Winterträume im Schnee - Karen Swan - E-Book
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Winterträume im Schnee E-Book

Karen Swan

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Beschreibung

Eine verbotene Liebe und ein gut gehütetes Geheimnis in den schneebedeckten österreichischen Alpen ...

Der Snowboarder Kit Foley ist für seine Skandale ebenso bekannt wie für seine spektakulären Siege. Doch über den verheerenden Unfall, in den er und ein Rivale verwickelt waren, spricht er niemals. Die preisgekrönte Regisseurin Clover Phillips ist fest entschlossen, in ihrem neusten Film die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sie folgt Kit in die tief verschneiten österreichischen Alpen und quartiert sich kurzerhand in seinem Chalet ein. Clover ist überzeugt, dass Kit etwas zu verbergen hat. Aber je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto mehr fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Ist er wirklich so kühl und unnahbar, wie er sich gibt?

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Buch

Der Snowboarder Kit Foley ist für seine Skandale ebenso bekannt wie für seine spektakulären Siege. Doch über den verheerenden Unfall, in den er und ein Rivale verwickelt waren, spricht er niemals. Die preisgekrönte Regisseurin Clover Phillips ist fest entschlossen, in ihrem neusten Film die Wahrheit ans Licht zu bringen. Sie folgt Kit in die tief verschneiten österreichischen Alpen und quartiert sich kurzerhand in seinem Chalet ein. Clover ist überzeugt, dass Kit etwas zu verbergen hat. Aber je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto mehr fühlt sie sich zu ihm hingezogen. Ist er wirklich so kühl und unnahbar, wie er sich gibt?

Autorin

Karen Swan arbeitete lange als Modejournalistin für Zeitschriften wie Vogue, Tatler und YOU. Heute lebt sie mit ihrer Familie im englischen Sussex und schreibt jedes Jahr zwei Romane – einen für die Sommersaison und einen zur Weihnachtszeit.

Karen Swan

Winterträume im Schnee

Roman

Aus dem Englischen von Gertrud Wittich

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Midnight in the Snow« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Deutsche Erstveröffentlichung September 2022 Copyright © der Originalausgabe 2021 by Karen Swan Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH nach einem Design von Pan Macmillan Umschlagmotive: stocksy / Soren Egeberg; gettyimages / SeppFriedhuber, borchee Redaktion: Ann-Catherine GeuderLS · Herstellung: ik Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-29040-5V001www.goldmann-verlag.de

Prolog

Clover Phillips: Wie war denn das? Erzähl doch mal.

Cory Allbright:(schweigt einen Moment) Das war … das war wie in ’ner Waschmaschine. Man wird rumgeworfen, weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Und dann dieser Druck! Die Welle haut dich um, sie zerquetscht dich. Und dann saugt sie dich wieder hoch … Alles wird dunkel, wenn dich die Welle im Griff hat. Als ob der Himmel über dir einstürzt.

C.P.: Wie lange warst du unter Wasser?

C.A.: Bei der ersten? Zwei Minuten zwanzig, zwei vierzig.

C.P.: Verdammt lange, wenn man die Luft anhält.

C.A.: Das trainieren wir ja. Aber wenn dich die Welle mitreißt, ist das schon was anderes, da wirst du rumgeworfen wie ’ne Stoffpuppe. Du wirst so richtig in die Mangel genommen. Und du hast keine Kontrolle mehr über deinen Körper. Die Kräfte kommen alle von außen.

C.P.: Konntest du dich überhaupt orientieren?

C.A.: Nicht gleich. Wenn dich die Welle erwischt hat, ist es, als würdest du von einer Lawine mitgerissen – Gewicht, Druck, Geräusche. Du musst warten, bis du wieder im Trog, also im Wellental, bist. Ich hing kopfüber, konnte mich aber aufrichten, und dann konnte ich sehen, wo Licht ist, also der Himmel, und ich wusste, ich kann mich abstoßen und wieder nach oben kommen. Aber dann ist es gleich wieder finster geworden, und ich spürte wieder diesen starken Sog, der mich nach unten gezogen hat.

C.P.: Wie tief warst du denn? Ich meine, wie weit bis zur Wasseroberfläche?

C.A.: Ein Meter?

C.P.: Und dann kam schon die zweite Welle?

C.A.:(nickt)

C.P.: Was hast du gesehen? Konntest du überhaupt was sehen?

C.A.: Es war die Hölle, echt, die Hölle. Die Welle ist auf mich draufgestürzt wie ein Hochhaus, und ich wusste, jetzt ist es aus. Ich konnte nichts tun, null. Ausweichen ging nicht. Und um das ein zweites Mal durchzustehen, hatte ich nicht mehr genug Puste.

C.P.: Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst?

C.A.: Es wurde immer dunkler, und der Druck wurde immer stärker. Die Welle ist auf mich draufgekracht und hat mich runter auf den Meeresboden gedrückt. Ich hab das Bewusstsein verloren. Und als ich wieder zu mir kam, lag ich im Krankenhaus – das war einen Tag später. Mein Arm war gebrochen, und ich hatte ein Schädel-Hirn-Trauma.

C.P.: Aber das war noch nicht alles, oder? Man hat festgestellt, dass du ganze vier Minuten und zwölf Sekunden unter Wasser warst, bevor man dich rausholen konnte. Du hast einen hypoxischen Hirnschaden erlitten und obendrein eine Schocklunge aufgrund des inhalierten Salzwassers.

C.A.: Stimmt.

C.P.: Wie kommt deine Familie damit zurecht?

C.A.:(vergräbt das Gesicht in den Händen) Für die ist es am schlimmsten, noch schlimmer als für mich. Ich kann nicht mehr für sie sorgen, ich bin arbeitsunfähig. Meine Frau hat jetzt zwei Jobs und muss sich außerdem noch um mich kümmern. Und meine Jungs sind noch zu klein, die kapieren nicht, was auf einmal mit ihrem Daddy los ist. Wieso er jetzt nicht mehr mit ihnen Ball spielen oder auf ein Board steigen kann. Man sieht meine Verletzungen ja nicht.

C.P.: Du hast an dem Tag also nicht nur den Weltmeistertitel verloren.

C.A.: Ich hab die einzigen Titel verloren, die mir noch was bedeuten: Ehemann und Vater. Ich wünschte, ich könnte … ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles noch mal ganz anders machen.

C.P.: Was denn anders? Du konntest doch gar nichts machen.

C.A.:(schweigt)

C.P.: Cory?

1. Kapitel

London, April, ein Jahr später

Und die Gewinnerin ist …«

Die Scheinwerfer konzentrierten sich auf die makellos schöne junge Schauspielerin im Goldlamékleid auf der Bühne.

»… Clover Phillips mit Pipe Dreams!«

Applaus brandete auf, und Clover spürte, wie Liam ihre Hand ergriff und fast zerquetschte, wie sich seine stoppelige Wange an die ihre presste.

»Du hast es geschafft!«

»Wir haben es geschafft«, entgegnete sie großzügig. Es war zwar ihr Einfall gewesen, ihr Talent, ihre jahrelange Recherche, ihre Hartnäckigkeit, ihre Interviews, ihre Film- und Schnitttechnik, ihre Präsentation … aber sein Geld. Und Geld regiert die Welt, das war auch hier nicht anders.

Die Scheinwerfer hatten sie bereits gefunden: Ihre Strahlen sättigten sich am schweren grünen Samtstoff ihres Abendanzugs. Clover erhob sich. Im Vorbeigehen wurden ihr Hände entgegengestreckt, sie wurde gestreichelt, getätschelt und gedrückt, jeder wollte etwas von ihrem brandneuen Ruhm abhaben.

Sie erklomm die Stufen und schritt zum Podium, wo man ihr die berühmte BAFTA-Trophäe überreichte, die Bronzemaske mit dem lachenden und dem weinenden Gesicht. Sie war schwerer, als Clover gedacht hätte. Die Schauspielerin, von der sie sie entgegennahm, beugte sich ein wenig vor und begrüßte sie mit einem Luftkuss. Clover stieg ihr Parfüm in die Nase, ein Hauch von Rosenöl und Neroli.

Sie sah sich im Auditorium um, lauter bekannte Gesichter in einer ihr fremden Welt. Doch die Reaktion dieser Menschen verriet, dass sie jetzt dazugehörte, dass ihr mit dem Gewinn dieser Trophäe die Türen zum Club der Reichen und Schönen offen standen. All diese Promis kannten jetzt den Namen Clover Phillips, bewunderten ihre Arbeit. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt, und jetzt war sie drin.

Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, wurde immer breiter. Die Leute hörten gar nicht mehr auf zu klatschen, und Clover sonnte sich einen Moment lang in ihrem Ruhm. Allmählich gewöhnte sie sich daran, Reden dieser Art zu halten.

Sie nickte und rief: »Danke! Vielen Dank!«

Die Hand aufs Herz gepresst, nahm sie die Anerkennung des Saals entgegen, wartete ab, bis sich der Lärm ein wenig legte. Dabei hatte sie ständig die Zeitanzeige im Blick, die, abseits der Kameras, die Sekunden ihrer Redezeit herunterspulte. Clover blieben noch genau vierundachtzig Sekunden, ehe der Moderator des Abends – ein bekannter Comedian, dessen scharfe Zunge Clover vermeiden wollte – auftauchen und sie von der Bühne scheuchen würde. Die Sendung sollte schließlich pünktlich zu den Zehn-Uhr-Nachrichten vorüber sein.

