Die Inseltöchter - Der verlorene Liebhaber - Karen Swan - E-Book

Die Inseltöchter - Der verlorene Liebhaber E-Book

Karen Swan

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Beschreibung

Eine Insel voller Geheimnisse, eine junge Frau mit großem Traum, eine grenzenlose Liebe

Sommer 1929: Flora MacQueen hat schon immer davon geträumt, ihre Heimat St. Kilda eines Tages hinter sich zu lassen. Als der reiche Geschäftsmann und Abenteurer James Callaghan auf die kleine schottische Insel kommt, erobert er rasch ihr Herz. Doch der Winter naht, und James muss St. Kilda verlassen, bevor das Meer zufriert. Im kommenden Sommer, wenn Flora zusammen mit den anderen Inselbewohnern aufs Festland übersiedeln soll, wollen die Liebenden sich wiedersehen und sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Aber das Schicksal hat andere Pläne, und die Geheimnisse, die Flora in ihrer Heimat zurücklässt, verfolgen sie bis in ihr neues Leben ...

Band drei der großen »Inseltöchter«-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Karen Swan, basiert auf historischen Ereignissen.

Pressestimmen zu den »Inseltöchter«-Romanen:

»Der beste historische Liebesroman des Jahres.« Independent

»Lebendig erzählt und wunderbar atmosphärisch. Ein wahrer Genuss!« Heat Magazine

»Diese großartige Geschichte und ihre unkonventionelle Heldin werden viele Herzen erobern.« Publishers Weekly

»Die aufregendste, bezauberndste und bewegendste Geschichte über verbotene Liebe, die ich jemals gelesen habe.« Cathy Bramley

»Eine hinreißende Liebesgeschichte im wilden Schottland der 1930er-Jahre. Perfekt für alle, die vom Sommer träumen.« Rachel Hore

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 581

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Sommer 1929: Flora MacQueen hat schon immer davon geträumt, ihre Heimat St. Kilda eines Tages hinter sich zu lassen. Als der reiche Geschäftsmann und Abenteurer James Callaghan auf die kleine schottische Insel kommt, erobert er rasch ihr Herz. Doch der Winter naht, und James muss St. Kilda verlassen, bevor das Meer zufriert. Im kommenden Sommer, wenn Flora zusammen mit den anderen Inselbewohnern aufs Festland übersiedeln soll, wollen die Liebenden sich wiedersehen und sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen. Aber das Schicksal hat andere Pläne, und die Geheimnisse, die Flora in ihrer Heimat zurücklässt, verfolgen sie bis in ihr neues Leben …

Weitere Informationen zu Karen Swan sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Karen Swan

Der verlorene Liebhaber

Die Inseltöchter

Roman

Aus dem Englischen von Anne Fröhlich

Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »The Lost Lover« bei Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2025

Copyright © 2024 by Karen Swan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: robertharding / Alamy Stock Foto

FinePic®, München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

LS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32481-0V001

www.goldmann-verlag.de

Für Tash Christie-Miller,

you keep getting better and betterer.

Karte

He goes long barefoot that waits for dead man’s shoes.

Wer auf die Schuhe der Toten wartet, geht lange barfuß.

(Schottisches Sprichwort)

Prolog

26. Oktober 1930 Casino de Paris

Flora saß auf der schmalen Stange, die Beine elegant nach unten gestreckt, und schwang vor und zurück, hoch über der Bühne. Die Jet-Perlen an ihrem Trikot funkelten im Scheinwerferlicht, die türkisfarbenen Federn leuchteten. Dieser Song ihrer Vorführung war ihr der liebste, er kam den melancholischen Balladen ihrer Heimat am nächsten, und ihre Stimme stieg mühelos in die Höhe, höher als die Klänge der Flöte und der ersten Geige. Mit geschlossenen Augen würde sie sich beinahe einbilden können, sie wäre immer noch auf St. Kilda, zwischen grünen, ausgedehnten Wiesen, wo die Schafe unter einem weiten Himmel weideten. Vielleicht würde sie aus dem Kuhstall das Gelächter ihrer Kindheitsfreundinnen hören oder ihre Eltern sehen, wie sie im schwachen Schein der untergehenden Sonne zu der winzigen Kirche gingen, oder ihren Liebsten, wie er im Winter einen vereisten Hang hinaufrannte …

