Im Exil - Die Heimkehr - E.S. Harmondy - E-Book

Im Exil - Die Heimkehr E-Book

E.S. Harmondy

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Beschreibung

Im Mittelpunkt des dritten Teils der Geschichte um die Verbannten steht der junge Abenteurer Augustin. Er findet einen Weg zurück an die Oberfläche und wird dort mit einer technisch weit überlegenen Kultur konfrontiert. Zwischen den einzelnen Ländern der Oberfläche herrscht nur ein sehr labiler Frieden. Das Auftauchen eines Fremden aus einer Region, die reich an Bodenschätzen ist, bedroht diesen Frieden. Die Verbannten geraten mitten zwischen die Fronten und es ist an Augustin, seine Freundschaft mit der Fürstin Bodil zu nutzen, um die Höhlenwelt und seine Leute vor der Vernichtung zu schützen.

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Seitenzahl: 296

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung bedarf der Genehmigung der Autorin.

Dieses Ebook wurde mithilfe von Sigil erstellt.

Covergestaltung Pittie

Imprint

Im Exil - Die Heimkehr

E.S. Harmondy
published by: epubli GmbH, Berlin, 
www.epubli.de
Copyright: © 2013 E.S. Harmondy

Manche Bücher brauchen Jahre, ehe sie geschrieben sind. Andere entstehen fast wie von selbst. Dann ist das Schreiben wie ein Rausch und man kann kaum an etwas anderes denken. Dies hier ist so eine Geschichte. Die Idee war da und dann hat sie sich wie von alleine vor meinem staunenden Blick entfaltet. Ich habe einfach nur noch aufgeschrieben, was ohnehin schon irgendwie in meinem Kopf vorhanden war. 

Auch diesmal hat mir meine Schwester wieder hilfreich bei der Korrektur und beim Cover unter die Arme gegriffen. Danke auch an meinen Vater für seine kritischen und wie immer sehr logischen Anmerkungen. Manchmal braucht es eben auch den Blick von außen, um Ungereimtheiten aufzudecken.

Lieber Leser, liebe Leserin! Dir wünsche ich viel Spaß in der Welt von "Im Exil". Es würde mich sehr freuen, wenn du die Geschichte auch wie einen Film vor dir siehst. Dann habe ich beim Schreiben alles richtig gemacht.

Augustin war spät dran. Das Licht, das von den lumineszierenden Moosen an der Höhlendecke abgegeben wurde, ließ bereits merklich in seiner Leuchtkraft nach, so dass er sich eine kleine Lichtkugel beschworen hatte, die über den Köpfen der Echsen mit ihm mit wanderte. Hier in den alten Siedlungsgebieten waren die Moose an den Decken oft alt und verbraucht. Sie gaben auch am Tag nicht mehr so viel Licht ab, wie das in den neuen Siedlungsgebieten der Fall war. Besonders in der großen Nachbarhöhle, in der auch die Hauptstadt Rammfast lag, war das ein Problem. Viele der Beschwörer der Akademie beschäftigten sich nur damit, die alten Moose zu verjüngen oder ganz auszutauschen. Höhlenbau und -bewirtschaftung war einer der lukrativsten Lehrbereiche dort. Augustin wusste das, denn er war selbst ein Jahr auf diese Akademie gegangen. Seine Mutter hatte ihn dazu gedrängt. Doch dem jungen Mann lag das lange Stillsitzen und Bücherlesen nicht. Er trieb sich am liebsten in den Höhlen herum, half den Pilzholzfällern und den Echsenzüchtern bei der Arbeit oder suchte nach Edelsteinen in den vielen Wasserläufen, die man in dem ausgedehnten System unterirdischer Höhlen finden konnte. Die Edelsteinsuche bot einem ein vergleichsweise gutes Auskommen. Die schönen Steine wurden von den Beschwörern und von den wohlhabenden Städtern gut bezahlt. Allerdings war der Markt fest in der Hand einer Gilde. Ohne sie konnte man die Steine nicht verkaufen. Und natürlich nahmen sie dafür eine satte Gebühr. Das hatte Augustin davon abgehalten, zu den Edelsteinsuchern zu gehen. Stattdessen verdiente er sich sein Brot als Nachrichtenbote. Ein Netz von festen Transportstrecken überzog das gesamte bewohnte Land. Die Menschen bedienten sich dabei der Hilfe von gezähm-ten Echsen. Diese Echsen hatten schon in den unterirdischen Höhlen gelebt, als die ersten Menschen vor mehr als 400 Jahren hier ankamen. Die Echsen waren intelligent und liefen auf ihren Hinterbeinen. Die Vorderpfoten waren daher frei und konnten geschickt beim Klettern, Fischen oder Seetang pflücken eingesetzt werden. Allerdings war es nicht ganz einfach, die schlauen Tiere zur Arbeit anzulernen. Trotz aller Zuchtversuche eignete sich im Schnitt nur jedes dritte männliche Tier dazu. Weibliche Tiere konnte man überhaupt nicht zahm genug bekommen, um sie zur Arbeit einzusetzen. Echsen gab es in verschiedenen Größen und Schattierungen. Die Wildform reichte dem Menschen stehend etwa bis zur Schulter. Doch Augustins Reittier war größer und kräftiger, als die wilden Echsen. Auch wenn die grazilen Tiere überraschend stark waren und große Lasten ziehen konnten, ließen sie sich nur mit einem vergleichsweise geringen Gewicht beladen. Mehr als 20 Kilo trug eine durchschnittliche Echse nicht. Sie zog allerdings über 100 Kilo. Da die Wege in den unterirdischen Höhlen aber oft holperig und uneben waren, konnte man nicht überall mit Wagen passieren. Aus diesem Grund hatten die Echsenzüchter früh angefangen, starke, große Tiere für die Zucht auszuwählen und so die Tragfähigkeit und auch die Willigkeit gegenüber Lasten auf dem Rücken zu verbessern. Mittlerweile gab es Echsen, die sogar einen Menschen tragen konnten, so wie das Tier, auf dem Augustin ritt. Eine zweite, junge Echse begleitete sie und trug das Gepäck auf dem Rücken.