Zweiundachtzig …

»Ladys und Gentlemen, verehrtes BAFTA-Komitee«, begann Clover und überlegte, ob sie ihre Redenotizen hervorholen sollte, die in der Tasche ihres Smokings steckten. »Ich möchte mich im Namen aller Mitarbeiter von Honest Box Films bei Ihnen für diese außerordentlich große Ehre bedanken. Es freut mich sehr, dass auch Sie, ebenso wie ich, von Cory Allbrights Geschichte mitgerissen wurden und dem Film dank dieser Auszeichnung eine noch größere Reichweite verschaffen. Denn ist es nicht unser aller Ziel, Licht ins Dunkel zu bringen? Die Botschaft der Hoffnung und des Rechts auf eine zweite Chance dorthin zu tragen, wo sie am allernötigsten gebraucht werden? Als ich mit dieser Idee einer Dokumentation an Cory und seine Familie herantrat, hätte niemand ahnen können, auf was für ein großes Interesse dieser Film weltweit stoßen würde. Ich weiß, wie gerne Cory hier erschienen wäre, um sich selbst bei Ihnen bedanken zu können.«

Clovers Blick schweifte über das Meer von Zuschauern. »Aber das ist leider unmöglich, wie wir alle wissen. Cory Allbright war stets der Held der kleinen Leute, der Underdog, der sich gegen alle Widerstände durchgesetzt und es bis in die Pro Surf World Tour geschafft hat. Jahrelang war er der Vizemeister, der Verfolger, die Nummer zwei der Weltspitze. Und als er dann schließlich kurz vor dem ersehnten Erfolg stand, da hat ihn die Welt angefeuert, hat sich für ihn gefreut. Wir wollten ihn gewinnen sehen, wir hätten es ihm so gegönnt, denn wenn es einen gab, der es verdient hätte, dann er. Es wäre sein größter Moment gewesen.« Clovers Strahlen erlosch. »Aber dann ist es doch ganz anders gekommen – ein einziger kurzer Moment, nicht einmal von ihm selbst herbeigeführt, entschied über sein Schicksal.«

Erneut ließ Clover den Blick über die Menge schweifen, ihr saß ein Kloß im Hals. Auch unter den Zuschauern hatten viele traurige Mienen, gerunzelte Stirnen. »Er verlor alles – nicht nur die Sponsorengelder, das Preisgeld, von dem seine junge Familie abhing, sondern obendrein seine Kraft, seine Gesundheit, ein schmerzfreies Leben.« Clover schwieg, ließ ihre Worte wirken.

»Zu gerne wäre ich jemand, der nur von Happy Ends berichtet. Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass man alles erreichen kann, wenn man nur hartnäckig, nur leidenschaftlich genug ist. Aber wenn das wirklich der Fall wäre, dann würde heute Abend Cory selbst vor Ihnen stehen. Ich dagegen kann nur eins anbieten.« Aus dem Augenwinkel nahm Clover die ablaufende Zeit wahr: dreiunddreißig, zweiunddreißig …

»Ein Ende muss nicht glücklich sein, es geht dennoch einem Neubeginn voraus, das ist so sicher, wie die Sonne auf den Mond folgt. Hoffnung gibt es immer. Wir müssen nach vorne schauen, nach oben. Wir müssen weiterkämpfen, für die nächste Chance. Cory kämpft weiter, selbst wenn sein Leben, wie er es kannte, an jenem Oktobertag 2017, am Supertubos Beach in Peniche, Portugal, zu Ende ging. Mit seinem Mut und mit seiner Zähigkeit zeigt er uns, dass Gewinner zwar im Rampenlicht stehen, doch dass die wahren Helden Licht ins Dunkle bringen.« Sie hielt die funkelnde Trophäe hoch. »Vielen Dank, BAFTA, dafür, dass ihr eine weitere Fackel entzündet habt.«

Der Applaus brandete bereits auf, noch ehe sie zu Ende gesprochen hatte; einige sprangen von ihren Sitzen auf, andere folgten. Und es wurden immer mehr.

Vier – drei – zwei … Die Zeit war abgelaufen, aber der Applaus wollte nicht aufhören. Verwundert, ja ehrfürchtig, schweifte Clovers Blick durch den Saal. Die Menge jubelte ihr zu, darunter Meryl Streep, Emma Thompson, Gillian Anderson, George Clooney, alle nickten und applaudierten. Natürlich jubelten sie nicht ihr, Clover Phillips, zu. Der wahre Held des Abends war Cory Allbright, ihm wollten sie auf diese Weise ihren Beistand, ihre Unterstützung zeigen. Hoffentlich schaute er zu.

Clover reckte noch einmal die Trophäe, wandte sich dann zur Seite und ging von der Bühne ab. Ein Backstagemanager mit Headset nahm sie in Empfang und schleuste sie am nächsten Laudator vorbei, der schon bereitstand. Erst als sie sich an ihm vorbeischob, fiel Clover auf, dass es Daniel Craig war.

»Herzlichen Glückwunsch, Ms Phillips!«, sagte er mit seiner klangvollen Stimme.

Clover öffnete erstaunt den Mund. Daniel Craig kannte ihren Namen! Doch schon im nächsten Moment wurde er angekündigt und trat hinaus ins Scheinwerferlicht.

Man führte sie aus dem Backstagebereich hinaus und zu einem der Seiteneingänge in den Saal. Unterwegs wurde ihr auf die Schulter geklopft und von allen Seiten gratuliert. Clovers Blick richtete sich immer wieder ungläubig auf die Trophäe in ihrer Hand.

Die Tür zum Auditorium wurde für sie geöffnet, und abermals schlug ihr der Lärmpegel entgegen. Sie blieb unwillkürlich eine Sekunde lang im Eingang stehen und starrte in den Saal, auf die makellosen Profile der geladenen Gäste. Es kam ihr vor wie ein Traum.

»Mick bringt Sie zurück an Ihren Platz«, sagte der Backstagemanager und übergab sie in die Obhut eines anderen Helfers.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden, Ms Phillips«, sagte Mick und ging voran. Vorne auf den Großbildschirmen liefen soeben die Clips der Nominierungen für die nächste Kategorie, was Clover Deckung bot, um wieder auf ihren Platz am Rand ihrer Sitzreihe zurückzukehren. Ihre Stadionrunde hatte gerade einmal drei Minuten in Anspruch genommen.

Liam zwinkerte ihr zufrieden zu. »Habe schon zahlreiche Glückwünsche entgegengenommen«, flüsterte er, sobald sie Platz genommen hatte. »Und Lewis Hamiltons Agent hat angerufen, er würde sich gerne nächste Woche mit uns zum Lunch treffen.«

Clover zog eine Augenbraue hoch, sie wusste, was er damit sagen wollte: Hamilton könnte ihr nächstes Sujet werden. Clovers allererste Dokumentation – sie kam frisch von der Filmhochschule – über das Leben und den tragischen Tod der Fashion-Stylistin Isabella Blow war im Internet viral gegangen. Und ihre nächste Arbeit über das Trauma von drei Überlebenden des Grenfell-Hochhausbrands in London, die danach obdachlos geworden waren, hatte ebenfalls große Anerkennung gefunden. Clover erwarb sich langsam, aber sicher den Ruf besonders großer Einfühlsamkeit und eines sicheren Gespürs für die Schwächsten der Gesellschaft.

»Diversität in der Formel 1! Und dann auch noch ein Rennfahrer mit Ritterschlag …«, flüsterte Liam ihr zu. »Das läuft von selbst, das hat Hand und Fuß.«

»Das hast du auch über Angelina Jolie gesagt«, flüsterte sie zurück. Ms Jolies Team hatte nach dem Gewinn des Golden Globes erste Fühler in ihre Richtung ausgestreckt.

»Na, die hat neben Hand und Fuß noch einiges mehr zu bieten.« Liam grinste anzüglich.

Clover warf ihm einen Seitenblick zu. Ihr Geldgeber war ein ehemaliger Banker, der von Tech-Aktiengeschäften zum Filmgeschäft gewechselt hatte, wie magisch angezogen vom Glamour der Reichen und Berühmten. Nichts liebte er mehr, als in Luxushotels abzusteigen, Cocktails zu schlürfen, mit Schauspielerinnen zu flirten oder sich in Cannes auf Jachten in die Sonne zu legen. Natürlich übte diese Welt einen besonderen Reiz aus, das konnte auch Clover nicht bestreiten. Doch obwohl sie nun selbst eine Art Star war, wusste Clover (im Gegensatz zu Liam), dass sie nicht in diese Welt passte. Als Dokumentarfilmerin musste sie zwangsläufig Distanz wahren, musste von außen durchs Fenster nach drinnen blicken. Sie kam um die unbequemen Fragen nicht herum, es war ihre Aufgabe, Fassaden einzureißen, zu demaskieren, mit der Kamera zum wahren Kern vorzudringen.

»Selbst James Bond kennt jetzt meinen Namen, da kann ich mir ja wohl ein bisschen Zeit gönnen, bevor ich mich für mein nächstes Projekt entscheide«, wandte sie ein, nachdem alle Filmclips gezeigt worden waren. Es gab abermals Applaus, und Daniel Craig riss den Umschlag auf.

»Mag sein, aber ruh dich bloß nicht zu lange auf deinen Lorbeeren aus«, sagte Liam leise. »Wir können es uns nicht leisten, noch mal drei Jahre zu warten, bis der nächste Film fertig ist. Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Und im Moment ist es heiß. Du weißt ja, was ich immer sage: konsolidieren oder …«

»Kapitulieren, ich weiß.« Clover seufzte. Es verging kaum ein Tag, an dem er das nicht sagte.

