Der ganz normale Wahnsinn - Anton Weiß - E-Book

Der ganz normale Wahnsinn E-Book

Anton Weiß

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer danach fragt, was die Ursache dafür ist, dass der Mensch unzufrieden und in der Tiefe seines Wesens unglücklich ist und warum Beziehungen nicht gelingen, wird in diesem Buch die Antwort finden: Der Grund für das Missglücken des Lebens in allen Bereichen – persönlich und gesellschaftlich – ist die Tatsache, dass sich der Mensch als Ich (Ego) vorfindet. Was das für Folgen hat und wie das überwunden werden kann, wird in dem Buch aufgezeigt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 213

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anton Weiß

Der ganz normale Wahnsinn

eines Lebens in der Ego-Haltung

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Einführung

1. Glück, Erfüllung und das gespaltene Ich

Die Spaltung

Die Gier

Gier nach Aufmerksamkeit

Gier nach Sensationen

2. Ich und Individuum

Ärger

Weitere Aspekte des Ichs

Wünschen, Meinen, Hoffen

Verhüllungstendenz des Ichs

Vorstellungen und Erwartungshaltung

Ungebrochenes und gebrochenes Ich

Das ungebrochene Ich

Das gebrochene Ich

Das Individuum

3. Die Einseitigkeit des Ichs und das Unbewusste

4. Transzendierung des Ichs

5. Die dritte Ebene – das Bewusstseinsfünklein

Nachwort

Noch einige Hinweise:

Literatur:

Impressum neobooks

Einführung

Noch nie war das Ich des Menschen so sehr im Mittelpunkt des Lebens der Menschen gestanden wie heute in der westlichen Gesellschaft. In früheren Zeiten war es für die Menschen selbstverständlich, dass sie sich ein- und unterordneten. Man ordnete sich der Kirche unter und man ordnete sich in ein Staatsgefüge ein. Die Gesellschaft war klar in ein Oben und Unten eingeteilt, wobei die Mehrheit unten und nur eine Minderheit oben war. Um zum „Oben“ zu gehören, musste man Adeliger, später Professor oder zumindest Doktor oder Pfarrer sein, d. h. etwas Besonderes, das einen über die Masse hinaushob. Heute gilt diese Einteilung in oben und unten nicht mehr, sie wird nicht mehr anerkannt, weil jeder etwas Besonderes zu sein beansprucht. Deshalb ist man auch nicht mehr bereit, sich ein- oder unterzuordnen. Der Mensch im Ich lehnt es ab, sich von jemand anderem sagen zu lassen, was er zu tun oder zu lassen hat. Wo er dazu gezwungen ist, wie es durch das Beachten der Gesetze geschieht, tut er es mit größtem Widerwillen, wie man es z. B. im Straßenverkehr sehen kann, und wer wirklich mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, der sucht sich einen Anwalt, der mit allen Tricks versucht, das Opfer zum Täter zu machen und den Täter zu entlasten, und wenn es nur dadurch ist, dass er alkoholisiert und damit nicht voll verantwortlich war. Der Mensch im Ich ist überzeugt, allein entscheiden zu können, was er zu tun hat, was richtig oder falsch ist. Er braucht niemanden, der ihm das sagen müsste. Dadurch wird die Verbindlichkeit gesellschaftlicher Normen aufgebrochen, es gibt keine gemeinsamen Werte mehr, weil jeder seine eigenen Werte setzt. Jeder weiß selbst, wie er sein Leben führen will, und braucht und will es sich nicht von anderen vorschreiben lassen. Die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit steht an oberster Stelle in der Skala dessen, was dem heutigen Menschen wichtig ist. Das ist im Grunde der Demokratiegedanke. Das wird heute in einer Weise gelebt, wie es noch nie in der Menschheitsgeschichte der Fall war. Das Recht auf Selbstverwirklichung – oder, wie ich es als die richtigere Bezeichnung ansehe, auf Ich-Verwirklichung – wird nicht nur einigen wenigen wie früher zugestanden, sondern heute nimmt sie jeder in Anspruch. Jeder hat das Recht – und nimmt es sich auch – sich optimal zu entfalten.