Der Weg führte vorbei an felsübersäten Flächen, die üppig mit harten, grünlich-gelben Flechten bedeckt waren. Der Boden darunter war sandig und trocken. Man konnte abgeteilte Felder erkennen, auf denen die Flechten von den Steinen und Felsen heruntergeschabt worden waren, um an die langen, weißen Wurzeln zu gelangen, aus denen die Menschen in der Höhlenwelt Stoffe webten. Die Flechten wuchsen dann wieder nach und konnten nach drei bis vier Jahren erneut geerntet werden. 

Schließlich tauchten voraus die Lichter einer Siedlung auf. Amfting lag ganz am nordwestlichen Ende der Höhle, abseits der meisten Wege. Von hier ging es nirgendwo mehr hin. Augustin war noch nie hier gewesen und verhielt einen Moment, ehe er abstieg und die letzten Meter zu Fuß in den Ort lief. Kein Mensch war zu sehen. Nur einige Arbeitsechsen streckten neugierig die Köpfe durch die Gitter ihres Geheges, um die Neuankömmlinge zu begutachten. 

„Hallo? Jemand hier?“ rief Augustin halblaut, nicht sicher, in welchem der Häuser die Dorfvorsteherin lebte. Ein Vorhang bewegte sich und aus einer Kammer in der Felswand trat eine Frau mit schulterlangen, braunen Haaren, in denen bereits Spuren von grau zu erkennen war. Sie stutzte, als sie den jungen Mann mit den Echsen erblickte.

„Nanu? Wo ist denn Holgeir?“

„Er hat sich den Knöchel verstaucht. Darum hat man mich geschickt.“

„Der Arme. Aber so was passiert halt. Und wer bist du?“

„Mein Name ist Augustin“, stellte er sich vor. 

„Ich bin Wilma“, nickte die Frau freundlich und deutete hinüber zum Echsengehege.

„Du kannst deine Tiere zu den anderen bringen und dann zeige ich dir, wo du schlafen kannst.“

Sie blickte dem jungen Mann gelassen nach. Über die Jahre wechselten die Botenreiter oft. Manche waren noch ganz jung und unerfahren, andere auf Abenteuer aus und einige verbittert und einzelgängerisch. Dieser hier gehörte wohl zur abenteuerlustigen Sorte. Er war eher klein und drahtig. Einer, der beobachtet und nicht so viele Worte macht. Aber sicher nicht dumm. Seine grünen Augen waren ihr gleich aufgefallen, als er sie angesehen hatte. Der ließ sich nichts vorschreiben. So einer blieb ihrer Erfahrung nach nicht lange bei den Botenreitern. 

Mit den Packtaschen über der Schulter kehrte Augustin zur Dorfvorsteherin zurück und sie ließ ihn in die Kammer, die hinter dem Vorhang in der Felswand lag. Zu Augustins Überraschung gab es nicht nur einen, sondern sogar zwei recht geräumige Zimmer dort. Der vordere Raum war offenbar der Wohn- und Arbeitsbereich. Das andere Zimmer der Schlafbereich von Wilma. Auf Augustins neugierigen Blick hin erklärte die Dorfvorsteherin bereitwillig:

„Hier war ganz früher mal das erste Archiv untergebracht.“

„Ich dachte, das war immer in Rammfast.“

„Nein. Ganz zu Anfang, als die ersten Leute hier ankamen, da befand sich das Archiv noch hier. Man sagt sogar, dass der Gründervater Lucius hier eine Weile gewohnt hat. Aber das ist vielleicht nur eine Legende. Auf jeden Fall ist Amfting der Ort, an dem die Leute damals von der Oberwelt ankamen.“

„Wirklich?“ staunte Augustin mit gerunzelter Stirn. Er erinnerte sich dunkel daran, an der Akademie darüber gehört zu haben. Aber ihm war nicht bewusst gewesen, dass der Ankunftsort hier war. Die Siedlung wirkte so rückständig und abgelegen. Aber das wollte er der Dorfvorsteherin nicht sagen. Sie wäre sonst vielleicht beleidigt. 

„Der Name „Amfting“ deutet auch darauf hin“, dozierte die Frau ungefragt. Es war offenbar ein Lieblingsthema von ihr.

„In den alten Listen taucht immer die Abkürzung „An’ft“ für „Ankunftsstelle“ auf. Daher stammt wohl auch der Name unseres Dorfes.“

Während sie erzählte, öffnete Augustin die Packtaschen und entnahm ihnen das Bündel Nachrichten, das er transportiert hatte. Die Nachrichten gingen meistens an den Dorfvorsteher oder den Tempel. Amfting hatte allerdings keinen Tempel. 

„Hier. Bitte“, unterbrach er den Redefluss Wilmas einfach. Er hatte keine Lust, sich den ganzen Abend lang Geschichten aus der Vergangenheit anzuhören. 

