Hampelmann - Anton Weiß - E-Book

Hampelmann E-Book

Anton Weiß

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Beschreibung

An einem jungen Mann, der Tennisspieler werden möchte, werden die seelischen Höhen und Tiefen eines solchen Weges aufgezeigt. Auch wird der Weg seiner Suche nach dem Sinn des Lebens sichtbar, die gekennzeichnet ist durch die leidvollen Erfahrungen der seelischen Abgründe.

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Anton Weiß

Hampelmann

oder Dann eben anders

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Vorwort

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

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Nachwort

Impressum neobooks

Kapitel 1

Anton Weiß

Hampelmann

oder

Dann eben anders

Autobiographischer psychologischer Roman

Vorwort

1

„Nein, das mache ich nicht. Nein, das ist doch ein Unsinn.“ Aber ich merke, dass der Angelhaken sitzt. Ganz tief innen hat er sich hineingefressen und lässt nicht mehr los. Ich wehre mich noch, aber schon bohren die Gedanken weiter. Warum nicht? Wenn sich kein Verlag findet, das, was ich für wichtig halte, zu veröffentlichen – Romane werden veröffentlicht. Das ganze als Roman schreiben? Das alles in die Form eines Romans einhüllen in der Hoffnung, auf diese Weise meine Erfahrungen mitteilen zu können? Ich weiß nicht.

Und wo sollte ich dann anfangen? Welcher Plot wäre geeignet? Es an einem Fußballer aufhängen? Gerade im Jahr 2006 war ja ganz Deutschland in einem Fußballtaumel befangen. Oder als Krimi? Krimis werden immer gelesen. Wäre es nicht gerechtfertigt, all das in Form eines Romans darzustellen, was ich als wichtig ansehe? Ein Roman als Transportmittel für eine Wahrheit, von der ich überzeugt bin, dass sie für Menschen hilfreich sein könnte?

Das ist nun schon grotesk: Ich, der nur wenige Romane gelesen hat, weil ich nicht einsehe, warum ich mich mit Welten auseinandersetzen soll, die mehr oder weniger kranken Gehirnen entsprungen sind, Welten, die man sich so oder anders zurecht denken kann. Mir ging es immer um die Wahrheit. In einem Roman ist alles wahr, wenn es nur einigermaßen in sich stimmig dargestellt ist. Das interessierte mich nicht, denn es half mir auf meiner Suche nach Wahrheit nicht weiter.

Aber das sehe ich jetzt als Vorteil: Ich brauche nichts zu rechtfertigen, brauche keine wissenschaftlichen Beweise führen, kann die Dinge einfach so darstellen, wie ich sie sehe, brauche keine Zitate anführen, habe praktisch Narrenfreiheit. Vielleicht könnte es so gehen. „Sophies Welt“ liegt doch eine ähnliche Idee zugrunde und hat viele Menschen erreicht, die sich sonst nie mit Philosophie beschäftigt hätten. Einen Versuch ist es wert.

2

Erich hat schon als Kind davon geträumt, einmal ganz berühmt zu werden. Diesen Traum haben ja viele Kinder, Jungen wie Mädchen. Während sich aber Mädchen eher als Prinzessin oder berühmten Star träumen, sah sich ErIch in seinen Visionen als den edlen Retter, der einem kleinen Kind, das in reißende Fluten geraten war, mit tollkühnem Einsatz das Leben rettet und den nun alle bewunderten, gerade die, die ihn bisher links liegen gelassen hatten. Darin empfand er seine größte Befriedigung, dass die ihm nun mit bewundernder Hochachtung begegnen mussten, die ihm vorher nicht das leiseste Interesse entgegengebracht hatten. Er weiß aber auch, dass es an ihm gelegen hat. Er ist kein lustiger, geselliger Typ. Er wäre es gerne gewesen, aber er wusste nicht, wie er es anstellen sollte. Er bewunderte die, die sich so mühelos mit jedem unterhalten, die Scherze und Witze erzählen konnten und um die sich die Mädchen scharten. Wenn er einen Witz erzählte, den er sich krampfhaft gemerkt hatte, dann vermasselte er die Pointe oder erzählte ihn so gezwungen, dass keiner darüber lachen konnte. Also unterließ er es. Er spürte sehr bald, dass er sich nur lächerlich machte, wenn er andere kopierte.