Das wäre nicht zu beanstanden, wenn diese Ich-Verwirklichung nicht nur auf sich selbst bezogen wäre, sondern auch die Interessen des anderen berücksichtigen würde. Aber der Blick ist nur auf einen selbst gerichtet. Deshalb wird diese Ich-Verwirklichung, wenn radikal gelebt wie heute, zur Bedrohung, sowohl in der Beziehung der Menschen zueinander als auch im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben.

Die Misere des menschlichen Lebens beruht nicht auf einer undurchschaubaren Vielzahl von einzelnen Faktoren, die das Leben ausmachen, sondern kann letztlich auf eine dominierende Größe zurückgeführt werden, nämlich das Ich, sowohl im Großen – in der Gesellschaft, der Politik, der Staaten untereinander – wie auch im Kleinen – der Partnerschaft, Familie und Beruf.

Dabei verstehe ich unter „Ich“ keine abstrakte Größe, sondern das, was jeder meint, wenn er „ich“ sagt.

Wenn ich nur meine eigenen Interessen verfolge, ohne mich darum zu kümmern, was das für Auswirkungen auf den anderen oder die Gemeinschaft hat, dann ist ein Zusammenleben kaum noch möglich. Diese Konsequenz kann man heute sehen: Noch nie lebten so viele Menschen in der westlichen Welt als Single wie heute. Die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, mit einem anderen Menschen sein Leben zu teilen, ist die logische Konsequenz einer Einstellung, die nur die Interessen des eigenen Ichs verfolgt. Denn um eine Partnerschaft erfolgreich zu leben, d. h. dass beide Teile annähernd gleich viele Abstriche von ihren Eigeninteressen machen müssen, ist es notwendig, dass beide zu Kompromissen bereit sind, also zum Verzicht auf eigene Wünsche und Bedürfnisse im Interesse und zum Wohle des gemeinsamen Lebens.

Früher hat der Mann erwartet, dass die Frau auf ein eigenes Leben, d. h. auf ihre individuellen Bedürfnisse verzichtete, und sie war auch - mehr oder weniger freiwillig - bereit dazu. Heute ist das die Frau nicht mehr – mit Recht natürlich -, und der Mann tut sich sehr schwer, diese neue Rolle, d. h. die Anerkenntnis der Frau als gleichberechtigte Partnerin, zu akzeptieren. In einigen islamischen Ländern, z. B. in Saudi-Arabien, ist das heute noch nicht einmal im Ansatz zu erkennen: Frauen dürfen nicht Auto fahren und werden ausgepeitscht oder gesteinigt, wenn sie vergewaltigt wurden.

Das Ich – das Männliche ist dessen Repräsentant - anerkennt eigentlich nur sich selbst, und wenn zwei zusammentreffen, von denen jeder nur sich selbst gelten lässt und glaubt, dem anderen Vorschriften machen zu können, selbst es aber ablehnt, dass ihm Vorschriften gemacht werden, dann ist Zusammenleben kaum noch möglich.

Ich möchte im Verlauf dieser Arbeit zeigen, wie das Leben vom Ich her aussieht, wie sehr es unser Leben bestimmt und welche Konsequenzen eine solche Lebensführung hat und welches Leid dadurch hervorgerufen wird. Die Auseinandersetzung mit seinem Ich halte ich für die Hauptaufgabe des menschlichen Lebens.

Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Wenn bei Beispielen, mit denen ich meine Ansichten illustrieren möchte, einem mitdenkenden Leser Gegenbeispiele in den Sinn kommen, wo sich Menschen doch anders verhalten als ich es beschreibe, möchte ich zu bedenken geben, dass ich ja die Ich-Struktur zu charakterisieren versuche. Ich behaupte nicht, dass der Mensch immer nur vom Ich her handelt. Der Mensch ist viel mehr als nur Ich, er ist viel umfassender, als er in seinem Ichbewusstsein von sich erfasst. Aber er ist auch immer ein Ich, und dieses Ich ist gekennzeichnet durch eine besondere Struktur, die ich herauszuarbeiten versuche. Wenn ein Mensch in seinem Handeln von dieser Struktur abweicht, d. h. nicht nur als Ich denkt und handelt, sondern als ganzheitlicher Mensch – und das tun zum Glück viele, sonst wäre Zusammenleben schon längst nicht mehr möglich –, dann ergeben sich natürlich andere Verhaltensweisen. Mir geht es in dieser Arbeit darum, die spezifische Struktur des Ichs, die im Grunde ein Charakteristikum des Menschseins darstellt, herauszuarbeiten. Es wird sich zeigen, wie tiefgreifend die Ich-Struktur unser menschliches Zusammenleben bestimmt und wie nahezu alle Missstimmigkeiten unter Menschen durch diese Ichverhaftetheit hervorgerufen werden.

Um es etwas scharf zu formulieren: Der ganz normale Wahnsinn im Leben der Menschen entsteht durch das Ich! Wenn einer mit der Flinte auf seinen Nachbarn losgeht, weil von dessen Baum Blätter auf sein Grundstück fallen, dann ist das schier unglaublich und zeigt, wie weit sich ein Mensch von der Unduldsamkeit seines Ichs fortreißen lassen kann.

1. Glück, Erfüllung und das gespaltene Ich

Glück und Erfüllung

Im Grunde genommen geht jeder Mensch hoffnungsfroh in das Leben hinein. Natürlich kann durch Vernachlässigung und Misshandlung in frühester Kindheit sehr viel irreparabel zerstört werden. Wenn aber eine normale Entwicklung stattgefunden hat, dann ist ein Heranwachsender offen und erwartungsfroh. Erst durch Enttäuschungen, die darin bestehen, dass die Erwartungen, die man hat, nicht erfüllt werden, lernt der Mensch, dass die Welt nicht so ist, wie man sie gerne hätte. Und auf diese Enttäuschungen kann nun verschieden reagiert werden: Man kann mit Wut, Verbitterung und vielleicht Rückzug aus der Welt reagieren oder man erkennt, dass man Illusionen und falsche Vorstellungen von der Welt gehabt hat, die nun korrigiert werden müssen. Es gibt kein Leben ohne Enttäuschungen. Es wird häufig anders sein, als wir gerne hätten. Diese Frustration ertragen zu können, scheint mir ein sehr wichtiger Schritt zu einem echten Selbstbewusstsein zu sein. Es würde die Erkenntnis beinhalten, dass es auch andere Ichs gibt, die ganz andere Vorstellungen haben, mit denen meine Vorstellungen konkurrieren.