„Vielleicht könntest du mir auch noch sagen, wo ich mich waschen kann.“

„Natürlich. Wir haben eine heiße Quelle. Nicht weit entfernt in einer kleinen Höhle im Fels. Der Eingang ist mit Schlammsteinen ummauert. Du kannst es nicht verfehlen, wenn du der Felswand folgst.“

„Gut. Danke.“

Er hielt sich nicht lange damit auf, seine Sachen auszupacken, sondern schulterte einfach wieder die Packtaschen und verließ die Wohnung der Dorfvorsteherin. Leise vor sich hin pfeifend folgte er wie angegeben dem Verlauf der Höhlenwand, bis er an die beschriebene Stelle mit dem ummauerten Vorbau kam. Die zum Bau verwendeten Schlammsteine waren überall in der besiedelten Welt verbreitet. Sie wurden hergestellt, indem man den heißen Auswurf von Schlammvulkanen in Formen laufen und erkalten ließ. Die Steine waren äußerst solide und dabei gleichzeitig überraschend leicht. Wenn man den heißen Schlamm auch noch als Mörtel verwendete, konnte man damit sehr stabile Gebäude errichten. Der kleine Vorbau war jedoch weder hoch, noch geräumig. Man konnte sich gerade darin ausziehen und dann über einen von vielen nackten Füßen blank gescheuerten Steinpfad in die dahinterliegende Höhle schlüpfen. Das Wasser der heißen Quelle hatte sich in einer Vertiefung im Boden gesammelt. Viel Platz war nicht. Mehr als fünf oder sechs Menschen passten hier nicht hinein. Aber Augustin war alleine. So konnte er sich gut im warmen Becken ausstrecken. Da er viel in Bewegung war, wirkte sein drahtiger Körper muskulös und hart. Kein Gramm Fett zuviel war daran. Kurz überlegte er, ob er sich noch rasieren sollte. Doch er hatte keinen ausgeprägten Bartwuchs und war meistens zu faul dazu. Die paar Stoppeln störten ihn nicht. Auch seine Haare hätten wieder einmal gekürzt werden können. Sie waren nicht lang, aber die Stirnhaare fielen ihm dennoch wild über die Augen. Je länger sein Haar wurde, umso deutlicher konnte man erkennen, dass es eigentlich dunkel-blond war, mit hellerem Deckhaar und dunklem Unterhaar. Nur wenn es nass war oder ganz kurzgeschnitten, wirkte es dunkel. 

Nachdem er sich bald eine halbe Stunde in dem heißen Wasser aufgehalten hatte, zog er sich wieder an und verließ pfeifend die heiße Quelle. Das Licht in der Höhle war mittlerweile auf das nächtliche Minimum reduziert. Er beschwor sich wieder eine kleine Leuchtkugel herauf, die über seinem Kopf mit ihm mitwanderte. Das magische Licht warf seltsame Schatten auf die Wände und den Boden. Ein eigenartiges Gebilde schien aus der Höhlendecke herabzuwachsen. Für einen Stalaktit war es zu scharfkantig und gezackt. 

Neugierig geworden blieb Augustin stehen und spähte in die Dunkelheit hinauf. Doch er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was das sein sollte. Es schien eine Art Rohr zu sein, das in der Höhlendecke verschwand. Etwas Ähnliches hatte er noch nie gesehen. Kopfschüttelnd beschloss er, sich die ganze Sache am nächsten Morgen noch einmal anzusehen, wenn das Licht besser war.

*

Augustin war früh wach, denn die Dorfvorsteherin im Nachbarraum schnarchte leise, aber vernehmlich vor sich hin und das störte ihn. So erhob er sich lautlos. Dann schlüpfte er hinaus in die große Höhle, während er sich noch die Schuhe und ein Hemd überstreifte. Da seine Echsen von den Dorfbewohnern mit versorgt worden waren, ging er wieder zu dem seltsamen Rohr, das er am Vorabend entdeckt hatte. Jetzt im helleren Lichtschein konnte man auch nicht viel mehr erkennen. Das Rohr schien einfach aus der Höhlendecke herauszukommen und hörte nach einem halben Meter auf. Der Rand war gezackt und zerrissen, so als hätte jemand den unteren Teil abgebrochen. Vielleicht war das Rohr einmal bis zum Höhlenboden gegangen. Augustin konnte sich jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, wozu dieses Rohr einmal gedient hatte. Wenn man direkt darunter stand, konnte man in ein schwarzes Loch in der Höhlendecke blicken. Unwillkürlich fragte sich der junge Mann, wo das Rohr wohl hinführte. Er beschwor eine kleine Leuchtkugel und schickte sie nach oben, ein Stück in die Finsternis. Ein Ende des Rohrs war jedoch nicht zu erkennen. 

„Na? Fragst du dich gerade, ob man noch ganz nach oben kommt?“ vernahm er da unvermittelt hinter sich eine belustigte Männerstimme. Langsam sah er über die Schulter zurück.

„Zumindest wüsste ich gerne, was das ist.“

Hinter ihm stand ein stämmiger, großer Kerl mit wuscheligen, dunklen Locken und einem pausbäckigen, fröhlichen Gesicht. Er trug die farbenfrohen Sachen der Stoffweber und hatte einen Korb auf dem Rücken. Ganz offenbar war er auf dem Weg auf die Felder. 

„Sag nur, du hast noch nie von dem Aufzug gehört?“

„Aufzug?“ wiederholte Augustin in leiser Ungeduld, weil er in der Tat immer noch keine Ahnung hatte, wovon der Kerl redete. Der andere grinste nur.

„Sicher. Das Teil, durch das unsere Vorfahren hier runter geschickt wurden. Durch das Rohr ist der Aufzug geführt worden. Aber das Ende des Rohrs ist irgendwann bei Erdbeben kaputt gegangen. Da hat man es weggenommen und eingeschmolzen. Dein schöner Dolch da am Gürtel ist vielleicht aus dem Stahl. Sowas bekommen wir hier unten gar nicht hin.“

Verblüfft berührte Augustin den Dolch, den er am Gürtel trug. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, woher das Metall für die Schneide gekommen war. Der Griff bestand allerdings aus Knochen und war der besseren Griffigkeit halber mit Leder umwickelt. 

„Und? Kann man noch bis nach oben klettern?“ stellte Augustin die Frage, die sein Gegenüber noch nicht beantwortet hatte. Ein übermütiges Funkeln blitzte in den Augen des kräftigen Kerls auf. Augustin schätzte, dass er in etwa sein Alter haben musste. 