Obwohl ErIch im strengen Sinn kein Außenseiter war, hat er sich schon seit er denken kann nicht heimisch gefühlt in dieser Welt. Er hatte immer den Eindruck, als ob sich alles hinter einer Glaswand abspielen würde oder er von einer Glasglocke umgeben wäre, die ihm den unmittelbaren Zugang zur Welt versperrte. Wenn er sprach, konnte er seinem Gegenüber gar nicht in die Augen schauen; das hat ihn irritiert und ließ ihn den Faden verlieren. Am liebste schaute er seinem Gegenüber auf den Mund, da wurde er am wenigsten abgelenkt.

Oder er sah sich als den großen Redner, der Menschenmassen begeisterte, die ihm zujubelten, wenn er seine großen Wahrheiten verkündete.

3

Als ich mich endlich durchgerungen hatte, meinem Vater zu sagen, dass ich Tennisspieler werden wollte, sah er mich mit großen Augen an. Ich befürchtete, dass er so reagieren würde wie immer, wenn meine Mutter eine Idee hatte, wie man die Wohnung verschönern könnte. Seine erste Antwort war immer: „Nein!“ Ich bewunderte meine Mutter, denn sie nahm das ganz gelassen hin. Wenige Wochen später kam sie wieder darauf zu sprechen. „Ein neuer Teppichboden wäre doch schön, der alte ist an vielen Stellen schon so abgeschabt.“ „Kommt überhaupt nicht in Frage, das schlag dir aus dem Kopf.“ Meine Mutter gab klein bei – scheinbar – aber in Wirklichkeit schlug sie sich den neuen Teppichboden überhaupt nicht aus dem Kopf. Wieder nach einigen Wochen klopfte sie erneut an: „Der Teppichboden hat an so vielen Stellen Schmutzflecken, die bringe ich auch mit Teppichschaum überhaupt nicht mehr sauber.“ „Ja, wo sollen wir denn das Geld für einen neuen Teppichboden hernehmen?“ Und da merkte ich, dass eine ganz, ganz kleine Bresche in die ablehnende Haltung meines Vaters geschlagen war, die er selber wahrscheinlich überhaupt nicht bemerkte. Als das nächste Mal wieder die Sprache auf den Teppichboden kam, war die Antwort meines Vaters: „Dann muss aber der Herd warten.“ Und damit war klar, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der neue Teppichboden angeschafft war.

Das stand bei meiner Frage im Hintergrund und deshalb war ich ganz verwundert, als er sagte: „Wenn du glaubst, dass das der richtige Weg für dich ist – meine Unterstützung hast du. Aber die Schule darf nicht darunter leiden!“

Andererseits hätte ich es mir denken können, dass mein Vater meinem Wunsch, Tennis zu spielen, durchaus positiv gegenüberstehen würde, denn nahezu immer, wenn wir, meine Schwester und ich, Wünsche hatten, die ihm für unseren Lebensweg sinnvoll erschienen, fand das seine Unterstützung. So sorgte er schon früh dafür, dass wir Musikunterricht erhielten, meine Schwester Geige und ich Akkordeon. Den Lehrer, den er dafür engagierte und der sowohl meine Schwester in Geige als auch mich in Akkordeon unterrichtete, mochten wir beide nicht. Vielleicht war das der Grund, dass wir nicht die rechte Lust und den nötigen Fortschritt entwickelten, als es notwendig gewesen wäre, denn das Geld für den Unterricht mussten sich meine Eltern ziemlich vom Mund absparen. Ich glaube aber, dass auch mein Vater nicht von den Qualitäten des Musiklehrers überzeugt war, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis er ihn abbestellte.

