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Im Jahr 1864 reist die Hamburger Kaufmannsfrau Clara Luise Wohlgemuth zu ihrem Mann nach Japan. Nach einem Schiffsunglück wird sie an die Küste des Königreichs Joseon gespült und dort von einer freundlichen Familie aufgenommen. Doch das Korea jener Zeit ist ein verschlossenes Land, in dem Fremde nicht gerne gesehen sind. Es braucht zwei volle Jahre, ehe Clara die Flucht nach China gelingt. Ihre abenteuerliche Geschichte wird fast 160 Jahre später von ihrer Nachfahrin wiederentdeckt, als sie beim Entrümpeln Claras alte Schreibhefte findet und dieser Spur bis ins heutige Südkorea folgt.
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Seitenzahl: 499
Veröffentlichungsjahr: 2023
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E.S. Harmondy
Drei Hefte auf dem Dachboden
Erinnerungen an zwei Jahre in Joseon
Impressum
Texte: © 2023 Copyright by E.S. Harmondy
Umschlag:© 2023 Copyright by Pittie
Verantwortlich
für den Inhalt:E.S. Harmondy
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Koreanisch und Deutsch sind ziemlich unterschiedliche Sprachen. Das eine kann ich, das andere nicht. So musste ich mich natürlich einlesen und habe mich dazu entschieden, für meine Geschichte ein paar Annahmen zu treffen.
Claras Fortschritte beim Erlernen der koreanischen Sprache werden durch Fehler in Satzstellung und Wortwahl dargestellt. Je mehr sie lernt, umso weniger Fehler macht sie. Ich habe also bewusst einige Fehler bei ihr eingebaut, wenn sie koreanisch redet. Das liest sich vielleicht komisch, ist aber gewollt.
Die Anreden zwischen den einzelnen Protagonisten wechseln zwischen „Du“, „Ihr“ und „Sie“. Auch das habe ich bewusst so geschrieben, um die komplexen Höflichkeitsregeln in Joseon abzubilden. So redet der Adelige Min-Seo alle mit „Du“ an. Er steht ja im Rang über ihnen. Verwalter Ji-Yu spricht ihn höflich mit „Ihr“ an, duzt aber seine eigenen Diener. Für die Untergebenen gibt es nur das distanzierte „Sie“ als Anrede für die über ihnen Stehenden. Clara, die das am Anfang nicht weiß, verwendet zunächst nur das „Du“ für alle. Gleichrangige, die sich nicht nahestehen, sprechen sich gegenseitig mit „Ihr“ an. Die Mitglieder einer Familie duzen sich untereinander.
Danny aus Seoul spricht mit Klara englisch und ist daher von Anfang an per „Du“ mit ihr.
Wenn ich die Geschichte jemandem vorlesen würde, müsste ich mir auch Gedanken über die Aussprache der koreanischen Namen machen. Zum Glück brauche ich das nicht. Koreanisch hat Laute, die ich nicht nachmachen kann und die sich nur unvollkommen mit unserem Alphabet abbilden lassen.
Daher ist auch die Schreibweise der Namen in dieser Geschichte einigermaßen willkürlich und folgt nicht konsequent einer offiziellen Transkribierung. Je nachdem, ob meine Quellen englisch- oder deutschsprachig war, wurde zum Beispiel der Familienname von Ji-Yu mal als „Lee“, mal als „Li“ und sogar als „Ni“ geschrieben. Ich fand optisch das englische „Lee“ ansprechend und habe es daher in meinem Text verwendet.
Die doppelte Verwendung des Namens „Clara/Klara“ ist von mir bewusst gewählt worden, auch wenn es beim Lesen im ersten Moment irritiert.
Kursiv markierte Wörter sind im Glossar im Anhang näher erklärt.
Außerdem möchte ich noch darauf hinweisen, dass diese Geschichte und die dort beschriebenen Personen zwar in einen historischen Kontext gesetzt wurden, ansonsten aber bis auf wenige, historisch belegte Charaktere fiktiv sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder schon verstorbenen Menschen sind reiner Zufall und nur meiner blühenden Fantasie und den vielen Beschreibungen geschuldet, die ich zur Vorbereitung gelesen habe.
1864
Clara Luise Wohlgemuth - Frau des Überseehändlers Friedrich Walter Wohlgemuth; Stiefmutter von Friedrich jun., Cäcilie und Eckehardt
Lee Ji-Yu - Bezirksverwalter
Park Min-Jun - Frau von Lee Ji-Yu
Lee Ji-Hoon - Sohn von Lee Ji-Yu
Lee Ye-Seul - Tochter von Lee Ji-Yu
Lee Tae-Hyung - Sohn von Lee Ji-Yu
Lee Shi-Woo - Lee Ji-Yus Vater
Hyun - Diener im Haus der Lees
So-I - Zofe im Haus der Lees
Na-Ri - Köchin im Haus der Lees
Sae-Ri - Küchenmagd im Haus der Lees
Il-Sik (Paulus) - junger Konvertit im Anwesen in Donghae
Park Min-Seo - ehemaliger Gouverneur, Großonkel von Park Min-Jun
Seong-Sik - Diener bei Park Min-Seo
Wang Ik-Sung - ehemaligen Wachhauptmann der Gouverneursresidenz
Leutnant Woo - Anführer der Podojangs in Wando
Baek Yu-Oh - Tischler und Baumeister in Wando
Kim Jae-Sok - Landarbeiter in Wando
Hong - Fischer in Wando
Tae-Gu - Hongs Sohn, ebenfalls Fischer
Lu Kang-Wa - hoher Beamter, als Inspektor (Osha) tätig
Agent Sok - Chef der Podocheong in Jeonju
Choi Jung-Hi - Spion, hat die Aufsicht über die Provinz Jeolla-do
Kdt. Kim - Kommandant der Festung in Ganghwa
Kim Gi-du - entwickelte mit Gang Yun kugelsichere Westen
Gang Yun - entwickelte mit Kim Gi-du kugelsichere Westen
Kim Soo-Ri - Anführer einer Gruppe Tigerjäger im Taebaekgebirge
Lu Il-Deung - Tigerjäger; Freund von Kim Soo-Ri
Lim Chung-He - Verwalter in Pohang auf dem Besitz von Park Min-Seo
Kang Dong-Won - Ortsvorsteher von Pohang
Yoon Ha-Seok - junger Hauptmann der Podojangs in Pohang
Han Tae-Ik - Anführer der Sandaenori-Schauspieler
Han Eunjoo - seine Schwester
Hee-Jin - ihre Dienerin
Han Chin-Hae - Han Tae-Iks Cousin
Choi - sein Diener
Eo-Jin - sein Freund
2023
Klara Franzen - liiert mit Matthias; Stiefmutter von Leon
Oh Dang-Cheong (Danny) - Stadtführer in Seoul und Blogger
Oh Se-Hun (Sam) - Dannys Vater; ehemaliger Geschichtslehrer
Kim Ji-A - Dannys Mutter
Chang Ji-Min - Nachfahre von Kim Soo-Ri und Lee Ye-Seul
Ah-Ri - Tochter von Chang Ji-Min
Seo-Yong - Tochter von Chang Ji-Min
Hyeon-Joon - Reporter in Donghae
Su-Ji - Reporterin in Donghae
Ein eisiger Wind wehte um das alte Haus in der Süllbergstraße und ließ die Dachziegel klappern. Klara warf einen besorgten Blick aus dem Dachfenster. Der schlechte Zustand von Haus und Dach würde den Verkaufspreis erheblich mindern, trotz der bevorzugten Lage in Blankenese. Doch der verstorbene Großonkel hatte seit mindestens vierzig Jahren nichts mehr in die Instandhaltung der Immobilie investiert. Wie er das große Anwesen überhaupt hatte halten können, war Klara schleierhaft.
In den letzten Tagen hatten sie begonnen, den Nachlass des Alten aufzulösen. Sie waren Zimmer für Zimmer der Villa durchgegangen, hatten sortiert und weggeworfen und sich nach und nach einen Überblick über die Gesamtsituation verschafft. Gemeinsam mit ihrer Cousine Barbara war sie nun dabei, den Speicher zu begutachten.
„Meine Güte! Hier könnte man ja ein Museum draus machen!“ hustete die Mitvierzigerin gequält und wedelte mit der Hand vor dem Gesicht herum, um die Staubwolke zu vertreiben, die dadurch entstanden war, dass sie eine Decke von einigen Koffern und Kisten gezogen hatte.
„Was machst du denn auch?“ lachte Klara belustigt und half ihr dabei, die Kisten und Koffer ins Licht des Dachfensters zu ziehen. Dahinter standen noch weitere Möbel, einige Stühle, großrahmige Bilder, eine verblichene Stehlampe.
„Glaubst du, diesen Krempel will noch jemand haben?“ trat Barbara neben sie und stemmte die Hände in die Hüften.
„Naja. Die Möbel könnten wir dem Sozialkaufhaus anbieten.“
„Wohl eher einem Trödelhändler“, spottete die hübsche Brünette und versuchte, die vorderste Truhe zu öffnen. Ein muffiger Geruch entströmte dem Inhalt. Mit spitzen Fingern hob sie den zuoberst liegenden Stoff an.
„Gardinen aus den letzten 100 Jahren! Willst du sie haben? Du nähst doch so gerne!“
Lachend wehrte Klara ab.
„Hör bloß auf! Ich habe schon mehr Stoff zuhause, als ich je verarbeiten kann.“
„Also wegschmeißen“, schloss Barbara pragmatisch und wollte den Koffer schon zur Seite schieben, als ihre blonde Cousine sie rasch zurückhielt.
