Der Fuchs in meinem Garten - E.S. Harmondy - E-Book

Der Fuchs in meinem Garten E-Book

E.S. Harmondy

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Beschreibung

Was passiert, wenn plötzlich ein Fuchs und andere Wildtiere im Garten leben? Warum sprach die alte Tante nach ihrem Schlaganfall finnisch? Und was hat es mit dem alten Nudelholz auf sich, das in der Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird? Diese 22 Kurzgeschichten beantworten diese Fragen auf heitere, besinnliche und zuweilen fantastische Weise.

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Seitenzahl: 302

Veröffentlichungsjahr: 2023

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E.S. Harmondy

Der Fuchs in meinem Garten

Alltägliche und fantastische Kurzgeschichten

Impressum

Texte: © 2022 Copyright by E.S. Harmondy

Umschlag:© 2022 Copyright by Pittie

Verantwortlich

für den Inhalt:E.S. Harmondy

[email protected]

Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Die Eisbahn

Glitzernd lag die Eisfläche zwischen den hohen Bürgerhäusern des Marktplatzes. Es war eine künstliche Eisbahn, die von einer hölzernen Bande eingefasst war. Zu anderen Zeiten bedeckten am Freitag Marktstände den Platz. Doch jetzt nach Weihnachten hatte die Stadt zum Vergnügen der Kinder und für die Touristen die Eisbahn errichtet.

An einem Bretterschuppen am Eingang konnte man sich gegen ein paar Kronen Schlittschuhe ausleihen, wenn man keine dabeihatte. Vor allem Kinder waren von dem Wintervergnügen begeistert. Aber man sah auch jüngere Pärchen und den einen oder anderen, der das Eislaufen richtig gut beherrschte.

Eigentlich war ich zum Einkaufen hergekommen. Ich kannte die Stadt nicht und hielt meinen Stadtplan fest in der Hand. Belustigt stellte ich fest, dass die Eisbahn genau an der Schnittstelle der beiden Einkaufsstraßen lag. Es musste also jeder hier vorbei. Ein verlockender Duft nach gebrannten Mandeln lag in der klaren Winterluft. Richtig kalt war es glücklicherweise nicht. Nur so um die null Grad. Auch die Sonne brach zaghaft durch die dunklen Wolken und verscheuchte das trübe Nordseewetter der letzten Tage. Der Tag versprach also, ganz angenehm zu werden. An der Bande der Eisbahn verhielt ich amüsiert und sah dem bunten Treiben eine Weile zu.

Ein Mann spielte begeistert mit seinen beiden Töchtern. Sie hatten eine Reihe gebildet. Der Mann vorne weg. Dann die ältere der beiden Kleinen und die jüngere zum Schluss. Sie hielten sich aneinander fest und versuchten, im Gleichschritt vorwärts zu laufen. Offenbar wollten sie eine Eisenbahn nachmachen. Ich musste lächeln und meine eigene Kindheit fiel mir ein. Halb vergessene Erinnerungsfetzen an längst vergangene, unbeschwerte Tage. Wie schön es damals gewesen sein musste. Keine großen Sorgen. Keine Angst vor der Zukunft. Einfach nur glücklich sein und nicht an den nächsten Tag denken. Wann hatte ich diese Fähigkeit verlernt? War es erst gekommen, als ich mit dem Studium anfing oder schon vorher zu Schulzeiten? Ich konnte es nicht einmal sagen. Doch ich wusste, dass ich einstmals auch so unbeschwert und glücklich gewesen war. Aber ich hatte es verloren. Und das war traurig. Nachdenklich verließ ich die Eisbahn und wandte mich den Geschäften an der Fußgängerzone zu. Das Einkaufen war schön und machte Spaß. Ich vergaß die Zeit darüber und kaufte mir eine Tüte Mandeln, als ich hungrig wurde. Mit der Tüte in der Hand kam ich wieder an der Eisbahn vorbei und setzte mich auf eine Bank am Rande, so dass ich ein wenig die Füße ausruhen und gleichzeitig zuschauen konnte. Es war voller geworden. Auf dem Eis herrschte jetzt beinahe Gedränge. Ich beobachtete ein junges Pärchen, wie sie sich aneinander festhielten und über ihr eigenes Unvermögen lachten. Sie konnten beide nicht besonders gut eislaufen. Aber sie waren sehr verliebt und schienen die Nähe des anderen zu genießen. Mir wurde ganz warm ums Herz, als ich die beiden beobachtete. Wie schön musste es sein, jetzt mit einem geliebten Freund zusammen hier zu sein. Ich verspürte leise Wehmut und Sehnsucht. Die Zeit meiner ersten Verliebtheit fiel mir wieder ein. Mein erster Freund. Es war schon so lange her, dass ich mich an den Jungen kaum noch erinnern konnte.

Mein Blick glitt weiter und ich beobachtete eine Mutter mit zwei Kindern. Eines saß noch in einer Sportkarre. Das andere, ein kleiner Junge, wollte unbedingt eislaufen. Er plärrte und quengelte. Die Mutter schimpfte mit ihm. Sie wirkte abgehetzt und ein wenig unordentlich. Hektische, rote Flecken breiteten sich auf ihrem eigentlich hübschen Gesicht aus. Da war nicht mehr viel mit Verliebtheit und Leichtigkeit. Und ein Mann war auch keiner mehr bei ihr. Nun ja. Der konnte zur Arbeit sein. Alltag eben. Ich hätte der Frau ein wenig von dem Glück der beiden Verliebten gewünscht.