Aber sie war hier nicht in diesem offenen, stürmischen Paradies, sondern eingeschlossen in einem Bauch aus rotem Samt. Die Luft war schwer von Parfüm und Rauch, Herren in gestärkten Hemden husteten, Taftröcke raschelten, wenn die Damen sich bewegten. Selbst im Dunkeln hatte Paris seine Besonderheiten.

Sie schwang höher in ihrem juwelenbesetzten Vogelkäfig, eine wunderliche Kreatur, die alle bezauberte. Von diesem Aussichtspunkt über den Scheinwerfern blickte sie auf ein Meer von Gesichtern, und jedes Augenpaar war auf sie gerichtet. Sie brauchte keinen Applaus; die bewundernden Blicke sagten ihr, dass sie ein Star war. Kummer, Verlust und Schmerz der letzten Monate hatten sie hierhergeführt, und jetzt lag Paris besiegt zu ihren Füßen. Doch der Traum, in dem sie sich bewegte, war nicht ihr eigener.

Ihr Blick glitt über die Menge, leicht wie ein Chiffontuch, und blieb plötzlich an einem Gesicht hängen, von dem sie geglaubt hatte, es niemals wiederzusehen. Ein Mann aus der Vergangenheit, ein nebelhafter Liebhaber, der in ihrem Schatten ging und Spuren auf ihrer Seele hinterließ. Sie sah genau hin, als sie über ihn hinwegflog, ein Paradiesvogel über einem Schwarm von Krähen.

Aber als sie ins grelle Rampenlicht eintauchte, verschwand er aus ihrem Blick, und danach war er verschwunden.

Für sie verloren, war er der Geist, den sie nicht zu fassen bekam.

Und sie war die Frau, die er nicht retten konnte.

1. Kapitel

8. August 1929Village Bay, St. Kilda

Flora spürte den kalten Steinboden unter Händen und Knien, während sie den Kamin ausfegte und die Asche in den Eimer kippte. Selbst aus dem Inneren des Cottages konnte sie verfolgen, wie die Besucher die Straße heraufkamen, erkannte es an dem aufgeregten Raunen und zaghaften Gelächter der Dorfbewohner. Die Rollen, die sie spielten, waren zu einer Art Ritual geworden, wann immer ein Touristenschiff in der Bucht anlegte. Mad Annie und Ma Peg saßen auf ihren Stühlen und strickten Socken in rasender Geschwindigkeit, Crabbit Mary kardierte Wolle mit ihrem üblichen finsteren Blick, Donald McKinnon und Hamish Gillies schleppten Steinbrocken, um einen der alten Cleits auszubessern. Die jüngeren Männer stolzierten mit aufgerollten Seilen über der Schulter umher, die Hände in den Hosentaschen, und taten so, als könnten sie jeden Augenblick von einer der Klippen springen. Wenn die Zeit und die Gezeiten es erlaubten, so hofften sie, würde der Kapitän, der die Insel besuchte, sie auffordern, seinen Gästen eine ihrer berühmten Klettervorstellungen zu geben. Nur die Hunde bewegten sich ohne Befangenheit, aber ihnen waren ja auch die Münzen egal, die für diese kleinen Zurschaustellungen des Alltagslebens auf Hirta, der Hauptinsel des Archipels St. Kilda, den Besitzer wechselten.

