Im Exil - Die Echsen - E.S. Harmondy - E-Book

Im Exil - Die Echsen E-Book

E.S. Harmondy

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Beschreibung

Dies ist der zweite Teil der Geschichte um die Menschen, die von einem unbarmherzigen Regime in ein ausgedehntes, unterirdisches Höhlensystem ins Exil verbannt wurden. Die Geschichte spielt ca. 200 Jahre nach dem ersten Teil. Die Echsen, die den Siedlern bereits in "Im Exil - Die Verbannten" einige Probleme bereiteten, tauchen wieder auf und bedrohen die Gemeinschaft. Die junge Krishanna verliert durch die Echsen ihre Familie. Trotzdem ist sie die erste, die den Nutzen dieser Tiere für die kleine Gemeinschaft der Verbannten entdeckt. Sie zähmt eine der Echsen. Doch den Ruhm ernten andere und werden zu Rivalen. Erst nach Jahren gelingt es der jungen Frau, ihren Namen mit Hilfe ihrer Freunde zu rehabilitieren und doch noch den Platz in der Gesellschaft einzunehmen, den sie verdient hat.

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Seitenzahl: 291

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung bedarf der Genehmigung der Autorin.

Dieses Ebook wurde mithilfe von Sigil erstellt.

Covergestaltung Pittie

Imprint

Exil 2 - Die Echsen

E.S. Harmondy
published by: epubli GmbH, Berlin, 
www.epubli.de
Copyright: © 2013 E.S. Harmondy

ISBN 978-3-8442-4767-1

Ohne Träume ist das Leben nicht lebenswert.

Ohne Musik ist es grau und leer.

Schreiben war und ist mir immer ein inneres Bedürfnis gewesen. Aber die Musik bringt mich zum Träumen und regt meine Fantasie an, so dass die Bilder zu den Büchern erst entstehen. In dem Sinne möchte ich mich hier bei allen Musikern bedanken, die ohne ihr Wissen doch auch zur Entstehung dieser und anderer Geschichten beigetragen haben. Billy Talent, Nightwish, Rasmus Seebach und all die anderen. Danke für Eure Musik!

Mein besonderer Dank geht aber an meine Schwester, die das Cover für mich gestaltet hat und sich immer noch nach all den Jahren bereitwillig meine Geschichten anhört und Korrektur liest.

Danke auch der unbekannten Leserin und dem unbekannten Leser, die sich dieses Ebook gekauft haben. Es freut mich, wenn du mir für eine Weile in meine Fantasiewelt folgen magst. Viel Spaß beim Lesen!

TEIL 1

Die Luft in der riesigen Höhle war mild und dampfig. Feine Nebelschwaden glitten von den heißen Quellen aus über den sandigen Boden und verdeckten den Blick auf die moosbewachsenen und von hartem Kraut umwucherten Felsen. Die Gegend wirkte unwirklich und auf den ersten Blick lebensfeindlich. Doch sah man genauer hin, konnte man überall Spuren des Lebens entdecken. Lumineszierende Moose an den Wänden und der Decke der Höhle verbreiteten ein fahles Licht, in dem eine an diese Lebensumstände angepasste Fauna und Flora gedieh. Insekten, die riesigen Tausendfüßlern glichen, bewegten sich träge durch das krautige Moosbeerendickicht auf dem Höhlenboden. Sie ernährten sich von den weißlich-gelben Beeren der Büsche, die überraschend üppig im fahlen Licht gediehen. In der Nähe der heißen Quellen huschten flinke Salamander über die Felsen und wärmten sich in den heißen Dampfschwaden auf, denn sie waren wie alle Reptilien wechselwarm und brauchten die Wärme, um auf die Jagd gehen zu können. Ein breiter, flacher Fluss strömte gemächlich durch die riesige Höhle. Im Gegensatz zu den heißen Quellen, deren Wasser salzig war, bestand das Flusswasser aus kaltem mineralisch-schmeckendem Süßwasser. Kleine augenlose Fische, Krebse und andere Schalentiere und diverse Tangsorten gediehen prächtig im klaren Fließgewässer. Sie alle bildeten die Lebensgrundlage für die Kolonie der großen Echsen, die es sich in den Nischen und Felsspalten der Höhlenwand hinter dem sandigen Flussufer bequem gemacht hatten. Es war eine große Kolonie, die mehrere hundert Tiere umfasste. Der flache, sandige Strand war übersät mit den grazilen Tieren, die im Gegensatz zu den anderen vierbeinigen Echsen des Höhlensystems nur auf den Hinterbeinen liefen und somit die Vorderbeine zur freien Verfügung hatten. Die großen Echsen liefen gemächlich am Strand auf und ab, tauchten im Fluss nach Nahrung oder ruhten auf der Seite liegend in der Nähe der heißen Quellen im Sand. Besonders die älteren Tiere genossen die Wärme der feuchten Nebelschwaden, um ihre schmerzenden Gelenke zu kurieren. Für ein Bad war den Echsen das heiße Salzwasser der Quellen jedoch zu warm.  

