Der Glanz einer Sternennacht - Karen Swan - E-Book

Der Glanz einer Sternennacht E-Book

Karen Swan

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Beschreibung

Ein Schloss in Irland, ein rauschendes Fest und drei Schwestern, die nach den Sternen greifen …

Lorne Castle – majestätisch thront das Anwesen über der rauen Westküste Irlands, seit Generationen ist es in Familienbesitz. Doch damit soll jetzt Schluss sein, denn Sir Declan Lorne hat es ausgerechnet seiner jüngsten Tochter Willow vermacht, die es schnellstmöglich verkaufen will. Die älteren Töchter Ottie und Pip sind entsetzt. Einst standen die Schwestern einander sehr nahe, doch nun trennen sie zahlreiche Geheimnisse. Als der attraktive neue Schlossherr Connor Shaye zu einem rauschenden Weihnachtsfest lädt, treffen sie sich ein letztes Mal in Lorne Castle. Eine denkwürdige Nacht, in der sich nicht nur die drei Schwestern näherkommen …

Der neue Weihnachtsroman von Bestsellerautorin Karen Swan – die perfekte Lektüre zum Fest der Liebe.

»Karen Swan schreibt die bezauberndsten Weihnachtsromane.« The Visitor

»Herrlich glamourös und unwiderstehlich romantisch.« Hello!

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Karen Swan

Der Glanzeiner Sternennacht

Roman

Aus dem Englischen von Gertrud Wittich

Buch

Lorne Castle – majestätisch thront das Anwesen über der rauen Westküste Irlands, seit Generationen ist es in Familienbesitz. Doch damit soll jetzt Schluss sein, denn Sir Declan Lorne hat es ausgerechnet seiner jüngsten Tochter Willow vermacht, die es schnellstmöglich verkaufen will. Ihre Schwestern Ottie und Pip sind entsetzt. Einst standen die drei jungen Frauen einander sehr nahe, doch nun trennen sie zahlreiche Geheimnisse. Als der attraktive neue Schlossherr Connor Shaye zu einem rauschenden Weihnachtsfest lädt, treffen sie sich ein letztes Mal in Lorne Castle. Eine denkwürdige Nacht, in der sich nicht nur die drei Schwestern näherkommen …

Autorin

Karen Swan arbeitete lange als Modejournalistin für Zeitschriften wie Vogue, Tatler und YOU. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihren drei Kindern im englischen Sussex. Wenn die Kinder sie lassen, schreibt sie in ihrem Baumhaus Romane.

Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Christmas Party« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © der Originalausgabe 2019 by Karen Swan Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Zero Media nach einem Design von Pan Macmillan Umschlagmotiv: © Jan Tong/Getty Images; © De Agostini/Getty Images; © Shutterstock Redaktion: Ann-Catherine Geuder LS · Herstellung: KW Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-25529-9V002 www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für Jo Nana – gemeinsam am Rande des Nervenzusammenbruchs

Prolog

Der Brief flatterte wie ein Herbstblatt aus dem Buch, wie eine Jacht, die aufs offene Meer hinausglitt, von jeder Verankerung befreit.

Sie musterte ihn genau. Die Schrift kam ihr bekannt vor, doch sie vermochte nicht zu sagen, woher. Der obere Rand des Umschlags war eingerissen, wo er offenbar hastig geöffnet worden war, und das »e« am Ende des Namens war ein wenig verwischt, als wäre ein Sekttropfen daraufgefallen. Oder eine Träne?

Es war bloß irgendein Brief. Dennoch hatte sie die Vorahnung von etwas Verhängnisvollem. Wie ein Reh im Gras witterte sie eine Gefahr, die sie noch nicht sehen konnte. Ein unschuldiger, harmloser Moment war plötzlich ins Gegenteil umgeschlagen. Alles hing jetzt davon ab, was als Nächstes kam. Mit angehaltenem Atem überflog sie die Zeilen. Und ihr wurde klar, dass sie längst verloren hatte. Wie dem Reh blieb ihr nur eine Wahl.

Die Flucht anzutreten.

1. Kapitel

Dienstag, 26. November 2019 Lorne Castle, Kilmally, Irland

Der Adel ist ein alter Zopf, der abgeschnitten gehört!«

»Auweia, ich glaube, er hat einen in der Krone«, flüsterte Pip ihrer Schwester Ottie zu, die ebenfalls skeptisch dreinblickte, während die Worte ihres Vaters durch den Saal hallten.

»Ja, ihr habt richtig gehört«, bekräftigte Declan Lorne. »Teufel noch mal, mir bedeutet er nicht mehr als die Socken an meinen Füßen!« Er schüttelte seine Samtpantoffeln ab – auf die das Familienwappen in Gold gestickt war – und zeigte stolz seine roten Socken vor, die leider ein Loch hatten, aus dem ein dicker weißer Zeh hervorschaute. Die anwesende Gästeschar kicherte betreten.

»Dec, die waren noch ganz neu!«, rügte ihn seine Frau und schüttelte anmutig den Kopf.

Aber Declan grinste nur, und auch seine Gäste, die den beschwerlichen Weg auf sich genommen hatten, um die Familie in ihrem abgelegenen Herrenhaus aufzusuchen, begannen jetzt ungeniert zu lachen. Alle, die nicht aus der Gegend stammten oder sich per Hubschrauber hatten einfliegen lassen, hatten eine einstündige Fahrt vom Flughafen Cork in Kauf genommen, über einspurige Landstraßen, die nicht selten von Kuhherden blockiert wurden oder durch Furten und über schmale Brücken führten.

»Ich wollte nur klarstellen, wie wichtig mir dieser Punkt ist, Liebes.« Declan betrachtete seine Frau mit einem Blick, aus dem seine leidenschaftliche Liebe zu ihr sprach. »Keiner, der heute Abend von hier fortgeht, darf im Zweifel sein, dass mir auch nur das Geringste an diesem blöden Adelstitel liegt, der mit mir aussterben wird. Der Herrgott hat uns mit drei wunderschönen, begabten Töchtern gesegnet. Ich würde keine von ihnen für einen bloßen Titel eintauschen.«

»Hätte er aber bestimmt gerne, als ich damals sein Gewehr mit Vaseline geputzt habe«, flüsterte Pip ihrer Schwester zu und versetzte ihr einen verstohlenen Stoß gegen die Rippen.

»Ja, wenn er dich gekriegt hätte«, flüsterte Ottie grinsend zurück. »Du hast dich zwei Tage lang im Bootshaus versteckt, wenn ich mich recht erinnere.«

In Pips grünen Augen lag ein schelmisches Funkeln. Mit ihrem kurz geschnittenen rotbraunen Haar, der vorwitzigen sommersprossigen Nase und der eher knabenhaften Figur wirkte sie wie ein Kobold, dem alles zuzutrauen war. Sie wackelte vielsagend mit den dunklen Augenbrauen. »Aye, und als ich mich dann schließlich wieder zurückgetraut habe, war er so erleichtert, dass er ganz vergessen hatte, wieso ich ursprünglich ausgebüxt war.«

»Ja, du konntest ihn schon immer gut um den kleinen Finger wickeln«, beklagte sich Ottie halb scherzhaft.

»Ach was! Da hatte ich ausnahmsweise Glück. Aber du … dir würde er sogar einen Mord verzeihen.«

»Was?«, zischte Ottie entsetzt.

Pip grinste. »Jetzt spiel nicht die Naive. Du warst immer schon sein ganz besonderer Liebling. Die Erstgeborene. Die Vollkommenheit in Person.«

Otties Grinsen erlosch. Vollkommen? Nein, das war sie nicht. Eher im Gegenteil … Mit sektgetrübtem Blick betrachtete sie ihre Eltern. Ihr Vater hatte den Arm um Serenas Taille geschlungen und zog sie jetzt fester an sich. Ihre zierliche Mutter schmiegte sich daraufhin wie ein Fuchs in seine Armbeuge. Er küsste sie unter lauten Ahs und Ohs. Dies war ihr dreißigster Hochzeitstag – und sie waren noch genauso verliebt wie zu Anfang. Eine mittlerweile im Bekanntenkreis fast legendäre Liebe.

»Ohne Serena wäre es schon vor Jahren mit mir bergab gegangen«, fuhr Declan fort. »Sie ist mein Anker und mein Leitstern. Und leicht hat sie es mit mir weiß Gott nicht. Trotzdem hält sie’s jetzt schon seit dreißig Jahren mit mir aus. Hat dieser alten Burg neues Leben eingehaucht und sie zu einem Zuhause für unsere drei wunderbaren Mädchen gemacht.«

Er ließ den Blick durch den hohen Eingangssaal schweifen, bis er seine Töchter entdeckte. »Seht sie euch an! Solche Schönheiten findet man weit und breit nicht noch einmal!«, rief er stolz.

Zustimmender Jubel. Pip stöhnte laut auf, und Ottie verdrehte die Augen.

»Wenn er nur nicht immer so schrecklich sentimental werden würde, wenn er was getrunken hat!«, flüsterte Pip peinlich berührt und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.