Natürlich würde es gar nicht so wenig Kosten verursachen, wenn man Tennis ernsthaft betreiben wollte, und reich waren meine Eltern wirklich nicht. Sie verzichteten auf vieles, nur um ihren Kinder zu ermöglichen, dass sie es einmal besser haben sollten.

Darum war ich dankbar, dass mein Vater keinen Einwand hatte, und überglücklich konnte ich es gar nicht erwarten, bis ich die erforderliche Ausrüstung hatte und beim Tennisverein angemeldet war.

Aber schon die erste Trainingsstunde dämpfte meine hochgespannten Erwartungen. Ja, was habe ich denn erwartet? Natürlich habe ich gedacht, dass ich den Schläger in die Hand nehmen und gleich die ersten Asse servieren würde, so wie ich es am Fernseher von den großen Stars gesehen habe. Dass eine mühselige Knochenarbeit dahinter steckt, bis man anfängt, überhaupt ein Gespür für Schläger, Ball und Feld zu bekommen, das begriff ich erst allmählich. Der anfänglichen Begeisterung folgte schnell die ernüchternde Einsicht, dass, wenn ich vorwärtskommen wollte, es ohne das oft eintönige Üben und Plagen mehrmals in der Woche nicht gehen würde. Ich stand vor einer Entscheidung: Sollte ich weitermachen, hatte ich das nötige Talent, dass doch ein ansehnlicher Tennisspieler aus mir werden könnte, oder sollte ich meine hochfliegenden Pläne fallen lassen und das Leben eines normalen, aber unbedeutenden Menschen führen? Vor dieser Entscheidung stand ich nicht nur einmal. Immer wieder wurde ich hin- und hergerissen zwischen der Überzeugung, doch etwas ganz Großes werden zu wollen und auch zu können und dem Erleben, wie viel mir misslang, wie ich zeitenweise den Ball überhaupt nicht mehr traf und wie ich mich als völlig danebenstehend sah, ohne die Möglichkeit, eingreifen zu können. Aber wenn ich am deprimiertesten war und alles hinwerfen wollte, kamen immer von irgend einer Seite – sei es vom Trainer oder von meinem Vater oder von Clubkameraden – aufmunternde Worte, die mich weitermachen ließen.

Und immer wieder mischte sich die Frage ein, was ich eigentlich erreichen wollte? Was hätte ich davon, wenn ich berühmt wäre? Ist es wirklich das, was ich suche? Oder geht es mir nicht viel mehr darum, einfach ein Mensch zu sein? Ist vielleicht das Große, das hinter all den Träumen vom Berühmtsein steckt, das ganz Einfache? Ist die schwer zu erreichende Kostbarkeit, von der in allen Religionen die Rede ist, das einfache Leben, das so schwer zu verwirklichen ist, weil wir immer von großen Dingen träumen? Andererseits muss das Leben ja gelebt werden, ich muss ja etwas tun, um mich als Mensch zu verwirklichen, und was liegt da näher, als das zu tun, was einen interessiert. Tennisspielen hat mich schon immer interessiert und wenn es vielleicht auch nicht mehr zu etwas ganz Großem reicht, so bringt es doch viele Vorteile mit sich: Ich betätige mich sportlich, was meiner Gesundheit gut tut, verdiene meinen Lebensunterhalt, komme in der Welt herum, lerne viele Menschen kennen und bin gezwungen, an mir zu arbeiten, da es ja ohne das Auf und Ab von Erfolg und Misserfolg nicht abgehen wird.

