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Nahe der schwedischen Kleinstadt Söderhamn wird im Wald eine leblose Frau gefunden, die von einer Schlange gebissen wurde. Niemand weiß, wo die Frau herkommt und wer sie ist. Die Kommissarin Mette Frilund beginnt mit den Ermittlungen. Aber auch der junge Bauarbeiter Magnus Viberg interessiert sich für die Geschichte der Frau und recherchiert auf eigene Faust. Zunächst scheint es so, als ob er der Polizei immer einen Schritt voraus ist. Aber dann wird er immer tiefer in die Geschichte der geheimnisvollen Frau hineingezogen und das hat einige Auswirkungen auf sein eigenes Leben.
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Seitenzahl: 303
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Dieses Ebook wurde mithilfe von Sigil erstellt.
Covergestaltung Pittie
Ein paar Worte vorab ...
Die Stadt Söderhamn, in der dieser Roman spielt, gibt es wirklich. Im Mai 2013 habe ich die Schauplätze meiner Geschichte besucht und fand, dass es wirklich ein sehr schöner Ort mit netten Menschen ist. Dennoch ist dies eine fiktive Geschichte. Alle Personen sind meiner Fantasie entsprungen. Ich habe mir auch darüber hinaus die eine oder andere künstlerische Freiheit erlaubt. So spielt zum Beispiel das Theater in Söderhamn meines Wissens gar keine Operetten oder Opern. Aber solche Feinheiten dürften wohl nur den Einheimischen wirklich auffallen.
Manch einem Leser aus Deutschland wird es auch komisch vorkommen, dass sich alle Romanpersonen "duzen", auch wenn sie sich gar nicht kennen. Aber im Schwedischen (und den anderen skandinavischen Sprachen) ist das eben so. Per "Sie" ist man höchstens mit dem König und der taucht im Roman nicht auf.
Zum Schluss möchte ich mich noch sehr herzlich bei meiner Schwester bedanken, die mir wieder eine kritische Korrekturleserin war und die auch wieder das Cover für mich gestaltet hat.
Ich widme diese Geschichte allen, die wie ich immer wieder gerne nach Skandinavien reisen und die liebenswürdige Freundlichkeit der Menschen und die umwerfende Natur dort zu schätzen wissen.
Die Frau lag versteckt in einer Senke zwischen zwei umgestürzten Bäumen im Wald. Niemand hätte sie je dort gefunden. Die Stelle war weit abgelegen und einsam. Eine Pilzsammlerin entdeckte die Bewusstlose zufällig.
Gunille Persson-Skrivere hatte ihren Hund dabei, einen kleinen Dackelmischling. Er bellte aufgeregt und da er sich nicht mehr abrufen ließ, ging die pensionierte Lehrerin nachsehen, was den Hund so aufregte. Gunille war eine resolute Frau. Sie hatte Mathematik und Biologie unterrichtet. Daher war sie zwar erschrocken, als sie die leblose Frau auf dem Waldboden liegen sah. Doch sie hoffte, dass sie vielleicht noch helfen konnte. Zögernd beugte sie sich zu der Leblosen herab. Sie blutete aus der Nase und hatte sich auch erbrochen. Als Gunille den Puls am Hals fühlte, stellte sie fest, dass die Frau noch lebte. Der Puls war hektisch und unregelmäßig, die Atmung schwer. Der linke Arm war dick geschwollen und auch das linke Bein.
Über ihr Handy rief Gunille schließlich die Polizei und einen Krankenwagen. Umsichtig markierte sie ihren Rückweg zur Straße und kam gerade rechtzeitig, um die herbeigerufenen Helfer bei ihrem Auto in Empfang zu nehmen.
Der Zustand der Frau aus dem Wald war kritisch, als der Notarzt bei ihr eintraf. Sie schwebte zwischen Leben und Tod. Eine rasche Untersuchung ergab, dass sie zweimal von einer Kreuzotter gebissen worden war: Einmal oberhalb des linken Fußknöchels und dann in den linken Unterarm, eine Handbreit über dem Handgelenk. Obwohl der Notarzt gleich ein Gegengift verabreichte, hatte er wenig Hoffnung auf raschen Erfolg. Der Kreislauf der Frau war zusammengebrochen und sie zeigte schwere Vergiftungserscheinungen, sowie Anzeichen eines allergischen Schocks. Der Notarzt schätzte, dass die Frau wenigstens seit acht Stunden hier gelegen hatte, bevor die Lehrerin sie fand.
Während die Unbekannte zum Krankenwagen gebracht wurde, untersuchte die Polizei das Gelände weiträumig. Doch trotz aller Anstrengungen konnte sie nicht herausfinden, woher die Frau gekommen war oder was sie dort im Wald gemacht hatte. Auch der Notarzt, der ihre Sachen untersuchte, fand keinerlei schlüssige Hinweise auf die Identität der Frau. Alles, was die Polizei schließlich ins Protokoll aufnehmen konnte, waren Äußerlichkeiten. Bei der Gefundenen handelte es sich um eine blonde, europäische Frau von geschätzten 30 bis 35 Jahren. Sie war ungefähr 1,60 m groß und etwa 65 Kilo schwer. Sie trug eine helle Jeans und ein modisches, graues T-Shirt mit hellem Untershirt. Ihre Füße steckten in einfachen Sandalen. Socken trug sie nicht. Die unteren Enden der Hosenbeine waren zweimal umgeschlagen, so dass die Knöchel frei lagen. In ihrer Hosentasche hatte die Frau nur ein schmutziges Taschentuch. Sie trug als Schmuck nur eine goldene Halskette ohne Anhänger und kleine Bernsteinohrstecker.
Während die Polizei begann, nach der Identität der Frau zu forschen, kämpften im Krankenhaus von Söderhamn die Ärzte um das Leben der Unbekannten.