»Ja, ich bin ein Glückspilz, denn wer hat schon vier so schöne Frauen in seinem Leben? Auch wenn ich gestehen muss …« Er legte eine Kunstpause ein und fasste sein Publikum fest ins Auge. Declan verstand sich darauf, seine Zuhörer zu fesseln. »… dass ich nicht immer so gedacht habe.« Ottie hob überrascht den Kopf und bemerkte, dass der Blick ihres Vaters jetzt direkt auf sie gerichtet war. Seine sonst so fröhlich funkelnden Augen wirkten ungewöhnlich ernst. »Aber das hat sich geändert, bei Gott, das hat sich geändert.«

Die dicken Wände der Burg und die fröhlich bunte Feier verblassten und traten in den Hintergrund. Sie nahm nichts mehr wahr außer diesen Blick, mit dem er ihr mehr verriet, als sich mit Worten sagen ließ …

»Viele von euch werden natürlich bemerkt haben, dass unsere Jüngste, unsere Willow, heute nicht hier sein kann.« Seine Stimme verlor für einen Moment die gewohnte Munterkeit. »Überflüssig zu sagen, dass wir sie schwer vermissen. Mehr, als sie je wissen wird.«

Pip neben ihr sog scharf die Luft ein. Was sollte das bloß werden? Eine Art Beichte? Doch schon löste Declan den Blick von seinen beiden Töchtern und richtete ihn wieder auf seine Gäste. Das fröhliche Funkeln kehrte in seine Augen zurück. Das hier war schließlich eine Party!

»Aber sie hat nun einmal Verpflichtungen«, ging er über ihre Familiengeheimnisse hinweg, als würde er über eine Pfütze steigen und nicht über einen tiefen See. »Sie ist schließlich schwer beschäftigt. Das hektische Leben in der Großstadt. Außerdem, wieso sollte sie den weiten Weg von Dublin hierher auf sich nehmen, nur um mit ein paar alten Säcken wie uns zu feiern?«

Brüllendes Gelächter.

»Ja, meine Freunde, Leugnen hilft nichts: Unsere Zeit ist vorbei! Aber immerhin sind wir heute Abend noch mal alle hier zusammengekommen.«

»Und ob! Das kannst du laut sagen!«, riefen einige.

Declan lachte, und seine rosigen Wangen waren röter denn je. »Also, mein Dank an alle, dass ihr die mühsame Anfahrt auf euch genommen habt und hergekommen seid, um den heutigen Tag mit uns zu feiern! Lasst uns anstoßen auf die Frauen in meinem Leben: Auf meine geliebte Frau Serena …«

»Auf Serena!«, brüllten alle, und ihre Mutter lächelte geheimnisvoll. Sie hatte sich ihre gute Figur und ihr gutes Aussehen bewahrt und war es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen.

»Auf meine wundervollen Töchter Ottie und Pip!«

»Auf Ottie und Pip!«

»Und natürlich auch auf Willow, mein kleines Vögelchen, das das Nest verlassen hat.«

»Auf Willow!«

Ottie stieß mit Pip an, die Brauen bezeichnend hochgezogen. »Auf Willow«, wiederholten sie wehmütig.

Croke Park, Dublin, am selben Abend

Willow spürte die Vibrationen tief in ihrem Brustkorb, in ihren Rippen. Den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen, schwenkte sie die Arme und grölte wie alle anderen die Songtexte mit. Wäre der Himmel ein Deckel, der auf der Erde ruhte, er wäre von der schieren Energie, die im Stadion herrschte, weggesprengt worden: Laserstrahlen kreuzten sich am Nachthimmel, Tausende Handylampen leuchteten wie Glühwürmchen in der Menge, wurden zum Takt der Musik geschwenkt. Farbige Muster wogten auf den riesigen dreistöckigen Bildschirmen, die an den Seiten der Bühne angebracht waren. Die Band selbst war von ihrem Platz in den oberen Rängen zwar nur stecknadelgroß zu sehen, aber dank modernster Soundtechnik drang Bonos Stimme so klar an Willows Ohr, als würde er direkt neben ihr stehen.

Sie hatte eine Gänsehaut, und die Härchen an ihren Unterarmen sträubten sich, was jedoch nicht an der perfekten, millionenschweren Show lag, sondern vielmehr am Gemeinschaftsgefühl, das die achtzigtausend Stadionbesucher vereinte. Es war ein Gefühl wie kein anderes – aufzugehen in einer Gemeinschaft mit anderen, im Rausch der Gefühle, achtzigtausendfach verstärkt. Wie lebendig sie sich fühlte! Dieses Hochgefühl war es, das sie ununterbrochen suchte. Es war ihre Droge.

Ihre Freundin Caz hüpfte neben ihr auf und ab, die Faust in die kalte Novembernacht gereckt, und sang, nein brüllte den Song, so laut sie konnte, mit. Sie hatte zur Jeans nur ein T-Shirt an, aber irgendwie spürte man die Kälte nicht mehr, seit der erste Bassakkord durch die Arena gedröhnt war und die Lasershow begonnen hatte. Caz’ langes blondes Haar schwang hin und her, wobei immer wieder die tätowierte Schwalbe an ihrem Nacken zum Vorschein kam. Die kleinen Kreolen, die ihr linkes Ohrläppchen fast vollständig bedeckten, blinkten im Stroboskoplicht. Sie hörte mitten in einer Strophe auf zu hüpfen, um gierig einen Schluck Bier zu trinken. Ihre verblüfft-wütende Miene, als sie feststellen musste, dass nur noch ein kleiner Schluck übrig war, brachte Willow zum Lachen. Die Freundin brauchte einige Sekunden, ehe ihr klar wurde, dass sie sich das Gebräu beim Hüpfen über Jeans und Stiefel geschüttet hatte. Sie blickte Willow perplex an.

»Ich besorge uns noch was!«, brüllte Willow und nahm ihr den Becher aus der Hand.

»Aber ich bin doch dran!«, brüllte Caz.

»Ich weiß, aber ich muss sowieso mal pinkeln«, erwiderte Willow schulterzuckend.

Caz grinste begeistert und hob beide Daumen. »Okay, bis dann!«

Sie war eine unkomplizierte Seele, zierte sich nie, versuchte nie, anderen etwas vorzumachen. Bei ihr wusste man immer, woran man war. Das war einer der Gründe, warum es mit ihrer WG so gut klappte. Es gab so gut wie nie Streit oder Diskussionen darüber, wer wieder einmal Milch zu kaufen vergessen oder den letzten Becher Hummus verbraucht hatte, keine passiv-aggressiven Bemerkungen über herumliegende Schuhe, über die man stolperte, oder nasse Jeans, die tagelang in der Waschmaschine vergessen worden waren. Caz besaß eine direkte, ungekünstelte Ehrlichkeit, die Willow nicht nur an ihr schätzte, sondern die sie geradezu brauchte. Echt sein. Authentisch sein. Verdammt noch mal nicht lügen.

Willow nahm ihren und Caz’ Becher und machte sich auf den Weg nach unten, über die Stufen zwischen den Sitzreihen und vorbei an den Ordnern, die die Zugänge zu den Katakomben bewachten, wo sich Toiletten und Erfrischungsstände befanden. Es herrschte dort wie immer reger Betrieb: Leute hetzten zu und von den Toiletten, standen vor Merchandise-Buden an oder drückten sich an den Bars herum, wo Bier und andere Getränke ausgeschenkt wurden. Willow warf einen genervten Blick auf die lange Schlange vor der Damentoilette und beschloss, es doch noch aushalten zu können, bis sie zu Hause wäre.

Sie ging stattdessen zum nächsten Getränkestand. Die Leute standen immer noch in drei Reihen an der Bar, aber das war nichts gegen das Gedränge vor Beginn des Konzerts, als man sich durch zwanzig Reihen hatte wühlen müssen. Willow war mittlerweile ein alter Konzerthase und suchte aufmerksam nach einer Schwachstelle in der Belagerung, nach einer Lücke im Wall. Und tatsächlich tat sich am rechten Rand eine Öffnung auf, in die sie sogleich hineinschlüpfte. Ha! Sie war unversehens in die zweite Reihe vorgestoßen und hatte jetzt nur noch einen Mann vor sich.

Die Menge schloss sich unverzüglich wieder hinter ihr, nachdem man das Versehen – zu spät – bemerkt hatte. Aber Willow stellte die Ellbogen aus, machte sich ein wenig breiter und ließ sich nicht wieder verdrängen. Der Typ vor ihr bekam soeben das Gewünschte – sechs große Becher Bier –, und Willow fragte sich unwillkürlich, wie er die ohne Tablett transportieren wollte.

Die hintere Seite der Bar war verspiegelt, und Willow überprüfte während des Wartens kurz ihr Aussehen. Sie erkannte sich selbst erst nach ein paar Sekunden. Eigenartig, sich plötzlich inmitten einer Menge zu erblicken, sich gleichsam mit den Augen eines Fremden zu betrachten: dickes, schulterlanges, ein wenig sprödes, fast schwarzes Haar, stahlblaue, dick mit schwarzem Kajal umrandete Augen in einem schmalen Gesicht mit vollen Lippen. Zahlreiche Ringe am Ohrläppchen, ein schwarzes »Hot Lips« T-Shirt, das sie während des Sommerkonzerts der Rolling Stones im vergangenen Jahr erstanden hatte. Sie brauchte ihre enge schwarze Jeans und die Schnallenstiefel gar nicht anzusehen, um zu wissen, dass ihre Aufmachung absolut passend war. Wer sie sah, würde nie und nimmer auf den Gedanken gekommen, dass sie die Tochter eines irischen Ritters war.

Der Typ vor ihr hatte inzwischen bezahlt und klemmte sich drei Becher zwischen die Finger jeder Hand. Dann drehte er sich vorsichtig um, und die Menge wich unwillkürlich ein wenig zurück, um ihm Platz zu machen. Keiner wollte sich Bier auf die Klamotten schwappen lassen.

Willow ließ ihn ebenfalls vorbei und nahm dann rasch seinen Platz am Tresen ein. Sofort ergoss sich die Menge in die Lücken wie heißes Öl in einer Pfanne. Willow machte das nichts aus, sie war flink, geschickt und versiert in der Kunst, an Bier zu gelangen.

»Hi!« Willow stemmte die Ellbogen auf den klebrigen Tresen, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, und fing mit einem schelmischen Grinsen den Blick des Barmanns ein.