Ich bewunderte andere Tennisspieler, die anscheinend sorglos auf den Platz gingen und ihr Spiel machten, offensichtlich ohne groß nachzudenken oder von Selbstzweifeln gequält zu werden. Natürlich hatten auch sie nicht nur gute Tage, aber sie nahmen das viel leichter als ich. Für mich verband sich immer gleich Sein oder Nicht-Sein mit einem Sieg oder einer Niederlage. Gelang mir ein Sieg, dann war ich himmelhochjauchzend, musste ich eine Niederlage einstecken, war ich zu Tode betrübt. Ich sah aber darin auch die Möglichkeit, menschlich zu reifen, mich durch Siege nicht zu sehr in den Himmel heben und durch Niederlagen nicht zu sehr zu Boden drücken zu lassen. Die Mitte zu finden war ein Ziel, das ich schon sehr früh anstrebte. Im Religionsunterricht lasen wir ein kleines Büchlein, das „Verlust der Mitte“ hieß. Ich litt darunter, wenn mich Siege so weit von mir forttrugen, dass ich ganz außerhalb von mir selbst und überhaupt nicht mehr in meiner Mitte war. So sehr ich mich über ein gewonnenes Spiel freute, hatte ich doch das unabweisbare Empfinden, auf dem Teppich und damit in meiner Mitte bleiben zu müssen.

Welch enorme Arbeit für das Streben nach der Mitte und mehr Gelassenheit notwenig werden würde, verstand ich zu der Zeit noch gar nicht so richtig und es war auch besser so, denn sonst hätte mich das vielleicht ganz mutlos gemacht. Wie oft nahm ich mir vor, mich das nächste Mal bei einer Niederlage nicht mehr so zu Boden drücken zu lassen; ich merkte überhaupt keine Fortschritte, es war immer wieder das gleiche Auf und Ab. Aber ich war eine Kämpfernatur. So leicht ließ ich mich nicht entmutigen, und wofür ich mich einmal wirklich entschieden hatte, dazu stand ich dann auch und warf nicht gleich die Flinte ins Korn, wenn es einmal nicht so gut lief.

So vergingen die Jahre, in denen ich mindestens zweimal die Woche zum Training ging und Wettbewerbe in meiner Altersklasse absolvierte. Dabei lief es mal besser, mal schlechter, ein stetiges Besserwerden gab es bei mir nicht. Ich hatte glanzvolle Höhepunkte, musste aber auch bittere Niederlagen hinnehmen, so dass weder ich selbst noch die anderen, insbesondere der Trainer, wussten, wie sie mit mir dran waren, ob ich das Zeug zu einer glanzvollen Tenniskarriere hätte oder nicht. So gelangte ich von der Gruppe der 14-jährigen zu den 16-jährigen und schließlich zur Gruppe der 18-jährigen. Natürlich konnte ich vieles an meinem Spiel verbessern, gerade was den Aufschlag anbelangte, aber ein richtiger Durchbruch zu einem beständigen Leistungsniveau gelang mir nicht.

4

Die Schule vernachlässigte ich nicht, das hatte ich ja meinem Vater versprochen.

Zum Glück tat ich mich am Gymnasium nicht allzu schwer; ich war nicht sehr anspruchsvoll, was die Noten anbelangte und zufrieden, wenn ich keine schlechteren Zensuren als befriedigend nach Hause brachte. Bis auf Englisch, wo ich die Vier in meiner gesamten Schulzeit nicht wegbrachte, gelang mir das ohne allzu großen Aufwand. Die Grammatik in Englisch kapierte ich nie, nur mit einem großen Wortschatz hielt ich mich über Wasser und konnte es tatsächlich in der elften Klasse mit der erwarteten Note, eben ausreichend, ablegen. Mein Vater stellte mir immer meine Schwester als großes Vorbild hin und hoffte, allerdings vergeblich, in mir da einen Ehrgeiz wecken zu können. Dass meiner Intelligenz Grenzen gezogen waren, merkte ich bald, aber es war nichts, was mich belastet hätte.

Eher litt ich darunter, dass ich beim Fußballspielen nicht die glücklichste Figur abgab; man stellte mich in die Verteidigung, weil ich da nicht allzu großen Schaden anrichten konnte. Die anderen versuchten, so gut es ging, mir keinen Ball zuzuspielen, da er mir vom Gegner oft abgenommen wurde. Kam ein Gegner mit dem Ball auf mich zu, war ich froh, wenn es mir gelang, ihn ins Aus zu befördern. Ich spielte sehr gerne, aber leider nicht sehr gut und so war ich fast immer der letzte, der bei der Wahl in eine Mannschaft aufgerufen wurde. Ich nahm es aber den anderen nicht übel, ich kannte ja meine Begabung.