In dieser Hinsicht war der Sommer erfolgreich gewesen: Bei gutem Wetter und ruhiger See waren die Reichen und Neugierigen zu Dutzenden gekommen, und die Inselbewohner hatten einen kleinen Geldvorrat angelegt, der irgendwann auf den Nachbarinseln verwendet werden konnte. Hier auf St. Kilda existierten weder Geschäfte noch Handel irgendeiner Art, aber drüben auf Lewis, Harris und North Uist – um die vierzig Meilen entfernt – gab es Märkte, Läden und Farmer, die gewillt waren, mit den Einwohnern von St. Kilda Geschäfte zu machen, vor allem, da der Verwalter des Landlords so unerbittlich war in seinen Bedingungen.

»Flora, schnell jetzt!« Ihre Mutter Christina kam aufgeregt in die Küche. »Gib mir den Eimer, sie sind fast da.«

Flora richtete sich in die Hocke auf, und ihre Mutter streckte ihr den Besen entgegen. »Wie viele sind es?« Mit einem Seufzen erhob sie sich ganz und tauschte Eimer gegen Besen. Sie wusste genau, was jetzt zu tun war.

»Acht oder neun, meint Old Fin, aber du weißt ja, wie er zählt.«

Flora ging an ihrer Mutter vorbei, stellte sich an die Tür und blickte über den breiten grasbewachsenen Pfad der sich nähernden Gruppe entgegen. Sechs Personen.

»Puh«, murmelte Christina, griff nach einer Bürste und machte sich an Floras schwarzem Haar zu schaffen, das ihr in einem dicken Zopf über den Rücken hing. Sie hatte sich heute Morgen wenig Mühe damit gegeben, und einzelne Strähnen hatten sich gelöst. »Und schau, dein Gesicht ist ja voller Ruß!« Ihre Mutter versuchte, ihn wegzuwischen, erreichte aber anscheinend eher das Gegenteil und verteilte den Schmutz noch mehr auf Floras Wange. »Herrje!«

»Nicht jetzt, Ma«, sagte Flora leise. »Sie sind fast hier.«

Ihre Mutter ging zurück ins Haus, und Flora begann, den flachen Stein zu fegen, der ihre Türschwelle bildete. Ihre jüngeren Geschwister waren beim Unterricht im Schulhaus, ihr Vater und ihr älterer Bruder David auf dem Conachair. Im Cottage war es ungewöhnlich still.

Flora arbeitete mit gesenktem Kopf, und bald gerieten mehrere Paare eleganter Lederschuhe in ihr Blickfeld. Sie sah die Nylonstrümpfe einer Dame in der Sonne glänzen, ein paar Budapester, die mit Schnörkeln aus gestanztem Leder verziert waren, und machte noch ein oder zwei schnelle Besenstriche, bevor sie langsam aufsah.

»Guten Morgen«, sagte sie höflich auf Englisch, denn die Touristen sprachen selten Gälisch, die Sprache der Inselbewohner. Sechs Gesichter lächelten zurück, bei ihrem Anblick wie immer einen kurzen Moment überrascht. Sie konnte dieses Phänomen nicht richtig erklären. Es gab keine Spiegel auf der Insel, außer im Haus des Pfarrers, und ihr Eindruck von sich selbst basierte allein auf dem Spiegelbild, das sie erkennen konnte, wenn sie an einem windstillen Tag im Wasser der Bucht stand. Ihre Gesichtszüge schienen etwas an sich zu haben, das sie von anderen abhob – ob es die runde Form ihrer Wangen war, ihre vollen Lippen oder das strahlende Grün ihrer Augen, das wusste sie nicht, aber die Leute starrten sie immer so intensiv an, dass es ihnen hinterher oft peinlich zu sein schien. Was auch immer es war, es brachte einige Vorteile, und Flora erlaubte sich ein kleines Lächeln, als sie den älteren Herrn in der Gruppe nach seiner Kamera greifen sah.

»Hören Sie … Wären Sie so freundlich, uns ein Foto zu gestatten?«, fragte er. Er war blass und hatte einen grauen Bart, und seine Hand zitterte leicht, als er die kleine Kiste hochhielt, die bei den ersten Touristenbesuchen unter den Dorfbewohnern solche Furcht verbreitet hatte. Flora erinnerte sich daran, wie ihre Großmutter vor Angst ihre Röcke zusammengerafft hatte und in ihr Cottage geflüchtet war, als zum ersten Mal so ein Ding auf drei Beine gestellt und dann auf sie gerichtet worden war.

