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In einer Welt voller Magie haben die Hochgeborenen das Sagen. Die Diener gelten als kräftig, fleissig und genügsam, aber unfähig, mehr als einfache Kenntnisse zu erlangen. Doch dann stößt der hochgeborene Forscher Singhar auf eine Höhle, in der unzählige Wandbilder darauf hindeuten, dass Diener in der Frühzeit möglicherweise durchaus zu Magie fähig waren. Als die Forscher danach auf ein dauerhaftes Portal in die Welt der Geister stoßen, kann nur mit Mühe eine Katastrophe verhindert werden. Doch Meister Singhar gibt nicht auf. Mit Hilfe der Studenten Kaiku und Rosh, sowie der Dienerin Nin begibt er sich auf eine tödliche Reise in den hohen Norden.
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2023
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E.S. Harmondy
Das Portal
Impressum
Texte: © 2022 Copyright by E.S. Harmondy
Umschlag:© 2022 Copyright by Pittie
Verantwortlich
für den Inhalt:E.S. Harmondy
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Das Gut des Landverwalters erwachte allmählich zum Leben, als die Sonne aufging. Die Diener waren schon auf den Beinen bevor der erste Hahnenschrei erklang. Auf leisen Füßen huschten sie von Raum zu Raum, stellten Kohlebecken gegen die morgendliche Kühle auf, bereiteten das Badehaus vor und kümmerten sich um das Frühmahl. Die Hochgeborenen erhoben sich erst, als diese Arbeiten erledigt waren.
Nin war zum Wasserholen an den See hinab geschickt worden. Nachdem sie die beiden Eimer gefüllt hatte, verweilte sie noch einen Moment andächtig am Seeufer. Die Wasseroberfläche lag jetzt am Morgen so glatt wie ein Spiegel da. Der strahlendblaue Himmel mit den weißen Wolken zeichnete sich darauf ebenso ab wie das satte Grün der Bäume am Ufer. Es war ein verzauberter Anblick. Nin wünschte sich für einen Moment, dass sie dieses Bild festhalten könnte. Doch sie wusste nicht wie. Die Hochgeborenen hatten Papier und Tusche. Sie konnten mit dünnen Pinseln Zeichen aufmalen oder Dinge wiedergeben, die sie sahen oder sogar nur dachten. Für viele der Diener war es reine Magie und sie hatten große Ehrfurcht vor dem Wissen und Können der Hochgeborenen. Doch Nin faszinierte diese Idee. Es ging weit über das hinaus, was Diener lernen konnten oder wissen wollten. So war es immer gewesen. Die Hochgeborenen lernten und herrschten. Die Diener arbeiteten und gehorchten. Niemand sonst stellte es in Frage.
„Nur ich“, ging es Nin bekümmert durch den Kopf. Seit sie klein war, hatte sie Fragen gestellt. Fragen, die ihr ihre Eltern und die anderen Diener nicht hatten beantworten können. Sie hatten sie nur verständnislos angestarrt, wenn sie wissen wollte, warum die Sonne abends hinter den Häusern verschwand, aber morgens über dem See wieder auftauchte. Oder warum es im Winter kalt und im Sommer warm war. Warum die Hühner Eier legten, die Kühe aber nicht.
Nins Vater war ihrer Fragerei eines Tages überdrüssig geworden und hatte sie geschlagen, damit sie nicht mehr solche Gedanken hatte. Doch die Prügel hatten nicht geholfen. Nin hatte nur geweint und danach einfach aufgehört, den Dienern Fragen zu stellen. Die Fragen waren aber immer noch da.
„Müsstest du nicht längst zurück beim Haus sein?“
Trotz der mahnenden Worte klang die Stimme des jungen Mannes voller Nachsicht und gutmütiger Belustigung. Nin zuckte schuldbewusst zusammen und griff hastig nach dem Joch, mit dem sie die schweren Wassereimer tragen konnte.
„Verzeihung, Herr Kaiku“, murmelte sie und erhob sich so rasch, dass das Wasser zur Hälfte wieder aus dem Eimer schwappte. Sie hielt erschrocken inne und kehrte dann um, um die Eimer erneut zu füllen. Lächelnd nahm Kaiku ihr einen Eimer ab.