Im Sportunterricht konnte ich kaum glänzen. Barren und Ringe waren mir richtig verhasst und im Weitsprung schaffte ich nur Mittelmaß. Am meisten Spaß machte mir Hochsprung; da konnte ich mit den anderen ganz gut mithalten.

Aber dann kam der Tag, an dem ich fast ein albtraumartiges Erlebnis hatte. Bocksprung war angesagt. Vor dem Bock lag ein Absprungbrett und man musste mit Anlauf auf dem Brett aufspringen und über den Bock grätschen. Wir waren der Reihe nach entsprechend der Größe aufgestellt, so dass ich im hinteren Drittel lag. Nachdem unser Lehrer, der viel zu dick war, als dass er die Übungen hätte vormachen können, die besten jeweils zum Vorturnen herausgesucht hatte und sie die Übung mit Bravour absolviert hatten, kam der Rest der Klasse an die Reihe. Wer durch war, stellte sich wieder hinten an. Es schien nicht schwer zu sein, denn es gelang allen und jetzt war ich an der Reihe. Ich nahm Anlauf, sprang auf dem Brett auf – aber was war das? Es war mir unmöglich, nach vorne abzuspringen, um über den Bock zu grätschen. Wie eine unüberwindliche Mauer türmte er sich vor mir auf und ich wich zur Seite aus. Da man von mir sowieso keine tollen Leistungen erwartete, nahm kaum jemand davon Notiz, aber ich selbst war darüber äußerst bestürzt. Ich wusste gar nicht, was vor sich gegangen war, ich konnte einfach nicht springen. Ich stellte mich wieder an und versuchte es ein zweites Mal. Wenn alle anderen es schaffen, musste ich es doch auch können. Diesmal nahm ich einen stärkeren Anlauf, sprang mit aller Kraft auf das Brett und – wieder tat sich in mir eine unüberwindliche Blockade auf und ich schaffte es gerade noch, zur Seite wegzutauchen. Jetzt wurde ich richtig wütend; das gibt es doch nicht, dass ich nicht schaffe, was allen anderen gelingt. Wieder stellte ich mich an und sah den anderen genau zu, wie sie es machten. Es sah ganz leicht aus: schneller Anlauf, kräftiges Abspringen, mit den Händen kurz auf den Bock greifen und mit gegrätschten Beinen hinüberspringen. Das musste doch zu schaffen sein! Als ich wieder an der Reihe war, nahm ich alle Kraft und allen Mut zusammen, sauste los und sprang mit solcher Wucht ab, dass ich nicht mehr zur Seite ausweichen konnte. Ich prallte mit dem Unterleib an den Bock, dass mir die Luft wegblieb. Meinen Bauch haltend begab ich mich zur Sitzbank. Zu meiner großen Verblüffung gab es keine hämischen Bemer-kungen, wie es eigentlich in solchen Fällen üblich ist, eher mitleidiges Raunen. Wahrscheinlich sahen alle einschließlich des Lehrers, wie verzweifelt ich mich abgemüht hatte, den Bocksprung zu schaffen. Aber die Mauer, die sich in mir auftat, war unüberwindlich. Es war mir unbegreiflich, ich stand vor einem Rätsel; da gab es etwas in mir, was stärker war als ich, das ich auch mit der größten Anstrengung nicht überwinden konnte; das machte mich sehr nachdenklich.