In den lokalen Abendnachrichten brachten sie bereits einen Bericht darüber. Pernilla Viberg hielt mit der Salatschüssel in den Händen in der Tür zum Wohnzimmer inne.
„Lass das mal an, Magnus!“ rief sie ihrem Bruder zu, der in einem Sessel vor dem Fernseher lümmelte und die Fernbedienung in der Hand hatte. Er drehte den Kopf in ihre Richtung und schaltete zurück auf den gewünschten Sender.
„Wieso? Hat das was mit dir zu tun?“
„Ja. Die Frau da wurde heute eingeliefert.“
Das Fernsehen zeigte Bilder vom Krankenwagen, der an der Notaufnahme stand. Man lud jemanden auf einer Bahre aus. Viel war von der Frau jedoch nicht zu erkennen.
„Was ist mit der?“
Pernilla setzte sich neben ihren Bruder auf die Lehne des Sessels und betrachtete die Fernsehbilder.
„Die haben sie im Wald gefunden. Ganz abgelegen. Sie wurde zweimal von einer Kreuzotter gebissen. Oder vermutlich sogar von zweien, weil sie ziemlich viel Gift im Körper hat. Der Leukozytenwert ist echt hoch. Vermutlich hat sie zudem allergisch auf das Gift reagiert. Die wissen noch gar nicht, ob sie die Nacht überlebt.“
Ihr Bruder hörte mit mildem Interesse zu. Normalerweise interessierten ihn Geschichten aus dem Krankenhaus nicht. Aber das hier war anders als Pernillas sonstige Horrorgeschichten. Magnus fand, dass bei dieser Geschichte einige Fragen offen blieben.
„Und was hat diese Frau da im Wald gemacht?“
„Ja. Weiß nicht. Vielleicht auch Pilze gesucht, wie die Frau, die sie gefunden hat.“
Pernilla schien diese Frage nicht sonderlich spannend zu finden und erhob sich, da der Fernsehbeitrag vorbei war. Die Wohnungstür klappte und Pernillas und Magnus‘ Mutter kam herein. Lächelnd begrüßte sie ihre Kinder.
„Ihr seid schon da? Wie schön! Hallo, mein Schatz.“
Sie gab Pernilla ein Küsschen auf die Wange und wuschelte Magnus im Vorbeigehen durch sein hellbraunes Haar. Sie wusste, dass er das nicht mochte, aber sie tat es trotzdem immer wieder. Auch wenn er mittlerweile 32 war, blieb er doch ihr Kind. Wie erwartet protestierte Magnus genervt.
„Ach, Mamma! Lass das!“
„Deck lieber den Tisch, du fauler Kerl!“
„Hat Pernilla schon gemacht.“
„Na klar. Babette lässt dir das zuhause bestimmt nicht durchgehen“, grinste Monica Viberg ungerührt. Trotz ihrer 54 Jahre war sie immer noch eine attraktive Frau mit schulterlangen, hellbraunen Haaren und lebhaften, braunen Augen. Die Augen hatte Magnus von ihr geerbt. Aber ansonsten kam er, was seine Größe und Statur anging, nach seinem Vater. Magnus war ein gutaussehender Mann, sehr groß und schlank. Allerdings war er eher der kräftige, athletische Typ, denn der hagere Marathonläufer. Derzeit arbeitete Magnus auf dem Bau und gab sich nicht viel Mühe mit seinem Aussehen. Eine gammelige Jeans, ein schlabberiges T-Shirt, alte Turnschuhe und ein Dreitagebart. Dennoch schien gerade das die Mädchen anzuziehen. Monica hatte schon des Öfteren bemerkt, wie sie ihrem jüngeren Sohn nachschauten und kicherten. Insgeheim bedauerte sie es, dass Magnus so ziellos schien und nie studiert hatte, obwohl er dafür die Noten in der Schule gehabt hätte. Doch er war unstet und ständig mit irgendwelchen fantastischen Projekten beschäftigt. Monica war insgeheim froh, dass Magnus seit einer Weile wieder mit Babette zusammen war. Sie waren schon zu Schulzeiten ein Paar gewesen, bis Babette nach Stockholm auf eine Ballettakademie gegangen war. Das hatte Magnus‘ Ego nicht vertragen und er hatte mit ihr Schluss gemacht. Danach war er mal mit dem einen Mädchen und dann mit einem anderen aufgetaucht. Doch es war nie etwas Ernstes gewesen, bis Babette wieder nach Söderhamn zurückkehrte. Ziemlich schnell hatte Magnus sich erneut um sie bemüht. Aber es war keine ganz einfache Beziehung, die die beiden hatten.
„Kommt Tommy auch noch?“ erkundigte sich Pernilla neugierig, während die drei sich am kleinen Esstisch im Wohnzimmer niederließen. Tommy war der älteste der drei Geschwister. Die braunhaarige Frau schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nein. Sie haben Probleme im Geschäft. Tommy kann nicht weg und Vibeke mag mit den beiden Kleinen alleine nicht Autofahren.“
„Ach, schade! Ich hätte die Kleinen so gerne gesehen“, seufzte Pernilla enttäuscht. Tommy und seine Frau hatten vor einem halben Jahr Zwillinge bekommen und die junge Frau war ganz vernarrt in ihre kleinen Neffen. Sie liebte Kinder und hätte gerne Medizin studiert. Doch nachdem der Vater von einem Tag auf den anderen ausgezogen und fortgegangen war, hatte sie alle diesbezüglichen Pläne aufgeben müssen. So hatte sie stattdessen Krankenschwester gelernt und arbeitete jetzt in der örtlichen Klinik.
„Wie kann es denn passieren, dass ein Mensch zweimal an einem Tag von Schlangen gebissen wird?“ mischte sich Magnus kauend ins Gespräch. Die Worte seiner Schwester gingen ihm noch immer im Kopf herum.