„Warte, ich helfe dir.“
„Oh, aber das müsst Ihr doch nicht“, protestierte sie schwach. Doch der Hochgeborene ließ sich nicht abweisen.
Mit gerunzelter Stirn stellte er fest:
„Uh, das ist aber schwer! Wie schaffst du es nur, gleich zwei davon zu tragen?“
Nin nahm ihm den Eimer wieder ab, hängte ihn an das Joch und schritt dann langsam, aber beständig mit ihrer Last auf den Schultern zum Gut hinauf.
Wie alle Diener war sie klein und kräftig gebaut. Sie reichte dem Hochgeborenen Kaiku kaum bis zur Schulter. Ihr braunes Haar war dicht wie ein zottiges Fell und wuchs auch auf Händen, Unterarmen und Beinen. Die einfachen schwarzbraunen Kittel und grauen Hosen, die alle Diener trugen, machten es schwer, sie zu unterscheiden. Doch Kaiku war die aufgeweckte Nin schon früher aufgefallen und er hatte bemerkt, dass sie kluge, hellbraune Augen hatte. Sie wirkte wacher als der durchschnittliche Diener, wenn auch ihr Verhalten genauso devot und unterwürfig war, wie die Hochgeborenen es von ihren Dienern erwarteten.
„Was hast du unten am See gemacht?“ wollte er neugierig wissen.
„Wasser geholt“, entgegnete Nin ausweichend.
„Und als du das Wasser schon geschöpft hattest? Es sah aus, als dächtest du über etwas nach“, beharrte Kaiku auf dem Thema.
„Ich habe mich gefragt, wie man das schöne Bild festhalten kann, damit man es immer ansehen kann, auch wenn es Winter ist.“
Verdutzt hielt der Hochgeborene inne.
„Tatsächlich?“
Die Frage war rhetorisch, denn Kaiku wusste, dass Diener nicht lügen konnten. Es lag nicht in ihrer Natur. So war es nicht verwunderlich, dass Nin ihm nicht antwortete. Stattdessen stapfte sie mit ihrer Last beharrlich weiter. Kaiku schloss rasch zu ihr auf.
„Man könnte ein Bild malen“, stellte er dabei fest. Nin schüttelte nur den Kopf.
„Diener können das nicht.“
„Warum nicht? Du könntest es lernen.“
„Diener lernen das nicht“, beharrte sie und wiederholte damit die ihr von klein auf beigebrachten Werte und Traditionen.
Kaiku blickte ihr nachdenklich nach. Konnten Diener wirklich nichts Anspruchsvolleres lernen oder wurden sie nur seit Jahrhunderten entmutigt, es überhaupt zu versuchen? Der junge Mann wusste, dass viele Hochgeborene Diener für unfähig zu komplexeren Gedankengängen hielten. Er selbst hatte auch nie eine andere Meinung gehabt. Doch diese kleine Dienerin Nin machte ihn nachdenklich.
Als er kurz nach ihr das Haupthaus erreichte, erwartete ihn schon sein Vater auf der überdachten Veranda, die sich rings um das Haus herum erstreckte. Der Gutsherr Tobu war eine stattliche Erscheinung. Selbst für einen Hochgeborenen war er großgewachsen. Sein langes, schwarzes Haar zeigte noch keinerlei Spuren von grau, obwohl er die fünfzig bereits überschritten hatte. Tägliche Ausritte über seine Ländereien, Schwertkampftraining und eine maßvolle Lebensweise hatten den Gutsherrn gut in Form gehalten. Wenn man ihn so neben seinem zweitgeborenen Sohn sah, konnte man die beiden bei flüchtigem Hinsehen sogar für Brüder halten. Über Tobus Gesicht huschte ein feines Lächeln, als er den Sohn betrachtete.
„Bist du schon aufgeregt?“
Kaiku schüttelte belustigt den Kopf.
„Sollte ich denn?“
Sein Vater überlegte kurz. Dann entschied er zuversichtlich:
„Nein. Du hast Recht. Du bist gut vorbereitet. Ich bin sicher, du wirst alle Fragen des Gesandten beantworten können. Der Gesandte wird um die Mittagsstunde erwartet. Du solltest dich langsam fertig machen.“
Mit einem leichten Kopfnicken verabschiedete sich Kaiku und verschwand im Haus.