»Natürlich, Sir«, sagte sie und nahm ihre übliche Position auf der Schwelle des niedrigen Steinhauses ein, die Hände auf den Besenstiel gestützt, das Kinn leicht geneigt und die rechte Hüfte vorgestreckt, damit trotz ihres dicken Wollrocks ein wenig von ihrer Figur erkennbar wurde.

Sie lächelte nicht allzu strahlend für das Foto, zum einen, weil der Pfarrer es nicht mochte, wenn man »Freude zur Schau stellte«, aber auch, weil sie die Blicke der beiden jungen Männer in der Gruppe bemerkte. Wie gewohnt schienen sie sie mit den Augen zu verschlingen, musterten sie so forschend, als wäre ihre Schönheit eine mathematische Gleichung, die gelöst werden konnte, wenn man nur die richtige Formel fand. Ohne sie direkt anzusehen, stellte Flora fest, dass einer von ihnen kleiner war und auf Anhieb attraktiver wirkte, mit hellblondem Haar und einem Grübchen am Kinn. Sein Blick war so intensiv, dass es an Unhöflichkeit grenzte. Der andere wirkte unscheinbarer: hellbraunes Haar, braune Augen, kurz geschnittener Bart und eine Körperhaltung, die eher auf eine zurückhaltende Natur hindeutete. Als der Auslöser klickte, dachte sie, dass sie nicht wie Brüder aussahen; etwas an der Art, wie sie zusammen dastanden, ließ eher an Freundschaft denken. Die beiden jungen Mädchen dagegen – etwa achtzehn und dreizehn Jahre alt –, die dicht beieinanderstanden und die Köpfe auf die gleiche Art gesenkt hielten, waren doch bestimmt Schwestern?

»Und vielleicht noch ein zweites Foto mit uns allen?«, fragte der Herr.

»Wie Sie wünschen, Sir.«

Der Mann schaute zu der älteren Frau hinüber, vermutlich seine Ehefrau. »Ein Bild von uns zusammen mit einer Einheimischen wäre doch interessant, findest du nicht, Schatz?«

»Hmm …«, machte seine Frau, ohne zu lächeln. »Aber wer soll dann das Foto machen?«

Flora wollte schon die Dienste ihrer Mutter anbieten – das würde vielleicht noch eine Münze mehr einbringen –, aber da trat schon der braunhaarige Mann vor.

»Ich mache das«, sagte er und streckte die Hand nach der Kamera aus.

»Aber James, dann bist du ja nicht auf dem Foto!«, rief die ältere der beiden jungen Frauen.

»Die Welt wird es überleben, Sophia«, erwiderte er gelassen.

Während die Gruppe sich aufstellte, wanderte Floras Blick zu der jungen Frau, die gerade gesprochen hatte. Sie trug einen Hut, den man, wie Flora wusste, eine Cloche nannte – sehr modisch – und einen lavendelblauen Mantel mit tiefsitzender Taille und einer erbsengrünen Schärpe. Ihre Schuhe waren tief ausgeschnitten, mit einem dünnen Riemen über dem Spann. Zu spät fiel Flora ein, dass sie selbst noch barfuß war – die Inselbewohner trugen nur in den tiefsten Wintermonaten Stiefel, oder wenn Besucher kamen –, und sie versuchte, die Zehen einzurollen, die bestimmt schwarz von Schlamm und Ruß waren.

Der Mann namens James schien es zu bemerken, denn er blickte einen Moment von der Kamera auf und schaute auf ihre Füße. Ein winziges Lächeln trat auf seine Lippen, bevor er wieder den Kopf senkte und alle aufforderte, »Cheese« zu sagen. Das war eine Sitte, die Flora nicht verstand – was hatte Käse mit einem Foto zu tun? –, und sie starrte einfach in die Kameralinse, wobei sie sich fragte, was der Fotograf in diesem dunklen runden Feld wohl sah. Sie war sich des blonden Mannes bewusst, der rechts hinter ihr stand, so dicht, dass sie seinen Atem in ihrem Haar spüren konnte.