Allen Echsen gemein war eine grau-grüne Färbung ihrer schuppigen Haut. Im fahlen Dämmerlicht der Höhle waren sie damit nahezu unsichtbar, wenn sie in kleinen Gruppen auf die Jagd gingen. Die Jagd war ohnehin die bevorzugte Beschäftigung der großen Reptilien, und es gab kein Tier in dem ausgedehnten, unterseeischen Höhlensystem, das sie mit ihrer Schläue und ihrem Geschick nicht schon besiegt hatten. Sogar die großen, gefährlichen Seeschlangen hatten gegen ein Rudel der grazilen Echsen keine Chance. Zuweilen trafen die Echsen auch auf andere ihrer Art. In vielen größeren Höhlen gab es eine Kolonie der intelligenten Tiere. Sie gingen sich zumeist aus dem Weg. Doch hin und wieder gab es schon erbitterte Streitigkeiten um die Jagdrechte in einem der zahllosen tiefen Seen und Teiche, die ganze Felskammern ausfüllten und reich an Fisch und Seeschlangen waren. Bei solchen Revierkämpfen konnte es durchaus vorkommen, dass ein Jagdrudel ein anderes angriff. Es kam jedoch nie vor, dass eine ganze Kolonie angegriffen wurde. Die Streitigkeiten unter den einzelnen Echsengruppen beschränkten sich auf Kämpfe um Jagdreviere. 

Innerhalb ihrer eigenen Kolonie waren die Echsen untereinander ausgesprochen friedlich. Männliche und weibliche Tiere lebten einträchtig nebeneinander und teilten sich die Beute der Jagden. Sobald sie mit etwa anderthalb Jahren die Geschlechtsreife erlangten, fanden sie sich zu Paaren zusammen. Oft hielten diese Bindungen für mehrere Jahre, obwohl es den weiblichen Tieren überlassen war, einen Partner zu wählen und es durchaus vorkam, dass ein alterndes Männchen durch ein jüngeres, kraftvolleres ersetzt wurde. Männliche und weibliche Echsen waren mehr oder weniger gleich groß, wenn sie ausgewachsen waren. Man konnte sie vom Körperbau her kaum unterscheiden. Die männlichen Tiere hatten jedoch einen ausgeprägteren Rückenkamm, den sie bei Revierkämpfen drohend aufstellen konnten. Bei jungen und weiblichen Echsen war dieser Rückenkamm grün-grau gefärbt wie der Rest der schuppigen Haut. Allerdings hatten ältere Männchen einen andersfarbigen Rückenkamm. Er konnte türkis oder sogar dunkelviolett werden. Die Männchen mit dem violettfarbenen Rückenkamm waren oft etwas größer als die anderen und zeichneten sich durch besondere Stärke und Wildheit aus. Sie waren die Leittiere der Kolonie und es gab in jeder Kolonie nur eine Handvoll von ihnen.

*

Das junge Männchen lief unruhig mit federnden Schritten den sandigen Strand auf und ab. Die dampfige Luft war erfüllt vom süßlichen Duft eines brünstigen Weibchens. Obwohl er ihr schon seit Stunden gefolgt war, hatte sie ihn immer wieder abgewiesen und sich schließlich dem prächtigen Leittier angeboten. Der massige Echsenmann hatte sich träge mit ihr gepaart und behielt sie nun bei seinem Harem von weiblichen Tieren, so dass kein anderes Männchen seinen Samen mit ihr vermischen würde und die Nachkommen mit Sicherheit von ihm abstammten. 

Vergebens versuchte das junge Männchen, das Weibchen vom Harem fortzulocken. Sie hatte ihre Wahl getroffen und erlaubte es ihm nicht, ihr nahezukommen.

Frustriert ließ das junge Männchen schließlich von ihr ab und lief erneut rastlos am Strand auf und ab. Die Erregung der vergangenen Stunden ließ die Echse nicht zur Ruhe kommen. Doch kein weibliches Tier war zur Paarung mit ihm bereit und das steigerte noch seine Unruhe und sein Verlangen. Immer wieder versuchte er es bei den weiblichen Tieren. Allein, sie alle wiesen ihn immer wieder ungnädig mit Zähnen oder Klauen und einem gereizten Zischen ab, sobald er ihnen auf den Leib rückte. Schließlich trabte das junge Männchen mitten in eine Gruppe von Jungtieren hinein und zwang eines der noch unreifen Weibchen, ihm zu Willen zu sein. Sie gab einen jammervollen Pfeiflaut von sich, als er sich mit ihr paarte. Doch war sie noch zu klein und schwach, um sich ernsthaft zur Wehr setzen zu können. Die anderen Echsen am Strand ignorierten den Vorfall. Auch wenn es unter den Echsen nicht üblich war, kam es doch hin und wieder vor, dass ein erregtes Männchen, das keinen Partner fand, sich auf diese Weise erleichterte.

Einige andere Männchen waren auf das ungleiche Paar aufmerksam geworden und schlichen witternd und gurrend um sie herum, bis der junge Eroberer sie mit wütendem Zischen verscheuchte. Obwohl das weibliche Jungtier noch nicht fruchtbar war, verhielt er sich ganz so, als ob sie seine Partnerin wäre. Brummend und gurrend umkreiste er das Jungtier und drängte es aus seiner Gruppe fort in den Schilfgürtel, der sich an den breiten sandigen Uferstreifen anschloss. Obwohl das Jungtier immer wieder versuchte, zu den anderen zurückzukehren, erlaubte er ihr das nicht und paarte sich noch zwei weitere Male mit ihr, bis seine Erregung nachließ und er wieder ruhiger wurde. 

Ein seltsamer Laut ließ die beiden Echsen erstarren. Das Jungtier kauerte sich sofort auf den Boden und auch das junge Männchen duckte sich zwischen die Schilfhalme, behielt aber lauschend und witternd den schlanken Kopf erhoben.