Ich bin nicht Herr über mich, da ist einer, der mehr Macht hat über mich als ich selbst. Wer ist das? Ein tieferes Ich als ich? Welche Bewandtnis hat es mit mir, wer bin ich eigentlich, wer ist der, den ich als Ich bezeichne? Möglicherweise lag hier der Beginn meines intensiven Nachforschens über das, was man gemeinhin als Ich bezeichnet. Wer bin ich, wer bin ich wirklich einschließlich dem, was ich von mir nicht kenne, was aber doch irgendwie zu mir gehört? Bin ich zwei, ist es das, was mit den zwei Seelen in der Brust gemeint ist? Was hatte ich da für Probleme, die offensichtlich andere nicht hatten? Das herauszufinden, wurde mir zur Lebensaufgabe, ohne dass ich sie mir gesucht hätte, sie drängte sich einfach auf. Welch schmerzhafter Weg damit verbunden sein sollte, das zeigte sich zum Glück erst später. Aber mein Grübeln war schon ein vorausgeworfener Schatten. Kein Wunder, dass ich nicht so leichten Fußes durch die Welt tänzeln konnte wie ich es von vielen anderen erlebte. In die Tiefe bohren, das war mir ein Bedürfnis, zu ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das hätte ich gar nicht erst in Goethes Faust lesen müssen, das war mir in die Wiege gelegt worden, es ist das Verstehen wollen, wie das Innere beschaffen ist.

Als ich dann zum Tennisspielen anfing und sich langsam zeigte, wie ernst es mir damit war, verwunderte das die meisten und eigentlich auch mich selbst. Aber Tennisspielen ist doch etwas ganz anderes als Barrenturnen, Bockspringen oder Fußballspielen, obwohl viele Tennisspieler auch gute Fußballspieler waren; bei mir war das anders. Das regelmäßige Training tat mir gut, es war ein herrlicher Ausgleich zum Lernen, das ich manchmal richtig lästig fand. Körperliche Bewegung brauchte ich einfach, um mich wohl zu fühlen, und oft musste ich mich zwingen, das Training abzubrechen, weil ich noch für die Schule arbeiten musste, gerade, wenn in den nächsten Tagen Prüfungen anstanden.

Es gab aber durchaus Fächer, die mir Spaß machten, eines davon war Biologie. Etwas über die Tiere zu erfahren, war mir ein Bedürfnis, besonders die Vogelwelt interessierte mich. Aber leider erfuhren wir viel mehr über die Anordnung der Ganglien beim Regenwurm als über die Lebens- und Verhaltensweise der Tiere. Der Unterricht beschäftigte sich mehr mit den toten Tieren als den lebendigen.

Auf die Palme brachte es mich, als eines Tages der Biologielehrer allen Ernstes behauptete, dass Tiere keinen Schmerz empfinden. Ich war fassungslos und konnte nicht verstehen, wie man so einen Unsinn glauben konnte. Wenn man einem Hund auf den Schwanz tritt, dann jault er doch; ist denn das kein Ausdruck von Schmerz? Nein, wurde ich belehrt, das ist menschliches Denken und man kann nicht beweisen, dass ein Hund genau so empfindet wie der Mensch. Was mich aber am meisten verblüffte, war, dass ich der einzige in der Klasse war, der sich mit Eifer gegen diesen Unsinn einsetzte. Die anderen nahmen das eben als wissenschaftliche Erkenntnis hin oder es war ihnen einfach gleichgültig.

Nicht sehr beliebt machte ich mich bei meinen Klassenkameraden, als ich meine Einwände gegen die Evolutionslehre vorbrachte. Da begegnete ich nicht nur beim Lehrer, sondern auch bei meinen Mitschülern auf größtes Unverständnis. Wie konnte einer die offensichtlichsten Tatsachen leugnen, die wissenschaftlich derart abgesichert waren wie die Darwin’sche Lehre? Aber wenn ich es richtig verstanden hatte, dann waren die entscheidenden Punkte, dass die Entstehung der Arten durch Mutation und Selektion bewirkt wurde, das heißt durch zufällige Fehler in der Weitergabe des Erbgutes und Umweltbedingungen, die dem so veränderten Lebewesen einen Vorteil verschafften. Es leuchtete mir einfach nicht ein, dass durch einen Fehler, der noch dazu meistens tödliche Folgen für das Individuum hatte, eine neue Art entstehen sollte. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass durch einen einzigen Fehler eine solche Veränderung bewirkt würde. Meiner Meinung nach mussten zur gleichen Zeit bei einem Individuum eine ganze Menge von Mutationen, also Fehlern stattfinden, wenn es zu einem neuen Organ, wie zum Beispiel einem Auge, kommen sollte, und gleichzeitig müsste es an veränderte Umweltbedingungen besser angepasst sein. Und das rein zufällig. Das konnte ich einfach nicht glauben, es wäre ja, wie wenn eine Katze auf einer Schreibmaschinentastatur herumhüpfte und am Schluss Goethes Faust als Ergebnis herauskäme. Und das konnte doch wohl niemand annehmen. Dass durch Mutation und Selektion kleinere Veränderungen stattfanden, dass sich zum Beispiel bei einem Leguan Schwimmhäute zwischen den Fingern bilden, wenn er im Wasser lebt und einem anderen Krallen, der in felsigem Gelände zurechtkommen muss, das glaubte ich schon. Aber eine neue Art?