»Wir müssen den günstigen Wind ausnutzen, man weiß nie, wann er umschlägt …« Er nahm einen tiefen Atemzug, als würde er an einer seiner geliebten Montecristo-Zigarren schnuppern. »Und deshalb will ich, dass wir mit dem nächsten Film in Cannes debütieren.«

»Was, schon nächstes Jahr?«, quiekte Clover erschrocken. Mehrere Köpfe wandten sich zu ihnen um.

»Selbstverständlich«, antwortete Liam mit einem breiten Grinsen, als wäre das eine Kleinigkeit. Aber bis zum nächsten Frühjahr oder Sommer einen ganzen Film fertigzustellen, das war mehr als knapp. Die Vorstellung, es wäre möglich, innerhalb von elf Monaten ein neues Projekt umzusetzen – inklusive Recherche, dem Filmen selbst und dann natürlich dem Schnitt –, zeigte einmal mehr, dass Liam keine Ahnung von der Branche hatte. Pipe Dreams hatte zweieinhalb Jahre solider Planung und Arbeit in Anspruch genommen.

Als Clover sich zu ihm beugte, fiel ihr das lange blonde Haar wie ein seidiger Schleier über die Schultern. Der Gewinner wurde verkündet, und es wurde erneut applaudiert. Kaum zu fassen, wie viel auf solchen Veranstaltungen applaudiert wurde. »Liam, das ist nicht zu schaffen, das ist einfach unrealistisch.«

Er zuckte nur mit den Schultern. »Muss es aber – zu schaffen sein, meine ich.« Auch er applaudierte, den Blick nach vorn zur Bühne gerichtet, wo soeben die nächste Gewinnerin aufs Podium trat. »Die anderen Investoren wollen grünes Licht für das nächste Projekt. Jetzt ist nicht die Zeit zum Däumchendrehen – jetzt muss gehandelt werden.«

»Aber …«

Liam wandte sich ihr zu und lächelte durchtrieben. »Du schaffst das schon, Clover, das weiß ich. Bloß nicht zu viel nachdenken. Folge einfach deinem Bauchgefühl, dann wird sich die nächste Geschichte schon rechtzeitig manifestieren.«

Der Wagen löste sich unter einem Blitzlichtgewitter, das selbst durch die getönten Scheiben blendete, vom Bordstein und fädelte sich in den Londoner Verkehr ein. Glücklicherweise galt die Aufmerksamkeit der Paparazzi nicht Clover, sondern der schönen Schauspielerin im Goldlamékleid, die soeben, in Begleitung von Timothée Chalamet, den Nachtclub verließ.

Clover ließ erschöpft den Kopf an die Stütze sinken und schloss unwillkürlich die Augen. Wie anstrengend solche After-Partys doch waren, dieses Meet-and-Greet mit Promis. Liam war mit ein paar Produzenten von Helen Mirrens Tisch noch weitergezogen und hätte es gerne gehabt, dass sie ihn begleitete, aber Clover wollte nur noch eins: ins Bett. Sie waren jetzt schon seit Monaten auf Tour, von einer Preisverleihung zur nächsten. Tagsüber standen Meetings mit Filmverleihern auf dem Programm, nachts applaudierten sie in Abendgarderobe. Immerhin war es ihnen gelungen, ihren Film in fünfunddreißig Länder zu verkaufen – nicht zuletzt dank der Auszeichnung bei den Golden Globes. Es gab kaum ein Land, in dem Cory Allbrights Geschichte noch nicht bekannt war.

Cory … Sie hatte noch gar keine Gelegenheit gehabt, ihm die tollen Neuigkeiten mitzuteilen.

Wie spät war es dort drüben überhaupt? Clover rechnete rasch nach. Hier war es halb zwei morgens, dann war es in San Francisco … halb sechs abends. Sie suchte seine Nummer und tippte auf »wählen«, drückte sich das Handy ans Ohr und sah aus dem Fenster. Sie fuhren soeben die Queen’s Gate entlang, vorbei an prächtigen Museen und nicht weniger beeindruckenden Botschaftsgebäuden, alle kunstvoll angeleuchtet. Ein Pärchen führte seinen Hund zu dieser späten Stunde Gassi.

»Hey!« Selbst dieses eine Wort verriet Hektik.

»Mia? Ich bin’s, Clo.«

»Clo!«, rief Mia erfreut. Clover konnte die Freundin förmlich vor sich sehen, wie sie, mit einem Wäschekorb auf der Hüfte, abrupt stehen blieb oder beim Rühren einer würzigen Soße innehielt, während Klein Brady wie eine aufgedrehte Billardkugel in der Küche herumtollte und auch unbedingt zu seinen Brüdern hinaus an den Strand wollte. »Wie war’s?«

»Es war ein voller Erfolg. Noch ein handfester Beweis, wie sehr die Welt deinen Mann liebt und bewundert!«

»Ach, das wird ihn freuen.«

Clover runzelte die Stirn. Sie kannte die Familie inzwischen gut genug, um zu spüren, wenn etwas nicht stimmte. »Alles in Ordnung?«

»Doch, schon. Klar.«

Aber davon ließ sich Clover nicht täuschen. »Er hat wohl einen schlechten Tag, was?«

Ein Zögern, dann: »Ja, ein bisschen.«

»Ist er auf?«

Wieder ein Zögern. »Nein.«

»Und gestern?«

»Nein.«

»Scheiße«, flüsterte Clover, und ihr verging die Freude an ihrer Auszeichnung.

Ihr Blick fiel unwillkürlich auf die Trophäe in ihrem Schoß, auf die Maske mit dem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck – ein perfektes Symbol für die Situation. Sie hatte den ganzen Abend lang ihren Triumph gefeiert, während Cory und seine Familie einen weiteren Tag mit den Folgen seines Unfalls leben mussten. Clover war die Einzige außerhalb der Familie, die wusste, was das hieß. Sie war dabei gewesen, als Mia eines Abends am Strand zusammengebrochen war und um den Mann geweint hatte, den sie vor wenigen Jahren geheiratet hatte und der nie wieder so sein würde wie zuvor.

»Es tut mir so leid«, sagte sie leise.

»Ach was, du weißt ja: Wir müssen die Dinge nehmen, wie sie sind«, drang Mias tapfere Stimme an ihr Ohr.

»Ist es die Lunge?« Es konnte alles Mögliche sein –Kopfschmerzen, Doppeltsehen, Stimmungsschwankungen, Panikattacken, eine tiefe Depression.

Eine weitere Pause trat ein, diesmal eine längere, und als Mias Stimme schließlich durch den Hörer kam, klang sie erstickt. »Er hat nur eine seiner düsteren Phasen, das geht vorüber. Wir müssen’s einfach durchstehen. Bestimmt steht er morgen wieder auf.«

Oder auch nicht, das wusste Clover. Sie hatte zwei Wochen lang bei ihm in einem abgedunkelten Zimmer gesessen und miterlebt, wie er vor Schmerzen stöhnte oder aber seine Wut herausbrüllte, nur um dann wieder in grimmiges Schweigen zu verfallen. Es war seine Unberechenbarkeit, die Clover am meisten Angst eingejagt hatte. Und dann war da noch Mia gewesen, die vor der Tür stand und sie anflehte, doch lieber wieder herauszukommen. Es sei schon schlimm genug, das von draußen, von außerhalb des Zimmers, ertragen zu müssen, wo zumindest noch die Sonne durch die Schlitze in der Jalousie hereinscheinen durfte. Und dennoch: Clover wusste, sie würde sein Vertrauen nur erringen, wenn sie es mit ihm zusammen, hier im dunklen Zimmer, ertrug. Nur dann würde es ihr gelingen, die Wände einzureißen, die er um sich herum errichtet hatte, und ihn zum Reden zu bringen. Als sie dann irgendwann zusammen aus diesem Zimmer hinausgetaumelt waren, hatte sie zwei Kilo abgenommen gehabt und einen ganzen Tag lang gebraucht, um ihre Augen wieder an das Tageslicht zu gewöhnen. Und sie wusste, für sie, Clover, war diese Zeit eine einmalige Erfahrung gewesen; Cory hingegen wurde von solchen Depressionen so regelmäßig heimgesucht wie der Himmel von Sturmwolken. Er konnte dann nicht funktionieren, geschweige denn arbeiten.

»Kann ich irgendwas für euch tun, Mia? … Braucht ihr Geld?« Clover nahm kein Blatt vor den Mund, aber sie gehörte inzwischen ja fast zur Familie. Neun Monate lang hatte sie mit den Allbrights zusammengelebt, hatte mit ihnen gegessen, mit ihnen geweint. Sie wusste genau, wie es um sie stand.

Sie hörte Mia schlucken. »Wir werden das Haus verkaufen müssen. Es wird Zeit, glaube ich.«

Clover schloss die Augen. Die Familie lebte in einem heruntergekommenen kleinen Holzbungalow, dessen leuchtend blauer Anstrich bereits abblätterte, ebenso die gelbe Farbe der Fensterläden. Reparaturen waren dringend nötig, aber da sie über Jahre verschleppt worden waren, würden sie natürlich umso teurer werden. Es regnete zum Dach herein, und während eines Sturms fühlte es sich mitunter an, als würde das kleine Haus jeden Moment weggerissen werden. Es hatte einen großen offenen Wohnbereich mit Küche und Wohnzimmer, dazu drei Schlafzimmer – die drei kleinen Söhne teilten sich eins davon – und eine breite, überdachte Veranda, die sich um das ganze Haus herumzog.