Dumpfe, schwere Schritte erklangen und man hörte seltsame, vielschichtige Laute, die zuweilen an das Rumpeln von Felsen und dann wieder an das Schnattern der Flugechsen erinnerte. Sogar ein heulender, abgehackter Ton ließ sich vernehmen. Seltsame Tiere auf zwei Beinen tauchten auf einer kleinen Lichtung im Schilf auf und kommunizierten lebhaft auf ihre brüllende, brummende, schnatternde Art miteinander. Keine der Echsen hatte solche Wesen schon einmal gesehen oder ihren Geruch irgendwo gewittert. Sie stanken stark nach Verbranntem und nach verwesendem Fleisch und Exkrementen, so dass das junge Echsenmännchen unwillkürlich niesen musste. Zu seinem Glück waren die fremden Jäger so laut, dass sie weder ihn, noch sein zitterndes Weibchen im Schilf bemerkten. Es kamen noch zwei weitere von den Zweibeinern und zerrten eine verwundete Echse an den Hinterbeinen hinter sich her. Das im Schilf versteckte Männchen schnaufte kaum hörbar und unterdrückte ein wütendes Zischen, als es die Jäger beobachtete. Sie stachen mit metallisch glänzenden, spitzen Klauen auf die gefangene Echse ein und töteten sie schließlich. Dabei gaben die Jäger ein eigentümliches Gackern von sich. Am Ende zerteilten sie das erlegte Tier und gingen durch das Schilf in Richtung Norden davon.

Selbst als die fremden Jäger gegangen waren, wagten sich das junge Männchen und das Jungtier eine ganze Weile nicht zu rühren. Erst als das junge Männchen schließlich zaghaft aufstand und vorsichtig den Platz untersuchte, auf dem die Jäger die Echse getötet hatten, sprang das weibliche Jungtier hastig auf. Es lief so schnell es konnte zurück in die trügerische Sicherheit der Kolonie. Das Männchen blickte ihr nach, hin- und hergerissen, ob es ihr folgen sollte oder doch nach den fremden Wesen schauen. Er bedauerte es, dass sie davonlief. Doch seine Begierde war für den Moment erloschen. Er wusste, dass er sie unter den Jungtieren wiederfinden würde, denn sein Geruch würde noch einige Tage an ihr haften. 

Stattdessen schnüffelte das Männchen angewidert an den blutigen Spuren des Massakers herum. Die eigentümlichen Jäger rochen streng nach Raubtier und sie waren sehr warm. Eine unnatürliche Wärme hatte von ihren Körpern ausgestrahlt. 

Aufgeregt kehrte das junge Männchen zur Kolonie am Strand zurück. Mit zirpenden, perlenden Pfeiflauten machte er auf sich aufmerksam, als er über den Strand lief. Sofort sprangen die bis dahin ruhig daliegenden Echsen auf und scharrten sich um ihn. Immer wieder gab er den Warnlaut von sich, bis alle Echsen in Alarmbereitschaft waren. Dann lief er zurück zur Stelle des Überfalls und viele der anderen Tiere folgten ihm aufgeregt und kampfbereit. Das Blut und der strenge Gestank der fremden Jäger sprachen eine deutliche Sprache. Viele der Echsen zischten angewidert und scharrten wütend in den blutigen Überresten der getöteten Echse. Das junge Männchen, das Zeuge des Überfalls geworden war, sprang leichtfüßig um sie herum und stieß schrille Pfeiflaute aus. Andere Männchen griffen seinen Kampfruf auf und erwiderten ihn herausfordernd. Doch diesmal ging es nicht um Revierkämpfe oder Streitigkeiten um ein Weibchen. Diesmal würden sie die fremden Eindringlinge jagen und sie dafür töten, dass sie es gewagt hatten, in das Land der Kolonie einzudringen, ihre Duftmarken zu hinterlassen und einen der ihren zu töten. 

*

Der Jagdtrupp der Echsen war ungewöhnlich groß. An die vierzig Tiere trabten leichtfüßig und raumgreifend durch die mit Moosbeerenkraut und Schilfrohr überwucherte Flusslandschaft. Sie liefen ausgefächert und jedes Tier im eigenen Tempo. Manchmal blieb eine Echse stehen und witterte oder äußerte einen kurzen Zischlaut. Obwohl sie so ungeordnet dahinliefen, wirkte ihr Vorrücken auf seltsame Weise geplant und organisiert. Es gab drei Späher, die vorausliefen und das Gelände sicherten. Auch zu den Flanken sicherten sie sich wachsam ab. Doch die fremden Jäger waren längst aus der Echsenhöhle verschwunden. Ereignislos verfolgten sie die Spur der Jäger bis zu einem Erdrutsch, der vor einer Weile bei einem Erdbeben entstanden war. Er hatte die Höhlenwand einstürzen lassen, so dass man nur mit einiger Kletterei in die angrenzende Höhle gelangen konnte. Diese zweite Höhle war sumpfiger, als die, in der die Echsen lebten. Sie bot ein ausgezeichnetes Jagdrevier. Der Boden zwischen den einzelnen sumpfigen Tümpeln war torfig und weich. Um die Tümpel standen oft dichte Schilfgürtel, so dass man nicht weit sehen konnte. Kleine Rinnsale von Wasser flossen zwischen den Tümpeln und gruben tiefe Rinnen in den weichen Torfboden, bis sie den felsigen Höhlengrund erreichten. Die Luft war auch hier sehr feucht und setzte sich an den Höhlenwänden, an den Stalagmiten und Stalaktiten und auch an der Höhlendecke ab. Kühlte der feuchtwarme Nebel zu rasch durch einen Luftzug ab, dann hatte man das Gefühl, als ob es regnete, obwohl es in den Höhlen keine Wolken und kein Wetter wie auf der Erdoberfläche gab. 