Meine Tüte Mandeln war mittlerweile leer und ich erhob mich auf der Suche nach einem Papierkorb. Außerdem wurde mir vom Stillsitzen langsam kalt. Ich wollte ohnehin noch weiter und bog in den anderen Teil der Fußgängerzone ein, in dem ich noch nicht gewesen war.

Es wurde Mittag. Ich aß eine Kleinigkeit im Schnellimbiss des Føtexladens. Dann kehrte ich zur Eisbahn zurück, denn es gab noch eine letzte Fußgängerpassage, die ich noch nicht gesehen hatte. In solchen Dingen bin ich immer ganz methodisch und organisiert. Mittlerweile war es früher Nachmittag geworden. Die Januarsonne schien überraschend warm von einem strahlend blauen Himmel. Auf der Eisfläche lag nun eine matschige Schicht aus halbgeschmolzenem Schnee. Es war wieder leerer geworden. Ein älteres Ehepaar ging vor mir neben der Absperrung entlang. Die Frau ging langsam, so als würde es ihr schwerfallen. Der Mann neben ihr beobachtete abwesend die Eisläufer. Er wirkte gelangweilt und eine Spur verdrossen. Sie sprachen nicht miteinander. Sie hielt an und er bemerkte es. Leise wechselten sie einige Worte. Der Mann nahm der Frau eine Einkaufstüte ab. Dann gingen sie weiter. Vertraut miteinander. Aber vom Leben desillusioniert und müde. War ich auch schon so? Gedankenvoll setzte ich meinen Weg fort.

Der letzte Teil der Fußgängerzone war nicht mehr so lang. Vielleicht war ich auch nur schon etwas erschöpft nach den vielen Geschäften, in denen ich schon gewesen war. Dennoch hatte der ausgiebige Einkaufsbummel Spaß gemacht. Ich war zufrieden und glücklich darüber, mich endlich einmal aufgerafft zu haben, um die Stadt anzuschauen. Ich war schon so oft hier durchgefahren, ohne einmal anzuhalten.

Ein letztes Mal kam ich an der Eisbahn vorbei und setzte mich nochmals auf eine der Bänke. Ich mochte mich noch nicht so recht von dem schönen Tag und dieser freundlichen Stadt trennen.

Das Publikum war jetzt ein anderes. Nicht mehr so viele Kinder, mehr Jugendliche und jüngere Erwachsene. Eine alte Frau saß neben mir auf der Bank und betrachtete das bunte Treiben vor sich aus trüben Augen. Sie trug einen Stock und wirkte friedlich in sich ruhend, aber auch schon ganz weit fort, so als wären all diese Dinge nicht mehr von Bedeutung für sie. Auf seltsame Art fühlte ich mich der fremden alten Frau verbunden. Auch ich saß hier alleine und gehörte nicht dazu. Ich würde zu meinem Auto gehen und weiterfahren. Die Stadt und die Eisbahn gehörten leider nicht zu meinem Leben. Doch dann hatte ich plötzlich eine Idee. Keine Ahnung, welcher Hafer mich da gestochen hatte. Mit einem Mal verspürte ich den unbändigen Wunsch, auch eine Runde auf dem Eis zu drehen. Für einen Moment kämpfte ich noch dagegen an, denn ich bin eigentlich aus dem Alter kindischer Ideen längst heraus. Doch dann schob ich alle Vernunft beiseite und holte mir ein paar Schlittschuhe für eine Stunde. Das letzte Mal hatte ich zu Schulzeiten auf Schlittschuhen gestanden. Ich bereute es in dem Moment, wo ich sie mir angezogen hatte. Ich würde mich hoffnungslos blamieren! Aber nun hatte ich sie mir ausgeliehen. Und überhaupt war es ja auch egal. Hier kannte mich ja niemand. Meine Taschen und Tüten hatte ich der netten Frau an der Kasse in die Hand gedrückt, so dass ich unbeschwert meine Runde drehen konnte. Beklommen tat ich die ersten Schritte und es ging erstaunlich gut. Die Yogastunden und der viele Waldlauf zahlten sich eben doch aus. Ich kicherte und versuchte eine kleine Drehung. Da stieß mich unvermittelt jemand von hinten an.

„Unskyld!“ lachte der junge Mann erschrocken und griff meinen Arm, halb um zu verhindern, dass ich aus dem Gleichgewicht kam und auch wohl, um selbst nicht umzufallen. Er war nicht viel sicherer als ich auf den Schlittschuhen. Zwei weitere junge Männer lachten amüsiert über das Missgeschick ihres Freundes und sparten nicht mit Kommentaren. Da sie aber dänisch sprachen, verstand ich sie nicht.

„Nicht so schlimm“, antwortete ich dem jungen Mann unbekümmert.

„Ah. Du bist nicht von hier“, wechselte er gekonnt ins Deutsche. Ich schüttelte belustigt den Kopf.

„Ich mache hier Urlaub.“

„Und? Gefällt es dir hier?“

Der junge Mann hatte wirklich bemerkenswert schöne Augen. Sie strahlten mich voller Lebensfreude an.

„Ja. Sehr!“ erwiderte ich begeistert. Er grinste.

„Komm. Wir holen uns Gløgg. Kennst du das?“

„Glühwein“, nickte ich und folgte ihm und seinen beiden Freunden an den Rand der Eisbahn. Die Zeit verflog wie im Nu. Längst war die Ausleihdauer der Schlittschuhe überschritten und die Uhr im Parkhaus abgelaufen. Ich wäre gerne noch länger geblieben. Doch die letzte Fähre ging um halb neun und die durfte ich nicht verpassen. Voller Bedauern und doch auch seltsam beschwingt verabschiedete ich mich von den drei jungen Männern und machte mich auf den Heimweg. Der Tag war schön gewesen. Einer von denen, die in der Erinnerung immer schöner und goldener werden, bis sie einem beinahe wie ein Märchen vorkommen. Aber es sind diese Erinnerungen, die uns im Alltag ein Stück Wärme zurückgeben und ein Lächeln auf unser Gesicht zaubern.