*
Der Gesandte der Akademie war ein grauhaariger Mann mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen. Obwohl er ruhig sprach und durchaus freundlich war, ging etwas Unnahbares, Strenges von ihm aus. Kaiku verneigte sich tief vor dem Gesandten und spürte leichte Nervosität in sich, als der Gesandte ihn aufmerksam musterte.
„Kaiku, zweiter Sohn des Tobu aus dem Haus Aland. Du willst heute die Prüfung ablegen, um zur Akademie zugelassen zu werden?“
„Ja, Meister Maan.“
„Gut. Wir beginnen mit Mathematik.“
Zwei Stunden später war die Prüfung beendet. Der Gesandte erhob sich und wandte sich an Kaikus Vater, der die ganze Prüfung lang anwesend gewesen war, jedoch nur als stiller Beobachter.
„Herr Tobu? Ich freue mich, Euch mitteilen zu können, dass Euer Sohn die Aufnahmeprüfung bestanden hat. Wenn im nächsten Monat das neue Lehrjahr beginnt, wird er in meiner Klasse mit dem Studium beginnen.“
Ein strahlendes Lächeln huschte über das Gesicht des Gutsherrn und er bedankte sich überschwänglich mit einer tiefen Verneigung vor dem Gast aus der Akademie.
„Ich danke Euch, Meister Maan! Das sind wirklich gute Neuigkeiten! Wirklich ganz ausgezeichnet! Gut gemacht, Kaiku!“
Die Nachricht von der bestandenen Prüfung verbreitete sich rasch im ganzen Haus. Obwohl alle darauf gehofft hatten, war aus Aberglauben noch nichts für die anschließende Feier vorbereiten worden, so dass die Diener alle Hände voll zu tun hatten, während sich die Familienmitglieder und der Gesandte der Akademie im großen Saal zum Essen zusammenfanden.
Für jede hochgeborene Familie war es eine Ehre, wenn ein Sohn oder eine Tochter die Aufnahme in die Akademie schaffte. Schon früh wurden geeignete Kinder durch besondere Tutoren zuhause unterrichtet und auf die Prüfung vorbereitet. Auch Kaikus älterer Bruder hatte zunächst als Kandidat für die Akademie gegolten. Doch dann hatte man dem jüngeren den Vorzug gegeben, da Kaiku entschieden lernfreudiger und disziplinierter war.
„... das Leben innerhalb der Akademie erfolgt nach festen Regeln“, erklärte Meister Maan gerade seinen Zuhörern, als Nin den zweiten Gang, Fischfilet auf einem Gemüsebett, auftrug. Der Gesandte probierte schmatzend ein Stückchen. Dann nickte er anerkennend.
„Und natürlich ist das Essen nicht ganz so luxuriös wie hier!“
„Gibt es denn keine offene Küche?“ erkundigte sich Kaiku neugierig. Der Gesandte nickte.
„Doch. Sicher. Aber es ist auch möglich, dass dein Diener für dich kocht, wenn dir deine Studien keine Zeit für das Gemeinschaftsmahl lassen.“
Meister Maan wandte sich an den Gutsherrn.
„Es ist angeraten, dass Kaiku einen Diener mitbringt. Die Akademie hat eine ganze Reihe von Dienern. Allerdings ist es oft bequemer und angenehmer, wenn dem Studenten auch ein persönlicher Diener zur Verfügung steht.“
„Ja. Das sollte kein Problem sein“, versicherte der Gutsherr mit einem Lächeln.
*
„Kann ich Nin mitnehmen?“
Kaiku sortierte einige Pergamentrollen und zu Büchern gefaltete Papiere, während sein Vater Münzen aus einer kleinen Schatulle abzählte. Sie waren in der Bibliothek des Gutshauses und bereiteten sich auf Kaikus Abreise am nächsten Morgen vor.
Herr Tobu blickte abgelenkt vom Zählen auf.
„Was sagst du?“
„Ich wollte wissen, ob ich die Dienerin Nin mitnehmen kann.“
„Wenn du willst.“
„Danke.“
Herr Tobu zählte weiter, hielt jedoch nach kurzem wieder inne und blickte auf.
„Warum gerade Nin? Ich hätte dir Kor mitgegeben.“
„Kor ist schon alt. Die Aufregung eines Umzugs wäre möglicherweise ein bisschen viel für ihn.“
„Wie du meinst.“
Der Gutsherr schob die abgezählten Münzen in einen Lederbeutel und reichte ihn seinem Sohn.