„Wer wurde denn gebissen?“ blickte Monica erschrocken auf. Pernilla wehrte leicht genervt ab.
„Niemand, den du kennst, Mamma. Nur so eine Frau, die sie im Wald gefunden haben. Die wissen nicht mal, wer sie ist. Die hatte gar nichts bei sich.“
„Aber da muss man doch schon etwas blöd sein“, beharrte Magnus auf seiner Frage. Pernilla kicherte und Monica sah ihn kopfschüttelnd an.
„Also wirklich, Magnus! Vielleicht ist die arme Frau in ein Schlangennest getreten. So etwas soll es ja geben!“
„Ja. Sicher“, grummelte er nicht sonderlich überzeugt, wandte sich aber wieder friedlich dem Essen zu. Wenn Babette abends im Theater auftrat, ging er häufig zu seiner Mutter und Schwester zum Abendessen. Er war nicht gerne alleine bei sich, obwohl er eine gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung in der Nähe der Fußgängerzone hatte.
„Sag mal, Magnus. Kannst du mich morgen von der Arbeit abholen? Mein Auto ist in der Werkstatt. Dann muss ich nicht laufen und ich will abends noch zur Yoga“, erkundigte sich Pernilla beiläufig.
„Kann ich machen“, nickte der Angesprochene bereitwillig.
„Ich habe um halb drei Schichtende.“
„Passt gut. Ich bin um zwei fertig. Ich komme dich dann abholen.“
*
Mette Frilund drehte nachdenklich den Kugelschreiber zwischen den Fingern hin und her, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte.
„Wo ist diese Frau nur hergekommen? Was hat sie da im Wald nur gemacht?“
Die Kommissarin war mit 33 Jahren noch vergleichsweise jung für ihren verantwortungsvollen Posten. Die Stelle in Söderhamn galt jedoch nicht gerade als erstrebenswert. Und so hatte es kaum Bewerber gegeben, als der alte Kommissar vor fünf Jahren in den Ruhestand gegangen war.
Mette hatte sehr lange, hellblonde Haare, die sie zumeist in einem dicken geflochtenen Zopf über den Rücken trug. Doch das war auch das einzige weibliche Attribut, das sie sich gestattete. Sie wusste, dass es bei den männlichen Kollegen nicht gut ankam, allzu weiblich auszusehen. Sie hatten dann keinen Respekt. Daher war sie dankbar für ihre burschikose, stämmige Figur und trainierte zudem fleißig Judo und Geländereiten. Leider hatte sie für ihre Hobbys dank der Schichtarbeit viel zu wenig Zeit. Mit Bedauern dachte sie an ihren Dicken, einen dänischen Knabstrupper Wallach, mit dem sie schon einige Jagden bestritten hatte. Doch ihr Schecke würde wohl noch warten müssen, solange dieser unselige Fall auf ihrem Tisch lag.
Seufzend erhob sie sich von ihrem Schreibtisch, nahm ihre Jacke von der Stuhllehne hinter sich und griff nach dem Autoschlüssel ihres Dienstwagens. Sie wollte nochmal zu der Stelle hinausfahren, an der die Frau gefunden worden war. Außerdem wollte sie in der Klinik vorbeischauen, ob es neue Erkenntnisse über den Zustand der Unbekannten gab. Falls sie irgendwann aus der Bewusstlosigkeit aufwachte, konnte man sie fragen, wie sie hieß und wo sie herkam.
Mette fand die Stelle im Wald ohne Probleme, denn der Weg dorthin war mittlerweile von vielen Menschen aufgewühlt worden und deutlich erkennbar. Die Blaubeersträucher waren überall heruntergetrampelt und Zweige von niedrigen Büschen abgebrochen. Die zur Untersuchung des Tatorts herbeigerufenen Beamten hatten gute Arbeit geleistet. Die eigentliche Fundstelle der Frau war noch mit gelbrotem Signalband abgesperrt. Es war nicht genau erkennbar, von wo die Frau gekommen war. Zwischen den beiden umgestürzten Bäumen hatte sie aber wohl eine ganze Zeit gelegen. Man sah noch die Spuren des Erbrochenen und Blutreste vom Nasenbluten im alten Laub des Vorjahres. Nachdenklich bückte sich Mette und spähte unter die Bäume. Kein typischer Platz für Schlangen. Aber auch nicht ausgeschlossen, dass hier eine Schlange ein Sonnenbad genommen hatte. Die Frau musste wohl über die Schlange gestolpert sein. Das kam schon hin und wieder vor, wenn Leute beim Blaubeersuchen oder Pilze sammeln nicht auf die Umgebung achteten. Allerdings gab es zwischen den Bäumen kein Blaubeerkraut und auch keine Pilze.
Mette blickte sich suchend um. Von wo mochte die Frau nur gekommen sein? Und wieso war sie mitten zwischen den beiden umgestürzten Bäumen durchgegangen? War sie überhaupt dort durchgegangen? Vielleicht hatte die Schlange sie kurz zuvor gebissen und sie hatte sich nur dorthin setzen wollen. Kompliziert wurde die Sache, wenn man den Biss von zwei verschiedenen Schlangen in Betracht zog, wie der behandelnde Arzt bereits angedeutet hatte. Zwei Schlangen zu übersehen war ungleich schwieriger als nur eine, selbst wenn sie reglos im Kraut lagen.
In Gedanken versunken verließ Mette den Fundort wieder und fuhr mit ihrem Wagen zum Krankenhaus. Es war mittlerweile dämmrig geworden. Um halb zehn würde es dunkel sein. Dann konnte man draußen nichts mehr machen. Aber für ein Gespräch mit den Ärzten war auf jeden Fall noch Zeit.
Sie traf den behandelnden Arzt Carl Reinhardt in seinem Büro an, wo er Berichte am Computer schrieb. Mit einem müden Lächeln deutete er auf den einzigen freien Stuhl im Raum.