Schnee im Frühling

Schneeflocken tanzten vor ihrem Fenster vorbei. Immer noch. Es war eigentlich längst Zeit für den Frühling. Die Sonne hatte sich schon wochenlang nicht mehr blicken lassen. Sie saß in ihrem kleinen Arbeitszimmer am Computer und schrieb. Doch das Schneegestöber draußen ließ sie innehalten. Ende März und immer noch Winter! Das war ungewöhnlich. Der Garten sah aus wie kurz vor Weihnachten. Lediglich die buntgefärbten Ostereier, die an den kahlen Zweigen des Holunderbaums am anderen Ende des Rasens hingen, deuteten an, dass eben doch nicht das Fest von Christi Geburt anstand, sondern die Erinnerung an seine Kreuzigung.

Eine dicke graue Katze kämpfte sich draußen durch den knöcheltiefen, unberührten Schnee am Pool entlang. Sie runzelte die Stirn und überlegte, ob sie das Tier verscheuchen sollte. Sie mochte Katzen nicht mehr besonders, seit sie das Haus mit dem Garten besaß und alle Nachbarskatzen sich offenbar verabredet hatten, ihren Rasen als Klo zu benutzen.

Doch dann war sie zu träge dazu. Sie hätte eigentlich noch einige Seiten schreiben wollen. Da sie aber schon seit drei Stunden am Arbeiten war, ließ ihre Konzentration merklich nach.

Draußen wurde es trotz des Schneegestöbers langsam heller. Es sah aus, als ob eine blasse Sonne versuchte, die dunkle Wolkenschicht am Himmel zu durchbrechen.

Kurzentschlossen erhob sich die Frau von ihrem Stuhl und ging in die Küche, um sich Wasser für einen Tee aufzusetzen. Die dicke graue Katze war jetzt fast am Durchgang zwischen dem Haus und der Garage angekommen. Die Frau sah ihr nach, wie sie hinter den Mülltonnen verschwand.

„Einen Hund müsste man haben“, ging es der Frau versonnen durch den Sinn. Der Schneefall hatte nun ganz aufgehört und dafür schaffte es eine blasse Frühlingssonne, der weißen Pracht auf dem Rasen ein wenig Glamour zu verleihen. Es verlockte sie plötzlich, nach draußen zu gehen. Rasch zog sie sich einen Mantel, Stiefel, Stirnband und Handschuhe über, steckte vorsichtshalber den Haustürschlüssel ein und trat dann hinaus vor die Tür. Das Weiß blendete sie, so hell war es im Sonnenlicht. Der Schnee lag wirklich hoch. Sie schätzte, dass wenigstens 10 cm seit dem vergangenen Abend zusammengekommen waren.

Aus der Garage nahm sie sich den Schneeschieber und einen dicken Besen. Dann räumte sie systematisch die Wege frei. Zuerst den hinteren Zugang zur Garage und zu den Mülltonnen. Dann um die Garage herum den Durchgang zum Haus und schließlich den Weg zum Briefkasten und den Parkplatz vor der Garage, wo ihr kleiner Wagen stand. Auch der Polo hatte eine dicke Schneehaube auf, so dass man seine blaue Farbe nur noch erahnen konnte. Sie grinste vergnügt. Die körperliche Betätigung tat ihr nach dem langen Sitzen vor dem Computer gut. Nachdem sie den Schnee zunächst grob mit dem Schieber zur Seite geschafft hatte, fegte sie noch einmal mit dem Besen nach. Hinten am Durchgang zwischen Haus und Garage lag der beiseitegeschobene Schnee zu einem hohen Haufen aufgetürmt. Es sah beinahe so aus wie eine verwitterte ägyptische Sphinx oder … ein Hund!

Belustigt stellte die Frau den Besen beiseite und klopfte den Schneehaufen vor sich halbherzig fest, wobei sie die ohnehin schon vorhandenen Formen noch verstärkte. Tatsächlich. Ein liegender Hund mit nach vorne ausgestreckten Pfoten und einem Kopf. Sie trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Plötzlich erwachte der Ehrgeiz in ihr. Das ging doch noch besser! Sie nahm eine Handvoll frischem Schnee vom Rasen und begann, die Schneeskulptur noch weiter auszuformen. Der Kopf wurde größer, bekam eine richtige Schnauze und Ohren, die keck nach oben gerichtet waren. Die Rute wurde ein buschiger Kiefernzweig vom nahen Baum, die Augen und Nase schwarze Steine vom Gemüseacker. Die Frau lachte, als sie ihre fertige Schneeskulptur schließlich betrachtete. Da lag er tatsächlich und passte auf. Der Schneehund.

„Verjag‘ mir bloß die Katzen, Snowie!“ klopfte sie noch ein bisschen losen Schnee auf dem Rücken der Skulptur fest. Dann ging sie wieder hinein. Die Arbeit rief.

*

Gähnend schob die Frau die Gardine vor ihrem Schlafzimmerfenster beiseite, um hinab in den Garten zu schauen. Es war Samstag und sie hatte länger als sonst geschlafen. Draußen war es schon hell, obwohl der Wecker auf ihrem Nachttisch erst halb sieben anzeigte. Sie war schon immer eine Frühaufsteherin gewesen, doch in diesem Jahr mit dem langen Winter wurde sie morgens auch nicht richtig wach.