„Hier hast du 100 Goldtetschi. Geh sorgsam damit um.“
Überrascht nahm Kaiku den Beutel an sich. Es war viel Geld. Mehr als ein einfacher Handwerker in einem Jahr verdiente. Allein, das Gut der Familie Aland war kein kleiner Besitz und sie konnten gut von dem Ertrag leben. Trotzdem war bares Geld keine Selbstverständlichkeit. Ihre Abgaben an den Herrscher entrichteten die Alands in Naturalien.
Mit einem Schmunzeln erklärte Herr Tobu:
„Das Leben in der Hauptstadt ist teuer. Du wirst Schreibmaterialien und Bücher brauchen. Und vermutlich auch einige neue Kleidungsstücke. Schließlich sollst du dich deiner Familie nicht schämen müssen. Wir sind sehr stolz auf dich, Kaiku.“
„Das weiß ich. Danke, Vater!“
*
Die Straße war jetzt zu Beginn des Sommers staubig und trocken. Selbst zwischen den Pflastersteinen wuchs kein Gras mehr. Die wenigen Halme und Blätter, die zwischen den Fugen im Frühjahr hochgekommen waren, hatten die vielen Füße und Hufe zertreten. Die frühsommerliche Hitze hatte dann ein Übriges getan, so dass auch die Vegetation am Rande welk oder vertrocknet aussah.
Nin trottete gleichmütig hinter dem Pferd ihres Herrn her. In einer Hand hielt sie den Führstrick des Maultiers, das ihr Gepäck transportierte. Sie war überrascht gewesen, als man ihr gesagt hatte, sie müsse mit dem jungen Herrn an die Akademie gehen. Doch Diener widersprachen nicht. So hatte sie sich gefügt und traurig Abschied von ihrer Familie genommen.
Das Land, durch das sie reisten, unterschied sich nicht sehr von der Umgebung des Gutes. Es war ein waldreiches, bergiges Land. Zwischen den Bäumen hatten Bauern immer wieder kleinere oder größere Flächen gerodet und dort terrassenförmige Felder angelegt, um die Unebenheit des Geländes auszugleichen. Manchmal waren die Rodungen auch groß, zumeist dann, wenn sich ein Dorf oder ein anderer Gutshof in der Nähe befanden.
Kamen sie höher hinauf in die Berge, wichen die Bäume zurück und auf den felsübersäten Bergwiesen sprangen Ziegen herum, bewacht von Dienern mit dicken Stöcken, um Räuber und Raubtiere zu verjagen.
Je näher sie der Hauptstadt und der Akademie kamen, umso mehr bestelltes Land fand sich neben der Straße. Es war auch mehr los unterwegs. Ein Trupp Reiter in den Farben des Herrschers überholte den jungen Mann und seine Dienerin. Dann wieder stockte es vor ihnen und sie reihten sich in die Schlange der anderen Reisenden ein, um eine Engstelle zu passieren. Ein Trupp Diener war emsig dabei, die an dieser Stelle abgerutschte Straße erneut zu befestigen.
Die stämmigen, kleinen Männer und Frauen trugen Steine und Sand, stampften und harkten und schlugen eisenbewehrte Pfähle als Randbegrenzung ein. Nin beobachtete sie ungeniert, als sie an ihnen vorbei ging. Keiner der Diener rastete. Es war nicht ihre Art. Auch wenn sie kleiner waren als die Hochgeborenen, vermochte ein Diener fast das Doppelte zu tragen.
„Da vorne ist ein Gasthaus! Da machen wir eine Pause“, entschied Kaiku unvermittelt und sah sich nach Nin um. Sie nickte stumm. Während er es sich auf einer der Bänke im Schatten gemütlich machte und beim Wirt einen Krug Gegorenes und ein Brathuhn bestellte, kümmerte sich Nin zuerst um das Pferd und das Maultier. Dann füllte sie die Wasserschläuche nach und nahm selbst ein paar Schlucke Wasser. Erst danach gesellte sie sich zu ihrem Herrn und setzte sich hinter ihn ins Gras. Aus dem Beutel, den sie sich umgehängt hatte, nahm sie ein Stückchen altbackenes Brot und kaute darauf herum. Sie hatte kaum mehr als einige Bissen zu sich genommen, als Kaiku wieder aufbrechen wollte. Hastig verstaute sie das angeknabberte Brot und lief los, um das Pferd und das Maultier wieder einzusammeln.