„Ich schaue es noch durch.“
„Außer Motten wirst du da nichts finden“, prophezeite Barbara ahnungsvoll und machte sich daran, einen Schrank zu durchsuchen. Doch der war zum Glück leer.
Vorsichtshalber zog sich die blonde Frau ein paar einfache Gartenhandschuhe über, die sie im Hosenbund stecken hatte. Kurz überlegte sie, ob sie nicht auch eine Maske aufsetzen sollte, wegen möglicher Kotreste von Mäusen und die damit verbundene Gefahr von Hantaviren. Seit vor kurzem die Corona-Pandemie die ganze Welt in Atem gehalten hatte, waren diese Masken ja immer noch in jedem Haushalt griffbereit. Doch dann verzichtete sie darauf und nahm die Gardinen einzeln heraus. Als oberstes lagen Spitzengardinen in der Truhe, wie man sie noch in den 1970ern in jedem guten Wohnzimmer hängen hatte. Unten noch mit Bleiband beschwert, damit die leichten Gewebe gerade herabhingen. Dann kamen verschlissene, karierte Baumwollstoffe, die wohl aus der Kriegszeit stammten. Und schließlich schwere, dunkle Samtstoffe, die an vielen Stellen schon so fadenscheinig waren, dass man sie nur noch auf den Müll werfen konnte, obwohl sie sicher einmal teuer gewesen waren. Dann war die Truhe leer. Barbara hatte Recht behalten. Nichts von Wert darin.
„Uh, das hier ist ja noch älter!“ drang Barbaras Stimme an ihr Ohr. Die blonde Frau erhob sich rasch und schaltete ihre Taschenlampe an.
„Wo bist du denn?“
„Hier hinten! Man, ist das ein Krempel! Das ist ja aus dem vorvorigen Jahrhundert!“
Triumphierend zog die Brünette einen gerahmten Scherenschnitt hervor, wie er wohl in der Biedermeierzeit modern gewesen war. Der Scherenschnitt zeigte eine chinesische Pagode und zwei Figuren in langen Gewändern. Das weiße Papier war allerdings gelblich und hatte Stockflecken.
Klara lachte.
„Ich glaube, Großonkel Gottfried hat wirklich nie etwas weggeschmissen.“
Unterdessen kramte Barbara weiter in dem Gerümpelstapel. Es staubte mächtig, so dass Klara doch ihre Maske aufsetzte. Dann nahm sie auf gut Glück eine Hutschachtel aus rissigem Karton und hob den Deckel ab. Im Licht ihrer Taschenlampe erkannte sie einige offensichtlich selbst gebundene Hefte. Das Papier wirkte gelblich. Die Bindung war fremdartig, als hätte jemand die vielen Seiten mit dünnem Seidenband zusammengenäht. Dabei waren die Stiche sehr regelmäßig und fein gesetzt. Ein dunkelgrünes Stück dickeres Papier diente als Einband. Neugierig geworden nahm Klara ihren Fund hinüber zum Dachfenster, um sich das Ganze genauer anzusehen.
Als sie das oberste Heft aufblätterte, sah sie chinesisch anmutende Schriftzeichen und daneben seltsame Worte, die keinen Sinn ergaben. In einer dritten Spalte standen dann verständliche Begriffe:
„Huhn, Fischer, Eimer, gehen, rennen, der Abend, ich gehe zum Fluss, wieviel kostet das?“
Aus der hintersten Ecke erklang plötzlich ein heftiges Getöse, so als wäre irgendetwas umgefallen und hätte noch einige weitere Sachen zu Boden gerissen. Klara sprang hastig auf.
„Barbara? Alles in Ordnung?“
Die Angesprochene tauchte mit einem schiefen Grinsen wieder auf.
„Nichts passiert! Da hinten steht so eine alte Kleiderpuppe. Die ist umgefallen.“
„Na dann.“
„Was hast du da?“ neugierig trat die Brünette näher. Klara reichte ihr das selbstgebundene Heft.
„Das war da in der Hutschachtel. Sieht aus, als hätte jemand versucht, chinesisch zu lernen.“
„Wirklich? Oh man, das ist alt!“ staunte Barbara verblüfft.
Ihre Cousine nickte nachdenklich.
„Ja. Genau. Ich frage mich, wie alt. Und wer das geschrieben hat. Sieht aus wie eine Frauenschrift, findest du nicht?“
„Naja, also ich kann da nichts lesen. Das ist in diesem alten Schreibstil geschrieben. Meine Oma konnte das noch.“
„Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich mir die Hutschachtel mit und schaue, was da noch drin ist.“
„Ja. Klar. Aber wenn du Schmuck oder Geld findest, dann teilen wir, o.k.?“
Lachend nickte die Blonde.
„Keine Frage. Und jetzt lass uns weitermachen, sonst sitzen wir noch Jahre hier.“
*
Es waren insgesamt drei dieser Hefte in der Hutschachtel gewesen. Zwei waren komplett vollgeschrieben, das dritte Heft nur etwa zur Hälfte.
Interessanterweise zierten auch kleine Illustrationen oder Skizzen den Rand. Es sah tatsächlich so aus, als hätte jemand versucht, eine Sprache zu lernen. Allerdings war der Mensch dabei planlos vorgegangen. Zumindest konnte Klara keine Grammatik finden, nur Einträge wie:
„Ich habe geschlafen – ich schlafe – ich werde schlafen“
Da der Text handschriftlich und dann auch noch in der altmodischen Kurrentschrift erstellt worden war, vermochte Klara die Worte nur mühsam zu entziffern.
Doch nicht nur die Hefte waren in der Hutschachtel. Darunter lagen noch weitere Schriftstücke. Einige waren in chinesischen Zeichen erstellt und hatten seltsame, rote Stempel aufgedrückt bekommen. Andere schienen englische oder französische Urkunden über Handelskonzessionen zu sein. Es gab Rechnungen und eine alte Steueraufstellung. Und schließlich einige alte Briefe, die 1889 abgestempelt worden waren. Zwei waren von einer Clara Luise Wohlgemuth verfasst und an eine Cäcilie Bahrow geschickt worden. Der andere Brief stammte von einem Eckehardt Wohlgemuth an eben jene Clara Luise Wohlgemuth.
Der Name rief bei Klara eine verschollene Erinnerung wach. Sie hatte ihn schon früher gehört. Wohlgemuth war irgendwo in ihrem Stammbaum enthalten. Sie konnte sich jedoch nicht mehr an die Details erinnern.
Kurzerhand griff sie zum Telefon und rief ihre Tante an.
„Hallo Tante Käthe. Hier ist Klara.”
“Ach, wie schön! Was macht das Entrümpeln von Onkel Gottfrieds Haus?“
„Frag bloß nicht! Babs und ich sind mittlerweile bis zum Dachboden gekommen. Was da für Zeug rumliegt!“
Die Frau am anderen Ende lachte.
„Kann ich mir denken. Der alte Hagestolz konnte doch nie etwas wegwerfen.“
Da Klara indes keine Lust hatte, über den verblichenen Großonkel zu plaudern, wechselte sie kurzerhand das Thema:
„Sag mal, sagt dir der Name „Wohlgemuth“ etwas?“
„Wohlgemuth? Hm. Ja. Urgroßmutter Sybilles Mutter war eine geborene Wohlgemuth. Wie kommst du jetzt darauf?“
„Ich habe Briefe von einer Clara Luise Wohlgemuth auf dem Dachboden gefunden.“
„Tatsächlich?“ Die Frau am anderen Ende der Leitung horchte neugierig auf und Klara hörte, dass sie aufstand und irgendwohin ging.
„Warte mal einen Moment. Ich habe doch irgendwo …“
Man hörte Rascheln von Papier durch das Telefon.
„Ha! Da ist es! Ich habe doch einen Familienstammbaum erstellt.“
„Ja. Weiß ich. Darum frage ich dich ja“, lächelte die blonde Frau amüsiert.
Ihre Tante ließ sich jedoch nicht unterbrechen. Ahnenforschung war ihr Steckenpferd, seit sie vor fünf Jahren in Rente gegangen war. Klara wusste, dass Käthe sogar schon zweimal im Sommer durch Deutschland gereist war, um verschiedene Spuren zu verfolgen und in verstaubten Kirchenbüchern nach Einträgen zu suchen.
„Da haben wir sie schon. Clara Luise Wohlgemuth, geborene Allerthal. Sie war die zweite Frau von Friedrich Walther Wohlgemuth. Soweit ich weiß, hatten die beiden aber keine Kinder. Nur drei aus Friedrich Walthers erster Ehe. Sie ist also genaugenommen keine Vorfahrin von uns.“
„Und wann hat sie gelebt?“
„Ich habe eingetragen, dass sie 1823 in Lübeck geboren wurde und 1913 in Hamburg verstarb.“
„Dann hat sie wohl auch in Großonkel Gottfrieds Haus gewohnt“, schloss Klara nachdenklich.
„Ja. Vermutlich. Oder ihr Nachlass wurde dorthin geschafft.“
„Alles klar. Damit hast du mir schon mal weitergeholfen.“
„Ach, Klara!“ warf Käthe rasch ein, bevor das Gespräch beendet werden konnte.
„Ja?“
„Wenn du diese Briefe nicht mehr brauchst, kann ich sie haben? Oder mir zumindest eine Kopie davon machen?“
„Klar. Kein Problem. Da fällt mir ein. Bei den Briefen waren auch Hefte, die so aussahen, als hätte jemand Chinesisch gelernt. Weißt du, ob diese Wohlgemuths mal in China waren?“
„Hm. Soweit ich weiß hatten die Wohlgemuths ein Handelshaus in Hamburg. Überseehandel mit Asien. Es ist gut möglich, dass sie dabei nach China, Japan oder eines der anderen Länder gekommen sind.“
„Spannend“, fand Klara beeindruckt und beschloss bei sich, ein wenig mehr über das Handelshaus ihrer Vorfahren herauszufinden.