„Bitte nimm Platz. Du willst sicher wissen, wie es der Frau aus dem Wald geht.“
Mette nickte.
„Konntet ihr sie stabilisieren?“
„Ihr Zustand hat sich etwas verbessert. Aber ich fürchte, für eine wirklich positive Diagnose ist es noch zu früh. Sie liegt auf der Intensivstation und wird künstlich beatmet. Das Gift lähmt die Muskeln, auch die Atmung, weißt du. Kreuzottergift ist ein ziemlich fieses Zeug. Es hat verschiedene Komponenten. Von allem nicht so viel. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine Komponente dir schadet, ist umso größer. Die Unbekannte hat jedenfalls allergisch auf das Gift reagiert. Darum geht es ihr so schlecht. Noch eine halbe Stunde länger da alleine im Wald und ihr Kreislauf hätte komplett versagt.“
„Dann hat sie also Glück gehabt“, schloss die Kommissarin nachdenklich. Dr. Reinhardt blickte sie mit gerunzelten Brauen an.
„Ja. Vielleicht. Aber es wird sicher eine Weile dauern, bis sie wieder auf die Beine kommt. Und wir können nicht ausschließen, dass so etwas Schäden hinterlässt. Nierenprobleme, Herzrhythmusstörungen, Gleichgewichtsprobleme. Alles möglich.“
„Ist dir sonst noch was an der Frau aufgefallen?“
Der Arzt schüttelte den Kopf. Doch dann hielt er inne und nickte.
„Doch. Es hat wohl nichts zu besagen. Aber die Frau hat eine Narbe am unteren Rücken.“
„Eine Verletzung?“
„Eher eine Operationsnarbe. Bandscheibe vor nicht mehr als einem Jahr, würde ich sagen.“
„Hm. Das bringt mich jetzt aber auch nicht weiter“, seufzte Mette.
„Vielleicht doch“, widersprach Dr. Reinhardt freundlich. Sie sah überrascht auf.
„Inwiefern?“
„Ich schätze, die Frau arbeitet vor allem sitzend. Ein Büromensch. Und sie dürfte etwas älter sein, obwohl sie nicht so aussieht. Eher Ende Dreißig oder sogar schon über Vierzig.“
„Na gut. Das nehme ich dann mal auf. Danke Dr. Reinhardt.“
Sie schüttelten sich die Hände. Danach verließ Mette die Klinik. Für heute Abend gab es nichts mehr zu tun. Sie würde am darauffolgenden Morgen einen Kollegen mit Suchhund anfordern, um herauszufinden, woher die Frau gekommen war. Vielleicht stand irgendwo noch ein herrenloses Auto herum, das ihnen bei der Identifizierung behilflich sein konnte.
*
Wie verabredet kam Magnus um kurz nach zwei ins Krankenhaus, um Pernilla von der Arbeit abzuholen. Er musste nicht lange suchen. Sie saß mit einer Kollegin im Schwesternzimmer und trank Kaffee. Die beiden kicherten, als Magnus eintrat.
„Du bist zu früh. Ich kann noch nicht weg.“
„Dann warte ich halt“, fand Magnus ungerührt und setzte sich. Ein Lämpchen an einer Signaltafel ging an und eine Zimmernummer leuchtete auf. Pernilla rollte die Augen.
„Nicht Nummer dreizehn schon wieder!“
Lachend erhob sich ihre Kollegin.
„Ich geh‘ schon. Aber dafür guckst du nochmal nach dem Schlangenbiss.“
Kopfschüttelnd sah Magnus ihr nach.
„Ihr redet vielleicht respektlos über eure Patienten! Ich würde mir ja echt verbitten, nur „Bandscheibe“ oder „Knie“ zu sein.“
„Tja, so ist das hier. Außerdem möchte ich nicht wissen, wie du mit deinen Kumpels auf dem Bau redest.“
Pernilla erhob sich grinsend.
„Ganz normal.“
Ihr Bruder folgte ihr anhänglich über den Flur zu einem der Zimmer, die als Einzelzimmer für besonders kritische Patienten genutzt wurden. Während Pernilla ruhig die Werte verschiedener Geräte überprüfte, spähte Magnus neugierig zu der Frau, die reglos und sehr blass in dem Krankenbett lag. Überall war sie an Schläuche und Geräte angeschlossen. Es surrte, piepte und brummte leise im Zimmer. Der linke Arm der Frau war unförmig aufgequollen und um die Bissstelle weiträumig bläulich verfärbt. Doch ansonsten sah die Frau ganz friedlich aus. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar und ein längliches, rundlich-glattes Gesicht. Insgesamt war sie unauffällig, weder besonders hübsch, noch hässlich. Ein Gesicht, das erst auf den zweiten oder dritten Blick liebenswert und schön wird. Für einen Moment verspürte Magnus einen Anflug von Mitleid mit der Unbekannten.
„Ach. Ich muss noch eine weitere Infusion holen. Die hier ist leer.“
Geschäftig lief Pernilla hinaus und Magnus sah ihr nach, nicht sicher, ob er befugt war, alleine im Raum zu bleiben. Schließlich blickte er wieder zu der Unbekannten und fragte sich erneut, wie es kommen konnte, dass sie gleich von zwei Schlangen gebissen worden war. Die Frau wirkte auf ihn weder besonders unintelligent, noch sonderlich ungeschickt, auch wenn sie nur reglos da lag. Er hätte sie so ohne jede weitere Information für recht sportlich gehalten. Vielleicht saß jetzt irgendwo jemand zuhause und machte sich schreckliche Sorgen um diese Frau. Vielleicht hatte sie sogar Kinder.