Dem Jagdtrupp der Echsen war es ein Leichtes, der Spur der fremden Jäger durch das Gewirr aus Tümpeln und torfigen Inseln zu folgen. Als das Gelände zunehmend anstieg, wurde der Boden immer trockener und die Tümpel blieben zurück. Stattdessen überzogen harte, gelbliche Flechten den Boden und schließlich wuchs auch Moosbeerenkraut wie in der Nachbarhöhle. Die Echsen rückten jetzt langsamer und vorsichtiger vor, zumal es in der Höhle heller wurde. Die fluoreszierenden Moose an der Decke und an den Höhlenwänden leuchteten viel stärker, als die Echsen es gewohnt waren. Manch eine von ihnen blinzelte angesichts der ungewohnten Helligkeit. Dennoch setzten sie ihren Jagdzug unverdrossen fort. Sie duckten sich häufig in das Moosbeerenkraut und sondierten eine Weile die Lage, ehe sie jede für sich wieder ein Stück vorrückten und sich erneut im Kraut oder zwischen den Felsen versteckten. 

Ein tiefer See tauchte vor den Echsen auf. Ein Zulauf, aus dem das Wasser stammte, war nicht erkennbar. Aber es gab einen Ablauf am entfernt liegenden Ufer. Dort wo der Ablauf begann, hatten die fremden Jäger offenbar ein Lager errichtet. Der Gestank der seltsamen Wesen war viel stärker hier. Sie hatten aus irgendeinem Grund Steine übereinander gehäuft und künstliche Höhlen geschaffen. Überall lagen oder hingen Häute der von ihnen erbeuteten Tiere herum und trugen noch zu dem Verwesungsgeruch bei, der den Echsen schon vorher aufgefallen war.

Wütend zischten die Echsen, als ihnen bewusst wurde, dass die Haut der getöteten Echse direkt vor ihnen auf einem Trockengestell aufgespannt war. Man konnte deutlich den Rückenkamm und die grau-gelbe Färbung der schuppigen, weichen Haut erkennen. Eines der fremden, zweibeinigen Tiere machte sich mit seinen Klauen daran zu schaffen. Dem jungen Männchen fiel als einzigem auf, dass das fremde Tier eine Art Stein in den Händen hielt und damit über die Innenseite der Echsenhaut kratzte. Lautlos verständigte sich der Echsenjagdtrupp mit Blicken. Einige der grazilen Reptilien schwärmten unbemerkt aus und umgingen das Lager, bis die Echsen es vollständig von allen Seiten umzingelt hatten. Dann sprangen sie aus der Deckung und stürzten sich mit ihrem schrillen Pfeifen zornig auf die Eindringlinge.

*

Die Menschen wurden vom Angriff der Echsen völlig überrascht. Sie waren nur eine kleine Gruppe. Nicht mehr als vier Familien, die gemeinsam durch die entlegenen Höhlen des besiedelten Gebiets zogen, um Kräuter zu sammeln und auf die Jagd zu gehen. Das getrocknete Fleisch, der geräucherte Fisch und die Häute ließen sich auf den Märkten der Siedlungen gut gegen andere Dinge wie Salz, Kartoffeln, Brennsteine oder Öl eintauschen und die getrockneten Kräuter wurden von den Heilern oder der Schule der Beschwörer gerne gegen Dienstleistungen eingetauscht. Auch wenn das Leben in den Sumpfgebieten hart und ohne jeden Luxus war, mochten die wortkargen Jäger ihr freies, ungebundenes Leben nicht aufgeben. Sie alle stammten von Strafgefangenen ab, die vor mehr als acht Generationen von einem unbarmherzigen Kaiser für ihre Vergehen in die riesigen, unterseeischen Höhlen verbannt worden waren. Ihnen allen zu eigen war eine abgrundtiefe Abneigung gegenüber Zwängen und Gesetzen. Das entbehrungsreiche Leben in den unterseeischen Höhlen hatte ein übrigens dazu getan, dass die meisten der Nachkommen der Verbannten nach den Maßstäben oberirdischer Gesellschaften Freigeister und Rebellen geblieben waren. Dennoch gab es auch hier Menschen, die sich in Siedlungen zusammengeschlossen hatten und andere, wie die Jäger, die es vorzogen, ein ungebundenes Leben zu führen. Dieser Wunsch nach Freiheit wurde den vier Familien nun zum Verhängnis. Sie hatten den grazilen Echsen nichts entgegenzusetzen. 

Die Frau, die am Seeufer die Haut der frischabgezogenen Jagdbeute von allen Fleischresten befreite, um sie für den Gerbprozess vorzubereiten, war das erste Opfer des Angriffs. Sie kreischte noch panisch auf, als die ersten Angreifer mit schrillem Pfeifen aus dem Moosbeerenkraut aufsprangen. Doch ihr Schrei wurde rasch erstickt, als eine der Echsen ihr die Kehle durchbiss. Obwohl die aufrecht laufenden Echsen den Menschen nur bis zur Schulter reichten, waren sie ihnen kräftemäßig weit überlegen. 

Der Schrei hatte die anderen Menschen im Lager alarmiert. Doch die Echsen waren so flink und tödlich, dass sie nur auf wenig Gegenwehr stießen. Zwei der Männer stellten sich den Echsen beherzt in den Weg, während ein dritter versuchte, einige Kinder in ein Boot zu heben, das auf dem sandigen Ufer lag. 

„Schnell! Flieht den Fluss hinab!“ schrie er und warf einen kleinen Jungen von etwa sechs Jahren unsanft in das Boot. Ein kleines, vierjähriges Mädchen saß schon heulend darin, als ein älteres Mädchen atemlos hineinsprang.