*
„Sag mal, Babs. Deine Tochter lernt doch Chinesisch in der Schule.“
Die beiden Cousinen hatten sich wieder im Haus in der Süllbergstraße getroffen, um dem Entrümpelungsdienst die Tür aufzuschließen und darauf zu achten, dass die Männer dieser Firma auch nur die Sachen mitnahmen, die sie nicht anderweitig verwenden oder verkaufen wollten.
Im Haus herrschte einiger Lärm, da Möbel gerückt, zerlegt oder zerschlagen wurden, um alles abzutransportieren. Zwei große Container standen rechts und links des Hauseingangs im Garten und wurden von den Mitarbeitern des Entrümpelungsdienstes fleißig befüllt.
Die beiden Frauen hatten es sich im Büro neben dem Eingangsflur mit einer Tasse Kaffee gemütlich gemacht und beobachteten das Treiben aufmerksam.
„Hm? Was? Ach so. Ja. Mal sehen, wie lange sie diese Idee noch hat, dass sie unbedingt ein Jahr in Shanghai studieren will. Davor wollte sie unbedingt nach Los Angeles. Und davor nach London.“
Klara grinste nur.
„Ach, wir hatten doch auch solche Ideen als wir jung waren.“
„Ich nicht“, schüttelte Barbara entschieden den Kopf. Da war tatsächlich etwas Wahres dran. Klara konnte sich gut daran erinnern, dass sie zu zweit zum Reiten nach Irland gefahren waren und Barbara heftiges Heimweh bekommen hatte, während sie selbst gar nicht mehr nach Hause wollte und geheult hatte, als sie ihr Pflegepferd Melvin zurücklassen musste.
„Kannst du ihr das mal zeigen?“ schob Klara ihrer Cousine eines der handgebundenen, vergilbten Hefte zu, die sie in der Hutschachtel gefunden hatte.
Barbara warf einen Blick darauf.
„Ach, das alte Zeug vom Dachboden. Klar. Das machen wir gleich.“
Rasch hatte sie ihr Handy gezückt und fotografierte eine der Seiten. Dann schickte sie die Fotografie an ihre Tochter.
„Ist das Chinesisch?“ schrieb sie dazu.
Keine zwei Minuten später meldete Barbaras Handy den Eingang einer WhatsApp-Nachricht.
„Nee. Das ist Koreanisch.“
Als Barbara ihr die Antwort zeigte, warf Klara dem alten Heft einen nachdenklichen Blick zu.
Korea also. Was für eine Geschichte verbarg sich dahinter? Ob sie es je herausbekommen würde?
Der Sturm hatte nachgelassen. Durch die dunklen Wolken brachen hier und da bereits helle Sonnenstrahlen und ließen die schaumgekrönten Wellen des Meeres glitzern. Fischer Hong und sein Sohn Tae-Gu waren früh aufgestanden, um noch mit der ablaufenden Flut hinauszufahren. Sie trugen einige Reusen aus Bambusgeflecht mit sich und luden sie in ihrem Boot ab, das vor dem Sturm auf den Strand hinaufgezogen war. Als sie sich gerade daranmachen wollten, das Boot ins Wasser zu schieben, verhielt der Jüngere und deutete den Strand hinab.
„Vater! Schau mal da!“
Ein Stück entfernt direkt an der Wasserlinie lag ein unordentlicher Haufen pflaumenblauer Stoffe.
„Was ist das?“ wollte der Alte verwundert wissen und ließ das Boot los. Zögernd tat er ein paar Schritte auf den Stoffhaufen zu. Allmählich begriff er, dass dieser Stoffhaufen Kleidung war und in der Kleidung ein Mensch steckte.
Fischer Hong riss entsetzt die Augen auf.
„Rasch! Hol den Verwalter Lee, Tae-Gu! Er soll sich das ansehen!“
„Ist das ein Mensch?“
Der junge Fischer war unter der sonnengebräunten Haut blass geworden, als er die wirren, bleichen Haare der angeschwemmten Person sah.
„Ein Wassergeist?“
„Jetzt lauf schon!“
Beherzt ergriff Fischer Hong einen angetriebenen Ast und hielt in gehörigem Abstand zu dem gestrandeten Wesen Wache. Tae-Gu zögerte nicht mehr und rannte sofort zurück zum Ort.
Das Anwesen des Bezirksverwalters Lee lag am Hang einer kleinen Anhöhe mit Blick auf das Meer und doch durch seine Lage geschützt von den hier meist aus dem Westen oder Südwesten wehenden Winden. Eine recht hohe Steinmauer umgab den Hof, so dass man im Innern ungestört von Blicken war. Ein Tor mit einem kleinen Dach darüber gewährte Besuchern den Eintritt. Tae-Gu hatte schon befürchtet, dass so früh im Haus noch niemand wach war, doch die Torflügel standen bereits offen und als er den Hof betrat, sah er den Hausherrn gerade das Haupthaus verlassen.
„Herr Lee! Bitte kommen Sie schnell! Da ist etwas im Sturm an den Strand gespült worden!“ keuchte der junge Fischer atemlos vom schnellen Rennen und presste sich die Hand gegen das Seitenstechen unter die Rippen.
Überrascht hielt der Verwalter inne. Er war ein hochgewachsener Mann in mittleren Jahren. Sein schwarzes Haar war oben auf dem Scheitel zu einem festen Knoten zusammengebunden. Ein enganliegendes Stirnband sorgte zusätzlich dafür, dass sich keine vorwitzige Haarsträhne aus der formellen Frisur lösen konnte. Da er gerade hatte ausreiten wollen, trug Lee Ji-Yu eine weite, helle Hose und darüber einen knielangen, an den Seiten geschlitzten Mantel aus dunklem Baumwollstoff.
„An den Strand gespült? Was denn?“ wollte der Verwalter wissen, während er dem jungen Fischer rasch folgte.
„Vielleicht ist es ein Mensch. Vielleicht ist es ein Wassergeist. Wir wissen es nicht. Vater bewacht es gerade.“
Schon als er den Strand erreichte, erkannte der Bezirksverwalter den an der zurückweichenden Wasserlinie angespülten Haufen Stoff. Als er nähertrat, konnte er aus den unförmigen Konturen tatsächlich Arme und Kopf eines Menschen ausmachen. Ji-Yu überlegte kurz, dann nahm er dem alten Fischer den Ast ab und berührte mit dem Ende die Schulter des angespülten Menschen.
„Ist das ein Wassergeist?“ wollte Fischer Hong unsicher wissen.
„Unsinn!“ entschied der Verwalter ruhig.
„Aber sehen Sie doch, Herr Lee! Diese Haare! Die Hautfarbe!“
Der angespülte Mensch trug im Nacken einen zum Knoten gewundenen Zopf. Soviel konnte man unschwer erkennen. An Stirn und Schläfen hatten sich jedoch nasse Strähnen gelöst und hingen dem Menschen schwer über das Gesicht. Es war ein sehr blasses Gesicht und auch die Hände waren nahezu weiß.
„Das ist ein Ausländer“, erkannte Ji-Yu klar.
Der Fischer und sein Sohn warfen sich einen ungläubigen Blick zu.
„Aber Herr Lee! Aus Qing kann er nicht sein!“
„Nun, es gibt ja noch andere Länder“, ermahnte der Verwalter seine ungebildeten Untergebenen. Hong und Tae-Gu rissen die Augen auf.
„Ein Ausländer!“
Da begann sich der Angespülte zu bewegen und sowohl die beiden Fischer als auch der Verwalter traten unwillkürlich einen halben Schritt zurück.
„Du! Wer bist du?“ wollte Ji-Yu entschieden wissen.
Ein Husten schüttelte den Körper des Angespülten. Dann versuchte der Mensch, sich langsam aufzurichten und Ji-Yu begriff, dass es eine Frau war, die vor ihm lag. Sie hatte seltsam blasse, blaugraue Augen, so dass er sich unwillkürlich fragte, ob diese Frau eine Augenkrankheit hatte oder gar blind war. Doch als sie sich mühsam aufgesetzt hatte, blickte sie ihn furchtsam an, so dass er diesen Verdacht rasch verwarf.
„Wer bist du?“ wiederholte er seine Frage, allerdings nicht mehr so streng wie zuvor. Die Frau sah ihn nur verständnislos an und sagte ihrerseits etwas, dass seltsam klang und keinen Sinn ergab.
„So kommen wir nicht weiter“, entschied Ji-Yu ratlos.
Die Frau wirkte unglücklich und erschöpft.
Schließlich zeichnete sie etwas mit dem Finger in den Sand. Der Verwalter beobachtete sie zunächst misstrauisch, dann zunehmend überrascht. Schließlich hockte er sich sogar hin, um die Zeichnung besser erkennen zu können.
Auf dem Sand war ein stilisiertes Schiff mit zwei Masten zu erkennen. Ein Strichmännchen stand an Deck. Die Frau deutete auf sich selbst und dann auf das Strichmännchen.
Langsam nickte Ji-Yu.
„Verstehe. Du warst auf einem Schiff.“
Die Frau zeichnete hohe Wellen um das Schiff und deutete mit Wirbeln den Sturm an. Dann wischte sie das Strichmännchen weg und zeichnete es stattdessen in den hohen Wellen.
„Du bist ins Wasser gefallen“, interpretierte der Verwalter nachdenklich.