„Kann man nicht. Das haben schon andere versucht. Weiter oben ist das Rohr zerdrückt und mit Geröll angefüllt. Da kommt man nicht mehr nach oben an die Oberfläche.“

Augustin schnaubte ungläubig. 

„Das würde ich mir gern selbst ansehen.“

Das belustigte, wissende Grinsen seines Gegenübers ärgerte ihn und war zugleich eine stille Herausforderung für ihn. Mit in die Hüften gelegten Händen blickte er erneut hinauf zum Rohr und schätzte die Höhe ab, die zu überwinden war. Dann warf er dem jungen Burschen neben sich einen herausfordernden Blick zu.

„Kannst du ein Seil besorgen?“

Der zuckte nur amüsiert die Schultern und setzte den Korb zu Boden, den er auf dem Rücken trug.

„Sicher.“

Es passte Augustin nicht, dass der andere ihn nicht ernst zu nehmen schien. Solche Dinge spornten ihn immer zu Höchstleistungen an. Als der junge Stoffweber wieder mit einem langen Seil zu ihm zurückkehrte, hatte er seinen Plan bereits im Kopf ausgearbeitet. Konzentriert nahm er das Seil und wog es in der Hand. Der andere beobachtete ihn sichtlich amüsiert und ein wenig zweifelnd, ob die ganze Angelegenheit überhaupt die Mühe lohnte.

„Was hast du vor?“ wollte der Stoffweber schließlich neugierig wissen, als Augustin eine sich selbst zuziehende Schlinge in das untere Ende des Seils knüpfte.

„Siehst du diese hochgebogene Ecke da? Daran wird das Seil halten, wenn ich es drüber werfe.“

„Meinst du nicht, dass die scharfen Kanten das Seil durchreiben?“ zweifelte der Stoffweber jedoch kopfschüttelnd. Augustin warf ihm einen unwilligen Blick zu und schüttelte das Seil.

„Das ist geflochtenes Leder. Das scheuert sich nicht so leicht durch.“

„Du musst es ja wissen“, gab der Stoffweber friedfertig zurück und beobachtete gespannt Augustins Versuche, das Seil über das hochgebogene Ende des Rohrs zu werfen. Beim vierten Mal lag die Schlinge über der Ecke, hielt aber nicht beim Anziehen fest. Es bedurfte noch zwei weiterer Würfe, ehe Augustin die Seilschlinge da hatte, wo er sie haben wollte. Probehalber hängte er sich mit seinem ganzen Gewicht ans Seil und pendelte etwas hin und her. Die Aufhängung hielt ihn. 

„Siehst du?“ wandte er sich befriedigt zurück an den jungen Stoffweber. Der wirkte zum ersten Mal etwas beeindruckt.

„Willst du da jetzt echt hochklettern?“

„Ja.“

„Puh, du hast Mut.“

Entschlossen ergriff Augustin das Seil und zog sich ein Stück daran hoch. Dann zog er die Beine an und wickelte sich das locker herunterhängende Seilende um den Unterschenkel. Als er sich daraufhin streckte, konnte er ein ganzes Stück höher fassen, als vorher. Er zog sich hoch und wiederholte den Vorgang mit dem Seil ums Bein wickeln. Stetig und ziemlich flott gelangte der junge Botenreiter auf diese Weise hinauf zur Höhlendecke. Der Stoffweber beobachtete ihn fasziniert. Es sah gar nicht so schwer aus. Schließlich erreichte Augustin das Rohr und fand dort im Inneren in regelmäßigen Abständen verrostete Metallbügel vor, die er wie eine Leiter benutzte. Wozu sie einmal gedient haben mochten, war ihm nicht klar. Aber es bekümmerte ihn auch nicht. Mit einer kleinen Leuchtkugel als Lichtquelle kletterte Augustin im Rohr hinauf. Es war viel größer, als man von unten vermutet hätte. Zehn Leute passten ohne Probleme zusammen in das Rohr. Im Rohr nach oben zu klettern, war sehr mühsam. Augustin musste immer wieder prüfen, ob die Metallbügel nicht zu verrostet waren, damit sie sein Gewicht trugen, bevor er sich darauf stellen konnte. Immer wieder hielt er inne und spähte ins Dunkel über sich. Als er etwa 20 Meter geklettert war, war das Rohr in der Tat von Felsen eingedrückt und gespalten worden. Ein Riss ging durch die Wand und die dicken Felsen und Steine, die auf dem eingebeulten Stahlblech lagen, verhinderten, dass man höher hinauf stieg. Dennoch war der Geröllschutt nicht völlig massiv. Die Steine und Felsen waren in eine Mischung aus Sand und Erde eingebettet, die sich herauskratzen ließ. Dort wo die Felsen hergekommen waren, schien eine Höhle zu liegen. Doch ohne Werkzeug war es Augustin nicht möglich, hineinzugelangen. Er beschloss, umzukehren und sich einen neuen Plan zu überlegen. Schon beim Herunterklettern formten sich die Ideen in seinem Kopf. 

„Und? Wie sieht es da oben aus?“ rief ihm der junge Stoffweber zu, als er wieder aus dem Rohr herausschaute. 

„Komm hoch und sieh selbst!“ lachte Augustin übermütig. 

Mutig geworden durch das so einfach aussehende Beispiel des Botenreiters ergriff der junge Stoffweber das Seil mit beiden Händen und zog sich ein Stück hoch. Es war ungeheuer anstrengend, sein eigenes Gewicht auf diese Weise zu halten. Mühsam umklammerte er das Seil und versuchte, es dem Botenreiter nachzumachen. Doch so einfach es bei Augustin ausgesehen hatte, war es nicht. Der junge Stoffweber schaffte nur etwa die Hälfte des Seils. Dann verließen ihn die Kräfte und er rutschte mit einem Aufschrei wieder hinab. Mit schmerzverzerrtem Gesicht betrachtete er daraufhin die aufgerissenen Handflächen.