Verwirrt runzelte sie die Stirn, als sie die zertrampelte Schneefläche auf ihrem Rasen erblickte. Dann wanderte ihr Blick weiter zum Pool und sie erstarrte. Das grüne Netz, das immer für den Winter darüber gebreitet lag, damit nicht so viele Blätter hineinwehten, war verschoben und sah aus, als hinge es zur Hälfte im Wasser. Etwas Dunkles, Großes schwamm darunter.

„Nicht schon wieder ein Igel“, seufzte die Frau bekümmert und zog sich rasch ein paar warme Sachen an.

Als sie am Pool ankam, erkannte sie jedoch überrascht, dass es die graue Katze war, die tot im eisigen Wasser schwamm. Sie hatte wohl noch versucht, das Netz zum Hinausklettern zu benutzen. Doch ohne Erfolg. Das feinmaschige Netz hatte sich bei ihrem Kampf ums Überleben um sie gewickelt, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Dann war sie jämmerlich ertrunken. Der Frau tat das leid. Sie fischte das tote Tier mit einem Kescher aus dem Pool und beerdigte es, so gut es bei der gefrorenen Erde eben ging, unter dem Holunderbaum.

Während sie das Loch wieder zuschüttete, überlegte sie, wieso die Katze in den Pool geraten war. Sie lebte jetzt sieben Jahre hier und es war nie zuvor passiert, dass eine Katze ins Wasser gefallen war. Igel schon und Mäuse auch. Aber keine Katzen. Nachdenklich betrachtete sie die vielen Tierspuren im Schnee auf dem Rasen. Das waren doch nicht alles Katzenspuren! Einige der Spuren stammten eindeutig von einem Hund! Verblüfft trat die Frau näher. Tatsächlich. Die Spuren eines großen Hundes. Unwillkürlich blickte sie zu ihrer Schneeskulptur hin.

„Snowie! Also wirklich!“

Sie lachte ungläubig und folgte der Hundespur, die tatsächlich irgendwie um den Schneehund herum ihren Anfang zu nehmen schien. Natürlich konnte das nicht sein. Aber dennoch fand sie den Gedanken irgendwie nett. Der Schneehund passte auf. Offenbar hatte er die Katze gejagt und sie war in ihrer Panik beim Versuch über den Pool zu springen hineingefallen. Man sah noch einige Pfotenabdrücke am Beckenrand, wo der Hund auf und ab gelaufen war. Dann verschwanden die Spuren wieder so mysteriös, wie sie gekommen waren.

*

Am Abend begann es wieder zu schneien. Die gerade erst eisfrei gewordenen Straßen und Wege verwandelten sich wieder in eine rutschige Winterlandschaft. Am Sonntagmorgen war alles wieder weiß. Die Frau seufzte, als sie an der Haustür vorbeikam und feststellte, dass der Gang zwischen Haus und Garage wieder ganz zugeschneit war. Sie setzte sich einen Kaffee auf und zog sich dann warm an, um ihre Zeitung vom Briefkasten zu holen und Schnee zu schieben. Der Schneehund war mit einer dicken Schicht der weißen Pracht bedeckt und schien sie anklagend anzuschauen. Sie lächelte unwillkürlich.

„Na gut, Snowie. Ich mache dich nochmal fein, wenn ich hier fertig bin.“

Der neue Schneehund war sogar noch ein Stück größer als der Erste. Aber genauso frech dreinschauend und vorwitzig. Sie kicherte.

„Wenn das so weitergeht mit dem Schnee, dann haben wir dich im Mai noch hier!“

Dem Schneehund noch ein letztes Mal den dicken Kopf tätschelnd, erhob sie sich und kehrte zurück ins Haus. Nach der Kälte und der vielen Bewegung draußen hatte sie sich wirklich ihren Kaffee und ein Stück Schokolade verdient.

*

Der Anblick, als sie am Montagmorgen vor die Haustür trat, konnte einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Die Überreste von Fell und Blut lagen überall herum und der sorgsam zur Seite gefegte Schnee war wild zertrampelt.

„Was ist denn hier passiert!“ erstarrte die Frau entsetzt und blickte unwillkürlich zu ihrem Schneehund hin. Seine Vorderpfoten waren voller Blutspritzer und ein Ohr war lädiert. Dennoch sah der Schneehund so keck und vorwitzig aus, wie eh und je.

Natürlich wusste sie, dass eine Skulptur aus Schnee, keinen Schaden anrichten konnte. Und doch. Hier war über Nacht etwas passiert. Und es sah nicht gut aus. Hinten beim Holunderbaum fand sie die Überreste der rotgetigerten Katze, die auch oft durch den Garten gestreift war. Ein anderes Tier hatte sie buchstäblich in Stücke gerissen. Und sie fand wieder Hundespuren im Schnee.

Kopfschüttelnd wandte sie sich dem Gartenschuppen zu und holte einen Spaten, um das neue Opfer ihres Schneehundes zu vergraben.

„Mensch, Snowie! Das kannst du aber nicht machen! Ich kriege noch Ärger mit den Nachbarn, wenn deren Katzen alle verschwinden“, brummelte die Frau, nun gar nicht mehr so glücklich mit ihrer Skulptur. Kurzerhand nahm sie einen Strick vom Haken, als sie den Spaten in den Schuppen zurückstellte. Dann legte sie dem Schneehund den Strick um den Hals und wickelte das andere Ende um den Stamm eines kleinen Birnenbaums, der hinter der Schneeskulptur am Rande des Gemüsebeetes wuchs.