Die Frau blickte sich hastig am Strand um und deutete auf einen dicken, glattpolierten Baumstamm, an dem noch einige Taue und ein Stück Segeltuch hingen.
Sie wischte eine Hälfte des vorderen Schiffsmastes weg und deutete erneut auf den Stamm.
„Der Mast ist gebrochen und du hast dich daran festgehalten.“
Die Frau blickte ihn hoffnungsvoll an und er nickte.
„Das habe ich verstanden.“
Sie wirkte erleichtert.
Der Verwalter betrachtete die zu seinen Füßen Sitzende einen Moment ratlos. Dann fasste er einen Entschluss.
„Steh auf“, unterstrich er seine Worte mit einer entsprechenden Geste.
Mühsam kam die Frau seiner Aufforderung nach.
Sie war nicht besonders groß, stellte er fest. Das Kleid, das sie trug, wirkte unterhalb der Taille ungewöhnlich voluminös, obwohl es nass und schwer in vielen Falten und Lagen an ihrem Körper herabhing. Es hatte einen für koreanische Verhältnisse unzüchtigen Ausschnitt und lag sehr eng am Oberkörper an, so dass man den Busen der Frau gut erahnen konnte. Die beiden Fischer starrten die Frau unverhohlen an.
„Oh! Ob das eine Gisaeng ist?“
Ji-Yu gab ein missbilligendes Schnalzen von sich und blickte die beiden Fischer streng an.
„Ich nehme diese Fremde mit und sperre sie bei mir im Haus ein, damit sie nicht hier herumläuft und für Ärger sorgt. Ihr beide haltet darüber den Mund. Wenn ich auch nur ein Wort darüber im Ort zu hören bekomme, dann seid ihr euer Boot und eure Konzession zum Fischen los. Haben wir uns verstanden?“
Erschrocken sahen Hong und Tae-Gu den Verwalter an. Sie wussten, dass er durchaus die Macht dazu hatte, seine Drohung umzusetzen. Dann verneigten sich der alte und der junge Fischer tief.
„Ja, Herr Lee. Wir haben nichts gesehen und gehört.“
Die Frau stand die ganze Zeit zitternd mit um den Körper geschlungenen Armen daneben und wartete schicksalsergeben, was nun passieren würde. Ob sie den Austausch zwischen den Männern verstand, konnte niemand sagen.
Schließlich wandte sich Ji-Yu wieder an sie und machte eine Geste, dass sie ihm zu folgen hatte. Sie hob einige von den Stofflagen ihres schweren Rockes an, doch der hintere Teil schleifte nass über den Sand.
„Was für seltsame Kleidung“, wisperte Tae-Gu seinem Vater zu. Doch der versetzte seinem Sohn einen Klaps auf den Hinterkopf.
„Halt den Mund! Du hast doch gehört, was Herr Lee gesagt hat. Wir haben nichts gesehen und gehört. Verstanden?“
Grummelnd machte er sich daran, das Boot ins Wasser zu schieben. Schließlich waren sie zum Fischen gekommen und es war bereits viel zu spät. Das würde wohl kein guter Fangtag werden.
*
Auf dem Weg zurück zu seinem Haus hatte Ji-Yu nachgedacht. Entweder übergab er die Frau gleich den Podojangs oder er versteckte sie bei sich. Aber dann durften nur so wenig Leute wie möglich davon wissen. Es war kaum denkbar, sie direkt im Anwesen unterzubringen. Dort gingen zu viele Menschen ein und aus. Also entschied er sich, sie in der alten Jagdhütte unterzubringen. Diese Hütte lag am Fuß des Hügels im Wald und gehörte zum Anwesen des Bezirksverwalters. Ab und zu zog er sich dorthin zurück, wenn er seine Ruhe haben wollte. So hatte er es sich dort recht gemütlich eingerichtet. Die Hütte erschien ihm daher als der geeignete Ort, um die Fremde zu verstecken. Rückblickend hätte er selbst nicht mehr sagen können, warum er sie nicht sofort bei der Podocheong, der Polizeibehörde, meldete. Er wusste, dass Fremde im Land nicht erwünscht waren. Doch irgendetwas an ihr, die Art, wie sie trotz aller Sprachschwierigkeiten sofort mit ihm hatte kommunizieren können, hatte ihn neugierig gemacht.
Er war gerade erst vom Hauptweg abgebogen, als er Stimmen hörte. Rasch beschleunigte er seinen Schritt und deutete der Frau an, ihm zu folgen, bis das Buschwerk und einige niedrige Bäume sie vor den Blicken abschirmten. Es war gut, dass es noch so früh am Tag war und der Sturm der letzten Nacht dafür gesorgt hatte, dass keiner der Fischer seinem üblichen Tagesablauf folgte. Die Fremde wirkte überraschend gefasst und konnte ihm trotz ihrer überstandenen Strapazen ohne Mühe folgen. Ihr ausladender Rock war für den schmalen Trampelpfad viel zu breit. Doch sie ließ sich nicht davon aufhalten und so wurde der Saum immer schmutziger und riss sogar ein, als er an einem Ast hängen blieb. Ji-Yu hörte den Stoff reißen. Er fragte sich unwillkürlich, warum sie so ein unpraktisches Kleidungsstück trug. War sie eine Adelige? Kam sie von einem Fest? Doch was wusste er schon von den Fremden außerhalb seines Landes? So gut wie nichts. Es gab kaum Kontakte mit anderen Ländern. Ein wenig Handel im Norden mit China. Früher auch mit Japan. Doch andere Völker? Manchmal tauchten seltsame Schiffe in der Ferne auf. Dann gab es Alarm. Woher sie kamen, war oft nicht festzustellen. Keines legte je an, zumal es nicht einfach war, große Schiffe an die Küste seines Landes zu navigieren. Die Strömung war tückisch. Die Gezeiten sehr stark. Man brauchte flache Boote und sehr viel Ortskenntnis, um gefahrlos zwischen den vielen Inseln und auf den Flüssen zu navigieren.
Schließlich erreichten sie die kleine Lehmhütte, die versteckt zwischen Bäumen und Büschen im Wald lag. Die Tür war nicht verschlossen. Es gab kein Schloss, nur einen einfachen Holzriegel, den Ji-Yu zurückschob. Dann trat er ein und blickte sich nach seiner Begleiterin um. Obwohl sie nicht groß war, musste auch sie sich bücken, denn der Türsturz war höchstens anderthalb Schritt hoch. Fenster gab es nur eines. Es war klein und mit einem hölzernen Gitter versehen, über das ein dünnes, gelbliches Papier gespannt war, so dass etwas Licht hereinfiel.
Groß war die Hütte nicht. Fünf Schritte in der Länge, vier Schritte in der Breite. Der Boden bestand aus festgestampftem Lehm. An einer Stelle lagen zwei Strohmatten übereinander. Daneben stand ein kleines, hölzernes Tischchen. An der gegenüberliegenden Wand waren einige Pflöcke in den Lehm eingebunden, so dass man daran etwas aufhängen konnte. Die Querbalken, die das Dach stützten, dienten offenbar als Lagerraum. Man hatte zwei Holzbretter darübergelegt und einige Sachen darauf verstaut. Im Raum roch es trocken nach altem Leder, Staub und getrockneten Kräutern. Insgesamt kein unangenehmer Geruch.
„Warte hier“, befahl Ji-Yu der Fremden. Sie blickte ihn aufmerksam an, aber er war sich nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte. Darum deutete er auf die Strohmatten.
„Setz dich.“
Zögernd kam sie der Aufforderung nach.
„Du wartest hier“, wiederholte der Bezirksverwalter geduldig seine Worte. Dann deutete er zur Tür und machte eine abwehrende Geste mit der Hand.
„Du gehst nicht hinaus! Du bleibst hier drin. Verstanden?“
Sie nickte zögernd und er seufzte erleichtert.
„Gut. Ich komme wieder. Aber das kann etwas dauern. Bleib hier drin. Nicht hinausgehen!“ wiederholte er erneut und verließ dann die Hütte.
*
Der Mann war gegangen und Clara blieb in der Hütte zurück. Sie war müde, hatte Hunger und Durst und fror entsetzlich. Ratlos blickte sie sich um. An einem der Wandhaken hing etwas, das aussah wie ein Regenumhang. Als sie aufstand, um es genauer zu untersuchen, stellte sie fest, dass der Umhang aus Ölpapier bestand. Oder etwas, das einem Ölpapier nahe kam. Auf den Brettern unter dem Dach lag ein altes, steifes Kuhfell. Sie zog es herab und legte es auf den Boden. Etwas zu essen oder trinken entdeckte sie nicht. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie vor die Tür gehen und nach einer Quelle oder Früchten suchen sollte. Doch die Anweisungen des Mannes, der ihr geholfen hatte, waren selbst ohne Kenntnis der Sprache eindeutig gewesen. Hinausgehen sollte sie nicht und daran wollte sie sich für den Moment halten, bis sie die Lage besser einschätzen konnte. Immerhin war sie nicht mehr im Wind. Clara beschloss, zunächst etwas gegen das Frieren zu tun. Da sie keine Ersatzkleidung hatte, zog sie nur das Oberkleid und zwei der drei Unterröcke aus und hängte sie zum Trocknen an die Holzhaken an der Wand. Auch ihre Schuhe und Strümpfe stellte sie sorgsam beiseite. Dann wickelte sie sich in den Regenumhang, legte sich auf die Strohmatten und zog das Kuhfell über die Beine. Es dauerte nicht lange und sie war eingeschlafen.