„So ein Mist!“

Unterdessen turnte auch Augustin gelenkig wieder zu Boden.

„Mach dir nichts draus. Beim nächsten Mal schaffst du’s!“ versicherte er aufmunternd. Der junge Stoffweber blickte ihn kläglich an.

„Das glaube ich nicht.“

„Du brauchst nur ein bisschen Übung“, widersprach Augustin überzeugt und half ihm freundschaftlich zurück auf die Beine. 

„Da oben ist eine Höhle. Der Zugang ist verschüttet. Aber mit Werkzeug sollte es uns gelingen, hineinzukommen.“

„Äh. Moment mal. Uns?“ horchte der junge Stoffweber etwas verwirrt auf. Kumpelhaft klopfte Augustin ihm auf die Schulter.

„Na klar! Das willst du dir nicht entgehen lassen. Glaub mir! Wie heißt du überhaupt“

„Gunnar.“

„Ich bin Augustin.“

Es schmeichelte dem jungen Stoffweber, dass Augustin ihn so selbstverständlich in seinen Plan mit einbezog, auch wenn er ein leicht ungutes, unwirkliches Gefühl bei der Sache hatte. 

„Glaubst du wirklich, diese Höhle führt irgendwo hin?“

„Das wissen wir erst, wenn wir nachgeschaut haben. Vielleicht kommt man durch die Höhle wieder in das Rohr, aber weiter oben wo kein Einsturz ist. Wir brauchen Werkzeug. Picken, Schaufeln, Licht. Mehr Seile. Und Proviant. Kannst du so was besorgen?“

„Schon …“ 

Der junge Stoffweber zögerte. Augustin warf ihm einen forschenden Blick zu.

„Was kommt jetzt? Ein „aber“?“

Gunnar errötete unwillkürlich. Er wollte vor dem anderen ungern als Schwächling dastehen. Dennoch hatte er Bedenken. 

„Ich kann hier nicht einfach so weg. Meine Familie zählt auf mich.“

„Sag bloß, du hast schon eine Frau!“ staunte Augustin und warf ihm einen verständnislosen Blick zu. Verwirrt schüttelte Gunnar den Kopf.

„Nein. Ich meinte meine Eltern und Geschwister.“

„Ach so. Na, die werden auch mal ein paar Tage ohne dich auskommen. Oder nicht?“

Es war Gunnar zu kompliziert, die vielfältigen Bindungen und Verpflichtungen zu erklären, die innerhalb der kleinen Gemeinschaft der Stoffweber bestanden. Daher entschied er kurzerhand, mit einer Gegenfrage vom Thema abzulenken.

„Kannst du denn so einfach weg?“

Ein listiges Funkeln blitzte in Augustins Augen auf.

„Als wenn ich da lange fragen würde! Meine Jungechse ist halt abgehauen und ich musste tagelang hinter ihr herlaufen, bis ich sie wieder hatte. Aber was sollte ich tun? Die schleppt halt die ganze Post. Blödes Vieh eben.“

Unwillkürlich musste Gunnar lachen und der junge Botenreiter nutzte die Gelegenheit, um ihn nochmals zur Mitreise zu drängen.

„Ach komm schon! Das ist die Gelegenheit, mal was anderes zu sehen! Das ist ein Abenteuer! In ein paar Tagen sind wir zurück. Und wer weiß, vielleicht schaffen wir es ja bis ganz nach oben an die Oberfläche!“

Nur einen Moment lang zögerte Gunnar noch, dann nickte er schließlich mit klopfendem Herzen, nicht sicher, ob das nicht die größte Dummheit seines Lebens sein würde.

„Na gut. Ich mache mit.“

Augustin wirkte zugleich erleichtert und unternehmungslustig, als er sich zu ihm beugte und mit Blick auf die Dorfbewohner feststellte, die auf dem Weg zu den Feldern waren und neugierig herüber sahen:

„Pass auf. Ich habe keine Lust, hier ein Schauspiel für alle abzugeben. Ich reite nachher erstmal weg und komme dann nachts zurück. Wir treffen uns dann hier, wenn das Licht der Moose für die Nacht abgedunkelt ist. Bring die Werkzeuge und Seile mit.“

Gunnar nickte aufgeregt. 

„Ist gut.“

Augustin zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

„Alles klar.“

Dann verhielt er nochmals und deutete auf Gunnars verletzte Handflächen.

„Und bring dir ein paar Handschuhe mit!“

*

Der Aufstieg in der Stahlröhre war anstrengend. Augustin hatte ein Seil um die Taille gelegt, das weiter zu Gunnar lief und ihn auf die gleiche Weise sicherte. Eigentlich war es mehr eine psychologische Sicherung, denn Augustin war sich darüber im Klaren, dass er den Gefährten im Zweifelsfall nicht würde halten können. Doch Gunnar schien durch die Verbindung Selbstvertrauten zu gewinnen. 

„Ist es noch weit?“ schnaufte der junge Stoffweber, der zwar körperliche Arbeit durchaus gewöhnt war. Doch das Klettern beanspruchte ganz andere Muskeln und bedurfte einer völlig anderen Koordination als das Abschaben der Flechten auf den Feldern. 

„Nein. Zwei Armlängen von mir aus. Wenn du hoch schaust, kannst du es sehen“, erwiderte Augustin ihm aufmunternd. Gunnar legte den Kopf in den Nacken und erschrak etwas, denn über ihm war das Rohr aufgerissen und eingebeult. Felsbrocken und kleine Steine, Erde und Sand lagen auf der verbeulten Stahlplatte. Für Gunnar sah es einen Moment lang so aus, als ob die Stahlplatte sich bewegen und unter der Last der Felsen nachgeben würde. Dann würden all die Steine und Felsbrocken auf ihn herabstürzen. Es dauerte einen schrecklichen Moment, ehe der Schwindel und die Panik, die dieser Anblick auslösten, zurückgingen und er wieder in der Lage war, zu atmen und weiterzuklettern.