Während Magnus noch ganz in seine Betrachtungen versunken war, öffnete die Frau unvermittelt ihre Augen und blinzelte matt in seine Richtung. Ihr Blick fokussierte sich auf ihn. Sie hatte blaue Augen, die in dem blassen Gesicht ziemlich auffällig waren.
„Hej“, begrüßte Magnus sie mit einem kleinen Lächeln. Doch sie seufzte nur tief enttäuscht und schloss ihre Augen wieder, so als könnte sie den Anblick nicht ertragen. Betroffen sah Magnus die Frau an, nicht sicher, ob er das jetzt persönlich nehmen sollte. Pernilla kam wieder ins Zimmer und er beschloss, ihr davon zu berichten, was eben vorgefallen war.
„Die Frau ist gerade aufgewacht. Jedenfalls hat sie mich angeschaut.“
„Was?“
Pernilla wurde hektisch und lief zum Bett hinüber, um nach dem Rechten zu sehen.
„Was hast du denn gemacht, Magnus?“
„Gar nichts! Nur „Hej“ gesagt.“
„Na, ganz toll! Da wacht sie auf und keiner von uns ist da!“
„Doch. Ich.“
Pernilla ignorierte ihn und berührte die Unbekannte an der Schulter.
„Hallo? Bist du wach? Kannst du mich hören?“
Doch sei es, dass die Frau wieder bewusstlos geworden war oder beschlossen hatte, einfach nicht zu reagieren. Es kam keine Reaktion von ihr.
Seufzend tauschte Pernilla den Infusionsbeutel aus und wandte sich dann wieder ihrem Bruder zu.
„Ich muss noch kurz der Stationsärztin Bescheid geben. Dann können wir fahren.
„Von mir aus. Was passiert jetzt mit der Frau?“
„Na. Ich schätze, wenn sie richtig wach ist, wird die Polizei mit ihr reden wollen.“
Magnus warf noch einen Blick auf die Unbekannte im Krankenbett, ehe er nach seiner Schwester das Zimmer verließ. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Frau gar nicht mit der Polizei würde reden wollen.
*
Der Beamte mit dem Spürhund war bereits im Einsatz, als Mette zu Pferde die Stelle im Wald erreichte, an der die Unbekannte gefunden worden war. Eigentlich hatte sie sich den Nachmittag freigenommen. Aber ihr Schecke brauchte Bewegung und es konnte nicht schaden, nach dem Rechten zu schauen. Sie stieg ab und band ihr Pferd an einem dicken Ast fest, damit es dem Hund nicht im Weg war. Der Beamte zeigte dem Hund gerade das Taschentuch, das die Frau in ihrer Tasche gehabt hatte. Aufgeregt schnüffelte der Spürhund daran. Dann, auf ein Kommando seines Herrn hin, begann er die Mulde abzusuchen, in der die Frau gelegen hatte.
„Gut, dass es so trocken ist. Wenn es über Nacht geregnet hätte, wäre die Spurensuche für den Hund viel schwieriger“, erklärte Mettes Kollege ihr. Sie nickte. In Söderhamn gab es nicht viel Gelegenheit, um einen Spürhund einzusetzen. Hier verschwanden gewöhnlich keine Menschen oder geschahen Morde. Dennoch war Mette während ihrer Ausbildung eine Weile bei einer Hundestaffel gewesen. Die Arbeit war interessant gewesen. Sie wäre gerne geblieben, war aber am Ende nicht genommen worden. Ihr fehlte die Erfahrung im Umgang mit Hunden. Es hatte geeignetere Bewerber gegeben. Schließlich nahm der Hund die Spur auf und rannte in südwestlicher Richtung davon. Der Hundeführer rannte ihm nach, denn obwohl der Hund an einer langen Schleppleine lief, wollte der Mann das Tier nicht aus der Konzentration herausreißen, indem er an der Leine zerrte.
Rasch schwang sich Mette wieder auf ihren Schecken und trabte eilig hinterher. Den beiden anderen Beamten blieb nichts anderes übrig, als zum Auto zu gehen und zu warten, bis man sie rief.
Der Hund verfolgte die Spur ein ganzes Stück zu einigen Felsen, die still und warm in der Sonne lagen. Hier verhielt der Hund und bellte kurz. An einer Stelle war der Boden aufgewühlt. Eine Schlange kroch hektisch zwischen den Steinen davon.
„Könnte hier gewesen sein, wo sie gebissen wurde“, bemerkte der Hundeführer und beobachtete aufmerksam seinen aufgeregt herumschnüffelnden Hund.
„Das erste oder das zweite Mal?“
Mette verhielt ihr Pferd und stellte fest, dass der Hund erneut die Witterung aufgenommen hatte und weiterrannte. Der Beamte folgte ihm wieder.
„Das erste Mal, schätze ich!“ rief er ihr noch zu.
Mette runzelte die Stirn. Auch wenn die Felsen Schlangenland waren, war es eher unwahrscheinlich, dass man hier über sie stolperte. War die Frau vielleicht gestolpert und hatte sich irgendwo abgestützt, wo eine Schlange gelegen hatte? So musste es wohl gewesen sein. Möglicherweise war die Frau dann in Panik geraten und weitergelaufen. Dann war sie noch durch einen dummen Zufall auf die nächste Schlange getreten, weil sie nicht mehr auf den Weg geachtet hatte. Eine andere Erklärung fiel Mette nicht ein. Sie trabte immer noch hinter dem Mann mit dem Hund hinterher. Der Mann war gut in Form. Er hielt lange durch. Obwohl sie selbst regelmäßig Sport trieb, hätte sie nicht so lange laufen können. Nach einer Dreiviertelstunde, in der der Hund nicht mehr anhielt, erreichten sie einen befahrenen Waldweg und der Beamte rief den Hund ab.
„Sorry. Freya braucht eine Pause. Die Spur geht noch weiter. Aber das können wir erst morgen weiter verfolgen.“
„Verstehe“, nickte die Kommissarin enttäuscht. Sie hatte gehofft, schneller ans Ziel zu kommen.