In bester Laune stieg Kaiku auf sein Pferd.
„Ach ja. So eine Pause tut gut! Heute am späten Nachmittag werden wir dann die Akademie erreichen, hat der Wirt gesagt. Bist du schon neugierig auf die Akademie, Nin?“
Die Dienerin erwiderte seinen Blick flüchtig. Dann schlug sie wieder die Augen zu Boden.
„Ich weiß nicht. Es leben sicher viele Menschen dort.“
„Oh ja! Meister Maan hat erzählt, dass es über tausend Studenten dort gibt. Wenn eine Klasse im Winter den Abschluss gemacht hat, reitet der freie Lehrer im Frühjahr über das Land und nimmt Prüfungen vor. Die Lehrer suchen sich ihre Studenten aus. Selbst wenn man die Prüfungen schafft, heißt das noch lange nicht, dass der Lehrer einen annimmt“, plauderte Kaiku gutgelaunt. Er freute sich auf die Akademie.
„Lernt Ihr dort auch Magie?“ wollte Nin ehrfürchtig wissen.
Kaiku runzelte die Stirn.
„Nun. Um Magie zu erlernen sind besondere Fähigkeiten nötig. Ich habe gehört, dass sie die Studenten noch einmal gesondert überprüfen. Ich habe keine Ahnung, ob ich diese Fähigkeiten habe. Meister Maan meinte, es spricht einiges dafür. Aber mit Sicherheit konnte er das nicht feststellen. Er meinte, nur jeder zehnte Student hat diese Fähigkeiten.“
Ein übermütiges Funkeln glitzerte in Kaikus Augen auf.
„Stell dir vor, Nin! Wenn man mit der Kraft seiner Gedanken Gegenstände bewegen kann! Oder Blitze werfen!“
„Blitze sind gefährlich“, murmelte die Dienerin nur verdrossen und stopfte sich hastig ein Stückchen Brot in den Mund, denn ihr Magen knurrte, weil sie keine richtige Mittagsrast gehabt hatte.
Doch Kaiku achtete nicht mehr auf sie. Sein Blick richtete sich voraus. Als sie die nächste Kurve umrundeten, lag unvermittelt die Hauptstadt mit der Akademie vor ihnen in einer weiten Bucht am Meer. Da sie aus den Bergen kamen, konnten sie die ganze Stadt wie auf einem Plan vor sich überblicken. Es war ein grandioser Anblick, all die vielen Dächer und Straßen. Dazwischen lagen gepflasterte Plätze, Pagodentürme mit goldenen oder roten Dächern und schließlich die Burg des Herrschers am gegenüberliegenden Berghang.
Die Akademie bildete ein eigenes Stadtviertel am westlichen Rand. Sie war von einer hohen weißen Mauer umgrenzt. Doch die hölzernen Torflügel des imposanten Torhauses standen weit offen, so dass ein ständiger Strom von Menschen, Tieren und Waren in beiden Richtungen hindurchpassierte.
Nin bekam große Augen als sie einen buntgeschmückten Ur auf sich zukommen sah. Der riesige Bulle hatte Hörner, die so lang waren, dass nicht einmal Kaiku beide Enden zugleich hätte berühren können. Ein Mann im langen blauen Gewand eines Tierflüsterers ging neben dem Ur einher und schien das Tier mühelos zu kontrollieren.
Kaikus Pferd wurde unruhig, als der Bulle sie passierte. Rasch legte Nin ihre Hand gegen den Hals des Pferdes und es stand nur noch mit weit geöffneten Nüstern da.
Kaiku hatte unwillkürlich die Luft angehalten.
„Himmel, sind diese Tiere groß! Ich habe noch nie einen lebenden Ur gesehen! Den möchte ich nicht auf einem Schlachtfeld gegen mich anrennen erleben!“
Nin sah dem gewaltigen Tier ehrfürchtig nach. Diese den Kühen verwandten Wesen gehörten nicht auf diese Welt. Sie stammten aus einer anderen, der Geisterwelt.