Aber es ging bei einem Verkauf gar nicht so sehr um den alten Bungalow, selbst den Allbrights nicht. Wertvoll, ja fast unbezahlbar, war das Grundstück selbst, ein kleines, aber traumhaftes Stück Land mit einer eigenen kleinen Bucht, auf einer langen Felszunge direkt an der Spitze der Half Moon Bay gelegen. Die berühmte Surfbucht Mavericks lag gleich um die Ecke. Cory behauptete immer, sie hätten die beste Aussicht von ganz Kalifornien.

Die gesamte Familie verbrachte ihr Leben entweder am oder im Meer. Sie alle konnten Wellengang und Windverhältnisse einschätzen, ohne einen Fuß an den Strand setzen zu müssen. Ein Haus war schließlich nur ein Haus, aber wenn sie verkauften, würden sie sich nie wieder eine solche Lage leisten können. Es war das einzige Privatgrundstück weit und breit, am Rand eines weitläufigen Militärübungsgeländes. Cory hatte es einem alten Mann abgekauft, der es wiederum der Army abgeluchst hatte, nachdem das kleine Grundstück nach dem Zweiten Weltkrieg jahrelang ungenutzt geblieben war. Schon vor seiner Hochzeit mit Mia hatte Cory dort immer mit seinen Surfbuddys abgehangen. Ein paar von ihnen hatten mit sandigen Füßen auf dem Sofa geschlafen, ein paar auch auf dem Fußboden, damit sie bei Sonnenaufgang sogleich wieder zurück in die Wellen konnten.

»Da ist so ein Immobilienmakler, der schnüffelt schon seit Corys Unfall hier herum. Als er das erste Mal aufgetaucht ist, hat Cory gedroht, ihm die Zähne auszuschlagen, wenn er’s noch mal wagt, unser Grundstück zu betreten … Er hat mir trotzdem seine Visitenkarte dagelassen und … Na ja, ich hab sie nicht weggeworfen.« Es hörte sich an, als würde sich Mia schämen, als sei sie Cory damit irgendwie untreu geworden.

Clover hatte Verständnis für Mias Situation, aber sie wusste auch, was ein Verkauf für Cory bedeuten würde. Einen härteren Schlag gäbe es nicht für ihn. Nachdem er ohnehin alles verloren hatte, würde er dann nicht einmal mehr auf seiner Veranda sitzen und aufs Meer hinausblicken können. Sie beobachteten dort oft Delfine und Buckelwale, so wie ein Londoner im Battersea Park grüne Papageien. Was würde aus ihm werden, wenn er aus dem Fenster auf eine blanke Mauer starren müsste?

»Aber ich dachte, ihr hättet ein paar interessante Angebote bekommen?«, fragte sie leise.

»Schon. Ein paar Angebote für Werbeverträge, aber das reicht nicht. Der Rest, der reinkommt, ist völlig utopisch. Auf Motivationsveranstaltungen auftreten und Vorträge halten, schön und gut, aber ich glaube nicht, dass Cory überhaupt reisefähig ist. Er weiß ja auch nie, wie ihm am nächsten Tag zumute ist, ob er dann wieder mal fürchterliche Kopfschmerzen hat.« Mia gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Seine früheren Sponsoren haben sich auch wieder gemeldet, wollten wissen, ob er an ein paar Free-Surfing-Aufnahmen interessiert wäre.«

»Free-Surfing?« Clover war entsetzt. Es mochte ja nicht um Preisgelder gehen, aber die Risiken, die den Surfern hier zugemutet wurden, nur um möglichst spektakuläre Aufnahmen für Filme oder Werbespots zu bekommen, waren kaum geringer. »Die Surfer, die das machen, unterscheiden sich doch kaum von Stuntmen. Was die für Filmaufnahmen alles riskieren müssen …«

»Ich weiß. Und Cory weiß es auch. Deswegen geht’s ihm ja auch so schlecht, glaube ich. Das erinnert ihn jedes Mal daran, dass er nie wieder zu dieser Welt dazugehören kann. In welcher Form auch immer.«

»Ach, Mia.«

»Das Schlimmste ist, dass die, glaube ich, sehr wohl um die Risiken wissen und dass ein weiterer Unfall ihn das Leben kosten könnte. Die wollen einfach nur gut dastehen, verstehst du? Bei dem ganzen Hype um den Film soll es nicht so aussehen, als ob sie ihn einfach fallen gelassen hätten wie ’ne heiße Kartoffel.«

»Aber genau das haben sie doch!«, rief Clover wütend aus. Sie wusste, dass der Verlust der Sponsorenverträge Cory schwer getroffen hatte. Es hatte ihm bestätigt, dass sein altes Leben und alles, was damit verbunden war – Kraft, Fitness, Vitalität, Erfolg –, für immer vorbei war.

»Allerdings. Die meinten noch, vielleicht könnte er ja ein paar Gastauftritte absolvieren, mit auf Tour kommen, vielleicht als Preisrichter. Ach, ich weiß nicht, ist doch alles Bullshit.« Sie seufzte frustriert. »Seitdem hat er das Bett nicht mehr verlassen.«

»Herrje.« Clover starrte auf ihre Trophäe und sah jetzt eindeutig ein weinendes Gesicht. Kein Wunder, dass Mia niedergeschlagen war. Und der Ruhm des Films würde nach dieser Auszeichnung noch steigen, Cory würde noch mehr solch hirnrissige Angebote erhalten, die ihn noch tiefer in die Depression treiben würden. »Und die Fans? Werdet ihr immer noch belagert?«

Der Film hatte zunächst auf dem Toronto Filmfestival gewonnen, danach in Venedig, und das hatte dazu geführt, dass der bescheidene kleine Bungalow der Allbrights regelrecht zu einer Art Wallfahrtsort für Fans geworden war. Sie lagerten seit Monaten dort.

Mia stieß ein spöttisches, fast schon hysterisches Lachen aus. »Mein Gott, ja! Wir kommen uns schon vor, als würden wir in einem Schrein wohnen, den die Leute anbeten. Echt, die zünden Kerzen an! Ich hab ständig Angst, dass sie uns aus Versehen noch das Haus abfackeln!« Sie holte tief Luft, um sich wieder ein wenig zu beruhigen. »Ich weiß, es ist gut gemeint. Sie wollen uns ihre Liebe und Unterstützung zeigen, aber mich macht das so … so wütend! Am liebsten würde ich sie anschreien, sie sollen sich verpissen. Er lebt ja noch, er ist schließlich noch nicht tot, oder?«

»Nein, natürlich nicht.« Clover merkte erst jetzt, dass der Wagen angehalten hatte, dass sie bei ihr zu Hause angekommen waren. Sie hob den Zeigefinger, um dem Fahrer zu signalisieren, er solle noch einen Moment warten.

Mia war mit den Nerven am Ende, sie brauchte Trost. Sie brauchte eine Freundin. Drei kleine Kinder, der Ehemann arbeitsunfähig, zwei Jobs auf einmal und trotzdem permanent in Geldnot … Clover konnte ihre unterdrückte Wut spüren, selbst auf die Entfernung.

»Hör zu, ich weiß, ihr wart immer dagegen, aber vielleicht ist ein Verkauf doch keine so schlechte Idee?« Clover versuchte, möglichst optimistisch zu klingen. »Vielleicht ist ein Neuanfang ja genau das, was ihr braucht, auch wenn’s euch momentan nicht so vorkommt. Cory liebt das Meer, ich weiß, aber vielleicht tut es ihm ja gar nicht mehr so gut, es täglich vor Augen zu haben? Wie eine Art Folter? Als würde man einen Alkoholiker vor eine Flasche Wein setzen? Man wird ständig an das erinnert, was nicht mehr möglich ist, was man verloren hat.«

Mia schwieg einen Moment lang. »Ja, kann sein«, sagte sie schließlich.

Clover war selbst alles andere als überzeugt. »Zumindest finanziell würde es euch dann besser gehen. Mia, ihr müsst euch das Leben ein wenig leichter machen, so geht das doch nicht weiter.«

»Ich weiß.«

Clover biss sich auf die Unterlippe. »Hast du schon mal mit ihm darüber geredet? Über einen Verkauf?«

»Noch nicht. Ich bring’s nicht über mich.« Mias Stimme brach. »Es schnürt mir jedes Mal die Luft ab, wenn ich nur dran denke, mit ihm über so was reden zu müssen … Das bringt ihn um, ich schwör’s dir, das bringt ihn um.«

»Nicht doch, Mia, sag das nicht«, beschwichtigte Clover. »Anfangs wird er sich natürlich widersetzen, aber vielleicht ist das ja genau das, was ihr braucht. Ein radikaler Neuanfang. Ihr lebt im Moment doch nur ein halbes Leben, ihr klammert euch an das, was nicht mehr sein kann. Vielleicht ist das ja der einzige Weg nach vorn.«

Keine Antwort.

»Mia? Bist du noch dran?«

»Ja.« Es klang trostlos.