„Dann brechen wir jetzt ab und treffen uns morgen früh hier wieder. Ist dir acht Uhr recht?“
Der Beamte nickte.
„Acht ist gut.“
Er griff nach seinem Handy und wählte die Nummer seiner beiden Kollegen im Einsatzfahrzeug.
„Könnt ihr mich abholen? Hier ist ein Waldweg, den ihr fahren könnt. Ich gebe euch die GPS-Daten durch …“
Mette wartete nicht, bis er zu Ende telefoniert hatte. Für sie wurde es auch Zeit, nach Hause zu reiten.
*
Als Magnus nach Hause kam, stellte er fest, dass Babette noch nicht daheim war. Er seufzte enttäuscht und nahm sein Handy aus der Jackentasche. Keine Nachricht von ihr. Er legte das Handy beiseite und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann schaltete er den Fernseher ein. Doch nachdem er sich einmal durchgezappt hatte und nichts lief, was er sehen wollte, schaltete er wieder aus und saß eine Weile grübelnd herum. Schließlich erhob er sich gereizt und griff erneut nach dem Handy.
„Wo bist du???“ schrieb er entnervt an Babette. Doch natürlich antwortete sie nicht. Er hätte es sich denken können und es ärgerte ihn noch mehr, dass er so enttäuscht darüber war. Eine Weile dachte er sich im Geiste aus, was er ihr alles sagen würde, wenn sie erst zurückkäme. Aber dann beruhigte er sich doch und holte sich den Laptop heran.
Nachdenklich suchte er die Seite der Söderhamner Lokalzeitung auf und fand schon auf der Titelseite einen Link zu dem Bericht über die Frau im Wald. Viel stand nicht da. Aber Magnus fand es interessant, dass die Polizei bekanntgab, bislang keine passende Vermisstenanzeige erhalten zu haben. Sie hatten allerdings darauf verzichtet, ein Bild der Frau einzustellen, denn in ihrem derzeitigen Zustand konnte man sie schlecht fotografieren. Dennoch bat die Polizei um Hinweise der Bevölkerung, was die Herkunft der Frau anging. Außerdem wurden Zeugen gesucht, die die Frau vielleicht gesehen hatten, als sie vor zwei oder drei Tagen in der Gegend herumgelaufen war. Auch wenn Söderhamn nicht Gotland oder eines der Seebäder an der Südküste war, so kamen doch im Sommer einige Touristen zum Baden, Segeln oder Angeln her. Es gab einen Campingplatz und einige Ferienhäuser. Gut möglich, dass die Unbekannte eine Urlauberin war. Während Magnus noch im Internet las, klappte die Wohnungstür und Babette kam herein.
„Hej. Wolltest du nicht deine Schwester von der Arbeit abholen?“
„Ja. Hab‘ ich auch gemacht. Das dauert ja nicht so lange. Falls du mal auf die Uhr sehen würdest … es ist schon halb sechs.“
„Ich war mit Christina einkaufen“, zuckte die schöne Balletttänzerin ungerührt die Schultern und zog ihre Jacke aus. Magnus blickte ihr vorwurfsvoll nach.
„Dein Handy trägst du wohl auch nur mit dir herum ohne draufzusehen!“
Babette rollte genervt die Augen.
„Jetzt zank‘ doch nicht ‘rum, Magnus! Glaubst du, ich sehe dauernd nach, ob du mir eine SMS geschrieben hast? Also bitte!“
Sie konnte es ihrem Freund ansehen, dass er sich über ihre Worte ärgerte. Wenn er sauer war, funkelten seine braunen Augen noch lebhafter als sonst. Aber davon ließ sie sich nicht beeindrucken. Sie kannte Magnus zu lange und wusste, dass er gegen sie nicht ankam. Er wusste es auch und schmollte eingeschnappt vor sich hin, während sie sich in der Küche ein Brot machte.
„Toll. Und was kriege ich?“ grummelte er, als sie sich neben ihn auf das Sofa setzte und seelenruhig den Fernseher anmachte.
„Hier!“
Sie hielt ihm gutmütig ihren Teller mit Broten hin. Einen Moment zögerte Magnus noch. Aber er wusste, dass das ein Friedensangebot war und dass er klug beraten war, es anzunehmen, sonst würden sie noch bis morgen streiten.
„Danke“, murmelte er unwirsch, nahm sich aber eines der Brote und spähte verstohlen zu ihr hin. Eine Weile tat sie so, als würde sie es nicht bemerken. Dann lehnte sie sich zurück und sah ihn halb belustigt und halb resigniert an.
„Na schön. Wie war dein Tag? Du willst doch was erzählen.“
Magnus fühlte sich ertappt und senkte betroffen den Blick. Manchmal hasste er es, dass Babette ihn so leicht durchschauen konnte. Einen Moment lang wollte er es schon abstreiten. Aber dann war sein Mitteilungsbedürfnis doch zu groß und er platzte hervor:
„Die haben doch da so eine Frau im Wald gefunden. Die von einer Schlange gebissen wurde und jetzt im Krankenhaus liegt.“
Babette sah in verständnislos an.
„Na und?“
„Als ich heute im Krankenhaus war, ist die kurz aufgewacht.“
„Schön für sie.“
Babette verlor schon das Interesse an dem Thema. Magnus seufzte leise.
„Das ist eine ganz mysteriöse Geschichte, sage ich dir! Ich wüsste echt gerne, was da passiert ist.“
„Ach, darum kümmert sich doch die Polizei.“
„Ja … schon …“
Babette warf ihm einen belustigten Blick zu.