»Hi, was kann ich für dich tun?«, erkundigte der Barmann sich und beugte den Kopf dabei ein wenig vor, um ihre Antwort besser verstehen zu können.

»Vier Pints, bitte!«, rief sie ihm ins Ohr. Sie hatte keine Lust, sich noch mal anzustellen.

Er sah ihr in die Augen und nickte. »Kommt sofort.«

Willow grinste und schaute sich zufrieden um. Es war vielleicht unfair, aber hübsche Mädchen wurden nun mal bevorzugt bedient. Dagegen konnte auch die Meute gereizter Männer nichts ausrichten, die ihr Revier zu markieren versuchten, indem sie die Unterarme, mit zerknitterten Geldscheinen in den Fäusten, neben ihr auf die Bar schoben.

Sie warf erneut einen Blick in den Spiegel und bemerkte dabei, dass sie beobachtet wurde. Ein Typ in der hinteren Reihe mit kurz rasiertem Schädel und einer Rasiermessernarbe an der rechten Augenbraue. Er wirkte zappelig, aufgedreht. Ein bisschen gefährlich. Sie lächelte ihn spontan an, und er schob unwillkürlich das Kinn vor.

Dann senkte sie die Lider, aber das Grinsen wurde sie nicht los. Spannende Sache, das. Er stand zwei Reihen hinter ihr, und soeben traten noch ein paar Typen hinzu, die sich wiederum hinter ihm anstellten. Ob er seinen Platz aufgeben würde, um sie anzusprechen, wenn sie auf dem Rückweg war? War sein Interesse an ihr groß genug? Und das ihre an ihm?

In diesem Moment brummte ihr Handy, das in der Gesäßtasche ihrer Jeans steckte. Sie zog es heraus. Vielleicht war das ja Caz mit der Bitte, auch noch Chips mitzubringen? Wenn sie Bier trank, bekam sie immer Hunger.

»Ja?«, brüllte sie ins Handy und sah dabei zum Barmann, der gerade die Pints brachte.

»Willow?«

Ihr stockte der Atem. Wie vertraut diese Stimme klang. Auch wenn es schon eine Weile her war, dass sie sie zum letzten Mal gehört hatte. »Ottie?«

»Menschenskind, wo bist du denn gerade?«, hörte sie ihre Schwester erschrocken ausrufen.

»Unterwegs«, antwortete Willow ein wenig barscher als beabsichtigt. Es war der Schock, so plötzlich diese Stimme aus der Vergangenheit zu hören. »Was gibt’s denn?«

»Du musst nach Hause kommen.«

»Zwölf Euro«, verlangte der Barmann.

Sie blinzelte verwirrt. Das war zu viel auf einmal. »Ich …«

Sie tastete ihre Jeans nach Geld ab. Hatte sie nicht einen Zwanziger eingesteckt? Der Barmann wartete mit ausgestreckter Hand, und auch die Fäuste mit den Geldscheinen neben ihr klopften ungeduldig auf den Tresen. Selbst bei sehr hübschen Mädchen hatte die Geduld Grenzen. Sie fand den Schein und schob ihn stirnrunzelnd über die Theke.

»Nein«, sagte sie in ihr Handy. Denn so brutal das auch klang, so einfach war es doch: Sie würde nie wieder nach Hause zurückkehren.

»Willow, bitte, es ist dringend.« Ottie klang angespannt. »Du musst so schnell wie möglich nach Hause kommen.«

»Otts, es tut mir leid, aber ich habe Nein gesagt.« Sie nahm ihr Wechselgeld entgegen, und der Barmann richtete seine Aufmerksamkeit bereits auf den nächsten Kunden. »Das ist meine Antwort. Ich werde nicht …«

»Es geht um Dad!«, brach es aus Ottie hervor. »Er liegt im Sterben.«

Was?

Der Lärm verblasste, Willow nahm nichts mehr um sich herum wahr, weder die stampfende Musik noch das Stimmengewirr. Sie fühlte sich auf einmal schwerelos, substanzlos wie ein Gespenst.

Am anderen Ende der Leitung, hundertachtzig Meilen weit entfernt, in Cork, brach Ottie in Tränen aus. »Er wird die Nacht nicht überstehen«, stieß sie, nach Luft ringend, zwischen Schluchzern hervor. »Bitte, Willow, komm nach Hause!«

Sie umklammerte das Lenkrad noch ein wenig fester, als sie an dem Schild vorbeiraste, das verriet, dass sie sich ab sofort auf Heimatboden befand: Willkommen in Lorne. Bitte langsam durch die Ortschaft fahren.

Ausgeschlossen.

Die Nacht war bereits fortgeschritten, über ihr leuchteten die Sterne wie kleine Lämpchen in der Zeltdecke eines gigantischen Hochzeitspavillons. Abgesehen davon boten ihre Scheinwerfer die einzige Beleuchtung, weil die Straßenlaternen um diese Geisterstunde längst ausgeschaltet waren. Und auch in den Häusern, an denen sie in ihrem verlässlichen alten Golf vorbeibrauste, brannte kein einziges Licht mehr. Ihr Blick huschte über den Dorfanger und über die geduckten Cottages, die ihn umgaben. Die weiß-blau gestreiften Markisen an den wenigen Läden, die es im Dorf gab, waren natürlich eingerollt worden, und man hatte auch die Auslagen mit Obst und Gemüse hereingeholt.

Hier änderte sich nie etwas – oder wenn, dann nur sehr wenig. Vielleicht gab es einmal ein neues Schild für den Hare, den örtlichen Pub, oder es wurde eine Fahne am kurzen, gedrungenen Kirchturm gehisst, allerdings nur, wenn es ein Feiertag war. Mehr nicht. Sie wusste ganz genau, unter welchen Bäumen im Januar Schneeglöckchen blühen würden und im April Pfingstrosen; sie kannte den genauen Wortlaut der Widmung auf der Bank am Teich; und da war auch noch der alte Spielplatz – zweifellos klebte auch noch der Kaugummi auf der Unterseite der Wippe, den sie als Dreizehnjährige dort hingeklebt hatte.

Sie warf im Vorbeifahren einen Blick zum Friedhof, der zu ihrer Linken lag und auf dem so viele ihrer Vorfahren die letzte Ruhe gefunden hatten. Sie bemerkte den mit Moos überwucherten Engel, der mit gefalteten Händen und fromm gesenktem Kopf das größte Grabmal zierte. Willow fand ihn keineswegs tröstlich, im Gegenteil, sie hatte als Kind immer vor seinen unheimlichen, leeren Augen Angst gehabt. Sie konnte ihn nie ohne Schaudern ansehen. Vielleicht war sie nicht gläubig genug. Oder zu zynisch.

Sie brauste durchs Dorf und wieder hinaus auf die einspurige Landstraße, die auf beiden Seiten von mächtigen Platanen überschattet wurde, deren Zweige sich in der Mitte begegneten. Sie hatte diese Allee immer geliebt, vor allem nachmittags, wenn sie mit dem Rad auf dem Heimweg gewesen war. Wenn goldene Lichtflecken durch den dichten Laubtunnel gefallen waren und in den Zweigen die Finken gezwitschert oder die Tauben gegurrt hatten. Wann immer sie an zu Hause dachte, was dieser Tage nicht oft geschah, dann war es vor allem der Gedanke an diese grüne Allee, die sie mit Wehmut erfüllte – eine ihrer schönsten Erinnerungen.

Ihr Zuhause.

Sie konnte sie bereits sehen, die beiden stattlichen Steinsäulen, auf denen mit ausgebreiteten Schwingen Adler thronten. Die beiden reich verzierten gusseisernen Torflügel standen offen, als wollten sie sie willkommen heißen. In Wahrheit wurden sie so gut wie nie geschlossen. Mit wild klopfendem Herzen bog sie in die Auffahrt ein – breiter als die Landstraße zuvor –, und auf einmal weitete sich das Gelände um sie herum, und eine offene Parklandschaft lag vor ihr. Es ging in eine leichte Senke hinab, auf der mächtige alte Hemlocktannen mit steif nach oben gerichteten Zweigen wuchsen. Über ihr öffnete sich der samtschwarze Nachthimmel, und um sie herum lagen weite, froststarre Wiesen, vereinzelt durchsetzt mit uralten Eiben, deren Äste so dick waren, dass sie am Boden entlangzukriechen schienen wie Schlangen. Weiter hinten konnte man das Meer sehen, schimmernd wie Öl.

Ein Hirsch, der an den Zweigen einer Eberesche knabberte, hob beim Herannahen ihrer Scheinwerfer den Kopf. Und schon tauchten in deren Lichtkegel die schweren, massigen Umrisse der Burg aus honigfarbenem Kalkstein auf, deren Quader vor siebenhundert Jahren aus örtlichen Steinbrüchen gewonnen und zur Errichtung des Herrensitzes verwendet worden waren. Willow hatte schon als kleines Kind gespürt, dass ihr Zuhause etwas Besonderes, ja Außergewöhnliches war. Doch nun, wo sie es nach dreijähriger Abwesenheit zum ersten Mal wiedersah … Ihr Herz zog sich bei dem Anblick zusammen: die beiden wuchtigen quadratischen Türme mit ihren Schießscharten, dazwischen der abgeschrägte Mittelteil mit dem reich verzierten Eingangstor, zu dem Steinstufen hinaufführten, die von Balustraden flankiert waren … Lorne Castle erhob sich stolz und herrlich wie eh und je vor ihr.

Aber das hier war keine sentimentale Heimkehr der verlorenen Tochter. Das Anwesen war, anders als das Dorf, hell erleuchtet. In jedem Fenster brannte Licht, als ob die Burg in Flammen stünde. Als ob nur der Lichtschein die Dunkelheit fernhalten könnte, die gekommen war, sich ihren Vater zu holen.