»Hör zu, du weißt ja, dass ich übernächste Woche sowieso rüberkommen werde.« Das Wort »Oscars« sprach Clover lieber nicht aus. Nicht gerade jetzt. Was hatten die Allbrights von Ruhm, wenn die Not sie derart niederdrückte? »Ich komme hinterher gleich zu euch, dann können wir reden. Ich könnte dir helfen, es ihm schonend beizubringen. Wenn du willst? Vielleicht ist es ja leichter, wenn er’s von uns beiden hört.«

»Das würdest du tun?«

»Klar, wenn du glaubst, dass es hilft.«

»Okay, mal sehen, wie’s läuft.« Mia seufzte schwer. »Du bist so gut zu uns, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Mia, ihr seid meine Freunde. Du weißt doch, ich würde alles tun, um zu helfen. Ich stehe zu euch, komme, was wolle.«

2. Kapitel

Wir sind mehr oder weniger auf der Zielgeraden, ganz sicher«, behauptete Johnny, der breitbeinig auf seinem Stuhl fläzte und eine E-Zigarette paffte. »Jeder weiß doch, dass die BAFTAs ein Antezedens für die Oscars sind.«

»Hast du gerade ›Antezedens‹ gesagt?«, frotzelte Matty, während sie die Enden ihres mit karamellfarbenen Highlights aufgehellten Haars nach Spliss absuchte.

»He! Bloß weil ich von Beruf Kameramann bin, heißt das nicht, dass ich ungebildet bin.«

»Dann sieh dich doch mal an. Diese Klamotten! Du siehst aus wie ein Penner.« Matty rümpfte die Nase über Johnnys zerschlissene, ungewaschene Jeans. »Wenn du willst, dass man dich ernst nimmt, dann …«

»Kinder, seid nett zueinander!«, mahnte Clover, die neben dem Wasserkocher auf der Anrichte saß.

Die Fensterscheiben in ihrer Küche waren mit Kondenswasser angelaufen, und der Blick auf die rote Ziegelwand des Nachbarhauses war verschwommen. Es war morgens noch recht frostig, aber die Ölheizung verströmte eine rosige Wärme. Leise vor sich hin tickend, kauerte sie in der Ecke, wie eine Art Haustierersatz. Auf ihrer letzten »Personalversammlung« hatten sie überlegt, ob nicht ein Aquarium angeschafft werden solle, nur um ihre Arbeitsumgebung ein wenig zu beleben.

»Wer in London gewinnt, gewinnt auch in L. A., mehr will ich damit gar nicht sagen«, meinte Johnny mit einem Schulterzucken.

»Nicht unbedingt«, widersprach Matty. »Bester Schauspieler oder beste Schauspielerin, ja. Aber nicht, wenn es um den besten Film geht. Und die Kategorie Dokumentarfilm ist sogar noch unberechenbarer.«

»Aber fünfhundert Juroren sitzen in beiden Jurys«, argumentierte Johnny, als ob dies den Ausschlag gäbe.

»He, Leute, Schluss mit der Diskussion!«, rief Clover die beiden zur Ordnung und sah sie streng an – Matty, die sich die Hände an ihrer Teetasse wärmte, und Johnny, der an seiner E-Zigarette sog. Die beiden sahen nicht so aus, als bildeten sie zwei Drittel eines mit Preisen überhäuften Dokumentarfilmer-Teams. »Es kommt, wie’s kommt, Spekulationen führen zu nichts.« Clover wollte lieber nicht an die bevorstehende Oscarverleihung denken, denn dann krampfte sich ihr sofort der Magen zusammen. Hinzu kam dieses Telefonat mit Mia am gestrigen Abend. »Viel wichtiger ist doch, was wir als Nächstes planen. Was kommt nach alldem hier?«

Clover wies mit einer ausholenden Armbewegung auf das Blumenmeer in der Küche. Seit dem frühen Morgen war eine Lieferung nach der anderen eingetroffen, weiße Rosen, gelbe Rosen (in gestreiften Eimern), Lilien, Freesien und überdimensionierte Orchideen. Von Louis Theroux stammte ein Körbchen mit frischen Muffins, und in einer Ecke schwebte unter der Decke eine gigantische Traube Luftballons, als wäre sie aus dem Film Oben entfleucht oder habe sich von einer Kinderhand losgerissen. Johnny hatte sich großzügig bereit erklärt, sich des Champagners anzunehmen, den Liam geschickt hatte. Er benutzte die Kiste vorsorglich als Fußschemel.

Zwischen den Blumen, aufgereiht auf dem Küchentisch, standen die Preise, die sie im Verlauf des Jahres eingeheimst hatten. Den Ehrenplatz nahm natürlich die BAFTA-Trophäe ein, ihre bisher wichtigste Auszeichnung, eingerahmt von Salz- und Pfefferstreuer auf der einen Seite und einer Flasche Ketchup (natürlich eine Glasflasche, keine Plastikflasche, denn Matty legte Wert auf einen gewissen Standard) auf der anderen.

»Wozu die Eile?«, fragte Johnny. »Lasst uns doch erst mal unseren Erfolg genießen.«

»Würde ich ja gern.« Clover seufzte. »Aber das geht leider nicht. Liam will, dass wir mit unserem nächsten Projekt in Cannes debütieren.«

»Wie bitte?«, fragte Matty entsetzt. Sie war für Recherche, PR und Marketing zuständig und wusste daher schon von Berufs wegen, wann die wichtigsten internationalen Filmfestspiele jeweils stattfanden. Und da sie für das ganze Drumherum verantwortlich war, erkannte sie auch, dass sie für ihr nächstes Projekt nur elf Monate Zeit haben würden. Für ein größeres Produktionsteam wäre das kein Problem, aber Honest Box Films bestand nur aus ihnen dreien … und ihre Aufgabenbereiche überlappten sich so weit, dass die jeweiligen Berufstitel mehr oder weniger Makulatur waren. Jeder von ihnen machte mal Kaffee, erledigte die Post, übernahm auch mal die Kamera und war am Filmschnitt beteiligt.

Und das wollten sie auch gar nicht anders. Liams Vorschlag, sie sollten mit einem Teil des Budgets zusätzliche Mitarbeiter einstellen, stieß auf wenig Zustimmung. Clover war davon überzeugt, dass ihre Dokus nur deshalb so authentisch waren, weil ein derart kleines Team für alles verantwortlich war, von der Konzeption bis zur Fertigstellung. Alle drei hatten die Leeds Film School besucht, waren aber erst im letzten Semester Freunde geworden, als sie für ihr Abschlussprojekt zusammenarbeiten mussten. Dabei waren sie völlig unterschiedlich: Johnny, ein Technik-Nerd, war vom Nobelinternat geflogen, und zwar nicht etwa wegen Alkohol- oder Drogenexzessen, sondern weil er morgens nie aus dem Bett kam. Matty, die gertenschlanke Tochter eines Schlossers, hatte das Geld für ihr Studium als Kellnerin verdient, was ihren Ehrgeiz nur noch mehr anstachelte, vor allem wenn sie Studenten aus reichem Hause, wie Clover und ihrer Clique, die Drinks servieren musste. Dennoch waren diese beiden, mit denen sich Clover ansonsten nicht im Traum angefreundet hätte, inzwischen ihre engsten Vertrauten, ja fast so etwas wie ihre Familie geworden.

Die Frauen wohnten nur zehn Minuten voneinander entfernt, beide in Battersea, und Johnny, der in Shepherd’s Bush wohnte, brauchte mit seinem Motorrad ebenfalls nur zehn Minuten bis zu ihnen. Eigentlich spielte es keine große Rolle, ob sie sich zum Arbeiten oder einfach nur so bei Clover trafen. In beiden Fällen machten sie es sich in der Küche ihrer kleinen Wohnung im ersten Stock gemütlich, saßen am Tisch oder auf diversen Anrichten herum und malten Smileys an die angelaufenen Fensterscheiben.

Clover ächzte laut auf. »Geht mir wie dir. Aber er besteht nun mal darauf. Wir sollen ihm bis Ende des Monats unsere Projektideen unterbreiten oder …«

Oder der Geldhahn wurde zugedreht. Clover musste es nicht aussprechen. Alle drei empfanden eine Art Hassliebe für ihren großzügigen, aber vollkommen unrealistischen Produzenten und Geldgeber. Hatte er denn schon vergessen, dass es Monate gedauert hatte, bis sie Mia die Zustimmung zu dem Filmprojekt abgerungen hatten? Und dass Cory zu dem Zeitpunkt niemanden sehen wollte, nicht mal seine Frau? Um das Vertrauen der Familie zu gewinnen, hatten sie monatelang bei ihnen gelebt. Und am Schluss hatte das Filmmaterial ja noch ausgewertet und geschnitten werden müssen.

»Na gut«, erwiderte Matty einigermaßen gefasst. »Wenn er so ein blöder Sack ist, dann müssen wir das Ganze eben vereinfachen. Der letzte Film hat ja vor allem deshalb so viel Zeit in Anspruch genommen, weil Cory anfangs gar nicht mitmachen wollte.«

»Mag sein, aber dafür ist jetzt auch so viel Herzblut drin.« Clover presste die Hand auf das betreffende Organ.

»Ja, aber ausgebremst hat es uns schon, sehr sogar«, beharrte Matty, pragmatisch wie immer. »Und wenn Lichtgeschwindigkeit gewünscht wird, müssen wir uns eben jemanden suchen, der zur Abwechslung mal damit einverstanden ist, dass wir ’ne Doku über ihn oder sie drehen.« Matty zuckte mit den Schultern. »Also, wen gäbe es, der sich freuen würde, wenn wir seine Geschichte erzählen?«

Clover runzelte die Stirn. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass Matty bereits eine Antwort vorschwebte. »Denkst du an jemand Bestimmten?«

Mattys Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Angelina Jolie, würde ich sagen.« Seit der Anruf von Jolies Hollywood-Agentin gekommen war, kämpfte Matty geradezu um diesen Auftrag. Sie hatte mehrere Tage gebraucht, um sich von dem Schock zu erholen, und seitdem hieß es »Nancy« hier, »Nancy« da, als ob die Agentin und sie alte Freundinnen wären. »Angelina ist UNICEF-Botschafterin und setzt sich gegen Kriegsverbrechen an Frauen ein. Obendrein zieht sie noch einen ganzen Stall Kinder groß, eigene und adoptierte. Ein solches Filmprojekt hätte einfach alles.«

Clovers Augen wurden schmal. »Dich interessiert doch vor allem, wie das mit ihr und Brad Pitt wirklich war.« Außerdem würde Matty zu gerne mal einen Blick in Angelinas Haus werfen, das wusste Clover. Denn laut Matty waren es nicht die Augen eines Menschen, die Einblicke in die Seele eröffneten, sondern die Gästetoilette.