Es ist doch unabweislich, dass das Leben des Menschen nicht gelingt. Man braucht nur die Tageszeitung aufzuschlagen und es wird einem vor Augen geführt, wie es um die Welt und den Menschen in ihr steht: Da verlieren Leute ihr Geld, das sie in Aktien angelegt haben, weil sie gehofft haben, dadurch schnell und ohne große Mühe zu Geld zu kommen, andere verlieren ihren Arbeitsplatz, den sie als sicher glaubten, ein Mann tötet seine Familie und sich selbst, in vielen Ländern herrscht Bürgerkrieg, ein Schüler läuft Amok und tötet Lehrer und Mitschüler, ein Mann trennt sich von seiner Frau nach 20 Jahren Ehe, ein Radrennfahrer wird ausgeschlossen, weil er gedopt hat, ein Schiedsrichter wird verurteilt, weil er sich bestechen hat lassen. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Ich möchte die Überschriften nur der untere Hälfte der Seite 12 der Süddeutschen Zeitung vom 22.4.08 vollständig anführen: „Wieder Stein auf Autobahn geworfen“ – ein 24-jähriger Autofahrer hatte Glück, da der Stein ihn knapp verfehlte; einen Monat zuvor wurde eine Frau durch einen 6 kg schweren Holzklotz tödlich verletzt. „Anklage gegen Chef der Wegberg-Klinik“, weil er aus Gewinnsucht völlig unnötige Operationen durchführte, „Scham und Peinlichkeit - ein britischer Spitzenpolitiker litt zehn Jahre unter Bulimie“, nicht einmal seine Ehefrau wusste davon, „Heimliche Schwangerschaft“ – eine Medizinstudentin bringt heimlich ein Kind zur Welt, angeblich tot, und versteckt es auf dem Dachboden der Eltern, „18-jähriger erschlägt 17-jährige nach Party“ und „Von Lehrern überführter Kinderschänder gesteht“ – der Mann hatte seinen eigenen Sohn, der jetzt 14 Jahre alt ist, mindestens 6 Jahre lang sexuell missbraucht und die Fotos ins Internet gestellt. Der Titel „Rückkehr der Piraten“ – wieder haben vor der somalischen Küste Piraten ein Schiff gekapert – ragt noch etwas in die obere Hälfte der Zeitungsseite hinein.

Kann man wirklich der Meinung sein, dass das alles nur ganz seltene Einzelfälle sind, dass es zwar so etwas gibt, aber im Großen und Ganzen wir doch eine Gesellschaft von Menschen sind, die glücklich und mit ihrem Leben zufrieden sind und die ein rechtschaffenes Leben führen, oder zeigen diese Vorkommnisse nicht in erschreckender Weise, dass etwas grundlegend nicht stimmt in der menschlichen Struktur?

Alles Leid, das Menschen widerfahren kann, lässt sich auf zwei Ursachen zurückführen: Erstens auf das, was durch die Natur verursacht ist, wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunami-Wellen und den Tod, und zweitens – und das ist der weitaus größere Anteil an dem, was Menschen Leid zufügt – auf das, was vom Menschen selber verursacht wird, und zwar dem Menschen, insofern er vom Ich her lebt. Durch Naturkatastrophen kommen vielleicht einmal zehn-, zwanzig- oder ganz selten zweihunderttausend Menschen ums Leben, allein durch den 2. Weltkrieg sind 55 Millionen Menschen ums Leben gekommen, und seither bis heute noch einmal so viele.

Deshalb möchte ich die Struktur des Ichs darlegen, weil ich sie als die tiefste Ursache dessen ansehe, warum es dem Menschen nicht möglich ist, das zu erreichen, wonach er sich so sehr sehnt: in einem glücklichen, sinnvollen Leben Erfüllung zu finden, Liebe, Freunde, Harmonie, Geborgenheit, Freude am Leben und Frieden zu erlangen. Es ist sein Verhaftetsein an das Ich, das es ihm unmöglich macht, das zu erreichen, was er in seinem tiefsten Inneren zu erlangen hofft und woraufhin er angelegt ist. Und es ist die Quelle unendlichen Leids, das Menschen anderen Menschen seit Beginn der Menschheitsgeschichte zugefügt haben und immer noch zufügen. Und vieles, was sich heute als Naturkatastrophe zeigt, ist Verschulden des Menschen, wie z. B. die Trockenheit in verschiedenen Ländern, die durch das Abholzen der Wälder durch frühere Generationen verursacht wird, so wie heute die Vernichtung der Regenwälder zur Klimakatastrophe beiträgt.

Dies aufzuzeigen ist das Anliegen vorliegender Darlegung und sie ist nicht gedacht als Anklage, sondern als Klärung der Hintergründe. Gelänge es, ein Wissen um die Tatsache des Ichs zu vermitteln und die Möglichkeit zu dessen Überwindung aufzuzeigen, dann würde jedenfalls für die Menschen, die sich um eine Lösung der Tragik menschlicher Existenz bemühen, ein Ansatzpunkt sichtbar.