Auch dass nur der Stärkste überleben sollte, konnte ich nicht nachvollziehen. Nach so vielen Millionen Jahren dürfte es dann doch längst keine Schwachen mehr geben, und ein Löwe ist doch dankbar dafür, dass es Schwache gibt, die er als Beute für sich und seine Jungen brauchen kann. Ich sah darin einen unglaublich weisen Plan, jede Art wurde durch andere Arten genau in dem Maß in Grenzen gehalten, dass sie überleben konnte, auf der anderen Seite aber auch nicht überhand nahm. Und die kleinste Mücke, die vom Wind erfasst und irgendwohin geweht wird, der Mull, der keine Augen hat und bestens zurecht kommt, die Fledermaus mit ihrem Sonarsystem, die Fangtechnik von Orkas, die einen Heringsschwarm umkreisen und so viele Luftblasen erzeugen, dass die Heringe völlig orientierungslos und damit leichte Beute werden – das alles sollte rein zufällig entstanden sein, ohne intelligente Absicht, ohne Plan?

Ich konnte einfach nicht glauben, dass in dem ganzen Entwicklungsprozess nicht eine zielgerichtete Absicht steckt, die letztlich den Menschen hervorbrachte, wobei ich nicht in erster Linie die körperliche Gestalt meine. Ich könnte mir genauso gut vorstellen, dass ein Delphin oder ein Lebewesen in einer völlig anderen Körperform bewusstseinsmäßig schon so weit oder vielleicht sogar noch weiter ist als der Mensch. Den Menschen mit Seele und Geist als reines Zufallsprodukt anzusehen, war mir unmöglich. Ich glaubte an eine vorwärtstreibende intelligente Kraft in dem ganzen Unternehmen „Welt“, deren Ziel ein Mensch ist, den es heute noch kaum gibt, jedenfalls nur in ganz wenigen Vertretern; einer davon ist für mich Jesus von Nazareth. Aber es gibt auch andere, an denen sichtbar wird, was ich als Ziel der Evolution ansehe, und es gibt sie in allen Religionen und Kulturkreisen, zum Beispiel bei den Indianern, die darum bemüht sind, im Einklang mit der Natur zu leben und sie nicht zu zerstören, so wie wir es in großem Stile tun.

Da half mir bei meinem Denken ein Mann, den ich durch unseren Religionslehrer kennengelernt habe. Religion war ein weiteres Fach, das zu meinen Lieblingsfächern zählte. Da hatte ich immer eine Eins, wobei es aber nicht schwer war, in Religion eine Eins zu bekommen, denn eine schlechtere Note als Zwei gab es gar nicht. Der Religionslehrer ließ klar erkennen, wie unwichtig für ihn die Noten waren. Durch ihn habe ich von Teilhard de Chardin erfahren. Dieser Mann war ein jesuitischer Wissenschaftler, Biologe, Anthropologe und Paläontologe. Er hatte unter anderem den Peking-Menschen entdeckt. Und er hat eine Sicht der Dinge entwickelt, wie sie ganz meinen Vorstellungen entgegenkam. Für ihn hatte die Materie eine Innen- und eine Außenseite. Die Außenseite war die sichtbare Welt und die evolutiven Vorgänge in ihr waren die Innenseite. Angefangen von der Existenz der Materie über die Entstehung des Lebens, der Pflanzen, der Tiere bis hin zum Menschen, der aber noch nicht den Schlusspunkt darstellt, sondern in einem nächsten großen Schritt zu dem führen sollte, was Teilhard als Christogenese bezeichnete, also einen Menschen, wie er in Jesus sichtbar geworden ist, wäre Wirkung der Innenseite, des göttlichen Geistes, der diesen materiellen Prozess vorantrieb. Das war für mich wie eine Offenbarung, das leuchtete mir ein, so könnte man sich das Weltgeschehen vorstellen.