„Willst du jetzt etwa Privatdetektiv spielen? Lass es, Magnus! Du kriegst höchstens Ärger, wenn du der Polizei in die Quere kommst.“
„Hab‘ ich ja gar nicht vor!“ protestierte er und ärgerte sich schon wieder, weil sie ihn nicht ernst nahm. Manchmal war es zum Verzweifeln mit Babette. Sie sah so gut aus und war seine Traumfrau. Aber ihre Unabhängigkeit und gelegentliche Spottlust verletzten ihn immer wieder. Es hatte sogar schon Momente gegeben, in denen Magnus sich insgeheim gefragt hatte, warum er sich das eigentlich gefallen ließ und ob es nicht besser wäre, sich von ihr zu trennen. Doch er schaffte es nicht, denn er liebte sie aufrichtig und wollte auch nicht wieder alleine sein. Die Zeit, in der sie in Stockholm gewesen war, hatte ihm gereicht. Er wusste, dass es nicht einfach war, sich mit einem anderen Menschen zusammenzuraufen. Je älter er wurde, umso schwieriger fand er es. Bei Babette musste er sich wenigstens nicht verstellen. Da durfte er auch mal unleidlich sein oder faul oder einfach nur er selbst. Dafür nahm er auch ihre zickigen Launen in Kauf. Eine sanftmütige Babette wäre ihm zwar lieber gewesen, aber die gab es nun mal nicht.
„Hast du noch Lust, wohin zu gehen?“ wechselte Babette unterdessen das Thema.
„Kommt drauf an.“
„Im „Black Joker“ ist heute Dance Night. Lass uns hingehen, ja?“ bat sie schmeichelnd und zog an seinem Arm. Magnus tat, als überlegte er noch.
„Hm …“
„Ach komm!“ lachte sie und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Ein Lächeln huschte über Magnus‘ Gesicht.
„Na gut. Einverstanden.“
*
Sie hatten gerade erst mit der Arbeit angefangen, als die Polizei auf der sandigen Zufahrtsstraße auftauchte. Überall an der Straße, die von Söderhamn nach Forsbacka und weiter ans Meer ging, lagen Ferienhäuser im Wald. Manche waren schon alt, andere neu. Und einige wurden auch abgerissen und neugebaut, so wie das, an dem Magnus und seine beiden Kollegen gerade arbeiteten. Sie wollten heute das Dach decken und dann mit den Innenarbeiten weitermachen. Jedenfalls war so die Absprache mit den Besitzern. Vom Kleintransporter trug Magnus gerade eine große Rolle Teerpappe auf der Schulter Richtung Haus, als er den Hund bellen hörte. Dann kamen das Tier und sein Hundeführer den Weg herabgelaufen und kurz danach rollte noch ein Polizeiauto heran. Es hielt hinter dem Kleintransporter der Firma, bei der Magnus arbeitete. Er stellte die Dachpappe ab, denn es war ihm zu schwer, sie die ganze Zeit zu tragen. Neugierig beobachtete er die Beamten, als sie ausstiegen, während der Mann mit dem Hund anhielt. Ganz offenbar hatte der Hund eine Fährte verfolgt. Ein zweiter Hund saß hinten im Polizeiwagen und bellte kurz, als sie hielten.
„Hey, Magnus! Wo bleibst du denn?“ rief sein Kollege Erik ungeduldig nach ihm.
„Komme ja schon.“
Nur zögernd nahm Magnus die Dachpappe wieder auf und ging damit ums Haus, um sie über eine Leiter aufs Dach hochzutragen. Er hätte gerne noch länger beobachtet, was die Polizisten hier machten. Seine beiden Kollegen waren bereits auf dem Dach oben und arbeiteten, allerdings auf der der Zufahrt abgewandten Seite.
„Was die hier wohl wollen?“
Kopfschüttelnd sah Magnus vom Dach aus zu, wie der eine Hund abgerufen und der andere ausgeladen wurde. Neben den beiden Hundeführern war noch ein Fahrer dabei. Schließlich erreichte noch ein weiteres Auto mit einem Beamten und einer Frau in Zivil das Haus. Die Frau telefonierte und blickte sich dabei suchend um.
„Ich geh‘ mal runter, fragen“, entschied Magnus, zu neugierig, als dass er sich auf etwas anderes hätte konzentrieren können.
„Dann bring‘ noch ein paar Pakete Ziegel mit rauf, wenn du wiederkommst“, rief Erik ihm kopfschüttelnd nach.
Rasch kletterte Magnus wieder vom Dach und ging hinüber zum Kleintransporter, als wollte er noch etwas holen. Als er die Schiebetür auf der Fahrerseite öffnete, sprach ihn die Frau in Zivil an.
„Arbeitest du hier?“
Er nickte.
„Ja. Seit drei Wochen.“
„Hast du vor drei Tagen hier eine blonde Frau entlanglaufen sehen? So Anfang bis Mitte dreißig, blonde, schulterlange Haare, schlank. Sie trug eine helle Jeans und ein graues T-Shirt.“
Er schüttelte den Kopf.
„Nö. Hier kommen nicht so viele Leute lang. Warum sucht ihr die?“ stellte er sich dumm, obwohl er genau wusste, wen die Kommissarin meinte.
„Wir suchen die Frau gar nicht. Die haben wir schon. Aber wir wollen herausfinden, wer sie ist“, erklärte Mette ihm. Sie war fast einen Kopf kleiner als er, doch ihre ruhige Autorität beeindruckte Magnus. Trotzdem konnte er nicht umhin, flapsig anzumerken:
„Warum fragt ihr sie dann nicht?“
Mette blickte unwillig zu ihm auf und Magnus dachte schon, sie würde ihm eine passende Antwort geben. Doch dann erklärte sie überraschend ehrlich:
„Die Frau redet nicht.“
„Ist sie denn jetzt wach?“ wollte Magnus unüberlegt wissen. Kaum dass er es gesagt hatte, wurde ihm klar, dass er sich verplappert hatte. Mette sah misstrauisch zu ihm auf.