Man kann das Streben aller Menschen, das Grundanliegen allen menschlichen Lebens auf einen einzigen Nenner bringen: Alle wollen glücklich werden. Jeder strebt aus seinem innersten Wesen heraus nach Glück. Oder anders ausgedrückt: Alle Menschen wollen ein erfülltes Leben. Das Streben nach einem erfüllten Leben ist die tiefste Antriebskraft des menschlichen Daseins. Auch noch der Selbstmörder begeht die Tat in der Überzeugung und Hoffnung, dass ihm der Selbstmord größere Erfüllung bringt als das Leben, das er führt. Der Drogensüchtige und Alkoholabhängige erleben in der Sucht eine größere Befriedigung als in ihrem Lebensalltag. Wenn die Neurose das Leiden darstellt, das der Betroffene nicht bereit war, freiwillig auf sich zu nehmen, dann ist auch die Neurose, obwohl leidvoll, das größere Glück gegenüber dem konkreten Leben, in dem er unerträglich leidet. Diese Beispiele sollen die Behauptung untermauern, dass alles Streben des Menschen und alles, was er unternimmt, sein Glücklichsein fördern soll.

Auch die Sehnsucht nach Erlösung entspringt dem gleichen Drängen, der gleichen Quelle, die den Menschen zu einem Zustand bewegen will, der mehr ist, als sein derzeitiger. Und wer ahnt, dass er aus eigener Kraft diesen Zustand nicht erreichen kann, der glaubt an einen Heilbringer, sei es ein Religionsstifter, ein Sektenführer oder eine politische Gestalt.

Es ist die Tragik des Lebens, dass im Grunde alles, was ein Mensch unternimmt, um glücklich zu werden, zum Scheitern verurteilt ist. Wir glauben, etwas dafür tun zu können, dass wir glücklich werden, nicht nur durch den Kauf von schönen Dingen, sondern auch dadurch, dass wir zum Tanzen gehen oder Feste feiern. Manchmal sind wir beglückt, aber manchmal auch nicht. Aber mir scheint, dass sich nur wenige fragen, woran es das eine bzw. das andere Mal gelegen hat, sondern nehmen es einfach so hin, das Leben ist eben so.

Ich hatte da ein Schlüsselerlebnis als junger Mensch:

Ein Bekannter spielte hervorragend Klavier. Eines Tages spielte er mir ein Stück von Bach in einer solchen Vollendung vor, wie ich es bis dahin noch nicht erlebt hatte. Von Musik fühlte ich mich immer schon angesprochen, aber die Welt, die sich durch sein Spiel in mir auftat, war unbeschreiblich. Ein unendliches Glücksgefühl durchströmte mich. Beim nächsten Treffen bat ich ihn, nochmals das Stück von Bach zu spielen. Ich setzte mich in erwartungsvoller Haltung hin und war überzeugt, mich wieder dem wohligen Genuss der Musik hingeben zu können. Mein Bekannter spielte sicher genau so gut wie bei meinem großen Erlebnis, aber es stellte sich kein Hochgefühl mehr ein. Es waren nur Klaviertöne, kein erhebendes Erlebnis mehr. Ich konnte es nicht fassen und war um eine ganz grundlegende Erfahrung reicher. Es gab da etwas, das man nicht machen kann, das man nicht willentlich herstellen kann. Ich überlegte lange, was der Unterschied in den beiden Malen war: Das erste Mal war ich ganz ohne Erwartung, ich war völlig offen. Beim zweiten Mal hatte ich eine große Erwartung, ich wollte diese großartige Erfahrung wieder machen. Und diese Erwartungshaltung ist die Ich-Haltung, die genau dieses Glückserlebnis verhindert. V. E. Frankl stellt das ins Zentrum seiner Lehre: Man kann das Glück nicht direkt wollen. Glück ist ein Nebenprodukt und kann nicht direkt erstrebt werden. Erfüllung ist ein Geschenk, das man nicht machen kann und ist damit dem Zugriff des Ichs entzogen. Das Ich glaubt alles machen zu können, glaubt, nur die richtige Methode, die richtige Technik finden zu müssen. Aber das Glück, die Erfüllung sind nicht machbar und durch keine Methode und keine Technik erzwingbar und auch mit noch so viel Geld nicht zu erkaufen. Erfüllung ist ein Geschenk, das sich gibt, wenn das Ich nicht im Spiel ist, wenn es transzendiert, also außer Kraft gesetzt ist. Aber anstatt zu erkennen, dass seine Herangehensweise falsch ist, wenn sich die Erfüllung nicht einstellt, resigniert der Mensch. Er kann nicht sehen, dass seine Ich-Haltung schuld an seiner Misere ist.