»Das will nicht nur ich, Clo, alle Welt will das! Das macht das Ganze doch so interessant!«

»Darauf würde sie sich sowieso nie einlassen«, meinte Johnny kopfschüttelnd. »Was das mit ihr und Brad betrifft, würde sie sagen, dass sie laut Scheidungsvereinbarung gar nicht darüber reden darf. Selbst wenn sie wollte.«

»Dann machen wir das eben zur Bedingung. Kein Brad Pitt, keine Kriegsverbrechen!«, rief Matty, als wolle sie einem Kind begreiflich machen, es müsse erst sein Gemüse essen, bevor es Nachtisch gäbe. »Nancy hat schließlich uns angerufen, oder? Angie braucht ’nen Imagewechsel, sie kommt viel zu tough rüber, sie stößt die Leute ab.«

»Aber wen interessiert das mit ihr und Brad überhaupt noch?«, wandte Clover ein und trommelte mit den Fersen an einen der Unterschränke. »Das ist doch Schnee von gestern. Und Boulevardpresse-Quatsch. Was wir brauchen, ist das wahre Leben. Eine echte Human-Interest-Story. Eine menschliche Tragödie.«

»Die Kinder von Michael Jackson?«, schlug Johnny nach einiger Überlegung vor. »Die ganze Wahrheit über den Alltag mit einem Superstar, der einen mit ’ner Decke über dem Kopf aus dem Hotelfenster baumeln lässt?«

»Ha!« Matty musste gegen ihren Willen lachen.

»Liam will, dass wir was über Lewis Hamilton machen«, warf Clover in die Runde. »Wir treffen uns nächste Woche mit seinem Agenten zum Lunch.«

»U-uh, du Glückliche«, neckte Johnny.

»Ach, ich weiß nicht.« Clover zog die Nase kraus.

»Wieso denn nicht?« Matty fand diese Idee offenbar gar nicht so schlecht. »Er hat mehr Siege als jeder andere, er hat einen Hund, den er überallhin mitnimmt und der inzwischen eine Instagram-Berühmtheit ist. Er ist ein ›Sir‹, aber für die Black-Lives-Matter-Bewegung sinkt er trotzdem auf die Knie. Und das ist nur das, was mir gerade durch mein hübsches Köpfchen schießt.«

»Hm, mag sein.«

»Wieso nicht? Was passt dir nicht an Lewis Hamilton?«, erkundigte sich Johnny angesichts von Clovers mangelnder Begeisterung.

»Na ja, interessant ist er sicher … Aber ich weiß nicht, ich hab einfach das Gefühl … Wie hat es Groucho Marx ausgedrückt? ›Ich würde in keinen Verein eintreten, der mich als Mitglied aufnehmen würde.‹«

Die anderen schwiegen einen Moment lang verwirrt.

»Willst du uns damit auf deine unnachahmliche Weise mitteilen, dass du keine Dokumentation über jemanden machen willst, der eine Dokumentation mit dir machen will?«, vergewisserte sich Johnny schließlich. »Denn sofern ich mich vorhin nicht verhört habe, hat Matty gesagt, wenn wir bis Cannes fertig sein wollen, müssen wir uns diesmal ein williges Subjekt suchen.«

Clover zog die Nase kraus. »Aber die Integrität des Projekts ist nun mal das Allerwichtigste. Was bringt es uns, wenn die Leute mit einer Agenda an uns herantreten? Die besten Geschichten sind oft die, die man zuerst ausgraben muss. Versteckte Geschichten. Von Leuten, die nicht gefilmt werden wollen.«

Johnny beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel. »Ach nee. Jetzt soll es also eine versteckte Geschichte sein, über jemanden, der gar nicht mitmachen will.«

Clover grinste. »Du hast’s erfasst.«

Johnnys Blick richtete sich auf Matty. »Scheiße, worauf wartest du noch?«

Matty sackte auf ihrem Stuhl zusammen. »He, das ist unfair.«

»Aber Mats, du bist nun mal unsere wichtigste Rechercheurin«, triezte er sie.

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin eure einzige Rechercheurin.«

»Aber du hast doch sicher eine Art Black List von Leuten, die nie infrage kämen?«, beharrte Johnny. »Die wir nicht mal mit der Kneifzange anfassen würden?«

»Ja, da wüsste ich so einige.«

»Dann lass mal hören! Denn so jemanden suchen wir ja offenbar.« Johnny schoss Clover einen belustigten Blick zu. Sie reagierte mit einem stummen »Haha«, widersprach aber nicht.

»Wenn’s sein muss.« Matty stellte ihre Kaffeetasse ab, zog ihr iPad über die Tischplatte zu sich heran und strich eine Weile darauf herum. »Aber ich warne euch«, sagte sie. »Es handelt sich hier hauptsächlich um Aussätzige, Despoten und Tom Hanks.«

»Was hast du gegen Tom Hanks?«, fragte Johnny perplex.

»Na gar nichts, das ist es ja! Der Mann ist einfach zu nett, was soll man mit so einem? Der hat noch weniger Ecken und Kanten als Götterspeise.«

Clover lachte leise, und Johnny lehnte sich beruhigt zurück. »Okay, also nicht Tom Hanks. Und mit Despoten können wir auch nichts anfangen. Aber was ist mit den Aussätzigen? Selbst Schurken lieben ihre Mütter.«

»Hm, stimmt. Also, da wäre … Roman Polanski.« Matty verzog das Gesicht. »Oder doch lieber nicht.«

»Wieso denn nicht?«, wollte Johnny wissen.

»Weil der sich an Minderjährigen vergangen hat.«

Johnny setzte sich auf. »Deshalb zählt er ja zu den Aussätzigen. Andererseits: Seine hochschwangere Frau wurde brutal ermordet. Polanski ist kein Unschuldslamm, aber er ist auch selbst zum Opfer geworden.«

»Täter und Opfer, das ist durchaus interessant«, sinnierte Clover.

»Aber diese Geschichte ist doch schon in jedem True-Crime-Format breitgetreten worden«, wandte Matty ein. »Davon hat man schon zu oft gehört.«

»Das stimmt auch wieder.«

Matty konsultierte erneut ihre Black List. »Bob Geldof.«

»Was, der heilige Bob?«, wiederholte Clover.

»Nichts gegen Live Aid, klar«, versicherte Matty hastig. »Aber man weiß ja mittlerweile, dass über eine halbe Million Menschen zwangsweise in den Südwesten von Äthiopien umgesiedelt wurden. Unter dem Deckmäntelchen einer Hungersnot und mit Hilfsgeldern aus Industrieländern.«

Johnny runzelte die Stirn. »Das wusste ich nicht.«

»Und was sein Privatleben betrifft – der tragische Tod von Paula und Michael Hutchence, der Tod seiner Tochter Peaches … echt traurig.«

Clover fand das auch. Ein Leben voller Tragödien. »Aber ob er überhaupt reden will? In der kurzen Zeit, die wir haben? So was klappt nur, wenn man langsam rangeht. Man nimmt Kontakt auf und geht ganz behutsam vor.«

»Okay, ich kann ihn ja mal ankreuzen.« Matty ging weiter die Liste durch und lachte dann unwillkürlich auf.

»Was ist?«

»Ha! Als ob! Na gut, nicht lachen«, warnte sie. »Kit Foley.« Matty sah in die verblüfften Mienen ihrer Freunde. »He, das ist die Liste der Aussätzigen, oder?«, verteidigte sie sich. »Ihr wolltet sie ja hören. Aber es ist klar, dass der ganz bestimmt nicht infrage kommt.«

Clover verdrehte die Augen. Sie wollte Kit Foleys Namen am liebsten nie wieder hören.

»Ja, ein williges Subjekt wäre der ganz bestimmt nicht«, meinte Johnny. »Hast du nicht bei ihm mal nachgefragt, ob er zu einem Interview für Pipe Dreams bereit wäre? Und er hat uns sofort seine Anwälte auf den Hals gehetzt? Wollte uns wegen übler Nachrede verklagen?«

»Stimmt. Und ich hab geantwortet, üble Nachrede ist es nur dann, wenn es nicht der Wahrheit entspricht.«

Clover musste schmunzeln, als Matty anerkennend applaudierte. Trotzdem hatten sie ganz schön Bammel bekommen bei der Aussicht, sich mit einem so mächtigen Gegner wie Kit Foley vor Gericht herumstreiten zu müssen.

Matty seufzte tief. »Ja, das war das Letzte, was wir von ihm gehört haben. Aber dann hab ich vor ein paar Monaten eine E-Mail gekriegt: Sie wollten wissen, ob wir Interesse daran hätten, ich zitiere, ›Kit Foleys Rückkehr auf die Bühne des internationalen Leistungssports‹ zu dokumentieren. ›Nach den tragischen Konsequenzen von Cory Allbrights Unfall.‹« Matty blickte mit trockener Miene in die Runde.

