicht, wie sehr gerufen Sie mir kommen. Los, gehen wir. Doch ein Glas Bier oder ein Schnaps wäre mir lieber."

Und war das denn nicht schon zu draufgängerisch? Sie bemerkte, daß er sie ziemlich erstaunt und kritisch von der Seite her musterte.

In der Gaststätte dann, und zwar tatsächlich bei Bier und Branntwein, nachdem sich ihre Zunge gelockert hatte und alle Verkrampfung abgelegt war, lobte sie ihn für seinen Auftritt in Hartenstein und erkundigte sich nach Fleming. Sie habe an den Gedichten Gefallen gefunden und den Wunsch, sie selber zu lesen.

Daraufhin schien er sichtlich betroffen. "Ist es Zufall", fragte er, "oder nicht doch eine göttliche Fügung? Heute ist sein Todestag. Am zweiten April sechzehnhundertundvierzig starb er in Hamburg."

Er versprach, ihr das Buch zu leihen, sofern sie bereit sei, ihn wiederzusehen.

"Nichts einfacher als das. Und nun, Luzifer, sagen Sie mir nur noch, wie Sie richtig heißen."

Es war ein fataler Name, jedenfalls so unmöglich, daß sie, als er ihn stammelnd verriet, in ein helles Gelächter ausbrach, sich aber sofort entschuldigte. Sie nannte ihn weiterhin Luzifer, Lichtträger, gar ihren Morgenstern (denn du bist es, der mir voranleuchtet) und traf sich fortan jede Woche mit ihm.

Eifersüchtig, auch noch lange nach ihrer Heirat, fragte Achim sie immer wieder nach diesem – und er konnte es sich nicht verkneifen, in seiner Bosheit zu sagen: – Knickebein, Senkfuß, Krummknochen.

Hast du etwas mit ihm gehabt? Bist du mit ihm ins Bett gekrochen? Bitte, Ulrike, lüg mich nicht an.

Sie fürchtete seinen Blick, die Begierde, mit der er dann ihren Körper maß und sie zu seinem Eigentum machte.

Aber nein. Und nun hör endlich auf, mich zu quälen. Selbst wenn es so wäre, du hättest kein Recht, mir deswegen etwas vorzuwerfen, genausowenig wie ich dir deine Weiber in Leipzig verüble...

Nach ihrer zweiten Begegnung mit Luzifer erwog sie bereits, sich wie er um ein Studium an der Lehrerbildungsanstalt in Zwickau zu bewerben. Neben dem Band von Fleming, tief verborgen in ihrer Handtasche, brachte sie an diesem Abend auch eine neue Frisur mit nach Haus. Sie hatte ihr Haar kurz schneiden lassen und ihm die kleidsame, vorteilhaft ihr Gesicht umrahmende Fasson gegeben, in der sie es heute noch trug.

Vielleicht waren es wirklich nur diese Äußerlichkeiten, ihr verändertes Aussehen, der leichte Parfümduft an ihrem Kleid und der Hauch eines Lippenstifts auf ihrem Mund, die die Familie nun als Herausforderung empfand. Vielleicht aber hatte sie längst schon Kriegsrat gehalten, war für sie Ulrikes Haar nur der letzte Anstoß, ihre Frisur nur die Krone alles Anstößigen, der berühmte Tropfen, der einmal jedes Gefäß, auch das mit der größten Geduld, zum Überlaufen bringt.

Man war im Salon versammelt und erwartete ihre Heimkehr. Die Tür sprang auf, als sich Ulrike, die Schuhe in der Hand, an ihnen vorbei auf ihr Zimmer schleichen wollte.

Ingeborg packte ihren Arm und zerrte sie hinein. Bis auf ihren Vater saßen sie alle um den Tisch in der Mitte des Raumes, wobei dieser merkwürdigerweise viel heller vom Lampenlicht bestrahlt zu sein schien als sonst. Oder kam es ihr nur so vor, weil sie nunmehr im Blickpunkt stand, alle Augen sich auf sie gerichtet hatten?

Ingeborg griff ihr von hinten ins Haar, zauste es und tat ihr absichtlich weh. "Da, da, da... Schaut euch an, was dieses Flittchen mit sich gemacht hat."

Die Mutter drückte ihr Gesicht in ein Taschentuch und weinte. Deutlich gewahrte Ulrike ihre verkrüppelte Hand, die dunkelrote Narbe an Stelle der beiden abgerissenen Finger, den Daumenstummel. Es war auch heute ein Mittwoch, fast auf das Datum genau, fiel ihr plötzlich ein, wie vor sieben Jahren. Quasimodogeniti, betet: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen...

Nein! schrie es in ihr, nein...

Tante Malwine hob gegen sie wie zur Abwehr die Bibel mit dem Zeichen des Kreuzes obenauf und stieß Verwünschungen aus. "Sie trägt keine schwarzen Strümpfe. Es ist der Antichrist."