Wenn der Leser dem zustimmen kann, dass alles Streben des Menschen auf Glück abzielt und dass es dem größten Teil der Menschen nicht gelingt, ein erfülltes und zufriedenes Leben zu führen, dann stellt sich doch die Frage, warum die Sehnsucht nach Erfüllung nicht zu verwirklichen ist.

Die Unmöglichkeit, Erfüllung zu finden, führt zur Unzufriedenheit und im letzten Stadium zur Verzweiflung. Diese Unzufriedenheit kann man im Leben vieler Menschen antreffen, und das Ich findet immer äußere Gründe, die seine Unzufriedenheit rechtfertigen: Bekannt ist das Beispiel, wo eine Frau ihren Mann längst durchschaut und seine tief innere Unzufriedenheit erkannt hat. Und um ihm keinen Anlass zu bieten, seine Unzufriedenheit auf sie zu projizieren, hat sie den Fisch sowohl gesotten als auch gebraten zubereitet, und als der Mann auf die Frage, wie er den Fisch will, in scharfem Ton sagt: „gesotten“, weil er den gebratenen Fisch gerochen hat, kann sie ruhig erwidern, dass es ihn auch gesotten gibt. Ob es den Mann allerdings zur Einsicht gebracht hat und er angefangen hat, nach dem Grund seiner Unzufriedenheit zu forschen, ist nicht überliefert. Ich wage es zu bezweifeln, denn das Ich gibt sich erst geschlagen, wenn es am Zusammenbruch ist, und dahin ist der Weg sehr weit, jedenfalls für ein ungebrochenes Ich, das in dem Mann repräsentiert ist.

Ich möchte die Gründe aufzeigen, die ich als die wesentliche Ursache dafür ansehe, warum das Leben der meisten Menschen so offensichtlich nicht gelingt: der erste liegt in der Tatsache der Spaltung und der zweite in der Gier des Menschen, die sich aus der Spaltung ergibt, und die ist durch die Befindlichkeit im Ich bedingt.

Die Spaltung

Der Mensch ist in sich gespalten, d. h. er ist eben nicht Individuum, denn Individuum heißt ungeteilt, also ganz. Der Mensch ist nicht ganz, er ist keine Ganzheit, er ist nicht eins mit sich selbst, sondern mindestens eine Zweiheit. Jeder kennt das Wort von Goethe: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ Diese zwei Seelen bestehen in der Regel darin, dass der Mensch nicht das Gute tut, das er eigentlich will. Das wird schon im Neuen Testament von Paulus gesagt: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will.“ Um es an einem einfachen Beispiel zu erläutern: Ich nehme mir vor, etwas Bestimmtes nicht zu sagen, weil ich weiß, dass es dann Streit gibt, und genau das sage ich, wie von einem Teufelchen geritten, worüber ich mich sofort ärgere, weil es prompt den Streit auslöst. Wer sagt es, und wer will es nicht sagen? Wer ist der Maßgebende in mir, wenn ich hin- und hergerissen bin, mit einer attraktiven Frau eine Beziehung anzufangen, obwohl ich verheiratet bin und weiß, in welche Schwierigkeiten ich mich begebe und was ich aufs Spiel setze und dass ich eher unglücklich sein werde als glücklich. Wer will die Beziehung und wer nicht, und wer ist der, der dann letztlich entscheidet?