Verblüffte Stille.

»Äh … wie bitte?«, fragte Clover ungläubig. »Er will sein Comeback von uns dokumentieren lassen?«

Matty nickte.

»Von uns?«

Matty nickte abermals.

»Hat er den verdammten Film denn nicht gesehen? Eine mit internationalen Auszeichnungen überhäufte Doku, in der die Folgen seines rücksichtslosen Verhaltens in allen Facetten beleuchtet werden?« Clover nahm den BAFTA Award zur Hand und schüttelte ihn zornig. »Die ganze Welt hasst ihn jetzt! In welchem Universum würden wir je einen Film mit Kit Foley machen – außer natürlich, um seinen Ruf noch mehr zu schädigen?«

»Hast ja recht.« Matty, ein wenig befremdet von Clovers heftiger Reaktion, tauschte einen verstohlenen Blick mit Johnny. »Deshalb hab ich’s ja gar nicht erst erwähnt. Hätte eh keinen Zweck.«

Clovers Blick richtete sich ebenfalls auf Johnny, als könne sie bei ihm eine Antwort auf diese seltsame Anfrage von Foleys Team finden. Aber dieser zuckte nur auf seine unnachahmlich lässige Weise mit den Schultern.

»Nicht zu fassen, dass der es wagt, sich wieder in der Öffentlichkeit blicken zu lassen«, murmelte Clover, die das Ganze nicht so schnell ad acta legen konnte. Kit Foley war Cory Allbrights Erzfeind, und irgendwann war er auch ihrer geworden. »Na, lang hat das ja nicht gedauert!«, höhnte sie.

»Na ja …«, begann Matty.

»Wie lange war er abgetaucht?«, unterbrach Clover. Ihre Frage war an Johnny gerichtet. »Drei Jahre?«

»So in etwa.«

Es war allgemein bekannt, dass Kit sich ein Jahr nach Corys Unfall aus dem Leistungssport zurückgezogen hatte. Ob freiwillig oder nicht, darüber war man sich bis heute nicht einig. Kein Sponsor wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben, auf den Wettbewerben war er regelmäßig ausgebuht worden, seine Marke war nicht mehr zu retten gewesen, obwohl er im Jahr darauf noch einmal die Weltmeisterschaft gewonnen hatte. Wo immer er in Erscheinung trat, war er eine Persona non grata, und irgendwann verschwand er ganz von der Bildfläche.

»Kaum zu glauben, dass überhaupt noch jemand bereit ist, ihn unter Vertrag zu nehmen«, sagte Johnny.

»Aber das ist es ja«, meldete sich Matty erneut zu Wort. Sie sprach erst weiter, als alle Blicke auf ihr ruhten. »Nicht im Surfsport. Aber er ist jetzt kein Surfer mehr. Er hat zum Snowboarden gewechselt.«

»Was sagst du da?« Jetzt war es Johnny, dem der Unterkiefer herunterklappte.

»Kit Foley – neunmaliger Surfweltmeister – will jetzt Snowboarder werden?«, vergewisserte sich Clover.

»Jep. Er will’s in der Halfpipe versuchen. Vielleicht bestehen ja Parallelen zwischen beiden Sportarten? In der E-Mail stand jedenfalls, dass er vorhat, ab der nächsten Wintersaison ins Profigeschäft einzusteigen.«

»Ich glaub das alles nicht.« Clover schüttelte den Kopf. »Er will also … einfach die Sportart wechseln?«

»Steht da jedenfalls. In der Mail von seinem neuen Sponsor, Julian Orsini-Rosenberg oder so ähnlich, wer immer das auch sein mag. Er glaubt, dass es Kit bis ganz nach oben bringen kann. Er bekommt sogar seine eigene Kleidermarke, seine eigenen Snowboards … Da geht’s offenbar um ’ne Menge Zaster. Wie gesagt, im Winter soll’s losgehen.«

Clover starrte Johnny an, als könne sie in seinem Gesicht Antworten finden. »Kennt sein Ego denn so gar keine Grenzen?«

»Das wissen wir doch längst«, erwiderte er nur.

»Ob es Cory schon weiß, was meinst du?« Matty wirkte auf einmal besorgt.

Clover verschlug es erneut die Sprache. Mein Gott, wusste er es schon? Konnte das der Grund für diesen neuerlichen Absturz sein? Der wahre Grund? Sie presste nachdenklich die Finger auf den Mund.

»Ich muss es Mia sagen«, erkannte sie. Aber wie? Wie sollte sie ihrer Freundin beibringen, dass der Mann, der für den schweren Unfall ihres Gatten verantwortlich war, nicht nur einfach weitermachte, als wäre nichts geschehen, sondern sogar noch einen Gang zulegte?

Stille trat ein. Das musste erst mal sacken.

»Gut, also ein entschiedenes Nein zu Foley«, murmelte Matty, die zu ihrer Liste zurückgekehrt war. Ihre Augen wurden schmal. »Hm. Wie wäre es mit Edward Snowden? Landesverräter? Oder Whistleblower, der die illegalen Abhörmethoden der amerikanischen Geheimdienste aufgedeckt hat?«

Clover hörte nicht recht zu. Sie war noch vollkommen erschüttert von dem, was sie gerade erfahren hatte. Sie tippte »Kit Foley snowboarden« in ihr Handy ein und überflog die wenigen Einträge, von denen keiner älter als ein Jahr war. Es gab keine großen Artikel über seinen Karrierewechsel, nur ein paar Zeilen darüber, dass er an verschiedenen Wettbewerben in Europa teilnahm. Es waren relativ kleine, unbedeutende Wettbewerbe. Kein aufsehenerregender Neubeginn. Vielleicht hatte die Öffentlichkeit ja noch gar nicht richtig mitbekommen, dass es sich um den Kit Foley, handelte?

Dann wusste es Cory ja vielleicht doch noch nicht? Nun, lange konnte es nicht mehr dauern.

Clover legte ihr Handy beiseite und blickte auf die Trophäen, die auf dem Küchentisch standen. Der Anblick beruhigte sie, er rückte alles wieder in die richtige Perspektive. In zwei Wochen würde sie über den roten Teppich bei der Oscarverleihung schreiten, und den Rest würde die Weltpresse für sie erledigen. Sie würde Corys Geschichte noch bekannter machen, als sie ohnehin schon war. Das würde Corys ganz großer Moment werden, nach über drei Jahren Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Alle liebten ihn, alle hielten zu Cory. Und Kit wurde weltweit geächtet. Sein Name – falls er überhaupt noch in den Medien erwähnt wurde – war für immer mit dem verbunden, was er an jenem Tag auf dem Meer getan hatte. So etwas verzieh einem die Öffentlichkeit nicht. Die Surfgemeinde war vor allem eins: loyal. Wenn sie sich einmal für ein Lager entschied, blieb sie dabei. Vielleicht war Cory ja nicht der Einzige, für den es nie wieder so werden würde wie zuvor?

Clovers Blick ruhte abwesend auf Matty und Johnny, die sich schon wieder kabbelten.

Nun, das konnte man nur hoffen – um Mias und um Corys willen.

3. Kapitel

Clovers Handy, das auf ihrem Bett lag, gab einen lauten Summton von sich. Sie warf einen Blick darauf. »Oh, Mist! Das Taxi ist da!«

Johnny, der die Nacht auf Clovers Sofa verbracht hatte, hob schlaftrunken den Kopf. »Nimm doch einfach einen späteren Flug.«

Nicht hilfreich.

Matty konnte diesen Vorschlag nur mit einem bösen Blick quittieren. Sie senkte beschwichtigend die Arme. »Okay, nur keine Panik. Du schaffst das schon.«

Clover fand das nicht sehr beruhigend, da Matty nach einer durchzechten Nacht Wimperntusche an der Wange klebte und ein Bleistift aus ihrem Haar ragte. Und sie selbst sah bestimmt nicht besser aus.

»Mats, ich seh doppelt! Ich bin noch gar nicht richtig nüchtern. Wer weiß, ob die mich überhaupt ins Flugzeug lassen.«

Aber Matty, die sich nicht leicht in Panik versetzen ließ, schüttelte den Kopf. »Wir gehen jetzt erst mal ’ne Checkliste durch.« In ihrer Welt gab es nichts, das sich nicht mit einer ordentlichen Checkliste regeln ließe. Matty schloss die Augen und machte mental Inventur. Es sah aus, als würde sie meditieren. »Reisepass?«

Clover griff in ihre Handtasche und zeigte ihn vor. »Jep.«

»Visum?«

»Jep.«

»Geldbeutel?«

»Hab ich.« Clovers Blick huschte zum Fenster, sie glaubte schon, die Auspuffgase des wartenden Taxis erkennen zu können, die bis zu ihrem Fenster hinaufwehten. Sie würde sich fürchterlich verspäten! Wie war sie nur auf die Idee gekommen, dass ein »kleiner« Abschiedstrunk im Soho House anders enden könne als mit einem gigantischen Kater?

»Schuhe? Und damit meine ich Pumps, nicht Turnschuhe.«

Clover sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie die Pumps in den Koffer gepackt hatte. »Hab ich.«

»Deinen Smoking?«

»Den auch.« Daran konnte sie sich mit Gewissheit erinnern. Es war verflixt schwer, einen Smoking so zusammenzulegen, dass der Samtstoff keine Knitterfalten bekam.