Mit zitternden Fingern stellte sie den Motor ab und bemerkte dann die Autos ihrer Schwestern – Pips Land Rover, Otties altmodischen gelben Mini –, beide schief, hastig geparkt, geradezu panisch, dachte Willow.

Ihre Angst wuchs. Auf ihrer Fahrt durch die Nacht, quer durch ganz Irland, hatte sie sich einzureden versucht, dass es falscher Alarm sei, dass man sie, nachdem sie jeden Versöhnungsversuch ausgeschlagen hatte, womöglich auf diese Weise zu einer Rückkehr in den Schoß der Familie zwingen wolle. Aber nein, das hier war eine echte Krisensituation, das konnte sie spüren; es lag wie ein metallischer Geruch in der kalten Nachtluft. Sie sprang aus dem Wagen und rannte auf die Treppe zu. Von irgendwo ertönte der Ruf eines Käuzchens nach seiner Gefährtin, aber sie achtete nicht darauf. Zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte sie zur Eingangstür. In ihren punkigen Konzertklamotten kam sie sich fremd und fehl am Platz vor.

Sie zog die Eingangstür auf, deren Holz dick war wie ihr Unterarm. Wie angewurzelt blieb sie in der hohen Eingangshalle stehen. Ihr Blick huschte über das hohe Deckengewölbe, über die dunkle, fast schwarze Holzverkleidung der Wände und heftete sich schließlich auf die Freitreppe. Ihr beidseitiges Geländer war mit Wachholder- und Eukalyptuszweigen geschmückt, und auf jeder freien Fläche standen imposante Blumensträuße in mächtigen Vasen. Ein silbernes Banner war über die Treppe gespannt worden, auf dem Alles Gute zum Hochzeitstag zu lesen war. Es standen noch ein paar übervolle Aschenbecher herum, und am Fuß der Treppe, halb verdeckt durchs Geländer, lugte eine vergessene Whiskyflasche hervor. Sie wusste, ihre Eltern feierten heute ihren dreißigsten Hochzeitstag – schließlich hatte sie alles unternommen, um nicht daran denken zu müssen. Den Festschmuck jedoch nahm sie nur wie nebenbei wahr. Was sie am stärksten traf, war die verdammte Gleichförmigkeit dieses Ortes: Nichts hatte sich seit ihrer Abwesenheit verändert, rein gar nichts. Auf dem ersten Treppenabsatz stand wie immer die Harfe. Und zwischen Speisezimmer und gelbem Salon hielt wie immer »Rusty« Wache, die alte Ritterrüstung ihres Vaters, die einst dem ersten Ritter von Lorne gehört hatte. Auf dem Guéridon-Tischchen stand wie immer die Qing-Vase, und die alte Standuhr ging wie immer vier Minuten nach. Ihr Fortgang war das Einzige, was hier in den vergangenen drei Jahren für Veränderung gesorgt hatte.

Plötzlich drang ein gedämpfter Aufschrei an ihr Ohr. Er kam von oben, aus den Schlafzimmern. Mit geballten Fäusten und wild klopfendem Herzen rannte sie nach oben. Sie würde sich als Erstes entschuldigen, nahm sie sich vor. Vorwürfe waren jetzt unangebracht. Sie hatte sich ihr Leben schon viel zu lange von der Vergangenheit diktieren lassen.

Oben angekommen stolperte sie über die Kante eines der vielen kleinen Teppiche, die hier wie eine Patchworkdecke den Fußboden bedeckten, und versuchte, sich mit vorgestreckten Armen abzufangen. In diesem Moment ging eine Tür auf, und ein Paar Socken geriet in ihr Gesichtsfeld, zusammen mit den umgeschlagenen Säumen einer Hose, in denen sich ein paar Strohhalme verfangen hatten.

»Willow!«, rief Pip erschrocken aus. Sie fing ihre Schwester auf und taumelte unter ihrem Gewicht einen Schritt zurück.

»Hier bin ich, ich hab’s geschafft«, keuchte Willow. »Wo ist er?«

»Willow.«

»Pip, lass mich los, geh mir aus dem Weg«, drängte sie. Denn der Tonfall ihrer Schwester ließ Schlimmes erahnen. »Ist er da drin?«

Aber Pip, die ihre Oberarme umklammert hielt, zwang sie, aufzublicken, sie anzusehen. Zu begreifen.

»Willow«, flüsterte sie.

Willow, der es vorkam, als würde ihr Herz von einer eisigen Faust umklammert, schüttelte den Kopf. »Nein … nein.«

»Es tut mir furchtbar leid.«

Die Welt schien zu kippen, der Boden unter ihren Füßen zu schwanken, und sie hatte das Gefühl zu fallen, in einen Abgrund zu gleiten. Sie durfte, sie konnte nicht zu spät gekommen sein. Sie war, so schnell sie konnte, durch die Nacht gerast, hatte das ganze Land durchquert. Schneller wäre es beim besten Willen nicht gegangen.

»Er ist vor wenigen Minuten gestorben.«

Die Knie gaben unter ihr nach, und sie zog Pip mit sich zu Boden.

Sie hätte beim besten Willen nicht schneller herkommen können. Hätte nichts tun können, um ihren Vater ein letztes Mal zu sehen.

Außer … Der Gedanke war schrecklich.

Außer gar nicht erst fortzugehen. Ihn gar nicht erst zu verlassen.

2. Kapitel

Ihr müsst was essen.« Ottie stellte jeder einen Teller Porridge hin. Sie hatte ihn mit Honig gesüßt, der sich auf dem Haferbrei schlängelte wie eine Goldader. Dampf stieg sachte aus den Schalen zur hohen Decke hinauf.

Keine Reaktion.

»Jetzt kommt schon«, drängte sie, weil sie sich ihrer Verantwortung als Älteste bewusst war. »Ihr müsst bei Kräften bleiben, und ein niedriger Blutzuckerspiegel hilft rein gar nicht. Ich habe jedenfalls kein Riechsalz bei mir.«

Nichts.

Ottie nahm seufzend an dem langen Esstisch Platz und musterte ihr Porridge ebenso kläglich wie die anderen. Nein, sie glaubte nicht, dass sie den Brei runterkriegen würde. »Hört zu, wir dürfen uns nicht hängen lassen. Mum ist … nun, sie ist in keinem besonders guten Zustand. Es wird nicht leicht mit ihr werden. Also esst.«

Stille trat ein. Es war, als müssten ihre Worte durch eine dicke Mauer dringen, ehe sie ihr Ziel erreichten, denn erst nach einigen Sekunden nahm Pip ihren Löffel zur Hand und begann zu essen wie auf Autopilot. Ottie war sich sicher, dass ihre Schwester kaum wahrnahm, was sie aß – es hätte ebenso gut Hundefutter sein können. Willow griff ebenfalls zum Löffel, doch dieser verharrte über dem Haferbrei, und die freie Hand tastete rastlos über die Scharten und Kerben, die dem alten Tisch über Generationen zugefügt worden waren. Ihr Vater war an diesem Tisch aufgewachsen, so wie davor sein Vater und davor sein Großvater …

Da ließ Pip klappernd den Löffel fallen. Alle blickten erschrocken auf. Sie saß zusammengesunken über ihrem Brei. »Mir ist speiübel«, flüsterte sie.

Ottie reckte sich über den Tisch und streichelte ihren Arm. »Das ist der Schock, Pip. Die Verdauung leidet als Erstes.«

Willow ließ jetzt ebenfalls den Löffel sinken, als würde Pips Übelkeit sie von der eigenen Verpflichtung zu essen erlösen.

Ottie, die den Kummer der beiden gut verstehen konnte, seufzte besiegt. »Essen, schlafen … ohne Dad weiterleben … Es kommt einem unmöglich vor, ich weiß.« Sie musterte mitfühlend ihre Schwestern. »Wir müssen einen Schritt nach dem anderen setzen und das Beste aus allem machen.«

Pip blickte mit verquollenen Augen auf. »Wie macht man das Beste aus so einer Katastrophe?«, fragte sie, nicht etwa zynisch, sondern zutiefst ratlos.

Willow ließ den Kopf sinken, als ob er ihr zu schwer geworden wäre. Die Finger ins Haar geschoben, die Ellbogen gespreizt, versuchte sie, ihn zu stützen, ihn zusammenzuhalten, damit er nicht einfach explodierte. Sie hatte seit ihrer Ankunft letzte Nacht kaum ein Wort gesprochen, war geradezu unheimlich still. Bei der Erkenntnis, dass sie, trotz aller Mühen, nur um wenige Minuten zu spät gekommen war, dass sie sich nicht mehr verabschieden konnte, brach eine Welt für sie zusammen. Ihr stummer Schrei vor dem Schlafzimmer des Vaters, das leise, untröstliche Schluchzen, waren fast das Schlimmste, was Ottie an dem Abend hatte ertragen müssen. Sie und Pip verbrachten die Nacht bei der Mutter im Elternschlafzimmer, Willow dagegen schloss sich in ihrem alten Kinderzimmer ein – da und doch nicht da.

Als jemand an die Hintertür klopfte, hoben sie alle die Köpfe und atmeten erleichtert auf, als sie Mrs Mac durchs Glas spähen sahen. Die Haushälterin trug ihren alten geflickten Tweedmantel und Handschuhe, das graue Haar zu einem Knoten aufgesteckt. Die Lesebrille saß ihr wie immer auf der Nasenspitze, und sie blickte mit ihren klugen, freundlichen Augen zu den dreien herein.