*
Lee Ji-Yu gehörte den Jungin, der oberen Mittelklasse, an. Er war seit fast einem Jahr der Verwalter dieses Bezirks, der zur Provinz Jeolla-do im Südwesten des Landes gehörte. Auch wenn er zunächst wenig erfreut über die Ernennung gewesen war, hatte er sich mittlerweile doch mit den Gegebenheiten arrangiert. Die Menschen in seinem Bezirk waren vielfach Fischer oder Bauern. Das Land war fruchtbar, so dass hier alle Sorten Gemüse und Getreide wuchsen, die man sich nur denken konnte. Lukrativ war der Handel mit der Insel Jeju, die weit im südlichen Meer lag. Von dort kamen die kleinen Pferde, die überall im Land begehrt waren. Ji-Yu wusste, dass sie allein für das Anlanden der Tiere einen ordentlichen Preis verlangen konnten. Je weiter man von Jeju entfernt war, umso teurer wurde so ein Pferd, bis man im Norden des Landes wiederum Pferde aus dem benachbarten China ins Land schmuggelte und somit den Preis wieder senken konnte.
Doch nicht der Handel beschäftigte Ji-Yus Gedanken, sondern die vom Meer angespülte Frau aus der Fremde. Was sollte er mit ihr machen? Einerseits war er neugierig und hatte tausend Fragen an sie. Doch andererseits erinnerte er sich noch gut an die Verfolgung der wenigen fremden Priester und ihrer bekehrten, koreanischen Anhängerschaft, als er Kind war. Damals hatte er mit seinen Eltern in der Hauptstadt gelebt. Der Vater war gerade Schreiber in der Palastbibliothek geworden. Ji-Yu war noch klein gewesen, doch die Angst der Erwachsenen hatte er deutlich gespürt, obwohl niemand in der Familie je Kontakt zu diesen Leuten gehabt hatte.
Als Ji-Yus 15. Geburtstag herannahte, hatte es wieder eine Welle der Gewalt gegen die Bekehrten und ihre fremden Lehrer gegeben. Daraufhin hatten die Fremden Schiffe ausgesandt, die in der Hauptstadt für Angst und Schrecken sorgten. Glücklicherweise waren diese Schiffe wieder abgezogen, ohne irgendetwas zerstört oder auch nur erreicht zu haben.
Nun hatte sich vor fünf Jahren auch noch das Nachbarland Japan zwangsweise dem Einfluss und Handel der Fremden geöffnet und das besorgte den König und seinen gesamten Hofstaat immens.
Durch seine Tätigkeit als Verwalter war Ji-Yu indes nicht mehr oft in der Hauptstadt. In den vergangenen zwanzig Jahren war er von einer Verwalterstelle zur nächsten geschickt worden. Es war Brauch, dass Verwalter alle zwei Jahre den Bezirk wechselten. Es kostete viel Geld, sich die Verwalterstelle für zwei weitere Jahre zu sichern. Bisher hatte Ji-Yu es vorgezogen, das mühsam erworbene Geld anders zu verwenden und sich irgendwohin versetzen zu lassen, wo niemand sonst hinwollte. Es war nicht leicht gewesen, seinem Sohn eine Stelle als Adjutant eines Ministers dritten Ranges für die Zivilverwaltung zu kaufen. Dafür hatte er jedoch gerne die weit von Hanseong entfernte und somit wenig erstrebenswerte Stelle an der südlichen Küste in Kauf genommen.
All das ging ihm im Kopf herum, als er durch das Tor zu seinem Anwesen trat. Im Gegensatz zum frühen Morgen herrschte jetzt geschäftiges Treiben. Zwei der Hausdiener eilten vorbei, ein Bauer brachte einen Korb frisches Gemüse und die Zofe seiner Frau schüttelte die Matratzen aus, auf denen sie geschlafen hatten.
Das Haus der Lees war L-förmig gebaut und hatte eine zum Hof hin offene, überdachte Veranda. Da es ein Stück erhöht stand, musste man vier Stufen steigen, um auf die Veranda zu gelangen.
Ji-Yu betrat das Haus durch eine der mit Ölpapier bespannten Fenstertüren, die auf die Terrasse hinausführten. Dahinter lag ein schmaler Gang, von dem aus alle Zimmer abgingen. Als er sich im Wohnraum der Familie niedergelassen hatte, kam seine Frau Min-Jun und brachte ihm ein Tablett mit seinem Frühstück.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie freundlich. Min-Jun neigte anmutig den Kopf. Obwohl sie bereits 36 Jahre zählte und ihm drei Kinder geboren hatte, von denen eines gestorben war, war sie doch noch immer eine schöne Frau. Ihr dunkles Haar zeigte keinerlei Anzeichen von weißen Strähnen, wie es bei so mancher Bäuerin zu sehen war, wenn sie Min-Juns Alter erreicht hatten.
„Du bist früh unterwegs gewesen“, stellte sie fest, als sie ihm ein niedriges Tischchen heranzog und das Tablett darauf abstellte. Dann setzte sie sich an die Stirnseite des Tischchens und schenkte ihm eine Schale Tee ein. Das Teetrinken war unter den einfachen Leuten nicht sonderlich weit verbreitet, obwohl die Teebüsche überall wild wuchsen. Die meisten der Bauern und Fischer machten sich nicht die Mühe der Zubereitung und tranken stattdessen lieber kaltes Wasser. Doch Ji-Yu mochte den Tee und bestand darauf, auch hier in der Provinz jeden Morgen eine Kanne voll serviert zu bekommen.
„Ich habe einen Spaziergang zum Strand gemacht“, antwortete Ji-Yu auf ihre Feststellung.
„Ist dort nach dem Sturm alles in Ordnung?“
Es verblüffte den Verwalter immer wieder, welch feines Gespür seine Frau hatte. Ihr etwas zu verheimlichen oder vorzuenthalten, war nicht einfach. Dennoch. Solange er sich nicht entschieden hatte, was er mit der Fremden anstellen wollte, musste er ihre Existenz geheim halten. So antwortete er ausweichend.
„Fischer Hong und sein Sohn waren da. Ich habe eine Weile mit ihnen geredet.“
Bevor sie das Thema vertiefen konnten, räusperte sich jemand vor der Zimmertür.
„Herr Lee! Draußen wartet der Hafenmeister. Zwei Boote von Jeju sind eingetroffen.“
Bedauernd blickte Ji-Yu auf die Schale mit dem dampfenden Reis und schob sich rasch noch einen Löffel voll in den Mund, ehe er sich erhob und antwortete.
„Ich komme.“
Bevor er jedoch das Zimmer verließ, blickte er sich nochmal zu seiner Frau um.
„Bitte pack mein Frühmahl ein. Ich hole es mir später, wenn mehr Zeit ist.“
Min-Jun nickte und sah ihrem Mann mitleidig nach. Es kam ihr so vor, als wenn es hier in den südlichen Provinzen für den Verwalter doppelt so viel Arbeit gab. Bei seiner letzten Stelle hatte Ji-Yu viel weniger zu tun gehabt. Doch die Leute hier verlangten ständig nach ihm, als könnten sie selbst keine eigenen Entscheidungen treffen. Aber vielleicht war dies auch einfach nur ein Zeichen der Zeit. Die Leute überall im Land waren unzufrieden und lebten in Furcht. Nachdenklich stellte Min-Jun die Schälchen mit dem Frühmahl in einen mit Baumwolle ausgepolsterten Henkelkorb und verschloss ihn. Sie hoffte, dass er den Korb bald holen würde, denn sonst half auch die Isolierung mit der Baumwolle nicht, um das Essen noch warm zu halten.
*
Die Mittagszeit war längst vorbei, ehe der Bezirksverwalter dazu kam, sein Frühmahl zu holen. Mit dem Henkelkorb und einem Krug Wasser in den Händen machte er sich auf den Weg zur Jagdhütte. Er selbst hatte im Ort eine Handvoll Honigkekse erworben, von denen noch zwei übrig waren, die er oben auf den Henkelkorb gelegt hatte. Als er die Hütte erreichte, räusperte er sich und fragte leise an:
„Hier ist Lee Ji-Yu. Kann ich eintreten?“
Als er keine Antwort erhielt, öffnete er vorsichtig die Tür und spähte herein. Die Frau lag auf den Strohmatten und schlief. Man sah nur ihren Kopf, ihr Körper war von einem alten Regenumhang und einem alten Kuhfell bedeckt. Ihr Atem ging tief und regelmäßig. Ganz offenbar war sie sehr erschöpft gewesen und schlief nun fest.
Ji-Yu stellte den Henkelkorb mit seinem Frühmahl und den Wasserkrug nicht weit von ihr entfernt auf den Boden. Dann bemerkte er die Kleidungsstücke, die sie ordentlich an den Wandhaken zum Trocknen aufgehängt hatte. Darunter standen ihre Schuhe. Die Strümpfe trockneten über dem kleinen Tischchen, an dem er sonst Schreibarbeiten erledigte. Es berührte ihn seltsam, diese augenscheinliche Ordnung zu sehen. Leise verließ er die Hütte wieder und dachte darüber nach, was das für ein Mensch sein musste, der an das Ufer eines ihm fremden Landes gespült wurde und dennoch ordentlich seine Sachen aufhängte und sich dann ruhig zum Schlafen niederlegte. Diese Frau war nicht panisch oder verzweifelt und das rang ihm Respekt ab.