„Kommst du nicht mit, Armin?“ verlangte sie angstvoll zu wissen. Doch der Gefragte hatte keine Zeit mehr, zu antworten. Zwei Echsen sprangen herbei und schnappten nach ihm. Das ältere Mädchen im Boot schrie noch eine Warnung. Aber es war zu spät. Obwohl er dem Biss der ersten Echse ausweichen konnte, erwischte ihn die zweite am Oberarm. Verzweifelt schlug der Mann nach dem Tier. Es gelang ihm jedoch nicht, den Arm aus dem tödlichen Griff der Echse zu entfernen. Mit letzter Kraft trat der Verwundete gegen das Boot mit den Kindern, so dass es sich vom Ufer weg in die Strömung des Flusses bewegte. Dann sprang die zweite Echse den Mann von der Seite an und brachte ihn im flachen Wasser zu Fall. Er kam nicht mehr auf die Beine und die Kinder im Boot mussten mitansehen, wie er von den beiden Echsen zerrissen wurde. 

Eine dritte Echse gesellte sich zu ihnen. Doch als das Tier feststellte, dass der Mann bereits tot war, richtete sich seine Aufmerksamkeit auf das davontreibende Boot. Langsam ging die Echse tiefer ins Wasser und beobachtete das Gefährt. Dann stieß sie sich gewandt ab und schwamm hinterher. Voller Entsetzen erkannte das ältere Mädchen die Gefahr und griff nach einem der beiden Paddel. 

„Schnell! Wir müssen hier weg!“ schrie sie den beiden Kleinen zu. Doch die heulten nur hysterisch und waren ihr keine Hilfe. Mit hektischen Paddelschlägen versuchte das Mädchen, das Boot zu beschleunigen. Doch die Echse war schneller und holte sie mühelos ein. Als eine der Vorderpfoten der Echse den Bootsrand umklammerte und die Echse drauf und dran war, in das Boot zu klettern, schlug das Mädchen verzweifelt mit dem Paddel auf das Tier ein. Die Echse ließ benommen los, denn der Schlag hatte sie auf den Kopf getroffen. Sie zischte wütend und schüttelte sich. Allerdings gab sie die Verfolgung nicht auf. Panisch versuchte das Mädchen wieder zu rudern. Doch die Echse holte sie erneut ein. Diesmal wich das grazile Tier den Paddelschlägen geschickt aus und fauchte das Mädchen drohend an. Schließlich packte die Echse das Paddel und biss hinein, so dass das leichte Rohr, aus dem das Paddel bestand, zerbarst. Für einen Moment war das Mädchen wie erstarrt vor Entsetzen. Dann bemerkte sie die feine Harpune mit einer Speerspitze aus nadelscharfen Knochen im Boot. Ohne lange nachzudenken ergriff sie die Waffe, die eigentlich für den Fischfang gedacht war, und rammte der Echse die Speerspitze mit aller Kraft zwischen Augen und Nüster in die Wange.

Die Echse kreischte auf und ließ sofort das Boot los. Wild den Kopf hin und her schüttelnd versuchte das Tier, den Gegenstand wieder loszuwerden. Doch die Spitze der Harpune hatte Widerhaken und so brach nur der Schaft ab, während die getroffene Echse sich im Wasser herumwarf. Blut rann aus der Wunde herab und färbte das klare Wasser des Flusses rot. Keine andere Echse verfolgte nun das Boot, das mit der Strömung immer schneller davongetragen wurde. Die verletzte Echse kehrte mit letzter Kraft ans Ufer zurück und blieb dort reglos liegen.

*

Das Geschrei und Geheule der beiden Kleinen war bereits vor Stunden verstummt und sie lagen dicht aneinander gekuschelt im Bug des Bootes. Der Schock und die Aufregung hatten sie schließlich müde gemacht, so dass sie jetzt schliefen. Nur Krishanna, das ältere Mädchen, war wach und starrte blicklos hinauf zur Höhlendecke. Träge zogen die Stalaktiten über ihr vorbei, während das Boot langsam von der Strömung den Fluss hinab getragen wurde. Es war unmöglich zu sagen, wie lange sie schon so dahintrieben. Es mochten Stunden sein. Doch plötzlich drangen menschliche Stimmen an ihr Ohr und rissen sie aus ihrer Lethargie. 

„Sieh mal! Da treibt ein Boot auf dem Fluss!“

„Tatsächlich. Muss sich irgendwo losgerissen haben“, mutmaßte eine andere, ebenfalls männliche Stimme.

„Wir sollten es einfangen.“

„Gute Idee.“

Die ovalen, blassen Umrisse zweier Gesichter tauchten in Krishannas Blickfeld auf. Doch es dauerte einen Moment, bis sie aus ihrer Erstarrung erwachte und die Gesichter fokussieren konnte.

„Jetzt schau dir das an!“ staunte der eine der Männer verblüfft, als er die drei Kinder im Boot entdeckte.

„Bei den Göttern. Wo kommt ihr denn her?“ kratzte sich der zweite der Männer ratlos den Kopf. Als keines der drei Kinder ihm antwortete, entschied der erste der beiden:

„Wir bringen euch erst mal ins Dorf.“

„Hey. Ich glaub‘, ich kenne die Kleine“, erklärte sein Freund stirnrunzelnd und wandte sich an Krishanna.

„Bist du nicht die Tochter von Riehm? Der zieht doch mit Bartram und seinen Leuten herum.“

Das braunhaarige Mädchen nickte langsam.

„Wir hatten ein Lager flussaufwärts.“

„Hatten? Was ist passiert?“

Krishanna antwortete nicht gleich. Erst langsam wurde ihr bewusst, was sie heute miterlebt hatte. Ihre Unterlippe begann zu zittern und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie mit bebender Stimme erzählte:

„Da kamen plötzlich solche Tiere … Echsen! Sie liefen auf zwei Beinen und sie hatten furchtbare Zähne und Klauen. Sie haben … sie haben … alle getötet!“

„Was? Ach du Scheiße! Wo war denn das?“

Die Männer waren sichtlich aufgebracht durch diese Neuigkeit. 