„So. Jetzt kannst du keine Katzen mehr jagen. Nur bellen, hörst du? Das reicht!“

*

In der Nacht hörte die Frau Snowie bellen. Sie wachte davon auf und erschrak heftig, weil das Bellen eindeutig aus ihrem Garten zu kommen schien. Hastig machte sie Licht an und rannte zum Fenster. Doch im Garten draußen war es finster und das Licht in ihrem Rücken blendete sie, so dass sie nichts erkennen konnte. Kurzerhand zog sie sich einen Bademantel über und rannte hinab ins Erdgeschoß. Das Bellen klang wütend, entfernte sich aber etwas, als sie die Haustür aufgeschlossen hatte und hinausspähte.

„Snowie? Bist du das?“

Schemenhaft erkannte sie eine hundeartige, helle Gestalt über den Rasen laufen. Das Bellen war verstummt. Im Schein der Außenlaterne neben der Haustür konnte sie die Schneeskulptur am Ende des Ganges liegen sehen. Die Leine war vom Birnbaum abgerissen, da die Frau keinen richtigen Knoten gemacht hatte. Da sie aber nur Hausschuhe anhatte und es draußen eisig war, beschloss sie, ins Haus zurückzukehren und erst am nächsten Morgen nochmal nach dem Rechten zu sehen.

*

Wieder war eine der Nachbarskatzen tot. Diesmal hatte es die schwarz-weiß Gefleckte erwischt, die immer so räudig aussah. Snowie schien ihr das Genick gebrochen zu haben, nachdem er sich losgerissen hatte. Auch diesen Kadaver beerdigte die Frau bekümmert neben den beiden anderen unter dem Holunder.

Dann trat sie anklagend zu ihrem Schneehund.

„Ehrlich, Snowie. Wenn das hier nicht besser wird, werde ich mich wohl wieder von dir trennen müssen.“

Sie band das Ende der Hundeleine wieder am Birnbaum fest, achtete diesmal aber darauf, einen richtigen Knoten zu machen. Außerdem schob sie einen alten Plastikblumentopf als Maulkorb über Snowies Schnauze.

„Tja. Tut mir leid, alter Freund. Aber du musst erst lernen, zu gehorchen. Dann nehme ich dir das Ding wieder ab.“

Snowie schien sie voller Bitterkeit anzuschauen. Kopfschüttelnd wandte sich die Frau ab. Wie dumm von ihr, einer Schneeskulptur gegenüber Schuldgefühle zu empfinden! Es wurde wirklich Zeit, dass der Frühling endlich kam und der Schnee von alleine verschwand.

*

Die Maßnahmen bezüglich des Schneehundes schienen Wirkung zu zeigen. Außerdem setzte endlich Tauwetter ein. Die Märzsonne hatte bereits Kraft und sorgte dafür, dass die Schneeberge schnell kleiner wurden. Auch Snowie schmolz dahin. Die Frau war ein bisschen traurig darüber, freute sich aber auch gleichzeitig über die Krokusse, die ihre gelben und lilafarbenen Köpfe durch die Schneereste auf dem Rasen steckten. Bald wurde es Zeit, den kleinen Gemüseacker umzugraben und sich Gedanken darüber zu machen, was dort dieses Jahr wachsen sollte.

Ein Bellen ließ sie aufblicken. Die kümmerlichen Reste von Snowie konnten es nicht sein. Da erblickte sie am Ende des Gartens einen großen grau-weißen Schlittenhund, einen Malamute. Er stand oben auf den Dächern der Garagen, die sich an der Rückseite des Gartens anschlossen, und blickte zu ihr herab.

Verdutzt betrachtete sie das schöne Tier mit dem wolligen Fell und der dicken Schnauze.

„Ja. Sag mal! Wer bist du denn? Dich habe ich hier ja noch nie gesehen!“

Leichtfüßig sprang der große Schlittenhund vom Garagendach in ihren Garten und trabte auf sie zu. Er kam so selbstverständlich zu ihr, als gehörte ihm der Garten. Die Frau lachte.

„So. Dann warst du das also mit den Katzen, ja?“

Er sah zu ihr auf und setzte sich dann wedelnd vor sie, so dass sie ihre Scheu vor dem großen Tier ablegte und ihn streichelte. So aggressiv er offenbar auf Katzen reagierte, Menschen gegenüber war dieser Hund sehr freundlich. Ein Pfeifen ließ sowohl den Hund, als auch die Frau aufblicken.

„Da sucht dich wohl schon jemand.“

Kurzerhand schlang sie dem Schlittenhund das alte Seil von Snowies Leine um den Hals und führte ihn dann aus dem Garten auf die Straße. Der Hund kam artig mit ihr mit. Ein jüngerer Mann mit dunklen, leicht zerzaust aussehenden Haaren bog um die Ecke und stutzte kurz, als er die Frau mit dem Hund sah. Dann huschte ein halb erleichtertes und halb verlegenes Lächeln über sein Gesicht.

„Oh. Das tut mir leid. Wolfi ist mal wieder abgehauen.“

„Wolfi?“

Die Frau lachte.

„Na ja. Den Namen haben meine Kinder ihm gegeben“, bekannte der Mann mit einem traurigen kleinen Lächeln und legte dem Streuner eine richtige Leine an. Der Hund blickte anbetend zu ihm auf.

„Sie sollten wirklich besser auf ihn Acht geben. Ich glaube, er mag keine Katzen.“

„Oh. Das kann sein. Wolfi ist einsam. Ich muss den ganzen Tag arbeiten und kann mich nicht so richtig um ihn kümmern. Früher hatte er ja die Kinder und den Garten …“

Der Mann verstummte und es kam ihr so vor, als hätte er gerne noch weitergesprochen, war aber zu schüchtern dazu.