*
Als Clara erwachte, war das Licht in der Hütte ein anderes, irgendwie wärmer und schien doch aus einer anderen Richtung zu kommen, denn es fiel genau auf das mit Papier verdeckte Fenster. Sie trat an die Papierbespannung heran, aber außer sich bewegender Schatten der Bäume konnte sie nichts erkennen. Dennoch vermutete sie, dass es mittlerweile Nachmittag oder sogar früher Abend geworden war. Sie untersuchte ihre zum Trocknen aufgehängten Kleidungsstücke und stellte fest, dass sie nur noch leicht klamm waren. Dann bemerkte sie den Henkelkorb und den Wasserkrug aus Ton. War der Mann wieder dagewesen, während sie geschlafen hatte? Es schien so. Eine leichte Röte huschte unwillkürlich über ihr Gesicht, als sie daran dachte, dass sie nur in ihre Unterwäsche und das Korsett gewandet war. Rasch kleidete sie sich an und setzte sich dann mangels Stuhls wieder auf die Strohmatten auf dem Boden.
Der Henkelkorb bestand aus Bambusholz. So viel erkannte sie unschwer. Vier runde Schalen waren übereinandergestapelt und mit einem Deckel versehen. Damit die ganze Angelegenheit nicht auseinanderfiel, war rechts und links an jeder der Schalen eine Öse befestigt. Durch diese Ösen hatte man den Henkelbügel hindurchgeführt und unter der untersten Schale mit einem Zapfen gesichert, so dass der Henkel beim Tragen nicht aus der Führung rutschte. Fasziniert betrachtete Clara diese Konstruktion. So etwas ähnliches hatten die Bergleute bei sich, wenn sie in die Eisen- oder Kohleminen einfuhren. Sie trugen darin ihr Essen bei sich. Und genau dafür diente offenbar der Bambuskorb auch. Obenauf lagen zwei Gebäckstücke, die ein wenig klebrig waren und nach Honig dufteten. Hungrig verspeiste Clara sie, obwohl sie Honig nicht sonderlich schätzte.
Dann trank sie einige Schlucke Wasser und untersuchte schließlich den Henkelkorb. In der obersten Schale befand sich gekochter Reis. Darunter eine Schale mit einer dünnen Suppe. Dann etwas, dass sie an Sauerkraut erinnerte, nur viel schärfer, und schließlich ein matschiges Gemüse, das wohl gestampfter Bohnenbrei war. Obwohl die Gerichte längst kalt geworden waren, aß Clara alles auf. Es tat gut, etwas im Magen zu haben: Ihre Lebensgeister erwachten und damit auch ihre Neugier. War dieses Land Japan? Oder doch Korea? Der Kapitän der „Viktoria Regis“ hatte ihr beim letzten Mahl vor dem Sturm erklärt, dass sie das verschlossene Reich an seiner Südküste umfahren würden, ehe sie Kurs auf Nagasaki in Japan nahmen.
Mit Sorge dachte Clara an ihre Mitreisenden und fragte sich, ob das Schiff je seinen Bestimmungsort erreicht hatte oder ob es im Sturm an den Klippen der zerklüfteten Südküste zerschellt war.
Da vernahm sie an der Tür ein Kratzen und jemand fragte leise etwas.
Erschrocken zuckte sie zusammen. Aber dann erhob sie sich rasch und ging zur Tür, um sie zu öffnen. Der Mann, der sie hergebracht hatte, stand draußen. Zumindest vermutete Clara dies, denn für sie sahen die asiatischen Menschen alle auf den ersten Blick sehr ähnlich aus. Sie trat beiseite, um ihn einzulassen, und war insgeheim erleichtert, dass sie wieder vollständig bekleidet war. Sein Blick fiel auf den geöffneten Essensbehälter und er fragte sie etwas. Vielleicht, ob es ihr geschmeckt hatte.
Sie nahm eine der leeren Schalen auf, tat, als würde sie etwas in den Mund schieben, und rieb sich dann behaglich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck über den Bauch. Der Mann musste ebenfalls lächeln, ob ihrer durchaus sprechenden schauspielerischen Leistung. Ganz offenbar war er gekommen, um sich mit ihr zu unterhalten. Er zog sich eine der Strohmatten heran, stellte das niedrige Tischchen vor sich und deutete an, dass sie sich auf die andere Strohmatte auf der gegenüberliegenden Seite setzen sollte.
Bereitwillig kam Clara der Aufforderung nach und erwartete gespannt, was er von ihr wollte.
Im Tischchen gab es eine kleine Schublade, die der Mann aufzog. Darin enthalten waren mehrere Bogen Papier, ein Tuschestein, Pinsel und ein Schälchen für das Wasser, um die Tusche anzurühren. Aus dem Wasserkrug füllte der Mann etwas Flüssigkeit in das Schälchen um und benetzte den Tuschestein damit.
Dann sah er Clara prüfend an und legte sich die Hand auf die Brust.
„Lee Ji-Yu“, stellte er sich vor.
Clara war sofort klar, dass dies sein Name sein musste. Er wiederholte die Worte noch einmal und sie sprach sie zögernd nach.
Zufrieden nickte der Mann und deutete dann auf sie.
Clara wiederholte seine Geste und legte ihre Hand auf die Brust.
„Clara Luise Wohlgemuth“, stellte sie sich vor. Der Blick aus seinen Augen war ratlos. Das war offenbar zu viel gewesen. Darum verkürzte sie den Namen.
„Clara“
„Kwa-wa“ kam es zögernd zurück. Sie schüttelte belustigt den Kopf und sprach es ihm erneut langsam vor.
„Cla-ra“
„Klla-lla“
Das „L“ klang komisch gerollt und fremd aus seinem Mund. Er schien selbst nicht zufrieden zu sein, konnte die ihm unbekannten Laute indes nicht besser nachahmen. „KL“ schien es in seiner Sprache nicht zu geben. Ebenso ein flaches, im Rachen gebildetes, deutsches „R“.
So kamen sie wohl nicht weiter. Die Frau aus Deutschland dachte kurz nach und stellte sich dann mit ihrem Kosenamen vor:
„Clärchen“
„Léh-chin“
Hoffnungsvoll blickte der Mann sie an und sie nickte schließlich. Besser würde es wohl nicht werden.
Da kam Clara eine Idee und sie fragte zögernd:
„Japan?“ deutete sie eine umfassende Geste der Gegend an.
Der Mann überlegte, was sie wohl meinen könnte. Doch dann schüttelte er bedauernd den Kopf. Das hatte er wohl nicht verstanden.
Kurzentschlossen nahm sie den Pinsel in die Hand und zeichnete grob die Umrisse der chinesischen Ostküste, die koreanische Halbinsel und Japan im Meer daneben, so wie sie es auf der Seekarte an Bord der „Viktoria Regis“ gesehen hatte. Die Karte war sehr grob und ungenau. Doch ganz offenbar begriff Ji-Yu jetzt, was sie fragen wollte, als sie auf die Insel neben Korea tippte.
„Japan?“
Er schüttelte den Kopf und tippte auf die Südküste seines Landes.
„Joseon.“
Es war, wie Clara befürchtet hatte und sie seufzte unwillkürlich auf.
„Oh je!“
Ji-Yu beobachtete sie aufmerksam. Es entging ihm nicht, dass sie über diese Information bekümmert war. Aber wo hatte sie hinreisen wollen? Und noch viel interessanter: wo kam sie eigentlich her? Er wartete, bis sie ihn wieder ansah. Dann tippte er auf die selbstgemalte Karte und anschließend auf sich selbst:
„Joseon. Ji-Yu. Léh-chin ...?“
Er tippte auf eine Gegend, die genaugenommen noch in China lag, aber für ihn unbekannte Ferne darstellte. Ein Lächeln huschte über Claras Gesicht und sie schüttelte den Kopf. Wieder nahm sie den Pinsel auf und wählte ein neues Papier. Sie dachte einen Moment angestrengt nach und versuchte, sich das Bild der Welt auf dem Globus zuhause in Hamburg vorzustellen. Schließlich begann sie in der oberen linken Ecke mit einer kruden Darstellung der skandinavischen Länder, um daran die Ost- und Nordseeländer anzuschließen. England, Frankreich, die spanische Halbinsel. Das Mittelmeer mit Italien und Griechenland. Die Küste Nordafrikas. Dann das große Reich Russland bis zum Pazifik. China, Korea, Japan, die Südküste Chinas wurde recht ungenau. Vage auch die Umrisse von Indien und der arabischen Halbinsel. Das Rote Meer und ein wenig der afrikanischen Ostküste. Mehr passte nicht auf das Papier. Ji-Yu beobachtete sie voller Staunen. Woher hatte eine einfache Frau ein solches, geografisches Wissen? Er selbst kannte die Gegebenheiten seines Landes recht gut. Das hatte zu seiner Ausbildung gehört. Doch schon über die Nachbarländer China und Japan hatte er nur eine grobe Vorstellung. Alles darüber hinaus war ihm unbekannt. Er war sich sicher, dass seine Frau Min-Jun nicht mal eine genaue Karte vom Königreich Joseon hätte zeichnen können, geschweige denn die Lage der Nachbarländer. Dass die Fremde dies konnte, verblüffte ihn ungemein. In welchem Land brachte man Frauen ein solches Wissen bei? Und warum? Mehr und mehr Fragen tauchten auf, die er unbedingt beantwortet haben wollte. Sein Entschluss wurde immer fester, die Fremde nicht an die Polizeibehörde auszuliefern. Er würde sie bei sich behalten und von ihr lernen.
Unterdessen hatte Clara ihre Landkarte beendet und deutete dann auf einen Punkt, der sehr weit weg von Korea lag. Sozusagen am anderen Ende der Karte.
Clara malte mit dem Pinsel ein Haus ans Meer und zog eine gestrichelte Linie um einen Teil des Landes. Auf das Land weisend erklärte sie: „Königreich Hannover“
Dann tippte sie das Haus an.