Unvermittelt blieb der Ur stehen und wandte seinen Kopf zurück. Seine Augen waren silbrig-grau und ganz anders als die der Erdentiere. Sie schienen Nin direkt anzuschauen. Er wirkte traurig, beinahe melancholisch, so als bedauere er sein Dasein unter den Menschen. Nin verspürte Mitleid mit dem Ur. Er schnaubte einmal und nickte mit dem großen Kopf. Sie war sich sicher, dass er sich bei ihr für ihre Anteilnahme bedankt hatte, obwohl sie nicht hätte sagen können, woher dieser Gedanke kam.
Erst als das Maultier an seinem Strick ruckte, wurde ihr bewusst, dass Kaiku schon weitergeritten war und das Maultier dem Pferd nachlief. Nachdenklich setzte auch sie ihren Weg fort.
*
Die Studentenunterkünfte lagen an kleinen Höfen. Je zwei zweigeschossige Gebäude standen sich gegenüber, während die Seiten des Hofes von Mauern gebildet wurden. In einer der beiden Mauern war ein einfaches Holztor eingelassen. Ansonsten waren die Mauern so hoch, dass man selbst aus dem oberen Stockwerk nicht hinüber in den angrenzenden Hof schauen konnte. Der Zugang zu den Zimmern im oberen Stockwerk erfolgte über eine Außentreppe, die zu einem überdachten Laufgang vor den Zimmertüren führte.
Man hatte Kaiku ein Zimmer im oberen Stockwerk zugeteilt. Es war nicht besonders groß und enthielt nur ein Bett, einen Schreibtisch mit Stuhl und einen Kleiderschrank. Eine steile Stiege führte in der hinteren Zimmerecke hinauf unter das Dach. Dort oben waren einfache Lager für die Diener der Studenten eingerichtet worden. Insgesamt gab es Zimmer für zwanzig Studenten in einem Hof. Allerdings hatte nicht jeder Student einen eigenen Diener mitgebracht, so dass Nin sich den Dachboden nur mit drei anderen Dienern teilen musste.
Während sie die Sachen ihres Herrn in den Schrank einräumte, blätterte Kaiku neugierig in den Büchern, die ihm die Gehilfin des Akademieleiters bei seiner Ankunft ausgehändigt hatte.
„Sieh an. Ein Neuer! Bist du gerade angekommen?“
Kaiku blickte überrascht auf, denn der Hof war bis eben leer gewesen. Die anderen Mitbewohner waren alle noch im Unterricht oder anderweitig unterwegs. Auf dem Geländer des gegenüberliegenden Laufgangs lehnte ein kräftiger Kerl mit langen, dunklen Haaren, die ihm offen über die Schultern herabhingen. Im Gegensatz zu den meisten Hochgeborenen aus dem Kernland wirkte er grobschlächtig und ein wenig ungepflegt, denn er war nicht rasiert und seine Kleidung wirkte abgetragen, beinahe schäbig. In seinen Augen funkelte es jedoch voller Übermut.
„Ja. Vor einer Stunde.“
„Na, dann herzlich willkommen im Hof der großen Überraschungen!“
Kaiku hob belustigt eine Augenbraue.
„Der Hof hat einen Namen?“
„Alle Höfe hier haben das. Ist natürlich inoffiziell, versteht sich“, antwortete der ältere Student lachend.
„Und warum heißt dieser hier so?“
„Oh. Hier passieren die seltsamsten Dinge. Hier hat sich schon einer aufgehängt und eine Studentin hat versucht, einen Dämon zu beschwören. Und dann hatten wir hier schon auf dem Dachboden eine illegale Spielhölle. Als das herauskam, sind einige Studenten rausgeflogen! Aber da war ich noch nicht hier. Ich bin übrigens Rosh.“
Er sprang über das Geländer hinweg in den Hof, lief zwei Schritte und sprang dann scheinbar mühelos auf den anderen Laubengang hinauf zu Kaiku.
Mit großen Augen starrte Kaiku den anderen an.
„Eindrucksvoll! Ich heiße Kaiku aus dem Haus Aland.“
Eigentlich hätte es die Tradition verlangt, dass sich beide bei der Vorstellung voreinander verneigten. Doch Rosh schien es nicht so mit dem feinen Benehmen zu haben.