„Wo kann ich Sie denn erreichen, falls Ihr Wolfi mal wieder meinen Garten besucht? Nur, damit Sie sich keine Sorgen um ihn machen. Mich stört er ja nicht.“

„Ich wohne da hinten auf dem Gutshof. Haus 4. Sörensen ist mein Name“, stellte sich der Mann artig vor. Die Frau erwiderte seinen Blick freundlich.

„Und ich wohne hier in der Straße, Hausnummer 18. Das rote Haus da vorne.“

„Danke, dass Sie Wolfi eingefangen haben. Ich verspreche, dass ich jetzt besser auf ihn aufpassen werde.“

„Und falls nicht, weiß ich ja, wo ich ihn abgeben kann!“ lachte die Frau erheitert und blickte dem Mann versonnen nach, als er mit seinem Hund davonging.

Plötzlich wünschte sie sich, dass Wolfi noch recht oft davonlaufen und in ihren Garten kommen würde.

Der kalte Wind, der bis eben noch durch die Straßen gefegt war, legte sich unvermittelt und die Sonne brach hinter den Wolken hervor. Jetzt war der Winter wirklich vorbei. Der Frühling hielt Einzug und versprach eine schöne Zeit voraus.

Ein spätes Frühjahr

Er hatte sie noch nie gesehen. Doch sie fiel ihm gleich auf als sie hereinkam. Eine blonde Frau mittleren Alters mit einem liebenswerten Lächeln und freundlichen blauen Augen. Sie bestellte sich einen Kaffee mit Milch und setzte sich dann zwischen die anderen Gäste, fast ausschließlich Frauen wie sie und doch anders. Die Frauen hier waren Städterinnen durch und durch. Modisch gestylt, sorgsam frisiert und nach außen hin gaben sie sich wohlhabender, als sie es vermutlich wirklich waren. Eine leise Arroganz ging von diesen Frauen aus. Sie waren selbstbewusst und emanzipiert. Die blonde Frau hingegen hatte nichts Arrogantes an sich. Sie wirkte eher eine Spur schüchtern, als wäre sie sich ihrer selbst sehr bewusst. Gedankenvoll blickte sie hinaus auf die Straße und blätterte abgelenkt in einer der Zeitungen, die für die Gäste auslagen. Es passte zu ihr, dass sie sich die Tageszeitung ausgesucht hatte und nicht die bunten Hochglanzmagazine über Mode und Lifestyle, die es ebenfalls gab. Von seinem Platz hinter dem Tresen konnte er beobachten, wie sie die Seite mit dem Wetter aufschlug und die Wetterkarte studierte. Er schmunzelte unwillkürlich. Wer tat das nicht in diesem Frühjahr? Es war schon viel zu lange kalt. Der Winter wollte dieses Jahr so überhaupt nicht weichen. Kein Wunder, wenn man da sehnsüchtig die Wetterkarte nach ersten Anzeichen des Frühlings absuchte.

Eine Weile war es ganz ruhig im Café. Die Gäste unterhielten sich leise und so räumte der Wirt einige benutzte Tassen fort. Die blonde Frau war die Einzige, die alleine saß. Ihr Blick glitt immer wieder hinaus auf die Straße, so als wartete sie auf jemanden. Dann wurde es unvermittelt lebhaft. Einige der Gäste erhoben sich und wollten gehen, während gleichzeitig neue Kundschaft in den kleinen Raum drängte. So bekam der Wirt zunächst nicht mit, dass auch die blonde Frau nicht mehr alleine war. Ein noch recht jugendlich wirkender Mann war zu ihr getreten und hatte sie mit einem flüchtigen Kuss begrüßt. Irritiert beobachtete der Wirt, dass der junge Mann der Blonden galant in den Mantel half, so als wäre er ihr Freund, obwohl er vermutlich einige Jahre jünger war als sie. Doch das Strahlen in ihren Augen galt sicher nicht einem flüchtigen Bekannten und für ihren Sohn war der junge Mann doch zu alt.

Irritiert und eine Spur enttäuscht sah der Wirt der Blonden und ihrem Begleiter nach, als sie miteinander lachend das Café verließen. Unwillkürlich fragte er sich, was die sympathische Frau nur an dem Jüngeren fand. Die Frage beschäftigte den Wirt noch eine ganze Weile, aber er kam zu keiner Antwort. Vielleicht war es das hübsche Gesicht des jungen Mannes oder seine unbekümmerte Art. War er nicht früher selbst so gewesen? Der Wirt fühlte sich plötzlich alt und ausgebrannt. An diesem Tag schloss er das Café früher ab als sonst.

*

Einige Tage später war die blonde Frau wieder da. Wie zuvor kam sie herein, bestellte sich freundlich einen Kaffee und setzte sich dann an das Fenster, so dass sie wieder die Straße beobachten konnte. Er hatte sie gleich wiedererkannt. Obwohl sie keine auffällige Schönheit war, war etwas an ihr, dass sie aus der Masse der anderen Frauen heraushob, wenngleich sie sich dessen wohl selbst nicht bewusst war. Es überraschte den Wirt, wie sehr er sich darüber freute, dass sie wieder da war. Denn das bedeutete auch, dass sie möglicherweise hier in der Stadt wohnte und nicht nur eine Touristin war, wie er zunächst angenommen hatte. Verstohlen beobachtete er sie und sah, wie sie sich die klammen, kalten Hände an ihrem Glass mit Café Latte wärmte. Draußen pfiff ein eisiger Wind von der Ostsee durch die Straßen der großen Stadt. Ihre Wangen waren gerötet, aber ansonsten wirkte sie blass und verfroren. Unwillkürlich hatte er das Bedürfnis danach, ihr etwas Gutes zu tun und ihr vielleicht noch einen Kaffee zu bringen oder die Heizung höher zu drehen. Doch da erhob sie sich, nickte ihm liebenswürdig zu und verließ das Café wieder.