„Alles in Ordnung?“ wollte Augustin besorgt wissen, als er bemerkte, wie verkrampft Gunnar war.

„Geht schon wieder.“

Sie kletterten noch ein Stück höher und benutzten die eingebeulte Stahlplatte als Plattform. Entgegen Gunnars Befürchtung war das massive Metall durchaus in der Lage, die Geröllmassen und die beiden Kletterer zu tragen, ohne weiteren Schaden zu nehmen. Viel Platz war indes für die Männer nicht. Man konnte gerade mal so an der Kante stehen und musste sehen, wo man gefahrlos die Füße abstellen konnte, um nicht einen kleinen Erdrutsch auszulösen. 

„Sieh mal. Da ist schon ein kleines Loch. Das müssen wir vergrößern“, deutete Augustin auf eine Stelle seitlich von sich. Im fahlen Licht der Leuchtkugel, die er beschworen hatte, konnte man erkennen, dass es hinter dem Loch einen mehr oder weniger großen Hohlraum gab. Ob es eine natürliche Höhle war oder nur durch den Erdrutsch entstanden, war aus dem Rohr heraus nicht zu erkennen.

„Und was machen wir mit dem ganzen Erdreich?“ wollte Gunnar verwirrt wissen. Der junge Botenreiter zuckte gelassen die Schultern und deutete nach unten. Ein kleines Lächeln huschte über Gunnars Gesicht.

„Die werden morgen Augen machen, wenn da plötzlich ein Erdhaufen unter dem Rohr ist. Hoffentlich klettert uns dann keiner nach.“

„Dann sind wir hier schon lange weg.“

Entschlossen ergriff Augustin eine Spitzhacke und hieb etwas ungeschickt in den Geröllhaufen vor sich. Als er die Hacke zurückzog, kam eine kleine Lawine an Steinen und Sand hinterher und drückte den jungen Abenteurer fast von der Stahlplatte. 

„Vorsicht!“ rief Gunnar erschrocken.

„Nichts passiert!“

Doch auch Augustin war anzusehen, dass er einen Schreck bekommen hatte. Die Leuchtkugel über ihm flackerte und wurde schwächer.

„Besser, wir machen uns erstmal ein Öllicht an.“

In den nächsten zwei Stunden wechselten sich Gunnar und Augustin darin ab, die Öffnung zur Höhle neben dem zerborstenen Rohr zu vergrößern. Sie mussten vorsichtig sein, denn immer wieder rutschte Geröll nach und schaffte es, den gerade erzielten Fortschritt zunichte zu machen. Doch sie hatten auch nichts, mit dem sie die Seiten abstützen und befestigen konnten. Schließlich war der Durchgang soweit vergrößert, dass sie hindurch kriechen konnten. Die dahinterliegende Höhle war klein, mehr eine Kammer im Fels, als eine richtige Höhle, so wie sie es kannten. Man konnte aufrecht stehen und drei Schritte gehen, aber das war auch schon alles. Für einen Augenblick schien es, als wäre ihre Reise hier schon zu Ende. Die beiden Abenteurer ließen sich auf den Boden nieder und blickten sich ratlos um.

„Und jetzt?“ wollte Gunnar schließlich wissen. Augustin öffnete seinen Rucksack und entnahm ihm einen Lederbeutel voll Wasser.

„Jetzt machen wir erstmal eine Pause.“

Während sie aßen und tranken, blickte sich Augustin forschend um.

„Die Höhle ist nicht erst durch ein Erdbeben entstanden.“

„Woran siehst du das?“

Augustin zeichnete mit dem Finger den Verlauf des glatten Steins nach.

„Diese Flächen hier. Die sind von Wasser und Sand abgeschmirgelt worden. Siehst du, wie glatt die sind? Das ist dasselbe Prinzip, wie bei den Höhlen, in denen wir leben. Bloß kleiner. Die Höhlen müssen mal voller Wasser gewesen sein.“

Kauend schüttelte Gunnar den Kopf.

„Was du alles weißt. Interessiert dich so was etwa?“

„Dich nicht?“

„Nö. Mir reicht es, zu wissen, wie man die Flechten anbaut und aus den Wurzeln Stoff macht. Muss ja auch jemand machen.“

Augustin lehnte sich gedankenvoll zurück. 

„Ich war mal für ein Jahr auf der Akademie. Da lernt man so was.“

„Dachte ich mir schon. Wegen dem da.“

Gunnar deutete auf die Leuchtkugel, die über ihren Köpfen schwebte. Nicht alle Menschen hatten die Fähigkeit, die Elemente zu beherrschen und Dinge zu beschwören. Diejenigen, die es vermochten, wurden oft speziell geschult, um ihre Fähigkeiten auszubauen und zum Nutzen aller einzusetzen. Manch ein Beschwörer war sogar der Ansicht, die Menschen hätten ohne ihre Magie niemals in der unterseeischen Höhlenwelt überlebt. 

„Hast du eine Ahnung, wie weit es bis zur Oberfläche ist?“ wechselte Augustin unvermittelt das Thema. 

„Nö. Das weiß keiner. Die Leute erzählen, dass es eine Stunde mit dem Aufzug gedauert haben soll. Oder sogar einen Tag. Man soll an einem riesigen Wasser herauskommen, dass „Meer“ genannt wird. Wir sind sozusagen darunter.“

„Wasser“, sinnierte Augustin mit gerunzelter Stirn. Das passte zu seiner Theorie. „Irgendetwas muss aber das Wasser davon abhalten, dauernd in die Höhlen zu laufen. Vermutlich eine Barriere aus Fels. Das Rohr führt wohl hindurch. Ich frage mich aber, ob wir da auch durchkommen oder ob es noch andere Möglichkeiten gibt, um an die Oberfläche zu gelangen. Es ist ja nicht alles Wasser da oben, oder?“

Gunnar erwiderte seinen Blick unbefangen.