„Hamburg“
Ji-Yu zog die Karte zu sich heran und musterte sie stirnrunzelnd.
„Ham-Buck.“
Dann deutete er auf seinen Gast und stellte staunend fest:
„Léh-chin – Ham-Buck!“
Sie nickte erfreut, dass ihre Idee so gut verstanden wurde.
Nun, da sie diese einfachen Dinge geklärt hatten, wurde ihnen beiden bewusst, dass es in der Hütte zunehmend dunkler wurde. Wollte man nun noch etwas malen oder schreiben, hätte man ein Licht anzünden müssen.
Ji-Yu rollte die beiden Karten zusammen, räumte Tusche und Pinsel fort und erhob sich dann.
„Ich nehme dich mit zu meinem Haus.“
Auf Claras fragenden Blick wiederholte er:
„Ji-Yu, Léh-chin, Haus!“
Er deutete ein Verlassen der Hütte an. Neugierig erhob sich Clara. Er reichte ihr den Henkelkorb und den Wasserkrug zum Tragen, dann übernahm er die Führung.
„Mein Haus“, erklärte Ji-Yu munter und wies in die Richtung, in der er lebte.
Es war gut, dass es mittlerweile schon recht dämmrig geworden war, denn es war niemand mehr unterwegs, der den Bezirksverwalter mit einer seltsam gekleideten Fremden hätte beobachten können. Unbehelligt erreichten sie die Steinmauer, die das Anwesen der Lees umschloss. Das Tor war schon zur Hälfte geschlossen. Als sie hindurchgegangen waren, schloss Ji-Yu es ganz, so dass sie im Hof vor dem Wohnhaus ungestört von neugierigen Blicken waren. Kurz verhielt er und lauschte auf die vertrauten Geräusche. Aus dem Kochhaus vernahm er Gemurmel. Vermutlich die Mägde, die dort das Essen zubereitet hatten. Er war spät dran. Gewöhnlich beendete er sein Tagwerk zu Beginn der Dämmerung, im Sommer wie jetzt oft auch schon eher. Vermutlich hatten seine Frau und Tochter bereits gegessen. Aber das war nicht zu ändern. Wenn er Besuch hatte, speisten sie normalerweise ohnehin getrennt.
Verhalten öffnete Ji-Yu eine der Türen ganz am Ende der überdachten Veranda. Der Raum war vom Rest des Hauses durch einen zur Veranda offenen Gang getrennt. Sie nutzten diesen Raum nur selten. Er war als Gästezimmer gedacht, aber meist schlief hier nur Ji-Yus Sohn, wenn er seine Eltern besuchte, denn er wohnte nicht mehr bei ihnen. Clara folgte ihrem Gastgeber neugierig. Sie war in Shanghai in einem chinesischen Teehaus gewesen. Die Pracht dort hatte sie beeindruckt. Das koreanische Haus hingegen wirkte schlicht. Es hatte ein Holzfachwerk mit einem an den Ecken nach oben geschwungenem Ziegeldach. Soweit Clara das erkennen konnte, stand es erhöht, als wäre es auf Stelzen gebaut. Ein Kind hätte mühelos auf allen Vieren unter die Veranda krabbeln können. Die Veranda und der Fußboden der meisten Räume des Hauses bestanden aus polierten Holzbrettern. Die Wände zwischen dem Fachwerk waren mit weißer Farbe gestrichen, so dass Clara nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob sie aus Lehm oder Stein bestanden. Türen und Fenster indes waren aus Holzgittern gefertigt, die mit Papier bespannt waren, so wie sie es schon in der Hütte gesehen hatte. Auch wenn das Haus lange nicht so prachtvoll war, wie das chinesische Teehaus, wirkte es doch komfortabel und freundlich. Unwillkürlich fragte sich Clara, was für eine Stellung ihr Gastgeber wohl im Land hatte. War er reich, wohlhabend, Mittelstand? Das Anwesen eines Bauern war dies jedenfalls nicht. Dazu war es einfach zu groß.
Viele Möbel standen nicht im Raum. An der Querseite war ein schweres, hölzernes Bettgestell mit einem geschnitzten, umlaufenden Gitter aufgestellt. Eine dicke Strohmatte lag darauf. Das Bettzeug war zusammengerollt und ruhte auf einer niedrigen hölzernen Truhe in der Ecke. Darüber hinaus gab es nur noch ein niedriges Holztischchen, ähnlich dem, was sie in der Jagdhütte zum Schreiben genutzt hatten. Außerdem eine mit Papier bespannte Lampe, die aber nicht angezündet war und ungenutzt in einer anderen Ecke stand.
Ji-Yu deutete an, dass sie sich setzen sollte und verschwand kurz, um von draußen eine Laterne zu holen. Er entzündete die Lampe in der Ecke und hängte die Laterne an einen Wandhaken neben dem Bett. Dann kommunizierte er mit Gesten, dass sie im Raum warten sollte und verschwand, die Tür hinter sich zuziehend.
Clara blieb allein zurück. Seufzend setzte sie sich auf das niedrige Bett, faltete die Hände im Schoß und wartete gespannt auf das, was noch passieren würde.
*
„Du hast lange gearbeitet“, stellte Min-Jun in sanftem Tadel fest, als Ji-Yu das gemeinschaftliche Wohnzimmer betrat. Sie saß noch im Schein mehrerer Öllaternen und stickte, obwohl die Stunde der Schlange bereits angebrochen war.
„Ah. Ich hatte gehofft, dass du noch wach bist“, stellte er erfreut fest und setzte sich. Min-Jun legte den Stoff beiseite, den sie bestickte und blickte ihn fragend an.
„Hast du schon gegessen? Ich kann So-I schicken, etwas aus der Küche zu holen.“
„Nein. Warte. Ich muss erst mit dir sprechen“, hielt er sie rasch auf und sie warf ihm einen verwunderten Blick zu.
„Als ich heute Morgen am Strand war, habe ich eine fremde Frau gefunden, die im Sturm von einem Schiff ins Wasser gefallen ist.“
Min-Jun erschrak.
„Eine Fremde?“
„Ja. Sie kommt aus einem Land weit jenseits von Qing.“
„Woher weißt du das? Spricht sie unsere Sprache?“ zweifelte Min-Jun verwirrt.
„Nun. Diese Frau hat mir eine Landkarte gezeichnet.“
Er zog das zusammengerollte Papier aus der Jacke hervor und zeigte es seiner Frau. Doch sie konnte mit der Karte nicht viel anfangen.
„Wo ist diese Frau jetzt?“
„Ich habe sie ins Gästezimmer gebracht.“
Min-Jun schlug erschrocken eine Hand vor den Mund und starrte ihren Mann entgeistert an.
„Ji-Yu! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Du weißt doch, dass es nicht erlaubt ist, dass Fremde sich in Joseon aufhalten! Übergib sie dem Leutnant der Podojangs!“
Ein störrischer Zug ließ eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen entstehen. Min-Jun warf ihm einen furchtsamen Blick zu.
„Ji-Yu! Bitte denk noch einmal darüber nach. Ist es klug, gegen die Gesetze vorzugehen?“
„Ich habe bereits darüber nachgedacht. Diese Frau hat Wissen. Wissen, das weit über unseres hinausgeht. Und sie ist nur eine Frau. Sie ist kaum größer als du. Was kann sie schon ausrichten?“
„Aber wenn die Podojangs davon erfahren? Wenn man es dem Gouverneur meldet? Oder gar der Polizeibehörde in Hanseong?“
„Niemand wird davon erfahren. Wir behalten die Fremde hier. Sie wird nicht viel draußen herumlaufen.“
„Und was ist mit den Bediensteten? Mit den Schreibern, den Kaufleuten, Steuereintreibern und Hafenbeamten, die hier ein und aus gehen?“ gab Min-Jun drängend zu bedenken. Doch Ji-Yu hatte sich längst entschieden.
„Diese Fremde ist harmlos. Niemand wird daran Anstoß nehmen. Die Leute hier im Haus werden sich rasch an sie gewöhnen. Und sonst wird sie keiner bemerken. Vertrau mir!“
Min-Jun seufzte resigniert auf. Sie wusste, dass es nicht in ihrer Macht lag, ihrem Mann etwas auszureden.
„Nun. Ich hoffe, du weißt, was du tust.“
Ji-Yu erhob sich.
„Komm. Ich stelle sie dir vor. Wir bringen ihr noch etwas zu essen. Sie wird hungrig sein.“
Gemeinsam begaben sie sich kurze Zeit später zum Gästezimmer.
Als sie eintraten, fanden sie Clara auf dem Bett sitzend vor. Erwartungsvoll blickte sie den beiden Koreanern entgegen.
Ji-Yu deutete auf seine Frau und stellte sie vor.
„Min-Jun.“
Clara wiederholte den Namen und er nickte. Dann wandte er sich an seine Frau.
„Sie heißt Léh-chin.“
Zweifelnd blickte Min-Jun zu der Fremden. Doch die Frau in der seltsamen Kleidung nickte zustimmend und wiederholte den Namen:
„Clärchen“
Min-Jun wusste nicht recht, was sie von der Frau halten sollte. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, stellte sie rasch das Tablett mit dem Essen neben sie auf das Bett und trat dann hastig wieder zwei Schritte zurück.
Clara war eher amüsiert über das sichtliche Unbehagen der Frau. Sie war recht hübsch, mit schwarzen, im Nacken zu einem üppigen Knoten zusammengesteckten Haaren. Ihr Kleid bestand aus einer kurzen Jacke mit langem, weitem Arm und einem hochangesetzten, bis zu den Fußknöcheln reichenden Rock. Der Rock war gelblichweiß, die Jacke rötlichbraun gefärbt mit weißem Kragen.