Ohne weitere Umstände trat sie ein, zog ihre Handschuhe aus und musterte sie mitfühlend, aber auch ein wenig missbilligend. Ottie konnte sich vorstellen, wie sie aussehen mussten: dunkle Ringe unter den Augen, bleiche Mienen. Keine von ihnen hatte auch nur ein Auge zugetan. Sie hatten abwechselnd am Bett der Mutter Wache gehalten, die schrie und heulte wie ein verwundetes Tier und sich nicht beruhigen ließ.

»Ihr armen, armen Schätzchen«, sagte sie mit ihrer charakteristischen tiefen Stimme. »Wo ist eure Mutter?« Sie stellte ihren Korb ab und drückte eine nach der anderen an sich, am innigsten jedoch Willow. Zur Jüngsten hatte sie ein besonders enges Verhältnis, sie war das Nesthäkchen, das Mrs Mac nur schwer hatte loslassen können. Willows plötzlicher Auszug vor drei Jahren hatte sie ebenso sehr erschüttert wie den Rest der Familie.

»Oben«, antwortete Ottie. »Dr. Fitz ist heute früh hier gewesen und hat ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben.«

Mrs Mac nickte verständnisvoll. »Aye, ist wohl das Beste für sie.«

Einen Moment lang blickten sie einander stumm an. Gestern um diese Zeit hatten sie sich in ihren jeweiligen Wohnungen für die Jubiläumsfeier fertig gemacht, hatten Kleider herausgelegt, ein ausgiebiges Bad genommen, sich auf einen frohen Abend mit Champagner und Geschichten vorbereitet. Auch im Dorf hatte man es kaum abwarten können: Die Hauspartys der Lornes waren stets extravagante, lustige Veranstaltungen, die sich oft bis weit in die Nacht hineinzogen. Ottie hatte ihre frühere Haushälterin kaum wiedererkannt: Sie hatte sich das Gesicht zurechtgemacht und trug ein rotes Samtkleid. Normalerweise sah man sie nie ohne Schürze.

»Tee?« Ottie erhob sich. »Ich habe gerade einen gemacht, er ist bestimmt noch heiß.«

Aber Mrs Mac drückte sie wieder auf ihren Stuhl. »Bleib sitzen, ich nehme mir schon selbst eine Tasse, Liebes. Du musst dich ausruhen, so wie du aussiehst.«

Sie musterte die Mädchen prüfend, aber mit aufrichtiger Zuneigung. Sie arbeitete zwar schon seit fünf Jahren nicht mehr für die Lornes, war davor aber vierundzwanzig Jahre lang Gouvernante, Kindermädchen und Köchin in einem gewesen. Sie hatte immer darauf geachtet, dass die Mädchen »brav aßen« und gut genährt waren. Sie hatte ihnen bei den Hausaufgaben geholfen und sie mit dem neuesten Tratsch über die Dorfburschen versorgt, für die sie jeweils schwärmten. Die Lorne-Mädchen hatten nämlich öfter ihr »Pech« beklagt, in einem Anwesen »eingesperrt« zu sein, das über dreihundert Hektar groß war, wo es keine einzige Straßenlaterne gab, geschweige denn Gehsteige oder Bushaltestellen. »Ihr müsst bei Kräften bleiben, schon eurer Mutter zuliebe. Sie ist nicht so stark wie ihr, Mädchen. Sie wird eure Hilfe brauchen, um das alles durchzustehen.«

»Ja, das wissen wir.« Ottie nickte und musterte ihre Schwestern mit einem entschlossenen Blick. Auf Mrs Macs Ermahnungen würden sie ja wohl hören, wenn schon nicht auf die ihren.

»Alle lassen euch grüßen. Ich habe wohl an die dreißig Aufläufe im Auto. Das reicht bis zum Frühjahr.«

»Wie lieb von den Leuten«, murmelte Pip, die immer noch ein wenig grün um die Nase war.

»Nun ja, sie finden, das sei das Mindeste, was sie für euch tun können.« Mrs Mac setzte sich mit einer Tasse Tee zu ihnen an den Tisch und tätschelte zerstreut die beiden Hunde, Dot und Mabel, die den Kopf auf ihre Oberschenkel gelegt hatten und kummervoll zu ihr aufblickten. »Das ganze Dorf steht unter Schock. Alle sind wie betäubt. O’Malley hat die Metzgerei zugemacht, obwohl er eine Lieferung vom Schlachthof erwartet.«

Schock. Er stand geradezu greifbar im Raum. Ottie hatte das Gefühl, ihn packen und hineinbeißen zu können. Sie warf erneut einen Blick auf Willow – die irgendwie nicht ganz da zu sein schien, die die Maserung des Tisches anstarrte, als stünde dort eine Botschaft für sie allein.

»Weiß man schon, woran es lag?«, erkundigte sich Mrs Mac behutsam.

Ottie zuckte zusammen. Sie wollte das hässliche Wort nicht in den Mund nehmen. »Es war ein Aneurysma.«

»Oh …!« Mrs Mac zuckte zurück, als hätte sie einen Schlag erhalten, und hob die Hände vor den Mund. »Dann ist es wenigstens schnell gegangen, Gott sei Dank«, sagte sie leise, wie um sich zu trösten.

»Nein, das nicht«, widersprach Ottie, die gar nicht daran denken wollte, wie es sich hingezogen hatte. »Er hat noch fast vier Stunden gelebt.«

Mrs Mac runzelte die Stirn. »Aber … ich dachte, so was geht sehr schnell.«

»Dr. Fitz sagt, dass nur vierzig Prozent sofort sterben, drei von fünf dagegen erst nach bis zu zwei Wochen.« Sie zuckte die Achseln. Die Zahlen hatten sich ihr ins Gedächtnis gebrannt, ob sie es nun wollte oder nicht. »Er sagt, Dad bekam Ostern bereits die Diagnose, aber da es sich um eine Schlagader handelte, war eine Operation unmöglich.«

»Er hat das gewusst?«

Ottie nickte. Sie schluckte schwer. Auch sie war zornig. Sie fühlte sich betrogen. »Der Facharzt meinte, es könne zwar jederzeit passieren, aber wenn er vorsichtig sei, könne er noch mehrere Jahre leben. Die meisten Aneurysmen platzen nicht gleich. Pro Jahr nur eins von hundert, also …« Sie hielt inne, kaute verstört an ihrer Unterlippe. Sie hörte sich an wie ein wandelndes Fachlexikon. Aber ihre Kenntnis der Tatsachen änderte nichts am Ausgang der Sache. Statistiken hatten ihren Vater nicht retten können.

»Du meine Güte, der arme Mann!«, hauchte Mrs Mac. »Und er hat’s niemandem gesagt?«

»Mum schon, aber uns wollte er nicht beunruhigen.« Sie wandte den Kopf ab. »Typisch Dad, der unverwüstliche Optimist. Er hat wohl gehofft, dass es bei ihm schon gutgehen würde.«

»Ja, kann ich mir denken. Er hat ja stets Glück gehabt.«

Otties Blick huschte verstohlen zu den Schwestern, die jedoch ausnahmsweise nicht auf diese Äußerung reagierten. Ja, privilegiert war ihr Vater gewesen. Aber Glück gehabt? Nein, das nicht.

»Aber wie ist das passiert? Ich meine, er war doch noch …« Mrs Mac sprach nicht weiter. Aber Ottie wusste, was sie hatte sagen wollen: dass er am Ende der Feier doch ganz normal gewesen sei, dass er ihnen noch vom Haustor aus zugewinkt hatte, mit geröteten Wangen, weinselig und glücklich.

»Er und Mum sind nach oben gegangen, um ins Bett zu gehen, als er plötzlich über starke Kopfschmerzen klagte, wie Mum sagt. Sie rannte nach unten, um einen Krankenwagen zu rufen, aber als sie zurückkam, hatte er bereits das Bewusstsein verloren.«

»Um Himmels willen, die Arme! Wie schrecklich für sie.«

Ottie schwieg einen Moment. Ihre Mutter war zum Teil auch deshalb so außer sich, so untröstlich, weil er in seinen letzten bewussten Augenblicken allein gewesen war. »Ja. Dr. Fitz war zwar in wenigen Minuten da, aber …« Ottie schluckte und schüttelte den Kopf. »Eine schwere Gehirnblutung. Er meinte, da ließe sich nichts mehr machen.«

Die Haushälterin hielt ihre Tasse umklammert, wie um sich zu wärmen, und Ottie bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Die alte Frau hatte einen kühlen Kopf, aber auch ein warmes Herz. »Wie schrecklich, wie schrecklich … Und auch noch kurz vor Weihnachten.« Sie versanken in Schweigen.

In dem alten gelben Aga knackte und flackerte lebhaft das Feuer, was bedeuten musste, dachte Ottie, dass ein strenger Nordwind herrschte. Es war das einzige Geräusch in der Küche. Irgendwie passend. Der Tod war auf den Flügeln eines beißenden Nordwinds gekommen, der um die dicken Steinmauern pfiff und in der gnadenlosen Novemberkälte ihrer harrte. Hier drinnen jedoch … Ottie blickte sich um. Von allen Räumen der Burg war ihr dieser hier immer der liebste gewesen, eine Zuflucht, ein Ort der Geborgenheit. Vielleicht, weil es hier so besonders gemütlich war. Durch die hohen Sprossenfenster mit ihren tiefen Steinsimsen fiel bei schönem Wetter der Sonnenschein herein. Hinzu kam der alte Steinfußboden, die ausgebleichten pfirsichfarbenen Terrakottafliesen, über die bereits viele Generationen geschritten waren. An den Wänden standen Anrichten aus schwerem Holz, beladen mit Kochbüchern und diversen Küchengeräten, mit Vasen und alten viktorianischen Sahnekännchen. Bauchige Milchkrüge, Buttergefäße und Käseglocken, alle mit dicken schwarzen Lettern beschriftet, damit man nicht vergaß, wozu sie dienten. In offenen Regalen und auf Borden standen, seitlich aufgereiht, viele gänzlich unterschiedliche Teller, einige davon mit Kerben und Sprüngen. Kupferpfannen und Töpfe hingen von Stangen an der Decke. Nichts Böses konnte hier geschehen, und auch der Tod hatte keinen Zugang.