„Ja. Schon gut. Meine Familie ist nicht so vornehm. Wir sind nur arme Fischer aus Hanko.“
„Hanko? Das ist doch ganz im Norden. Eine der grauen Inseln.“
Die Bewohner dieser Inseln waren ein raues Volk. Es erklärte auch, dass Roshs Haare nicht ganz schwarz waren, sondern eindeutig einen rötlichen Unterton hatten. Auch sein Bartwuchs war viel üppiger als bei den Bewohnern des Festlands.
Er grinste unbekümmert.
„Was immer man dir über uns Nordleute erzählt hat, es ist alles wahr und sogar noch viel schlimmer.“
Auch Kaiku lachte.
„Tatsächlich? Du machst mich neugierig! Wie lange bist du schon hier?“
„Das dritte Jahr jetzt. Wenn du also Fragen hast oder Hilfe brauchst ...“ Rosh zwinkerte ihm verschwörerisch zu.
„Gut zu wissen.“
„Bei welchem Meister wirst du studieren?“
„Meister Maan.“
Der Nordländer verzog leicht das Gesicht.
„Streng. Und anspruchsvoll“, urteilte er dann. Als er merkte, dass Kaiku verunsichert war, fügte er noch rasch an:
„Aber keine Sorge. Bei Meister Maan lernst du viel. Er ist Himmelsbeobachter von Haus aus.“
„Wo lernt man denn dieses Springen, das du eben gemacht hast?“ wollte Kaiku nicht ohne einen Anflug von Neid wissen. In Roshs Augen blitzte es mutwillig auf.
„Ah! Das gehört zum Kampftraining. Da musst du die Kampfkunst studieren.“
„Das unterrichtet Meister Maan aber nicht“, schloss Kaiku stirnrunzelnd.
„Nein. Da musst du einen anderen Meister fragen.“
Rosh neigte sich ein wenig näher und wisperte:
„Ich kann dir Meisterin Luhane empfehlen. Die beste Kampftrainerin hier an der Akademie. Bei ihr studiere ich auch. Ist aber nichts für Schwächlinge, das Training.“
„Danke für den Hinweis. Und du denkst, sie würde mich auch trainieren?“
Rosh grinste breit.
„Keine Ahnung. Aber ich lege ein gutes Wort für dich ein, Kaiku aus dem Haus Aland!“
Damit wandte er sich ab und sprang leichtfüßig zurück in den Hof.
„Ich muss zum Unterricht. Aber wir sehen uns später noch!“
*
Der Student aus dem Nordland hatte recht gehabt. Der Unterricht bei Meister Maan verlangte den Neuankömmlingen einiges ab. Insgesamt waren zwölf Studenten in Kaikus Gruppe, darunter fünf Mädchen. Es ging früh los. Meister Maan erwartete von seinen Studenten, dass sie sich schon eine Stunde nach Sonnenaufgang im Schulungsraum einfanden. Dann dozierte er über verschiedene Themen bis zur Mittagszeit. Am Nachmittag gab es dann noch zwei Stunden praktische Übungen und natürlich Hausarbeiten zum Vertiefen des vorgetragenen Wissens.
Kaiku rauchte der Kopf bei all den neuen Dingen, die er erfuhr. Es war interessant, aber sehr umfangreich, so dass er sich fragte, wie er je die Zeit finden sollte, in den Nachmittags- und Abendstunden noch weitere Fächer wie zum Beispiel die Kampfkunst zu erlernen.
„Na? Hat Meister Maan dich mit Arbeit zugeschüttet?“ grinste Rosh schadenfroh und warf sich auf Kaikus ungenutztes Bett. Kaiku blickte verblüfft über Roshs Dreistigkeit auf. Zuhause auf dem Gutshof war es nicht üblich gewesen, einfach so in das Zimmer eines anderen hineinzuspazieren.
„Hast du keinen Unterricht?“ wollte er daher leicht pikiert wissen. Rosh lachte nur.
„Jetzt gerade nicht.“
Der ungehobelte Student aus dem Nordland erhob sich ein Stück und angelte nach dem Buch, das Kaiku auf seinem Schreibtisch liegen hatte. Mit gerunzelten Brauen las er einen Absatz:
„... gibt es drei Klassen der Geistwesen: die minderen Geister, die Faranoi und die Dämonen oder Geisterfürsten ... Hast du vor, ein Tierflüsterer oder Beschwörer zu werden?“