Die Kamera klickte erneut, und sie atmete erleichtert auf.

»Danke, Miss. Das war sehr freundlich von Ihnen.« Der ältere Mann griff in die Tasche und zog ein paar Münzen hervor. Flora warf einen gleichgültigen Blick darauf, als er sie abzählte. Dort, wo diese Leute lebten, konnte man mit Geld echte Schätze erwerben, aber hier würden sie es nur gegen eine Hacke oder einen Sack Kartoffeln eintauschen.

»Ja, sehr freundlich«, wiederholte der blonde Mann und suchte ihren Blick. »Wie heißen Sie, Miss?«

In seinen Augen lag ein Selbstvertrauen, das sie von sich selbst kannte. Auch er war ein Mensch, der es gewohnt war, dass die Leute ihn lange ansahen, und sie spürte die Energie zwischen ihnen. »Flora MacQueen.«

»Flora MacQueen«, wiederholte er so klar und deutlich, als gefiele ihm, wie sich die Laute auf seiner Zunge anfühlten. »Also, Miss MacQueen, wir werden dafür sorgen, dass alle Ihren Namen erfahren, denen wir von unserer Reise erzählen und diese Fotos zeigen.«

»Wie Sie wünschen, Sir«, antwortete sie bescheiden, aber es fiel ihr schwer, wegzusehen, und der Moment schien sich in die Länge zu ziehen. Die Frauen in der Gruppe hatten sich abgewandt und trippelten vorsichtig über die glatten Pflastersteine, und schließlich musste Flora sich zwingen, den Blickkontakt zu unterbrechen, schon allein, weil sie spürte, dass ihre Mutter sie aus dem Cottage heraus beobachtete. Sie wusste, dass sie sich eine Strafpredigt einhandelte, wenn sie allzu kühn war.

»Komm jetzt, Edward.« Die ältere Frau warf einen Blick zurück, und er – der blonde Mann – lächelte, als fühlte er sich bestätigt. Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe, wie um zum Abschied einen imaginären Hut zu lüften.

»Danke nochmals, Miss MacQueen«, sagte der ältere Mann und drückte ihr das Geld in die Hand.

»Gute Reise, Sir«, murmelte sie, während sie den Besenstiel umklammerte und der Truppe neidvoll nachsah. Mit ihnen entfernte sich der Duft, der sie umgab und der beiläufig zeigte, wie privilegiert sie waren, so wie auch andere Details: der kurze Mantel der jungen Frau, ihre hohen Absätze, das Kleid des Mädchens, das in Farben bestickt war, die auf der Insel unmöglich zu finden waren. Flora sah Edward mit sportlichem Gang davonschlendern, die Hände in den Hosentaschen, und spürte wieder etwas von ihrer alten Macht, als er sich mehrmals mit einem begehrlichen Grinsen zu ihr umdrehte. James, der Ruhige, tat es nicht. Mit geradem Rücken ging er davon, als hätte er sie nie angesehen; als wäre sie bereits vergessen.

Sie sah ihnen finster nach, aber als Edward sich erneut umwandte und ihr zuzwinkerte, sah sie die unausgesprochenen Komplimente in seinen Augen und lächelte wieder.

»Wie viel haben sie dir gegeben?« Christina trat aus dem dunklen Cottage.

»Einen Schilling und Sixpence.«

»Großzügig«, befand ihre Mutter. »Ich hoffe, das sind sie bei Ma Peg auch.«

Was Fotomotive für Touristen anging, war Ma Peg auf der Insel die Favoritin. Christina zufolge verkörperte die heimliche Matriarchin in den Augen der Fremden den »wahren« Geist St. Kildas. Bei Flora war das anders, sie fiel vermutlich durch ihre Schönheit auf, sodass die Besucher ein Andenken haben wollten oder gar einen Beweis brauchten, beinahe, als wäre sie eine Sirene oder ein Selkie.