*

Der Tag war lang und ermüdend gewesen. Die Osterfeiertage rückten näher und es gab mehr Touristen in der Stadt. Immer noch war es unangenehm kalt draußen. Ein eisiger Nordwind hielt ganz Skandinavien fest im Griff. Die Buchten der Ostsee und die Kanäle der Stadt waren zugefroren. Man hätte meinen können, es wäre kurz vor Weihnachten und nicht Ende März. Immerhin schien die Sonne draußen, so als wollte sie die Menschen ein bisschen necken und daran erinnern, dass es eigentlich längst Frühling war. Der Wirt war schon lange nicht mehr draußen spazieren gewesen. Eine leise Sehnsucht erfasste ihn mit einem Mal, als er die hellen Sonnenflecken auf dem Tresen beobachtete. Früher war er weit herumgekommen. Er war Schiffsoffizier gewesen und hatte die Weltmeere bereist. Das Café war ein Projekt seiner Frau und seiner Schwester gewesen. Sie hatten es vor Jahren im ehemaligen Wohnzimmer des alten Hauses an der „Esplanaden“ eingerichtet, das der Wirt und seine Schwester von einer alten Großtante geerbt hatten. Aber dann war seine Frau eines Tages gegangen. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten, dass er so selten zuhause war. Sie hatte die beiden Söhne mitgenommen und war einfach verschwunden. Eine Welt war für ihn zusammengebrochen. Er hatte es nicht verstanden. Doch alle Versuche, sie zurückzuholen, waren gescheitert.

Es war schwierig gewesen, die Scherben zusammenzukehren und dann mit dem Leben weiterzumachen. Das Leben auf See hatte er aufgegeben. Jetzt arbeitete er in dem Café, denn seine Schwester schaffte es nicht ganz alleine, schon gar nicht, seit sie vor drei Jahren selbst ein Kind bekommen hatte. Zu Anfang hatte er noch gehofft, dass seine Frau zurückkommen würde. Doch das war nie passiert. Sie war jetzt mit einem anderen zusammen.

Der Nachmittag neigte sich bereits dem Ende entgegen. Es war leer geworden. Er schloss das Café normalerweise um sechs. Da kam ein neuer Gast herein. Er blickte auf und erkannte die blonde Frau. Sie lächelte liebenswürdig und bestellte sich einen Kaffee bei ihm. Dann zog sie ihre Jacke aus und ließ sich auf ihrem bevorzugten Platz am Fenster nieder. Eine Weile blätterte sie in der Tageszeitung und er hatte die Gelegenheit, sie verstohlen zu beobachten. Ihr Haar war vom Wind und von dem Stirnband, das sie draußen getragen hatte, verwuschelt. Sie wirkte so, als müsste man gut auf sie aufpassen, weil sie es selbst nicht für wichtig hielt. Er fand auch, dass sie für dieses Wetter zu dünn angezogen war, obwohl sie sich hübsch gemacht hatte. Ganz offenbar wartete sie hier auf jemanden, denn sie blickte immer wieder auf die Uhr ihres Smartphones, das neben ihr auf dem Tisch lag. Vielleicht auf ihren jungen Freund. Der Gedanke kam dem Wirt, dass er eine Frau wie sie sicher nicht hätte warten lassen. Nicht dass sie deswegen eine Szene machen würde. So sah sie nicht aus. Aber die traurige Enttäuschung in dem freundlichen Gesicht tat mehr weh, als ein scharfes Wort. Als die beiden anderen Gäste gegangen waren, nahm der Wirt die Kaffeekanne und trat zu der blonden Frau.

„Magst du noch einen Kaffee“, bot er ihr einladend an. Sie sah auf und lächelte überrascht.

„Ja. Danke.“

Zögernd holte sie ihr Portemonnaie aus der Tasche. Aber der Wirt winkte ab.

„Geht aufs Haus. Du bist eingeladen.“

„Dann nochmal danke“, gab sie liebenswürdig zurück.

Er schenkte ihr die Tasse voll und verhielt dann neben ihr.

„Du bist nicht von hier“, stellte er unverbindlich fest.

„Nein. Ich bin aus Deutschland.“

„Dafür sprichst du unsere Sprache aber ganz gut.“

Sie wirkte eher belustigt, als geschmeichelt.

„Es geht so. Mein Freund lacht immer über meine komische Aussprache.“

„Der Große, braunhaarige?“

Sie nickte und seufzte leise.

„Ja. Ich warte auf ihn. Aber er schafft es wohl nicht mehr. Du willst auch sicher gleich schließen, oder?“

„Nein. Kein Problem. Du kannst hier gerne noch warten.“

Er kehrte hinter den Tresen zurück und begann, ein wenig aufzuräumen. Doch seine Aufmerksamkeit war ganz bei ihr. Sie sah verloren aus dem Fenster und schien sich damit abzufinden, dass ihr Freund sie versetzt hatte. Da sie aber noch ihren Kaffee hatte, ging sie noch nicht. Er entschied, dass er sie gerne noch ein wenig länger hierbehalten mochte und begann daher ein Gespräch mit ihr.