»Na gut, dann will ich mal.« Mrs Mac erhob sich ächzend.

»Sie wollen doch nicht schon gehen?« Man hörte Pip die Verzweiflung an. Sie tat normalerweise, als ob nichts sie erschüttern könnte, brachte das unter diesen Umständen aber nicht zustande. Die Schwester fühlte sich wie Ottie: verloren und im Stich gelassen, jetzt, wo der Vater nicht mehr war. Er war ihr Halt, ihr Anker gewesen, das Oberhaupt der Familie. Mutter war gelassen, liebevoll und schön und in vieler Hinsicht talentiert – wenn es um Innendekorationen, die Umgestaltung eines Zimmers, um Farbkombinationen ging, war sie die erste Anlaufstelle. Aber im Grunde war sie ein zerbrechliches Wesen. Die hingebungsvolle Liebe des Gatten hatte sie verwöhnt, sie vor den Unbilden des Lebens beschützt, abgeschirmt. Mrs Mac war die einzige richtige Erwachsene im Haus.

Die Haushälterin tätschelte Pip liebevoll die Hand. »Nein, natürlich gehe ich noch nicht, ich bin doch gerade erst gekommen. Ich mache mich jetzt erst mal an die Betten. Sie müssen frisch bezogen werden, und ihr scheint nicht in der Verfassung zu sein, das hinzukriegen.«

»Ach, aber …« Pip wurde rot. Sie und Ottie tauschten einen betretenen Blick. Ottie wusste genau, was sie sagen wollte.

»Aber wir können Sie leider nicht bezahlen, Mrs Mac«, gestand Ottie. Es war die erste harte Entscheidung gewesen, die sie hatte treffen müssen, nachdem ihr Vater sie an der Verwaltung des Anwesens beteiligt hatte. Dass sie diejenige sein musste, die es der treuen alten Haushälterin beibrachte, belastete sie bis heute und würde es auch weiterhin.

»Meine Güte, als ob ich Geld von euch nehmen würde«, schimpfte Mrs Mac. »Glaubt ihr vielleicht, dass ich wegen des Lohns so lange bei euch geblieben bin?« Sie schnalzte missbilligend und streichelte sanft über Willows Haar – sanft und fragend, denn Willow war nie ein stilles Kind gewesen. Ihr hartnäckiges Schweigen – eine andere Form der Nichtanwesenheit – beunruhigte sie. Ottie bemerkte, dass Willows Anspannung bei der Berührung unwillkürlich ein wenig nachließ. »Ich werde in nächster Zeit öfter vorbeikommen und euch ein bisschen unter die Arme greifen, bis sich alles wieder eingerenkt hat.«

Willow bettete trostsuchend den Kopf an die Hüfte der Haushälterin, und schon flossen wieder Tränen. »Na, na, Schätzchen, das wird schon wieder, wirst sehen.«

Aber Ottie war sich nicht so sicher. Die kleine Schwester wirkte untröstlich.

»… Hallo?«

Eine helle Frauenstimme drang aus der großen Eingangshalle und hallte in den holzverkleideten Korridoren, bevor der Schall die alte Küche erreichte. Klappernde Absätze näherten sich, und Ottie verkrampfte sich unwillkürlich. Die Tür wurde aufgerissen, und die beste Freundin ihrer Mutter schob ihren frisch geföhnten Kopf herein. Ihre Augen waren rot gerändert und fast zugeschwollen. Ottie kam flüchtig der Gedanke, wie unangebracht es war, dass diese Frau ihren Kummer derart zur Schau trug – mehr als die trauernde Familie selbst. Aber sie machte wie immer gute Miene zum bösen Spiel und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.

»Hallo«, antwortete sie ruhig.

»Ach Gottchen, hier seid ihr also!« Shula Flanagan drückte ihr Gesicht in ein großes Taschentuch und brach in ein heftiges Schluchzen aus. Bertie, ihr Mann, trat hinter ihr ein und nickte ihnen ernst zu. Seine Augen hatten einen feuchten Schimmer, aber er hielt sich mannhaft neben seiner schluchzenden Frau. Er war Ex-Offizier, so wie ihr Vater, und hielt nichts von Gefühlsausbrüchen. Aber seine Schultern waren ein wenig hochgezogen, das Kinn steif gereckt, und das verriet Ottie seine unterdrückten Gefühle.

Mrs Mac verzog sich diskret und mit schmalen Lippen. Sie hatte die Flanagans noch nie gemocht, obwohl die beiden auf Rockhurst lebten, dem am nächsten gelegenen großen Anwesen, unweit von Dunmorgan, zwölf Meilen entfernt, und gern gesehene Gäste auf Lorne waren. Man fand sie an den Wochenenden häufig mit am Abendbrottisch und auch mitunter noch am nächsten Morgen zum Frühstück, wenn es am Vortag wieder einmal spät geworden und der Brandy ein wenig zu freizügig geflossen war.

Shula fiel über Ottie her und drückte sie heftig an sich. Diese ließ es mit entnervt geschlossenen Augen über sich ergehen. Shula Flanagans Parfümwolke war erstickend.

»Wie ihr nur ausseht, ihr armen, armen Mädchen!«, rief sie schluchzend.

Niemand sagte etwas. Ottie wusste, dass Pip am liebsten eine scharfe Bemerkung gemacht hätte, sich jedoch beherrschte. Sie empfand nur Geringschätzung für Frauen von Shulas Kaliber: herausgeputzt, anspruchsvoll, verwöhnt. Was Willow betraf, blieb diese natürlich auch jetzt stumm.

»Mum schläft«, erklärte Ottie, während Shula sich einen Stuhl heranzog. »Der Doktor hat ihr ein starkes Beruhigungsmittel gegeben.«

»Ich wette, sie hat die ganze Nacht kein Auge zugetan!« Shula runzelte die Stirn, soweit das bei all den kleinen »Nachbesserungen« überhaupt möglich war. Sie war eine attraktive Frau, unterlag jedoch seit einiger Zeit den Verlockungen der kosmetischen Chirurgie: hier ein chemisches Peeling, zusätzlich zur Gesichtspackung, dort ein Spa-Aufenthalt mit zusätzlich gebuchtem Kinnlifting.

»Nein.«

»Nein, natürlich nicht! Sie muss ganz außer sich sein, was für ein entsetzlicher Schock …« Sie hielt inne, die Hand aufs Herz gepresst. »Ich dachte, Bertie trifft der Schlag, als er heute früh davon erfuhr. Er war weiß wie die Wand! Weiß wie die Wand!«

Ottie betrachtete ihn. Er sah nicht aus wie ein typischer Achtundfünfzigjähriger. Er war ein regelrechter Fitnessfanatiker, nahm überall auf der Welt an Marathonrennen teil und sah aus wie Mitte vierzig. Während ihr Vater sich einen kleinen Schmerbauch angefuttert hatte, besaß Bertie Sixpack und Bizeps sowie einen attraktiven Zweitagebart. Tatsächlich verdiente sich Bertie mit seinem Fitnesswahn – den er noch aus der Armee mitgenommen hatte – inzwischen seinen Lebensunterhalt. Oder besser gesagt, sein zweites Vermögen. Er war ein gerissener Geschäftsmann und hatte in den Achtzigerjahren einen Handel mit Teakholzmöbeln aus Asien betrieben, ein Geschäft, das er aufgebaut und gewinnbringend weiterverkauft hatte. Seit einiger Zeit jedoch befasste er sich mit einem ganz neuen Nischenmarkt: Extremausdauerrennen: Sechsunddreißig-Stunden-Marathons in extremem Gelände und unter extremen klimatischen Bedingungen. Als Bertie ihrem Vater bei einem Brandy die Idee unterbreitete, hatte dieser zunächst schallend gelacht. Aber Bertie hatte mit seiner neuen Firma einen Hit gelandet, der sogar sein erstes Vermögen in den Schatten zu stellen versprach. Alles, was er anfasste, wurde zu Geld. Beim Vater war es leider das Gegenteil gewesen: Er hatte sich immer beklagt, mit Löchern in den Hosentaschen auf die Welt gekommen zu sein.

»Können wir euch irgendwie helfen?«, erkundigte sich Bertie und blickte dabei auf sie, da sie die Älteste war und das Anwesen zusammen mit dem Vater geleitet hatte. Pip war explosiv und unberechenbar – die meisten Menschen machten einen Bogen um sie. Aber sein uneigennütziges Angebot drohte die Dämme einzureißen, mit denen sie ihre Gefühle zurückhielt – zumindest bis sie allein in ihrem Zimmer war. Seine Fragen waren wie Schritte in einem Teich, sie wirbelten Schlamm auf. Denn jetzt begann es erst richtig, das ahnte sie. Das, was trotz Kummer und Schock getan werden musste: Beerdigungsvorbereitungen, Papierkram, Telefonate.

Sie ertrug seinen Blick nicht länger und wandte den Kopf ab. Sie wollte nicht vor aller Augen in Tränen ausbrechen. »Ja, das gibt es«, antwortete sie nach einer kurzen Pause, den Blick zu Boden gesenkt. »Könntest du Dads alten Army-Kameraden Bescheid geben, seinen alten Bekannten und Kontakten – und kannst du ihnen mitteilen, was passiert ist, und sie, wenn’s so weit ist, wissen lassen, wann die Beerdigung stattfindet?«

Er nickte ernst. »Selbstverständlich.«

»Danke.« Kaum zu glauben, dass sie soeben die Worte Vater und Beerdigung in einem Satz genannt hatte. Gestern hatte er seinen Gästen noch den nackten Zeh gezeigt.