„Flussaufwärts“, schluchzte Krishanna. „Bei unserem Lager.“

Auch die beiden kleinen Kinder hatten wieder angefangen zu heulen und riefen nach ihrer Mutter. Die beiden Männer warfen sich einen genervten Blick zu.

„Na los. Lass uns die Bälger ins Dorf bringen. Dann können wir uns gleich Verstärkung holen und nachsehen, was da passiert ist“, entschied der Blonde schließlich kurzerhand. Er hob das plärrende kleine Mädchen auf, während sein braunhaariger Begleiter den kleinen Jungen auf den Arm nahm und Krishanna die Hand reichte.

Das Dorf lag nicht weit entfernt. Es war nur eine Ansammlung von mehreren Hütten. Da es in den Höhlen kein richtiges Wetter wie auf der Erdoberfläche gab, diente der Bau von Hütten vor allem der Bewahrung der Privatsphäre. Genaugenommen hätten schlichte Zelte ausgereicht. Trotzdem waren die Häuser der Bewohner erstaunlich massiv. Schon die ersten der Siedler hatten entdeckt, dass man aus dem Schlamm heißer Vulkanschlote leichte, aber sehr beständige Ziegel formen konnte. Und so bestanden auch die Hütten des Dorfes allesamt aus den grauen bimssteinartigen Steinen. Die Dächer hingegen waren flach und nur mit einer dünnen Schicht aus Rohrstengeln belegt oder mit Häuten überspannt. Die lumineszierenden Moose an der Höhlendecke und an den Höhlenwänden strahlten hier beim Dorf sehr hell. Sie waren von den kundigen Beschwörern der kleinen Gemeinschaft durch Forschung und Magie verändert worden, so dass sie tagsüber ein Vielfaches ihrer ursprünglichen Leuchtkraft ausstrahlten. Nach vierzehn Stunden jedoch ließ die Leuchtkraft deutlich nach und die Moose gaben für die verbleibenden zehn Stunden des Tages nur noch wenig Licht ab. Der Zyklus der Moose war für viele Bewohner der abgelegenen Höhlen ein zuverlässiger Zeitanzeiger. Nur in der großen Höhle in der Hauptstadt gab es einen richtigen Zeitautomaten, der seit der Zeit der ersten Siedler tadellos seinen Dienst für die Menschen tat. Die erstaunliche Maschine war damals als Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht über dem Stadttor in die Befestigung eingebaut worden und galt als Wahrzeichen der Hauptstadt. Krishanna war noch nie in der Hauptstadt gewesen und hatte nur Erzählungen von der Größe und Schönheit der Stadt gehört. Das Dorf, in das die Männer sie jetzt brachten, war alles an Siedlung, was das Mädchen in ihrem Leben bisher kennengelernt hatte. Die Menschen hier lebten vom Abbau von Leuchtharz, einer gelblichen, steinharten Substanz, die man langsam verbrennen konnte. Im Feuer schmolz dieser Stein zunächst und das entstehende Öl brannte dann recht gut. Leuchtharz wurde überall in den unterseeischen Höhlen abgebaut und verwendet. Neben Öl aus Pilzen war es der Hauptbrennstoff für Lampen und Kochöfen. Außerdem stellten die Dorfbewohner Stoffe aus dem feinen Wurzelwerk der harten Flechten her, die überall am Übergang von sumpfigem zu sandigem Gelände wuchsen. Diese Flechten waren oberirdisch gelblich-braun und unansehnlich hart und spröde. Ihre weitverzweigten feinen Fadenwurzeln jedoch ließen sich hervorragend zu Stoffen verarbeiten. Krishanna hatte sich schon oft ein Gewand aus Stoff gewünscht. Doch die Jäger waren zu arm gewesen, als dass man die kostbare Jagdbeute für solchen Luxus eingetauscht hätte. Die Kleidung der Kinder bestand nur aus gegerbtem Leder. Daher konnte Krishanna einen sehnsüchtigen Blick auf einige zum Trocknen aufgehängte Decken nicht vermeiden, als sie ins Dorf kamen. Man brachte sie zum Haus der Heilerin. Die resolute Mittdreißigerin war so etwas wie das Ober-haupt der kleinen Gemeinschaft. Mira fungierte nicht nur als Heilerin, sondern vollführte auch die priesterlichen Rituale und verstand sich auf die Anwendung von Magie, denn sie hatte ihre Ausbildung an der Schule der Beschwörer erhalten. Da sie die Einzige im Dorf war, die lesen und schreiben konnte, war sie auch der Chronist des Dorfes und sandte regelmäßig ihre Berichte an die Hauptstadt. 

Als die beiden Männer mit den Kindern das Haus der Heilerin betraten, sah Mira verwundert auf.

„Nanu? Wo kommen denn die Kinder her?“

„Das erzählen sie dir am besten selbst“, schob der Blonde Krishanna nach vorne und setzte dann das kleine Mädchen ab, das er auf dem Arm trug. Die Heilerin betrachtete die Kinder abwartend. 

„Nun?“

„Unser Lager ist überfallen worden“, begann Krishanna schließlich stockend.

„Von wem?“

„Das waren große Echsen. Sie liefen auf den Hinterbeinen und hatten riesige Mäuler mit scharfen Zähnen. Sie haben alle getötet.“

Mit den Worten kehrte auch die Erinnerung zurück. Tränen traten Krishanna in die Augen und ihre Stimme versagte ihr. Die Heilerin warf den Männern einen beunruhigten Blick zu.

„Echsen? Ich glaube, ihr geht besser mit ein paar anderen und seht nach dem Rechten.“

Dann wandte sie sich wieder dem älteren Mädchen zu.