„Du kennst die Frau also?“
Sanfte Röte huschte über Magnus‘ Gesicht. Für solche Detektivspielchen eignete er sich eben nicht. Da hatte Babette schon Recht.
„Kennen ist zu viel gesagt. Meine Schwester arbeitet im Krankenhaus und da habe ich die Frau gesehen“, rettete er sich mit Ehrlichkeit und warf der Kommissarin einen treuherzigen Blick zu. Das half bei Frauen eigentlich immer, hatte er festgestellt. Die Kommissarin blieb jedoch ungerührt. Sie wandte sich zu ihrem Wagen um.
„Tja. Ich fürchte, in dem Fall brauchen wir deinen Namen und alle Details. Kommst du bitte mit?“
Magnus seufzte und warf einen kurzen Blick zu seinen Kollegen auf dem Dach. Erik wirkte leicht genervt, als er Magnus mit der Kommissarin mitgehen sah. Sie waren schließlich nicht zum Quatschen gekommen. Doch der Junge war ein guter und vor allem zuverlässiger Mitarbeiter. Erik hatte ihn gern in seiner Gruppe und verzieh dem Jüngeren, dass er sich manchmal unüberlegt in Schwierigkeiten bringen konnte.
Am Wagen angekommen nahm Mette ein kleines Notebook hervor und klappte es auf, während sie sich auf den Beifahrersitz setzte. Rasch hatte sie die Protokollmaske im Schreibprogramm geöffnet und sah abwartend zu Magnus, der artig neben ihr wartete.
„Name?“
„Magnus Viberg.“
„Wo wohnst du?“
„In der Kungsgatan 8“
„Und wann hast du die Frau im Krankenhaus gesehen?“
„Gestern Nachmittag so gegen zwei.“
„Hast du mit ihr geredet?“
„Nein. Sie war ja nicht wach. Sie hat nur einmal die Augen aufgeschlagen, geseufzt und dann war sie wieder nicht ansprechbar.“
„Erstaunlich, dass jemand, der eigentlich auf dem Bau arbeitet, im Krankenhaus so nah an eine Fremde auf der Intensivstation herankommt“, bemerkte die Kommissarin spitz.
„Ich sagte doch schon, dass meine Schwester da arbeitet“, wiederholte Magnus verlegen. Langsam entwickelte sich diese Sache eher unangenehm und er bereute es, nicht weitergearbeitet zu haben.
„Ja. Und das habe ich auch notiert“, versicherte Mette streng. Sie musterte den Mann vor sich abschätzend. Ein hübscher Bursche. Vermutlich schon Ende zwanzig, aber noch recht jungenhaft.
„Gut, Magnus.“
Mette erhob sich vom Beifahrersitz. Magnus trat einen Schritt beiseite, damit sie aussteigen konnte. Er war sich nicht sicher, ob er jetzt entlassen war und verhielt daher noch abwartend neben ihr.
„Du kannst gehen“, informierte sie ihn nicht unfreundlich, aber sichtlich nicht mehr daran interessiert, ihn weiter zu befragen. Erleichtert ging er zum Transporter zurück, sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die Kommissarin ihm nachsah. Er hatte das ungute Gefühl, dass er wegen seiner eigenen Dummheit noch einigen Ärger bekommen würde.
*
Nachdem Mette die Daten des jungen Bauarbeiters aufgenommen hatte, gab sie die Anweisung, den zweiten Suchhund loszuschicken. Die Frau war erstaunlich lange gelaufen. Dort, wo man sie gefunden hatte, kam man nur zu Fuß hin. Sie war indes nicht auf direktem Weg vom nächstgelegenen Waldweg hingegangen, sondern quer durch den Wald aus einer ganz anderen Richtung. Zwischendurch hatte sie immer wieder Wege gekreuzt und war auch auf einigen ein Stück gelaufen. Aber nie lange. Eigentlich wirkte der Weg, den sie zurückgelegt hatte, planlos und wirr, was nicht verwunderlich war, denn sie hatte keine Karte dabeigehabt.
Mette entschied, dass die Frau wohl eher nicht von hier stammte, sonst hätte sie sich besser ausgekannt. Falls sie aber eine Touristin war und in einem der Ferienhäuser der Gegend gewohnt hatte, war es verwunderlich, dass noch niemand sie vermisste. Normalerweise mietete man sich ein Ferienhaus nicht ganz alleine. Andererseits war es müßig, darüber zu spekulieren, wo sie herkam, solange sie das Ende der Spur nicht erreicht hatten. Der zweite Hund war bereits losgelaufen. Mette räumte das Notebook weg und winkte ihrem Begleiter.
„Lass uns fahren, Folke.“
„Was war denn mit dem Mann, den du gerade vernommen hast?“
Ihr Polizeikollege startete den Motor und setzte ein Stück zurück, um an dem Kleintransporter und dem Wagen mit dem Hundeführer vorbeizukommen.
„Ich weiß nicht. Der Kerl behauptet zwar, die Frau im Krankenhaus nicht zu kennen. Aber er war trotzdem bei ihr“, sinnierte die Kommissarin nachdenklich.
„Ein Beziehungsdrama?“ schloss Folke belustigt. Mette schüttelte den Kopf.
„Dafür gibt es keine Anzeichen. Aber wir sollten diesen Magnus Viberg zur Vorsicht mal unter die Lupe nehmen. Im Moment kann ich ihn noch nicht so ganz ins Bild einordnen.“
„Ich kümmere mich darum, wenn wir zurück sind.“
Sie hatten mittlerweile den Hundeführer und den Hund eingeholt. Die beiden folgten zügig der sandigen Straße und bogen schließlich auf die asphaltierte Hauptstraße ab. Der Hund schnüffelte eine Weile herum. Dann folgte er der Straße Richtung Humlegårdsstrand am Meer.