„Mann, du stellst vielleicht Fragen. Meine Großmutter hat mir als Kind erzählt, dass es dort eine riesige Stadt gegeben haben soll. Viel größer als Rammfast. So groß, dass alle Bewohner der Höhlen zusammen dort leben konnten.“

„Quatsch! Das geht nicht“, fand Augustin unwirsch.

„So viele Leute auf einem Haufen könnte man niemals mit Essen versorgen.“

Der junge Stoffweber war nicht beleidigt durch diese Worte. Er zuckte nur die Schultern. „Du hast gefragt. Und ich sagte ja, dass es eine Kindergeschichte ist.“

Sie begannen, ihre Sachen zusammenzupacken. 

„Da hinten ist eine Öffnung. Ich werde da mal hineinklettern und schauen, wo das hinführt“, schlug Augustin wieder ganz unternehmungslustig vor. Unter Platzangst litt niemand, der in den Höhlen aufgewachsen war. So bereitete es dem jungen Mann auch nur wenige Schwierigkeiten, in den engen, waagerechten Schacht zu klettern, der vom Aufzugschacht fortführte. 

Er musste eine ganze Weile durch den Tunnel robben und hatte das Gefühl, immer ein Stück bergauf zu kriechen. Dann erweiterte sich der Tunnel und mündete in eine größere Tropfsteinhöhle voller Stalaktiten und Stalagmiten. Es war nass und kalt und gab auch keine lumineszierenden Moose mehr, so dass es ohne Augustins Licht völlig dunkel war. 

„He, Gunnar! Kannst kommen! Hier ist eine Höhle!“ rief er durch den Tunnel zurück. Es dauerte eine ganze Zeit, bis der junge Stoffweber zu ihm stieß. Zuerst schubste er sein Gepäck aus dem Tunnel, dann folgte Gunnars dunkler Lockenkopf. 

„Ganz schön kühl hier“, beklagte er sich fröstelnd. In den unterseeischen Höhlen gab es eigentlich kein Wetter. Es herrschten recht gleichmäßige, nicht allzu kalte bis warme Temperaturen, je nachdem, ob in der Höhle viele heiße Quellen oder Schlammvulkane aktiv waren oder viele kalte Wasserläufe eine feuchte Atmosphäre schufen. 

„Vielleicht kommen wir der Oberfläche näher“, riet Augustin aufs Geratewohl. Gunnar wehrte belustigt ab.

„Das wohl nicht. Wir sind ja kaum 100 Meter über den bekannten Höhlen.“

„Trotzdem interessant, dass hier so gar nichts mehr wächst“, beharrte der junge Botenreiter und klopfte spielerisch gegen einen prächtigen Stalaktiten, der bereits mit dem Boden zusammenwuchs. Die Wände glänzten nass. Als sie sich durch die dicken säulenartigen Tropfsteinformationen zwängten, fanden sie immer wieder Wasser, das von der Decke tropfte oder sogar in kleinen Rinnsalen die Wände herab lief.

„Das Wasser ist salzig“, stellte Gunnar verwundert fest, als er aus seiner hohlen Hand trank. Augustin hielt verblüfft inne und schmeckte das Wasser von den Wänden ebenfalls.

„Bei uns gibt es nur heiße Quellen, die salzig sind. Erstaunlich, dass hier das kalte Wasser auch ungenießbar ist.“

„Kriegen wir dann nicht ein Problem mit unserem Trinkwasser? Ich habe nur einen Beutel voll mit.“ 

Besorgt hob Gunnar den Lederschlauch, den er sich umgehängt hatte. Augustin wusste darauf keine Antwort, aber er wollte Gunnar nicht noch mehr verunsichern. Also entschied er.

„Wir werden schon Trinkwasser finden. Ist vermutlich nur hier so.“

*

Sie liefen lange. Die Höhle verengte sich zuweilen zu einem schmalen Schlauch, nicht mehr als ein Tunnel. An einer Stelle mussten sie sogar mit den Picken arbeiten, um den Engpass zu erweitern und weiterzukommen. Zweimal ging es nur kletternd über Schächte in der Höhlendecke weiter. Sie verloren jegliche Orientierung, ob sie nach Norden, Süden, Osten oder Westen liefen. Auch die zurückgelegte Entfernung ließ sich nicht mehr abschätzen. Irgendwann beschloss Augustin, dass es längst Abend sein musste, und sie hielten an, um zu rasten. Müde rollten sie sich in ihre mitgebrachten Schlafdecken und löschten das mitgebrachte Öllicht. Dunkelheit war ihnen nicht neu. Sie kannten viele verschiedene Arten der Dunkelheit. Diese hier war schwarz und lichtlos. Geräusche gab es keine, außer jenen, die sie selbst erzeugten. Dennoch wussten die beiden jungen Männer, dass es nichts gab, vor dem man sich hier fürchten musste und schliefen daher friedlich ein.

Ein Geräusch weckte Augustin und er stellte fest, dass Gunnar gerade das Öllicht neu entzündete. Die Handhabung des einfachen Feuerzeugs lernte jedes Kind schon früh. Es bestand aus einem Feuerstein, der in einer Metallfassung festgehalten und durch den Druck eines Daumens über eine geriffelte Metallfläche geschoben wurde. Dadurch entstanden winzige Funken, die dann das Öl der Lampe entzündeten. Selbst in völliger Dunkelheit war die Bedienung für die Menschen der Höhlenwelt kein Problem. 