„Kannst du uns auch sagen, wo das passiert ist?“

„Den Fluss hinauf bis zum See. Dort hatten wir ein Lager.“

„Wir werden nachsehen, was da passiert ist“, versprach der Braunhaarige entschlossen, ehe er mit seinem Freund das Haus der Heilerin verließ. Mira blickte ihnen besorgt nach. Doch dann erinnerte sie sich wieder an die Kinder und lächelte aufmunternd.

„So. Jetzt sagt ihr mir erst mal, wie ihr alle heißt.“

*

Es war spät geworden, bis die Heilerin die Kinder versorgt hatte. Nun lag Krishanna neben den beiden anderen in einem der beiden oberen Räume des Hauses. Doch obwohl sie sehr müde war, vermochte sie keinen Schlaf zu finden. Die weiche Decke aus Wurzelfasern lag über ihr und wärmte sie, obwohl es auch ohne die Decke nicht kalt im Haus war. Mit einer Hand raffte sie eine Ecke der Decke zusammen und presste das weiche Gewebe an ihre Wange. Es war seltsam tröstlich. Dennoch rollten ein paar Tränen über Krishannas Wangen und sie fragte sich beklommen, was nun aus ihr werden sollte. Im Zimmer unter ihr hörte sie Mira herumlaufen und mit einem Gast sprechen. Obwohl Mira leise sprach, konnte Krishanna ihre Worte verstehen, wenn sie sich darauf konzentrierte, nur zuzuhören.

„… und was habt ihr gefunden?“

„Wie das Mädchen gesagt hat. Alle aus Riehms Gruppe sind tot. Diese Echsenbiester haben ganze Arbeit geleistet. Du machst dir keine Vorstellung davon, wie die Leichen ausgesehen haben. Die meisten waren bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Sogar die Frauen und Kinder.“

„Bei den Göttern! Wer tut denn sowas?“ 

Miras Stimme klang schockiert. 

„Die Echsen“, antwortete ihr Besucher, der unzweifelhaft einer der Männer war, die sie losgeschickt hatte. 

„Habt ihr sie gesehen?“

„Nein, das nicht. Wir fanden nur Spuren der Tiere. Nolan sagte, dass er vor einer Weile entdeckte, dass ein Erdbeben einen Erdrutsch am Ende der Moderwasserhöhle hervorgerufen hat. Vermutlich sind sie von da gekommen.“

„Habt ihr sie verfolgt?“

„Nein. Wir waren nur zu fünft. Nolan war der Ansicht, es müssen wenigstens dreißig Echsen gewesen sein. Vielleicht noch mehr. Da schien es uns sicherer, umzudrehen“, antwortete der Besucher ruhig. Mira überlegte.

„So viele? Das muss ich in die Hauptstadt melden. Beunruhigend, dass sie plötzlich so zahlreich auftauchen. Wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen.“

„Wenn irgendwo ein Nest von diesen Biestern ist, müssen wir sie ausräuchern. Es geht nicht an, dass sie unsere Siedlungen bedrohen und Menschen angreifen“, fand der Besucher überzeugt. 

„Ja. Und ich muss ohnehin in die Hauptstadt. Die Großmutter des kleinen Jungen wohnt dort.“

„Ah. Die Kinder. Was wird mit ihnen?“

„Das kleine Mädchen hat Verwandte bei den Schlammsteinformern und der Junge die Großmutter. Nur die Ältere, Krishanna, hat niemanden mehr. Ich bin nicht ganz sicher, was wir mit ihr machen sollen. Aber ich hoffe, dass die Schule der Beschwörer sie vielleicht aufnimmt, bis sie alleine für sich sorgen kann“, überlegte die Heilerin.

Krishanna sog scharf die Luft ein, als sie das hörte. Sie wollte hier nicht fort und sie wollte auch nicht zu den Zauberern. Magie erschreckte sie. Niemand aus der Gruppe, in der sie aufgewachsen war, hatte sich je damit beschäftigt. Es war Krishanna nicht bewusst, dass die Leute in den unterirdischen Höhlen ohne die magischen Fähigkeiten der Beschwörer gar nicht überlebt hätten. Nur dumpf wie aus weiter Ferne nahm sie noch wahr, dass Mira und der Besucher sich weiter unterhielten. Vielleicht hatten die beiden auch ihre Position im Zimmer unter der Schlafkammer verändert. Aber Krishanna konnte keine weiteren Worte mehr verstehen. Die Tränen rannen ihr haltlos über die Wangen und sie vergrub ihr Gesicht schließlich in der weichen Decke, damit ihr Schluchzen nicht die anderen beiden Kinder weckte. So allein wie an diesem Abend hatte sich das Mädchen noch nie in ihrem Leben gefühlt. Selbst der Tod konnte nicht schmerzhafter sein als das, dachte sie und wünschte sich inbrünstig, dass die Götter des Wassers und der Erde ihr Herz anhalten mögen, damit sie wieder mit der Familie vereint wäre. Doch so sehr sie auch betete und hoffte, am Ende geschah gar nichts und sie schlief erschöpft ein.

*

Das Reisen in den unterseeischen Höhlen war mühsam, denn es gab nur wenige Wege oder gar Straßen. Einzig die Wasserläufe, die es in fast allen Höhlen gab, boten die Möglichkeit, auf vergleichsweise bequeme Art per Boot von einem Ort zum anderen zu kommen. Zwischen den Höhlen verschwanden die Wasserläufe jedoch durch Felsspalten und in Schluchten, so dass man die Verbindungstunnel zwischen den einzelnen Höhlen meist nur zu Fuß durchqueren konnte. Lediglich zwischen der Höhle der Schlammsteinformer und der großen Höhle mit der Hauptstadt gab es ein mechanisches Aufzugsystem, das sich die Gründer der Schule der Beschwörer in der Anfangszeit der Besiedlung ausgedacht hatten, um den Transport der Schlammsteine von der tiefergelegenen Vulkanhöhle in die höhergelegene große Höhle zu erleichtern. 