Clara vermutete, dass sie die Frau des Hauses war, wohl die Ehefrau von Ji-Yu. Um sich für die Gastfreundschaft und das Essen zu bedanken, legte Clara ihre Handflächen vor der Brust zusammen und neigte ihren Kopf, so wie sie es in Shanghai gesehen hatte. Ganz offenbar verstand man diese Geste auch hier, denn Min-Jun entspannte sich sichtlich und lächelte nervös.
„Wir werden unseren Gast jetzt erstmal alleine lassen“, entschied Ji-Yu schließlich und zog seine Frau mit sich aus dem Raum.
Als sie draußen waren, wisperte er ihr zu:
„Sieh bitte nachher noch einmal nach ihr, sei so gut.“
Min-Jun nickte seufzend.
„Wie du meinst.“
*
Im Licht der Laternen aß Clara ihr Abendessen. Dann sah sie sich näher im Zimmer um. In der Truhe, auf der das Bettzeug lag, fanden sich weitere Decken und einige Kleidungsstücke. Schränke, wie sie es aus Hamburg kannte, gab es nicht. An der Wand gegenüber dem Bett hingen rechts und links der Tür chinesisch anmutende Rollbilder, die blühende Kirschzweige und eine bäuerliche Szene mit Pferden an einem Wasser zeigten. Als es im Raum nichts mehr zu entdecken gab, nahm Clara wieder auf dem Bett Platz und inspizierte ihre Kleidung. Der Saum ihres pflaumenblauen Kleides war an zwei Stellen zerrissen. Auch einer der drei Unterröcke zeigte Risse. Sie bedauerte, dass sie kein Nähzeug dabeihatte. Die einzigen persönlichen Gegenstände, die wunderbarerweise den Sturz vom Schiff unbeschadet überstanden hatten, waren ihre Taschenuhr, die an einem goldenen Kettchen am Gürtel befestigt war und in einer Rocktasche gesteckt hatte, sowie ihre Lesebrille. Als der Sturm immer schlimmer wurde, hatte sie ihrer Kabinengenossin ein wenig vorgelesen, um sie zu beruhigen. Mit einem Mal war ein ohrenbetäubendes Krachen zu hören gewesen. Clara war aus der Kabine gestürzt, um nachzuschauen, was los war. In dem Moment, als sie aus der Kabine trat, erwischte sie das Segel vom abgebrochenen Mast und riss sie ins Meer. Sie hatte ungeheures Glück gehabt, dass sie sich an dem abgebrochenen Mast hatte festklammern können, sonst wäre sie jämmerlich ertrunken. Da machte sich Clara nichts vor. Da sie gläubig war, kam sie zu der tiefen Überzeugung, dass Gott noch etwas mit ihr vorhatte. Ihre Zeit war noch nicht gekommen. Dieser Gedanke half ihr dabei, keine wirkliche Angst zu verspüren. Sicher, die ganze Situation war seltsam und fremd. Doch bedrohlich fand sie weder die Leute noch das Land.
Ein leises Kratzen am Türrahmen ließ sie aufblicken.
„Ja?“
Die Dame des Hauses trat ein und warf Clara einen verlegenen Blick zu.
Clara lächelte sie freundlich an.
„Min-Jun“, wiederholte sie den Namen der Frau, die nervös nickte.
Dann fragte die Koreanerin etwas und deutete auf das Tablett mit dem Essen. Alle Schälchen waren leer. Clara rieb sich genießerisch den Bauch und nickte zustimmend.
Min-Jun wirkte überrascht. Schließlich nahm sie das Bettzeug von der Truhe und bereitete ein Schlaflager auf dem Bettgestell.
Unterdessen streifte Clara ihr Oberkleid ab und legte die Unterröcke ab. Als sie danach begann, ihr Korsett aufzuschnüren, hatte sie die volle Aufmerksamkeit von Min-Jun.
Entgeistert starrte die Koreanerin ihren Gast an.
„Was ist das?“ wollte sie wissen. Clara konnte sich denken, was sie gefragt hatte, und reichte ihr das Kleidungsstück. Ratlos drehte Min-Jun das steife, mit Fischbein verstärkte Kleidungsstück in den Händen herum und konnte nichts damit anfangen.
Fragend blickte sie Clara an.
„Haben Sie etwas zu schreiben, Madame?“
Clara unterstrich ihre Worte mit einer Geste, als wollte sie etwas schreiben oder malen. Min-Jun dachte an die Landkarte, die die Fremde gezeichnet hatte und nahm rasch Tusche, Pinsel und Papier aus dem kleinen Schreibtischchen, das in der Ecke stand.
Clara überlegte kurz, wie sie die Funktion eines Korsetts erklären konnte. Dann malte sie eine Frau, die einen üppigen Busen und eine Wespentaille hatte. Daneben eine dicke, vergleichsweise formlose Frau. Min-Jun beobachtete sie gespannt.
Als sie neben die formlose Frau ein mürrisches Männergesicht zeichnete und neben die andere Frau ein lachendes Männergesicht, musste Min-Jun wider Willen auch lachen.
Dann tippte sie entschieden auf das Korsett und schüttelte den Kopf.
„Das ist nicht gesund! So etwas sollte eine Frau nicht tragen müssen! Die Männer in deinem Land sind Narren!“
Auch wenn sie die Worte nicht verstand, lächelte Clara voller Wärme.
Dann fiel ihr etwas ein.
„Min-Jun?“
„De?“
„Kann ich warmes Wasser zum Waschen bekommen?“
Clara tat, als würde sie ihre Hände in eine imaginäre Schüssel voller Wasser tauchen und sich damit das Gesicht waschen.
Ihre koreanische Gastgeberin verstand sofort.
„Natürlich. Ich bringe dir gleich etwas.“
Dann verließ sie rasch das Zimmer und Clara setzte sich wieder auf das Bettgestell.
Es dauerte eine Weile, ehe Min-Jun zurückkehrte. Sie brachte eine Schüssel voll dampfenden Wassers mit und über dem Arm trug sie ein baumwollenes Handtuch, sowie einen leichten Schlafrock aus dünner, ungefärbter Baumwolle.
Der Schlafrock hatte keine Knöpfe. Er wurde nur mit Bändern zugebunden. Doch Klara war dankbar dafür.
Als Min-Jun schließlich gegangen war, wusch sie sich rasch und schlüpfte dann ins Bett. Da auf dem Bettgestell nur eine dicke Strohmatte lag, war es Clara anfangs viel zu hart. Doch dann rollte sie sich in die gesteppte Bettdecke ein und lauschte noch eine Weile in die Stille der Nacht, ehe sie friedlich einschlief.
*
Das Krähen eines Hahnes weckte die Frau aus Hamburg zeitig am nächsten Morgen. Sie war ohnehin eine Frühaufsteherin und fühlte sich dank der Gastfreundlichkeit ihrer Helfer ausgeruht und tatendurstig. Als sie gerade überlegte, was sie tun sollte, kratzte es in der ihr bereits vertrauten Weise am Türrahmen. Min-Jun und eine zweite, ältere Frau traten ein. Clara war sofort klar, dass diese ältere Frau eine Dienerin oder Zofe sein musste, denn ihre Kleidung war ungefärbt baumwollweiß und ihre Haare nicht so kunstvoll aufgesteckt wie bei Min-Jun. Sie hieß offenbar So-I und sollte Clara beim Ankleiden zur Hand gehen.
Es kam der Deutschen seltsam vor, die koreanische Kleidung anzuziehen. Sie hätte sich gerne im Spiegel betrachtet. Aber in ihrem Zimmer befand sich keiner und sie wusste auch nicht, wie sie danach hätte fragen können. Immerhin war die koreanische Frauenkleidung bequemer als ihr üppiger, mit Draht verstärkter Rock mit den vielen Unterröcken und das einengende Korsett. Es fühlte sich beinahe so an, als würde sie nur ein Nachthemd oder einen Hausmantel tragen. Doch da hier offenbar alle Frauen in ähnlicher Gewandung herumliefen, beschloss sie, sich nicht unschicklich gekleidet zu fühlen.
Als So-I das Tablett mit dem Frühmahl abholte, bat Clara die Zofe mit Hinweis auf den zerrissenen Rocksaum und einigen Gesten darum, dass sie Nähzeug bekäme. Kurze Zeit später brachte die Zofe einen Korb, in dem alle möglichen bunten Seidenfäden auf hölzernen Spindeln aufgewickelt lagen. Auch eine Sammlung an Nähnadeln aus Knochen, Horn und Metall fand sich, so dass sich Clara den Vormittag über daranmachte, die Schäden an ihren Kleidern auszubessern. So-I beobachtete sie eine Weile misstrauisch. Aber als sie feststellte, dass die Fremde offenbar in der Lage war, einen Riss sauber zu flicken, nickte sie anerkennend und verließ den Raum.
Bis zum Nachmittag blieb Clara alleine. Sie entdeckte, dass sie die Tür zur Veranda einen winzigen Spalt öffnen und dann die Veranda und ein Stück des davor liegenden Hofes beobachten konnte. So vergnügte sie sich eine ganze Zeit damit, das Treiben draußen zu verfolgen.
Überraschend viele Menschen gingen auf dem Hof ein und aus. Manche wirkten wie einfache Bauern oder Tagelöhner, die Waren anlieferten. Andere sahen offizieller aus. Die meisten waren Männer. Nur wenige Frauen liefen über den Hof oder auf der Veranda herum. Min-Jun war gar nicht zu sehen und auch So-I huschte nur zweimal durch Claras Blickfeld.