Obwohl sie genug Öl und eine Ersatzlampe dabei hatten, verwendeten sie nur die eine Lampe und Augustins Leuchtkugel beim Laufen. Das Aufrechterhalten der Leuchtkugel kostete Augustin keine besondere Mühe. Es war nicht anstrengender, als würde er die ganze Zeit beim Laufen ein Lied singen oder pfeifen. Wenn er allerdings müde wurde oder seine Konzentration nachließ, verblasste das Licht oder erlosch sogar vollständig.

„Warum bist du nicht auf der Akademie geblieben?“ wollte Gunnar neugierig wissen, während sie gemächlich ihren Weg fortsetzen.

„Hat mir keinen Spaß gemacht. Immer nur Regel und Vorschriften, Bücher und Lernen. Das ist zu langweilig für meinen Geschmack. Ich wollte lieber was von der Welt sehen.“

„Ich war noch nie weit weg. Wir gehen regelmäßig nach Rammfast zum Markt. Aber bei der Akademie oder in Lucindia war ich noch nie“, bekannte der junge Stoffweber ohne große Scham. Es schien ihn nicht sonderlich zu bekümmern. 

„Lucindia ist toll. Meine Familie lebt da in der Nähe“, berichtete Augustin mitteilsam. 

„Was machen sie?“

„Sie sind Kartoffelbauern“, seufzte der junge Mann in einer Mischung aus Ablehnung und Selbstmitleid. Gunnar lachte.

„Aber über mich lästerst du!“

„Früher haben sie mal in der Nähe der Hauptstadt gelebt. Meine Mutter erzählt immer, dass eine der Frauen aus der Familie die erste wilde Echse gezähmt hat und ihre Urenkelin die Echsenzucht mit begründete. Keine Ahnung, ob das stimmt.“

„Wir haben viele Legenden. Findest du nicht?“

„Ja. Im Geschichtenerzählen sind wir groß“, spottete Augustin mit einem schiefen Grinsen. Danach verfielen sie wieder in einträchtiges Schweigen. Es gab nicht viel zu Erzählen. Das Vorwärtskommen wurde immer mühsamer. Die Felsen veränderten sich zudem. War der Stein in der Tiefe der Höhlen meist grau oder schwarz, so wurde er nun heller und scharfkantiger. Es gab auch hier wieder Wasser. In Rinnsalen oder als kleine Wasserfälle aus irgendwelchen Ritzen und Spalten. Jetzt war es wieder trinkbares Wasser. Süß und ein bisschen mineralisch. Die Höhlen wurden immer enger. Manchmal gab es nur schmale Ritzen oder Risse, durch die man sich mit viel Mühe hindurchquetschen konnte. Mehr als einmal mussten sie umkehren, weil es auf dem gewählten Weg nicht weiterging. Schließlich gab es keinen erkennbaren Weg mehr. Die beiden jungen Männer sanken ermattet zu Boden.

„Und? War’s das jetzt? Kehren wir jetzt um?“ wollte Gunnar mutlos wissen. Alleine die Vorstellung, den ganzen mühsamen Weg zurückzulaufen, erschreckte ihn. Er war sich nicht mal sicher, ob er sich nicht in dem Labyrinth aus Felsspalten, Ritzen und Hohlräumen verlaufen würde. 

Augustin schüttelte verbissen den Kopf. 

„Also ich gebe nicht auf!“

Sie schwiegen wieder eine ganze Weile. Gunnar spähte zur Decke hinauf. Dann stutzte er plötzlich. 

„Augustin! Mach mal das Licht aus!“

„Wieso?“

„Los. Mach schon!“ drängte der junge Stoffweber aufgeregt und sein Gefährte kam dem Wunsch verwundert nach. Sie beide erwarteten, dass nun völlige Dunkelheit sie umfangen würde. Doch dem war nicht so. Durch feine Risse im Gestein schien es zu leuchten. Es war nur ein schwacher Schimmer, nicht genug, um die Höhle auszuleuchten. Aber es reichte, um ihnen wieder neuen Mut zu geben.

„Das ist Licht!“ bemerkte Gunnar.

„Woher kommt das?“

„Vielleicht eine Lampe!“

„Zu gleichmäßig.“

„Leuchtmoose?“

„Finden wir es heraus!“

Mit einem Satz war Augustin wieder auf den Beinen und griff nach seiner Spitzhacke, während Gunnar die Öllampe wieder entzündete. Es war ungeheuer mühselig, das Gestein über Kopf herauszuschlagen. In Bröckchen fiel es auf sie herab. Sand und kleine Kiesel rutschten hinterher. Erst nach drei Stunden hatten sie sich soweit nach oben vorgearbeitet, dass einer der Risse breit genug war, um als Durchgang zu dienen.

„Das führt in eine Höhle oder so was“, stellte Augustin atemlos fest, als er angespannt hindurchspähte. Dann zwängte er sich mühsam durch die enge Ritze hindurch und verhielt voller Verwunderung. Er befand sich am Ende einer riesigen Höhle. Seltsame, bizarr gebogene Gebilde wuchsen aus der Decke und den oberen Wänden hervor. Sie erinnerten Augustin an überdimensionale Wurzeln. Allein, er konnte sich nicht vorstellen, was für eine Pflanze eine Wurzel haben sollte, die dicker als sein Arm war. Zwischen diesem Wurzelwerk war der Fels bröckelig und mit Erde und Steinen zu einer festen Masse verdichtet. Direkt über der Stelle, wo Augustin hinaufgeklettert war, war die Deckenhöhe der Höhle noch niedrig. Er konnte die ersten Meter nur gebückt gehen, bis die Decke dann nach oben zurückwich und immer höher wurde. Am Ende hatte die Decke einen Riss. Von dort kam das grelle Licht herein. Es schmerzte Augustin, in diese Richtung zu blicken. Seine Augen, die nur an ein Leben in Höhlen gewöhnt waren, empfanden dieses neue Licht als zu stark. Geblendet hob er die Hand über die Augen und wandte sich ab.