Die Schule selbst war ein eindrucksvolles Gebäude und absolut einzigartig in der Kolonie der unterirdischen Siedler. Seit der Zeit der ersten Strafgefangenen war die Schule immer wieder neu gestaltet und umgebaut worden. Das jetzige Gebäude bestand aus einem X-förmigen, flachen Bau. In der Mitte, wo die vier Seitenflügel zusammentrafen, hatte man ein riesiges Wasserbecken errichtet, aus dem sich ein hoher, viereckiger Turm erhob. Der Turm reichte bis fast unter die Höhlendecke. Wasser wurde durch ein ausgeklügeltes Pumpensystem bis zum Dach transportiert und lief an allen vier Seiten über flache Wasserspeier hinab in das große Becken am Fuß des Turms. Auch um die Seitenflügel war ein Ring aus Wasser angelegt, so dass sich das Gebäude in der Wasserfläche wiederspiegelte und die Höhlendecke und die Wände von unzähligen, aparten Wasserspiegelungen beleuchtet wurden. Eine einzigartige Schönheit lag in dem ganzen System aus Wasser, Fels und geformtem Stein. Es gemahnte an die Magie, die den Bewohnern des Gebäudes zu eigen war. Und gleichzeitig war es ein sichtbares Zeichen der Fantasie und Kraft von Menschen. Sie hatten sich in dieser lebensfeindlichen Gegend angesiedelt, hatten allen Gefahren getrotzt, alle Probleme gemeistert und eine florierende kleine Gemeinschaft aufgebaut. Seit vor mehr als 200 Jahren der Dampfaufzug zur Oberfläche zerstört worden war, bestand keine Verbindung mehr zu den Menschen auf der Erdoberfläche. Und dennoch hatten sie überlebt. Sie waren stolz darauf und all das spiegelte sich in dem Bau der Schule der Beschwörer wider.

Mira und ihre drei Schutzbefohlenen erreichten die Siedlung am Rande der Schule nach einer viertägigen Reise, die sie vornehmlich per Boot zurückgelegt hatten. Es war eine ganze Weile her, dass die Heilerin hier gewesen war. Während ihrer Ausbildung hatte sie eine Zeitlang in der Schule gelebt. Doch seit sie die Stelle als Heilerin in dem kleinen Dorf am Rande der bewohnten Höhlen angenommen hatte, war sie nur noch selten gereist. Sie schaute sich neugierig um und erkannte kleine Veränderungen. Neue Hütten waren entstanden. Einige waren simple Zelte aus Häuten und Schilfstangen. Andere hatten natürliche Höhlungen in der Felswand erweitert und die Eingänge mit Schlammsteinen oder Sichtschutzwänden aus Tierhaut verkleidet. Und dann gab es auch eine ganze Anzahl an festen Schlammsteinbauten. Einige mit einem Stockwerk, aber auch mehrere mit zwei Etagen. Mira war beeindruckt. Ganz offenbar florierte die Siedlung um die Schule, die von den Menschen nur Sonesheim genannt wurde, nach einem der ersten Lehrer hier. Obwohl die Siedlung gewachsen war, seit Mira das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie keine Mühe, den Haupteingang der Schule zu finden. Dort meldete sie sich bei einem Mann in mittleren Jahren, der in einer Schreibstube am Eingang saß und Pförtnerdienste verrichtete.

„Meinen Gruß, Wendelin. Was machst du hier?“

Überrascht blickte der Mann auf. Dann huschte ein breites Lächeln über sein hageres Gesicht.

„Mira! Was für eine Freude, dich zu sehen! Du warst ja schon ewig nicht mehr hier!“

Die Heilerin nickte erheitert.

„Das ist wahr. Hier hat sich einiges verändert, scheint mir.“

Sie fasste ihren alten Studienfreund näher ins Auge und stellte fest, dass die Zeit mit ihm nicht allzu gnädig umgegangen war. Obwohl Mira und Wendelin nahezu gleich alt waren, wirkte er älter als sie. Wie bei allen Bewohnern der Höhlenwelt war auch seine Haut sehr blass und hatte einen wächsernen Farbton. Sein dunkles Haar war schütter geworden und lichtete sich über den Schläfen bereits merklich. Um es zu kaschieren, hatte Wendelin sein Stirnhaar länger als nötig wachsen lassen und quer über die kahlen Stellen gekämmt. Die übrigen dünnen Strähnen hatte er im Nacken zu einem unordentlichen Zopf zusammengefasst. Auch seine dünne Gestalt mit den leicht gebeugten Schultern ließ ihn älter als Mitte dreißig erscheinen. Dennoch waren seine dunklen Augen so lebhaft und intelligent, wie Mira sie in Erinnerung hatte. 

„Oh, also für manche ist die Veränderung hier noch viel zu langsam“, fand Wendelin belustigt und musterte die Neuankömmlinge neugierig.

„Ist Cornelian noch der Leiter der Schule?“ kam Mira ohne Umschweife zur Sache. Ihr alter Studienfreund nickte.

„Ja. Das ist er. Aber er ist nicht hier, falls du mit ihm sprechen willst. Er ist zur Rampfeste gereist.“

„Na gut. Da muss ich auch hin.“

„Was ist denn passiert?“ wollte der Beschwörer stirnrunzelnd wissen.

„Eine Gruppe von Jägern wurde von Echsen überfallen.“

„Echsen?“

„Du weißt schon. Diese großen, die auf zwei Beinen laufen.“