„Was hat dich hierher verschlagen?“

Überrascht, als hätte sie seine Anwesenheit völlig vergessen gehabt, sah sie sich nach ihm um. Dann begriff sie, dass er tatsächlich mit ihr geredet hatte, denn sie war der einzige Gast. Ein verlegenes kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Man könnte sagen „die Liebe“. Aber vermutlich war es eher eine ziemliche Dummheit.“

Er hob leicht die Augenbraue, um anzudeuten, dass er ihre Worte erklärungsbedürftig fand. Zögernd fuhr sie fort:

„Nun ja. Ich habe meinen Freund im Urlaub kennengelernt. Es war eine wundervolle Zeit. Wir haben ganz viel zusammen gemacht. Ich dachte, er ist meine große Liebe und wir gehören zusammen. Als ich wieder zuhause war, habe ich kurzerhand meine Arbeit gekündigt, mein Haus verkauft und eine schlechtbezahlte Stelle hier an der Uni angenommen. Jetzt wohne ich zur Untermiete in einem schäbigen kleinen Zimmer und sehe ihn vielleicht drei Mal die Woche. Das hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt“, erzählte sie ganz offen, so wie man es nur einem unbeteiligten Fremden gegenüber kann, von dem man weiß, dass man ihn aller Voraussicht nach ohnehin nie wieder sieht.

Ihre Geschichte bewegte ihn eigentümlich. Er konnte nicht sagen, ob ihre Naivität ihn rührte oder er wütend auf ihren idiotischen Freund war. Vermutlich beides. Er kam um den Tresen herum und setzte sich neben sie ans Fenster, so dass er sie ansehen konnte, als er mit ihr sprach.

„Warum gehst du nicht wieder zurück nach Deutschland?“

„Das ist nicht so einfach, wenn man quasi alle Brücken hinter sich abgebrochen hat. Du kannst mir glauben, dass ich bereits nach Stellen suche. Aber so wie mein Lebenslauf jetzt aussieht, werde ich gleich aussortiert, zumal ich erst drei Monate hier bin. Außerdem …“

Sie zögerte ein wenig, ehe sie weitersprach.

„… ich liebe meinen Freund ja und möchte ihn nicht aufgeben müssen.“

„Obwohl er dich hier versetzt hat?“

„Ach. Er hat so viel zu tun. Er hatte mir schon gesagt, dass er es vielleicht nicht rechtzeitig schafft“, verteidigte sie ihren Freund voller Wärme. Es versetzte dem Wirt einen feinen Stich, dass sie sich trotz allem so für ihn einsetzte. Er fand, dass dieser junge Mann ihre Zuneigung nicht verdient hatte, wenn er sich nicht mehr um sie bemühte.

Das Smartphone der Frau gab einen zwitschernden Laut von sich und sie griff rasch danach, dem Wirt einen entschuldigenden Blick zuwerfend. Zögernd erhob er sich und kehrte hinter den Tresen zurück, während sie die SMS las, die sie gerade bekommen hatte. Eine leichte Röte legte sich über ihre Wangen und ließ sie jung und verliebt aussehen. Sie strahlte richtig, als sie sich ihren Mantel überzog und ihre Sachen zusammenpackte. Bevor sie jedoch das Café verließ, hielt sie noch einmal inne und sah dankbar zu ihm hin.

„Vielen Dank für den Kaffee und dass ich noch ein wenig hierbleiben durfte.“

„Gerne“, erwiderte er und blickte ihr traurig nach, als sie hinausging. Ihm kam es so vor, als hätte sie die Sonne mit sich genommen und es war gleich viel dunkler und kälter im Raum. Zu spät fiel ihm ein, dass er sie wenigstens hätte einladen sollen, wiederzukommen. Er war sich fast sicher, dass sie nicht mehr von alleine hereinschauen würde, nun da sie ihm so viel von sich erzählt hatte. Aber die Zeit, wo es ihm leichtgefallen war, mit Frauen zu flirten, war lange vorbei. Er wusste einfach nicht mehr, wie man das heute anstellte.

*

Es war einige Tage später. Am Karfreitag vor Ostern hatte es noch einmal einen richtigen Wintereinbruch gegeben. Selbst in der großen Stadt war der Verkehr beinahe wegen der Schneemengen zum Erliegen gekommen. Der Wirt hatte schon morgens den Fußweg und die Treppe zum Eingang des Cafés gefegt. Mittags war jedoch alles wieder zugeweht und er konnte sich erneut daran machen. Die Menschen froren und waren schlechter Laune. Nur sein kleiner Neffe schien unbeeindruckt vom andauernden Winterwetter. Der Wirt hatte ihn mit hinausgenommen, denn seine Schwester hatte sich ein wenig hingelegt. Belustigt sah er dabei zu, wie der Knirps die nasse, weiße Masse in der kleinen Faust zusammenpresste und gegen die Hauswand warf. Mit einem Jauchzen erfreute sich der Kleine daran, dass der Schneeball beim Aufprall auf die Wand auseinanderfiel.

„Kaputt!“ lachte er.

„Pass du nur auf! Nachher fällt das ganze Haus um!“ brummte der Wirt mit einem unterdrückten Schmunzeln und strich dem Jungen über das weißblonde Haar, als der erschrocken zu ihm aufsah. Jon war ein lieber kleiner Kerl. Der Wirt hatte ihn gern und genoss die Zeit mit seinem Neffen. Als seine Söhne damals im gleichen Alter gewesen waren, hatte er sie kaum gesehen. Er bedauerte das jetzt. Aber es war nicht mehr zu ändern.

Da seine Schwester noch schlief, als er mit dem Schneefegen fertig war, beschloss er, mit Jon einen Spaziergang zu machen. Die Strandpromenade an der Ostsee lag fast vor der Haustür. Er steckte sich noch ein paar Kekse ein, mit denen der Kleine die Enten und Schwäne füttern konnte, und dann gingen sie zusammen los.