5

Ich muss wohl interessierte Fragen gestellt haben, auch schon bei der Besprechung von „Verlust der Mitte“, denn eines Tages sprach mich der Religionslehrer nach der Unterrichtsstunde an und fragte mich, ob ich nicht am Sonntag zum Gottesdienst kommen wollte. Eigentlich war ich kein begeisterter Kirchgänger, Religion und Kirche waren für mich zwei verschiedene Dinge. Nur meinem Vater zuliebe ging ich öfters, obwohl er selber auch nicht in die Kirche ging, aber von seinen Kindern verlangte er es. Das religiöse Zeremoniell sprach mich wenig an und die Predigten langweilten mich. Aber das Singen gefiel mir sehr, wenn es nur lebendigere Lieder gewesen wären und mehr Gottesdienstbesucher mitgesungen hätten. Ich litt sehr darunter, dass kaum jemand beim Singen den Mund aufmachte und mit „O Haupt voll Blut und Wunden“ konnte man mich regelrecht zur Kirche hinausjagen.

„Überleg es dir“, sagte er, nachdem er mir beschrieben hatte, wie ich das Haus finden konnte, in dem der Gottesdienst stattfinden würde, und ging die Treppe hinunter.

„Ich weiß nicht“, ging es mir durch den Kopf, meine Gefühle waren gespalten. In einem Haus sollte der Gottesdienst stattfinden und nicht in einer Kirche? Und warum spricht er ausgerechnet mich an und nicht auch andere? Interessieren würde es mich schon und am Sonntagvormittag hätte ich Zeit, zum Training ging ich ja erst nachmittags.

Als ich am Sonntag nach dem Gottesdienst nach Hause kam, erzählte ich ganz begeistert meinem Vater von dem eben Erlebten. Die Messfeier hatte in einem ganz normalen, großen Raum stattgefunden. Alle saßen in einem Kreis, der an einer Stelle durch einen schlichten Tisch unterbrochen war, auf dem zwei Kerzen brannten. Unser Religionslehrer saß auf einem Stuhl hinter dem Tisch und links und rechts von ihm schloss sich der Kreis. Als das erste Lied gesungen wurde – es war ein Liederheft ausgeteilt worden – war ich überwältigt. Alle sangen kräftig mit, ohne dass eine Orgel oder sonst ein Musikinstrument gespielt worden wäre, und ich versuchte zaghaft vom Blatt und getragen von den vielen Stimmen, mitzusingen. Ein solches lebendiges, frohes Singen hatte ich noch in keiner Kirche erlebt. Und die Predigt – zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich eine Predigt, die mit meinem Leben etwas zu tun hatte und die einige von den Fragen beantwortete, die ich schon lange mit mir herumtrug.

Mein Vater spürte meine Begeisterung und eigentlich hätte er zufrieden sein müssen, dass ich so für einen Gottesdienst schwärmte. Aber scheinbar machte ihn mein Überschwang misstrauisch, und was ich von der Messfeier erzählte, war nicht dazu angetan, seine skeptische Haltung zu verscheuchen, denn nicht nur, dass die Hostie in Form eines echten Stück Brotes gereicht wurde, nahm auch jeder aus dem Kelch einen Schluck Wein. Das war für ihn schon hart an der Grenze zur Ketzerei; meine Maßstäbe waren da andere.

***