Matty schlug die Augen wieder auf. »Ist eh nicht so wichtig. Ich habe dafür gesorgt, dass du ein paar Kleider aufs Zimmer geliefert kriegst. Frag nicht wie, ein gut platzierter Anruf kann Wunder wirken …« Als Clover daraufhin nicht gebührend beeindruckt war, seufzte Matty laut auf. »Na gut, kannst dich ja später bei mir bedanken. Ladegeräte? Auch das für die elektrische Zahnbürste? Das vergisst du nämlich immer.«

»Hab ich.«

»Adapter?«, kam Johnnys einziger hilfreicher Beitrag vom Sofa. Er setzte sich mühsam auf, sein langes dunkelblondes Haar, das stets ein wenig zerzaust war, glich nun einem Vogelnest.

»Mist, Adapter.« Clover fuhr sich hektisch durchs Haar. Wo hatte sie den bloß zuletzt gesehen?

Matty konnte Clover nur mit Mühe davon abhalten, sämtliche Schubladen aufzureißen und Kleidung herauszuwerfen. »Keine Zeit. Einen Adapter kannst du notfalls auch am Flughafen kaufen. Ich schick dir per WhatsApp die nötigen Infos ins Taxi. Okay, konzentrier dich. Hast du deine Rede?«

»Ist auf dem Laptop.«

»Okay, und der Laptop?«

Clover riss entsetzt die Augen auf. »Scheiße!«

»Clo!«, rief Matty, nun selbst allmählich mit den Nerven am Ende. »Ohne Laptop geht gar nichts! Jetzt reiß dich mal zusammen!«

»Versuch ich ja!« Clovers Handy summte. Bestimmt noch mal der Taxifahrer.

Matty durchwühlte den Kleiderhaufen auf dem Bett und fand tatsächlich den Laptop darunter.

Clover verstaute ihn eilig in ihrem Handgepäck. »Okay, ich muss los. Wenn ich noch was vergessen haben sollte, macht’s auch nichts. Kann ich mir ja auch in L. A. besorgen.«

»Okay, gut, dann los!« Matty packte Clover an den Schultern und sagte eindringlich und ein wenig neidisch: »Das wird fantastisch, wirst sehen.«

Selbst Johnny kam jetzt angeschlurft. Er schlang seine langen Arme um die beiden Frauen und lehnte sich schwer auf sie. Er roch gut, obwohl er so derangiert war.

Clover löste sich aus der Gruppenumarmung und sagte: »Ich wünschte, ihr könntet mitkommen. Das ist so unfair! Wir sind schließlich ein Team.« Aber sie hatten nur zwei Karten bekommen, und die andere hatte sich natürlich Liam geschnappt. Diese Gelegenheit, sich unter die Hollywood-A-Prominenz zu mischen, konnte er sich nicht entgehen lassen.

»Ist echt scheiße«, fand auch Johnny. »Dort werden ein paar der besten Kameraleute aus der Branche herumlaufen. Ich würde meinen rechten Arm dafür hergeben, wenn ich mit denen quatschen könnte.«

»Ich werde deinen Namen an allen richtigen Stellen erwähnen, das verspreche ich dir, und ich werde auch versuchen, ein paar Visitenkarten für dich einzusammeln«, versicherte sie ihm.

»Danke, Clo.«

»Und falls du Nancy über den Weg laufen solltest«, mischte sich Matty mit einem gespielt gleichgültigen Schulterzucken ein, »dann grüß sie schön von mir. Sag ihr, ich melde mich.«

Clover nickte ein wenig genervt.

Johnny nahm ihren Koffer. »Hast du da überhaupt was drin?«, fragte er überrascht.

Matty stöhnte. Den Trend zum »leichten Gepäck« konnte sie so gar nicht nachvollziehen. Elizabeth Taylor war Mattys großes Vorbild, wenn es um Gepäck, Schmuck oder die Haut- und Körperpflege ging. Ihr Motto lautete: Mehr ist mehr.

»Bloß das Allernötigste.« Clover stand schon in der Tür. Sie warf den beiden Freunden eine Kusshand zu. »Ich rufe an, wenn ich da bin. Und inzwischen, Mats, kannst du dich ja schon mal mit der Geldof-Idee befassen, die hat Potenzial. Nimm doch mal Kontakt auf und schau, was die davon halten. Johnny-Boy, du könntest mit dem Schnitt für das Bonusmaterial für Netflix beginnen. Wir brauchen genau elf Minuten, nicht mehr und nicht weniger.«

»Alles klar.«

Sie machte sich auf den Weg nach unten. »Hollywood, ich komme!«

»Und falls du Gelegenheit hast, Liam Hemsworth abzuknutschen, dann go for it!«, brüllte Matty ihr durchs große gepflegte Treppenhaus nach. »Tu’s für mich!«

»Mach ich!« Clover stieß die schwere Haustür auf. Der Fahrer stand in einem dunkelgrauen Anzug neben dem Wagen und blickte ihr besorgt entgegen. »Bitte vielmals um Entschuldigung!«, rief sie ihm zu. »Ich hab verschlafen.«

Dass es immerhin bereits zwei Uhr nachmittags war, sagte er nicht, das verbot ihm die Höflichkeit.

»Auf der M40 herrscht dichter Verkehr«, bemerkte er nur, während er bereits Clovers »Gepäck« im Kofferraum verstaute.

»Clo! Clo!«

Clover blickte nach oben. Matty hing aus dem Wohnzimmerfenster. »Du hast das verdammte Handy liegen lassen!«

»Mist!« Sie war so nervös – und verkatert –, sie hätte beinahe ihren eigenen Kopf vergessen.

»Johnny ist schon unterwegs!«, brüllte Matty, und in diesem Moment wurde die Haustür aufgerissen.

Johnny streckte den Arm heraus, in der Hand Clovers Telefon. Weiter wagte er sich nicht hinaus, da er weder Socken noch Schuhe anhatte und der Gehsteig noch nass war vom letzten Frühlingsschauer. »Wir hätten es glatt übersehen, wenn nicht gerade dieser Anruf gekommen wäre«, erklärte er, während sie zu ihm rannte.

»Ein Anruf?«

»Ja, es ist Mia.«

»Ach! Danke, Johnny.« Sie nahm das Handy entgegen, warf dem Freund eine letzte Kusshand zu und kehrte zum Auto zurück.

Der Fahrer hielt ihr bereits die Tür auf, man merkte ihm an, dass auch er allmählich nervös wurde.

»Hallo, Mia!«, rief sie ins Handy. »Du, ich bin unterwegs zum Flughafen, und ich bin fürchterlich spät dran.« Wie spät war es überhaupt in Kalifornien? Halb sechs Uhr morgens?

»Clo? Bist du das?«

Clover blieb abrupt stehen. Mia hörte sich an, als stünde sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Dabei war sie sonst nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.

»Was ist? Ist was passiert?« Auch Clovers Stimme hörte sich auf einmal ganz seltsam an. Sie konnte sehen, wie Johnny die Stirn runzelte.

»Cory ist verschwunden.«

Clover konnte im ersten Moment nichts mit dieser Nachricht anfangen. »Verschwunden? Wie meinst du das? Ist er spazieren gegangen?«

»Wir haben keine Ahnung, wo er steckt. Er hat die letzten Tage auf dem Sofa verbracht, aber als die Kinder heute früh aufgewacht sind, war er auf einmal nicht mehr da.« Mia hörte sich beinahe hysterisch an.

»Ja, aber vielleicht macht er nur einen kleinen Spaziergang? Ein bisschen frische Luft, um die Kopfschmerzen zu lindern?«

»Nein, das ist es nicht, ich weiß es.« Clover hörte Mias hektische Atemzüge. »Ich hab’s ihm endlich gesagt, Clo, gestern Abend … Ich hab ihm gesagt, dass wir das Haus verkaufen müssen.«

Großer Gott. »Und, wie hat er’s aufgenommen?«

»Erst hat er mich bloß angeschaut.« Ihre Stimme kletterte eine Oktave höher. »Und dann hat er gesagt, wenn ich’s für das Beste halte …«

»War das alles? Mehr hat er nicht gesagt?«

»Ich hab ihm angesehen, dass ihn das ziemlich getroffen hat – aber ich glaube, ihm war klar, dass es wirklich keinen anderen Ausweg gibt.«

Clover schluckte. »Dann wette ich, dass er spazieren gegangen ist. Er muss das Ganze durchdenken.«

Mit gebrochener Stimme sagte Mia: »Nein, er ist nicht spazieren, wir haben Sturmwarnung. Westwind, hoher Seegang wird erwartet.«

Clover wusste, was das hieß. Gleich hinter der kleinen Landzunge mit dem Bungalow lag Mavericks, und da gab es die ganz großen Brecher.

»Und sein Surfboard ist weg. Er muss es mitgenommen haben.«

Als Clover das hörte, zog es ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie stolperte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Jäh wurde ihr klar, warum Mia anrief und was sie sagen wollte. Die Erkenntnis bohrte sich wie ein Dolch in Clovers Herz, in ihren Verstand.

Mias Stimme klang verängstigt, wie die eines kleinen Tierchens, das sich zusammengerollt hat. »Sie haben schon einen Suchtrupp organisiert, alle machen mit. Es sind mehr Menschen am Strand unterwegs, als ich je gesehen habe, Leute, die ihr Leben riskieren …« Ihre Stimme brach.

Clover bemerkte ganz am Rande, wie Johnny zu ihr trat, dass er barfuß auf dem nassen Bürgersteig stand. Wie er die Hand auf ihren Arm legte, sie besorgt ansah. »Die werden ihn bestimmt finden und zurückbringen«, sagte sie.