Dies ist nicht nur ein Hinweis auf die Spaltung im Menschen, auf seine innere Zerrissenheit, auf ein Uneinssein mit sich selber, sondern auch darauf, dass Prozesse in einem ablaufen, über die man nicht verfügt, dass man in vielen Fällen nicht der Akteur ist, sondern Opfer einer Fremdbestimmung. Häufig klaffen die gute Absicht eines Menschen und seine Handlung auseinander. Jeder, der schon gute Vorsätze gefasst hat, wird bei sich feststellen können, dass er in seinem Willen oft viel zu schwach ist, um seine Vorsätze auch in die Tat umsetzen zu können. Es ist viel leichter, negativ zu sein, sich gehen zu lassen und unwirsch zu sein, als eine positive Einstellung zu entwickeln, aktiv und freundlich zu sein. Positiv zu sein erfordert einen Kraftaufwand, den man oft auch bei gutem Willen gar nicht aufbringen kann, negativ ist man ganz von selber. Um gut zu sein, muss ich gegen mich selbst kämpfen; wer kämpft da gegen wen und wer siegt und warum?

Deutlich wird die Spaltung in einem auch, wenn jemand etwas sagt oder tut, was mich verletzt, obwohl ich vom Verstand her genau weiß, dass es ganz anders gemeint war, wenn z. B. jemand über einen dritten etwas Gemeines sagt und ich es fälschlicherweise auf mich beziehe und dadurch tief gekränkt bin, was aber rasch geklärt werden kann. Dennoch hat einen das sehr tief getroffen, worüber man gar nicht verfügt, und es kann erhebliche Auswirkung auf den Fortbestand der Beziehung haben. Man entfremdet sich dem anderen, obwohl man weiß, dass er einen gar nicht gemeint hat. Da kann man eine Tiefe in sich erleben, über die man gar nicht verfügt. Man ist es und ist doch ein anderer. Wenn dann einige Zeit vergangen ist, dann bleibt die ablehnende Haltung gegenüber dem anderen und die Ursache ist längst vergessen. Aber wer geht schon solchen Vorgängen, die wohl viele kennen und die einen Riss im Menschen offenbaren, auf den Grund?

Dieser Riss geht ganz grundsätzlich durch den Menschen. Er ist gegeben durch die Fähigkeit des Menschen, über sich selbst nachzudenken, sich selbst in den Blick zu nehmen. Das ist das spezifisch Menschliche, das ihn über die Tiere hinaushebt. Das heißt, dieser Riss, diese Spaltung, ist die Voraussetzung für das menschliche Bewusstsein überhaupt und damit notwendig und unausweichlich. Es ist die Folge der Bewusstwerdung des Menschen. Aber was auf der einen Seite ein Segen, ist auf der anderen Seite zugleich ein Fluch. Es ist das, was in der Bibel mit Erbsünde bezeichnet wird. Es beinhaltet die Möglichkeit, sich selbst zum Gegenstand seiner Beobachtungen zu machen, sich zu prüfen, zu begutachten und letztlich zu tyrannisieren. Die Fähigkeit, über sich selbst nachzudenken, sich selbst zu betrachten, wirft die unlösbare Frage auf, wer der ist, der über sich nachdenkt, und wer der ist, über den nachgedacht wird, und wer herrscht über wen? Und dann wird es noch komplizierter, weil auch noch jemand da ist, der diese beiden beobachten kann, der also sieht, dass jemand über sich nachdenkt und sich manipuliert, also sind es eigentlich drei. Die Tragweite dieser von manchen vielleicht als Gedankenspielerei angesehenen Überlegung wird deutlich, wenn ich Arnhild Lauveng, eine 10 Jahre lang äußerst schwer und als unheilbar eingestufte Schizophrene, heute als Psychologin tätige Norwegerin zitiere: Sie erkennt dieses Problem, indem sie sich fragt: Wer ist der, der über sie schreibt und der, über den sie schreibt? Sind das zwei verschiedene Ichs? Und wer ist der, der sieht, dass er über sich schreibt? Das wäre dann ein dritter?