»Soll ich auch einen Nachruf aufsetzen?«

Sie blickte verständnislos zu ihm auf. »Nachruf?«

»Für die Irish Times«, erklärte er. »Die werden sicher was über ihn bringen wollen.«

Ottie zuckte zusammen. Ja, natürlich, das würden sie. Ihr Vater war kein gewöhnlicher Mann. Er war der neunundzwanzigste Ritter von Lorne gewesen, der letzte noch lebende Ritter in ganz Irland. Es hatte nur noch drei der uralten, aus Normannenzeiten stammenden alten englischen Adelstitel in Irland gegeben. Declan Lorne, The Last Man Standing. Nicht nur Ehemann, Vater und Kamerad waren letzte Nacht dahingegangen, sondern auch ein traditionsreiches Erbe. Siebenhundert Jahre in ungebrochener Linie vom Vater auf den Sohn, dazwischen drei Revolutionen, eine Belagerung, zwei Brände und zahlreiche Bankrotte – das alles hatten sie überstanden. Aber nicht die einfache Tatsache, dass er am Ende »nur« drei Töchter und keinen Sohn gezeugt hatte.

Ottie nickte und presste die Lippen zusammen, um ihre Gefühle zurückzuhalten. Der Tag, vor dem sie und ihr Vater sich ein Leben lang gefürchtet hatten, er war schließlich gekommen. Denn sie war nicht der ersehnte Nachfolger. Ja, sie war die Erstgeborene. Aber auch die erste Enttäuschung.

3. Kapitel

Erst jetzt, wo die Burg voller Menschen in Trauerschwarz war, fiel Pip auf, wie farbenfroh ihr Zuhause im Grunde war. Die mit sonnengelbem Seidenstoff bespannten Wände des gelben Salons, die bunten Gemälde von fernen Landschaften, blau-weiße chinesische Lampenschirme, abgetretene Teppiche von ungewisser Herkunft und Größe, die an den Rändern überlappten und fast jeden Zentimeter Parkett bedeckten … Heute jedoch, mit den nüchtern gekleideten Trauergästen, fiel es einem schwer, die Vitalität zu spüren, die sonst in diesen Mauern herrschte.

Sie lehnte in einem Alkoven neben den schweren Wohnzimmervorhängen und beobachtete desinteressiert das Geschehen. Menschen, die sie ihr Leben lang gekannt hatte – früheres Burgpersonal aus der Umgebung, alte Babysitter, hie und da ein Schwarm aus der Teenagerzeit –, wirkten heute irgendwie fremd mit ihren feierlich-ernsten, kummervollen Mienen. Sie warf einen Blick an sich hinab. Auch sie war heute eine ganz andere. Sie trug ein Kleid. Ein Kleid! Und sogar ein wenig Rouge, das Mrs Mac kurz vor der Abfahrt zur Kirche auf ihre bleichen Wangen gepinselt hatte. Sie hob die Hand und betastete ihr kurzes kastanienbraunes Haar, das sie gewöhnlich selbst über dem Spülbecken nachschnitt, was leider überfällig war, denn es kräuselte sich bereits über Ohren und Nacken, wie sie betreten feststellte. Sie ließ den Arm sinken. Sicherlich sah man ihr an, wie unbehaglich sie sich in der ungewohnten Aufmachung fühlte. Stiefel und Reithosen, das war ihre Uniform. In »Zivil« fühlte sie sich seltsam nackt, entblößt. Und das konnte sie heute am allerwenigsten gebrauchen. Vater hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, wenn sie im Reitkostüm am Grab erschienen wäre, denn dafür liebte er sie ja.

Ottie dagegen schritt würdevoll zwischen den Gästen umher. Sie hatte ihr langes rotblondes Haar mit einer schwarzen Samtschleife zurückgebunden und hielt ein Tablett mit Kanapees in den Händen. Sie zwang sich zu lächeln und nickte höflich, wenn man ihr tröstend auf die Schulter klopfte und sie mit Beileidsbezeugungen begoss wie mit einem Schöpflöffel Bratensoße.

Ihre Mutter saß auf einem George II.-Sessel, Shula an ihrer Seite. Beide Frauen hielten Tassen auf dem Schoß, ohne aber zu trinken. Serena war wie gewöhnlich die Schönste im Raum, selbst in ihrer tiefen Trauer. Sie war fast puppenhaft zierlich, besaß aber scharf gemeißelte, ausgeprägte Gesichtszüge: leicht schräg stehende grüne Augen, vorstehende Wangenknochen, Rosenmund und dickes, welliges rotbraunes Haar, das sie dieser Tage in einem Bob trug. Mit ihrem Lächeln konnte sie noch immer jeden bezaubern, und ihr Vater war keine Ausnahme gewesen. Declan Lorne, der neunundzwanzigste Ritter von Lorne, war einst ein berüchtigter Junggeselle gewesen, ehe er der schönen Serena O’Shaughnessy begegnete. Aber ein Blick in ihre grünen Augen genügte, und es war vorbei mit ihm und dem wilden Leben. Es traf ihn wie der Blitz, es war Liebe auf den ersten Blick. Mutter dagegen hatte ein wenig Überredung gebraucht, ehe sie bereit war, mit ihm auszugehen. Aber noch ehe der Abend zu Ende gewesen war, hatte sie gewusst, dass dieser aufregende moderne Ritter der Mann ihres Lebens war.

Ihre Beziehung wurde zum Vorbild für andere, und zu ihrer Zeit waren sie im Jetset zu Hause gewesen, ständig in den Klatschspalten, waren mit Prince Charles und mit Bryan Ferry befreundet. Mutter hatte immer ein leichtes Leben gehabt, und deshalb mussten sie der unverhältnismäßig frühe Tod des geliebten Mannes und die frühe Witwenschaft umso härter treffen, wo sie doch noch so relativ jung war … Pip vermutete jedenfalls, dass das die Menschen am meisten entsetzte: Ausgerechnet diesem Paar musste so etwas zustoßen.

Mrs Mac ging mit einer Teekanne herum und schenkte nach oder wies den Weg zu den Toiletten. Sie hatte in den vergangenen zwei Tagen pausenlos gearbeitet, um die Burg für dieses Ereignis vorzubereiten, hatte Möbel poliert, Teppiche und Gobelins abgesaugt, für frische Blumen in sämtlichen Vasen gesorgt – und das waren nicht wenige – und in allen vierundzwanzig Schlafzimmern die Bettwäsche gewechselt, weil man »nie wissen konnte«. Pip hoffte inbrünstig, dass es keine Übernachtungsgäste geben würde. Sie wollte einfach nur allein sein, und ihren Schwestern ging es genauso. Nur gegen Mrs Mac hatten sie nichts, diese hatte überall Zugang.

Willow driftete, bleich wie ein Gespenst, ins Wohnzimmer zurück, und da bemerkte Pip erst, dass sie – wieder einmal – abwesend gewesen war. Sie hatte ein Glas Wein in der Hand und wirkte unsicher auf den Beinen. Pip ging rasch zu ihr.

»Alles in Ordnung mit dir?« Sie blickte prüfend in die eisblauen Augen ihrer Schwester, die momentan zwar ein wenig glasig wirkten, auf die die beiden Älteren aber immer schon ein wenig neidisch gewesen waren, weil sie so herrlich mit ihrem dunklen Haar kontrastierten. »Gypsy« hatte als Kind ihr Spitzname gelautet.

»Spitze. Absolut spitze«, lallte sie und schwenkte den Arm, wobei etwas Merlot aus ihrem Glas auf den Teppich schwappte. Pip sah zu, wie die Flüssigkeit von dem bunten Muster des Teppichs aufgesogen wurde.

»Wie viel hast du schon intus?«, erkundigte sie sich leise.

»Genug, um das hier erträglich zu machen.« Willow seufzte und wirkte auf einmal ganz verloren.

Pip berührte sanft ihren Arm. »Halt durch, es dauert nicht mehr lange, bald haben wir es hinter uns, okay? In einer Stunde sind sie weg. Und dann können wir im Schlafanzug vorm Kamin essen – falls uns Mrs Mac lässt.«

»Und was dann?«, fragte sich Willow.

Pip wusste, dass die Schwester nicht meinte, was sie später im Fernsehen ansehen wollten. »Und dann … machen wir eben weiter. Dad würde es so wollen.«

Willow schnaubte zornig und trank einen Schluck.

»Was denn?«

»Armer Dad«, spottete Willow, »was er wollte, hat er aber nicht gekriegt, oder?«

Pip machte eine grimmige Miene, konnte aber schlecht widersprechen. »Ich mache mir Sorgen um dich«, flüsterte sie so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob ihre Schwester es hörte.

»Es kommt mir hier so … so leer vor«, nuschelte Willow und ließ den Blick durchs Wohnzimmer schweifen, auf dem jede freie Oberfläche mit irgendwelchem Zierrat, Fotos oder Bildern vollgestellt war. Aber Pip wusste, was sie meinte – wie bei einer Hochzeit, nachdem das Brautpaar in die Flitterwochen aufgebrochen war. Ja, ihr Zuhause wirkte jetzt verlassen.

Stumm standen sie beieinander und verfolgten das Geschehen. Der Raum war erfüllt von Mitgefühl, obwohl gewiss nicht wenige Gäste diese Einladung in die ehrwürdige alte Burg unbewusst genossen: Teetrinken, Unterhaltungen, es war wie ein Geburtstagsausflug für eine alte Tante.

»Wollt ihr Berittene Teufel?«, fragte Ottie und hielt ihnen die Pflaumen im Speckmantel entgegen, die sie auf ihrem Tablett herumtrug.