Haben Sie sich schon einmal gefragt: „Wer spricht eigentlich?“, wenn Sie einen Satz sagen? Ich bin mit dieser Überlegung schon in meiner Jugend konfrontiert worden und habe viele Jahre versucht, herauszubekommen, wer spricht. Man kann ja, während man einen Gedanken ausführt, selber sehen, dass das gar nicht logisch ist oder dass man das normalerweise gar nicht vertritt. Da fragt man dann, wer spricht und wer schaut zu und kommentiert, und wer erzeugt die Gedanken und hält die Fäden in der Hand?

Es ist mir nie gelungen, den zu fassen zu bekommen, der spricht, das heißt, ich wollte den Sprecher ergreifen, und begriff allmählich, dass das gar nicht möglich ist. Ich kann den nicht fassen, der ich bin, denn ich bin mir selber unbekannt, ich kann meinen Grund nicht erfassen, ich bin letztlich ein transzendentes Wesen. Ich kann den Denker meines Denkens, den Urheber meiner Gedanken nicht ergreifen. Ich glaube, dass der Versuch dazu auch ein Moment davon war, dass ich in die Schizophrenie geriet. Auch bei Lauveng zeichnet sich das ab. Wie viele bin ich eigentlich? Im Neuen Testament begegnet Jesus einem Verrückten und der sagt zu ihm: Wir sind viele. Vielleicht wäre es besser, wenn man sich gar nicht so viele Gedanken über sich selbst machen würde, denn jede Überlegung wirft nur neue ungelöste Fragen auf, aber leider hat mich niemand gefragt, ich habe mich so vorgefunden und kann gar nicht anders. Und ich halte diese Frage nicht für falsch oder überflüssig. Ganz im Gegenteil. Wenn sich andere diese Frage nicht stellen, dann glaube ich deshalb, dass sie von vorn herein gar keine Chance sehen, darauf eine Antwort zu erhalten oder sie gerät einfach nicht in ihr Blickfeld. In ähnlicher Weise stellen viele Leute nicht die Frage nach dem Sinn ihres Lebens, weil sie nicht sehen können, dass es darauf eine Antwort geben könnte. Mir stellen sich aber diese Fragen und ich sehe auch eine Antwort. Nur liegt sie nicht im beweisbaren Bereich. Und ich muss ganz allein mit ihr leben und niemand kann mir sagen, ob die Antwort, die ich sehe, richtig ist oder falsch. Die Naturwissenschaft hat deshalb einen solchen Siegeszug angetreten, weil die Menschen hofften, durch sie eindeutige und verbindliche Antworten zu erhalten, die beweisbar sind. Nichts fällt dem Menschen schwerer, als ohne Absicherung durch andere seine eigenen, nur für ihn gültigen Antworten zu finden.

Ich gebe eine Antwort, sehe aber, dass andere in meiner nächsten Umgebung nicht viel damit anfangen können: Ich erstrebe nichts mehr als die Einswerdung mit mir selber, die in der Überwindung der Spaltung und damit im Übersteigen des Denkens liegt. Darauf scheint mir alles hinauszulaufen. Die Einswerdung mit sich selbst ist identisch mit der Transzendierung des Ichs, mit dem Vordringen in die eigene Tiefe, mit der Hereinnahme des Unbewussten ins bewusste Leben. Es sind nur verschiedene Ausdrucksweisen für das gleiche Geschehen.