»Ach, so nennt ihr Pip jetzt also?«

Sie wandten sich um. Taigh O’Mahoney trat lächelnd heran. Er war der Postmeister von Lorne und auch Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr, dazu medizinischer Notfallhelfer. Ein Lokalheld in Perfektion. Er hatte immer einen Defibrillator im Kofferraum seines Wagens und auch auf der Post. Letzten Sommer hatte er es auf die Titelseite des Lorne Echo geschafft, nachdem er die alte Joanie Fitzgerald, die beim Abholen ihrer Rente zusammengeklappt war, wieder »zurückgeholt« hatte.

»Taigh, du kommst genau richtig.« Ottie bot auch ihm ein Häppchen an. Er nahm sich gleich zwei.

Pip beobachtete, wie er ihrer Schwester mit einem schelmischen Zwinkern dankte und wie ihm eine schwarze Haarlocke in die Stirn fiel, als er sich über sein Essen beugte. Der Mann hatte ein Gesicht, das geradezu nach einer Ohrfeige schrie, dachte sie. Es war voller Sommersprossen, so wie ihres, doch seine haselbraunen Augen schienen sich ständig über irgendetwas lustig zu machen.

»Ich hatte dich schon gesucht.« Ottie runzelte die Stirn. »Stimmt es, dass sie die Dorfhalle in Agmor nicht mehr aufbauen wollen?«

Taighs Lächeln erlosch. »Aye. Die Versicherungssumme reicht nicht für einen Wiederaufbau. Jedenfalls nicht mehr fürs Dach.«

»Wie schrecklich. Aber das ist doch der einzige Ort, außer dem Pub, wo die Leute sich noch treffen können.«

»Aye.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Willow.

»Vor ein paar Wochen ist die Stadthalle von Agmor abgebrannt«, erklärte Taigh ernst.

»Aber kann man denn wirklich nichts tun?«, beharrte Ottie. »An die Versicherung appellieren? Ein Spendenaufruf?«

»Weiß nicht. Es ist ja noch nicht mal genug für die Reparatur des Kirchturms zusammengekommen, da fehlen noch immer dreißig Prozent der notwendigen Summe, und das schon seit drei Jahren. Da hat doch keiner Lust auf einen zweiten Spendenaufruf. Den Leuten sitzt das Geld nicht locker, in diesen Zeiten.«

»Weiß man denn schon, wie es zu dem Brand gekommen ist?« Willow klang fast gelangweilt, die Dorfdramen interessierten sie wenig. Sie hatte das beengte Kleinstadtleben längst hinter sich gelassen.

»Brandstiftung. Wir haben drinnen neben der Eingangstür eine Flasche gefunden, in die man einen Lappen gestopft hatte.«

»O nein!« Ottie schnappte entsetzt nach Luft. »Aber wer tut denn so was?«

»Kids«, meinte er achselzuckend.

»Aber wieso … wieso sollten sie … Dann haben sie doch nichts mehr, wo sie hingehen können! Nein, das glaube ich nicht!« Ottie klang fast zornig. »Das ergibt keinen Sinn.«

Taigh zuckte erneut die Achseln. »Aus Langeweile? Ein Brand ist nun mal spannend.«

»Für dich war’s wohl auch ziemlich spannend, endlich mal ein richtiges Feuer löschen zu können?«, bemerkte Pip spitz. »Besser als Katzen von den Bäumen holen, was?«

Pip sah, wie Ottie zusammenzuckte, und selbst Willow war erschrocken. Eine betretene Stille trat ein. Sie war sich selbst nicht sicher, wieso sie das gesagt hatte. Ihre forsche Art besaß oft etwas Kamikazehaftes, so wie auch jetzt. Sie konnte Taigh nun mal nicht ausstehen. Als Teenager waren sie kurz miteinander gegangen – sie, weil sie es genoss, sich als Tochter eines Ritters mit dem Metzgerssohn einzulassen. Aber das Ganze war nach hinten losgegangen, denn beide Väter hatten nur mit den Achseln gezuckt, als sie es erfuhren. Taigh hatte prompt mit ihr Schluss gemacht. Er meinte, er sei noch nicht zu einer festen Beziehung bereit. Aber noch am selben Abend hatte sie ihn im Bushäuschen erwischt, wo er mit Lizzie Galloway herumknutschte, dass die Scheiben beschlugen. Diese Demütigung hatte sie ihm bis heute nicht verziehen.

Taigh seufzte leise und rang sich ein Lächeln ab. Er war Pips Feindseligkeit mittlerweile gewohnt, schien aber trotzdem zu hoffen, dass sie sich irgendwann legte. »Na gut, dann mache ich mich jetzt wieder vom Acker. Wollte euch bloß kurz mein Beileid aussprechen, obwohl ihr davon wahrscheinlich schon genug habt. Trotzdem, das alles tut mir von Herzen leid. Ein schrecklicher Verlust. Ihr wisst, wie sehr ich euren Vater geschätzt habe.« Er wandte sich ab.

»Nein, Taigh, warte …«, protestierte Ottie.

»Schön, dich auch mal wieder zu sehen, Li’l Will«, sagte er, an Willow gewandt. Noch so ein Spitzname aus Kindertagen. »Weiß gar nicht, wann ich dich zum letzten Mal gesehen habe. Komm doch mal auf einen Schwatz vorbei, ehe du wegfährst.«

Willow nickte, und die Schwestern blickten ihm nach.

»Was ist bloß los mit dir, verdammt noch mal?«, zischte Ottie Pip an und schlug ihr mit dem Handrücken gegen den Bauch. »Musst du so unhöflich sein?«

»Er war doch zuerst unhöflich. Hat sich einfach so reingedrängt.«

»Er wollte uns doch nur sein Beileid aussprechen.«

»Er hat mich einen ›berittenen Teufel‹ genannt!« Pip war empört.

Eine verblüffte Stille trat ein. Die Mundwinkel der Schwestern zuckten. »Na ja … so ganz falsch ist das ja nicht«, meinte Ottie.

Willow entschlüpfte ein Kichern wie Kohlensäurebläschen aus einem Getränk. Das kam so überraschend, dass Ottie ebenfalls grinsen musste, und selbst Pip erlaubte sich ein Schmunzeln. Na ja, war vielleicht doch ganz lustig. Berittener Teufel.

Sie sahen sich an, der Lachdrang wurde unwiderstehlich, bis schließlich als Erste Willow in Gelächter ausbrach, wohl auch, weil sie so beschwipst war. Pip konnte nicht anders, sie begann ebenfalls zu gackern. Gefolgt von Ottie. Und dann geschah das, was früher so oft geschehen war: Sie mussten zur unpassendsten Gelegenheit lachen, bekamen einen Kicheranfall, wie einen Ausschlag, den man nicht mehr loswurde …

Die Leute drehten sich zu ihnen um, zu den drei Töchtern des letzten Ritters, die in einem Grüppchen beisammenstanden und lachten, bis ihnen die Tränen kamen. Tatsächlich war Pip sich nicht sicher, ob sie lachte oder weinte. Wahrscheinlich beides. Denn so lustig war die Bemerkung nun auch wieder nicht. Schock, Kummer, kindlicher Übermut, Gemeinschaftsgefühl, Belustigung oder Hysterie – eins davon oder alles zusammen. Ihrem Vater hätte es jedenfalls gefallen, das wusste Pip. Er hatte auf Beerdigungen auch immer lachen müssen. Und sie waren schließlich seine Töchter.

4. Kapitel

Mittwoch, 4. Dezember

Das Kaminfeuer in der Bibliothek knackte und knisterte und spie gelegentlich verglühende Holzstückchen aus. Mabel, die sich sorglos auf dem Kaminvorleger ausgestreckt hatte, zuckte jedes Mal zusammen. Man hatte sich hier versammelt, die drei Schwestern und auch die Mutter, die seit der Beerdigung nicht mehr aus ihrem Zimmer gekommen war und dazu überredet werden musste, das Bett zu verlassen.

Willow blickte sich unruhig um und versuchte, nicht an jenen schicksalhaften Tag vor drei Jahren zu denken, als sie sich zum letzten Mal in diesem Raum aufgehalten hatte. Alles war noch wie früher, alles sah genauso aus: die dicken lodengrünen Vorhänge an den Fenstern, die mit rotbraunem Mahagoni getäfelten Wände, die drei Meter hohen Bücherregale, bestückt mit alten Lederfolianten, dazwischen Vaters Sammlung von Taschenbuch-Erstausgaben mit ihren markanten orangegelben Buchrücken. Er hatte vor allem die Romane von P. G. Wodehouse und Ian Fleming gemocht.

Man erwartete fast, ihn jeden Moment hereinkommen zu sehen. Dies war sein Refugium, und obwohl ihnen der Zutritt nicht ausdrücklich verboten gewesen war, hatten sie sich als Kinder gescheut, ihn hier zu stören. Es war die Sphäre der Erwachsenen, wo erwachsene Dinge geschahen: Papierkram, schwierige Unterredungen, gedämpfte oder gereizte Telefonate. Hier wurden Geheimnisse bewahrt – und manchmal auch enthüllt. Hier stand der Schreibtisch des Vaters, hier trank er morgens seinen Tee, hier gönnte er sich seinen abendlichen Brandy. Hier regierte der Alltag. Mrs Mac legte stets die Morgenzeitung auf dem Tischchen neben seinem orangebraunen Lesesessel für ihn bereit, die Whiskykaraffe immer halb gefüllt, und seine dunkelroten Lederpantoffeln standen neben dem Kaminfeuer bereit, sogar im Sommer. Im Nachhinein waren sie die Überbleibsel eines Lebens, das vorzeitig beendet worden war.