»Hm, dieser junge Kerl wirkte ganz schön eingebildet.«

»Er ist nur selbstbewusst.«

»Arrogant, das ist er«, murmelte ihre Mutter, nahm das Geld und verschwand wieder im Haus.

Flora folgte ihr und sah zu, wie sie die Münzen in die alte Flasche steckte, die im Regal stand und ihnen als Bankkonto diente.

»Gut’n Morgen!«

Sie blickten hoch, als Effie hereinwirbelte, ein aufgewickeltes Seil über der Schulter wie die anderen Kletterer. Poppit, ihre braun-weiße Collie-Hündin, legte sich neben der Tür auf den Boden, die Schnauze zwischen den Pfoten, und ließ ihre Herrin nicht aus den Augen.

»Eff.« Beim Anblick ihrer Freundin entspannte sich Flora und lächelte. Effie trug wie üblich die Kleidung ihres verstorbenen Bruders, die Hosenbeine hochgekrempelt, sodass ihre dünnen braunen Knöchel sichtbar waren. Wenn Flora gedacht hatte, ihre eigenen Füße seien schmutzig, war das nichts im Vergleich zu denen von Effie. »Wo warst du? Ich habe dich nicht am Bach gesehen.«

»Ich habe Winzling gefüttert.« Sich um den Bullen zu kümmern, war eine beliebte Aufgabe, denn man bekam dafür ein Pfund im Jahr, das man sich bar auszahlen oder auf die Miete anrechnen lassen konnte. Normalerweise wechselten die Haushalte sich damit ab, doch seit Effies Bruder John vor drei Jahren bei einem Kletterunfall ums Leben gekommen war und Effie die Familie allein versorgen musste, überließen ihr die Dorfbewohner in stillem Einvernehmen diese Aufgabe ganz. »Ich habe das Boot anlegen sehen.«

»Aye. Bist du bereit, zu The Gap hochzusteigen? Diese Leute geben gutes Trinkgeld.«

»Vielleicht. Aber Hamish sagt, dass an der Ostseite starker Seegang herrscht und das Meer im Moment zu rau ist für unser kleines Boot. Er will abwarten, bis es ruhiger wird.« Effie ging rastlos in dem kleinen Raum auf und ab. Sie war wie ein kleiner Wirbelwind, der durch die Häuser und über die Heide fegte.

»Nun, dann hoffe ich, das passiert bald. Ich habe gesehen, wie sie angezogen sind, und kann dir sagen, sie sind nicht besonders seetauglich. Wenn die Wasseroberfläche nicht spiegelglatt ist, wird es schwierig für sie.«

»Bäh, es wäre so ungerecht, wenn nichts draus wird«, protestierte Effie.

»Ungerecht?«

»Aye. Du bekommst Geld nur fürs Rumstehen und hübsch aussehen, aber ich muss richtig dafür arbeiten – und dann hängt es auch noch vom Wetter ab, ob die Touristen überhaupt hinrudern können, um uns zuzusehen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ungerecht.«

»Ich würde das kaum Arbeit nennen«, erwiderte Flora, die sich nicht aufregen wollte, spöttisch. Effie liebte nichts mehr als eine kleine Streiterei; die Reibereien mit ihrem Bruder fehlten ihr. Bei ihr zu Hause, allein mit ihrem gehbehinderten Vater, war es jetzt immer ruhig und still. »Du tust doch nichts lieber, als an deinem Seil hin- und herzuschwingen.«

Eine Pause entstand, als Effie darüber nachdachte. Sie war eine der besten Kletterer auf der Insel; stark, aber leicht, beweglich, geschickt und wagemutig. Das Felsklettern war zwar strenggenommen Männersache, aber im Haus der Gillies gab es außer ihr niemanden, der die Vögel fangen oder die Vogeleier sammeln konnte, die ihren Lebensunterhalt ausmachten. Von der Wohltätigkeit ihrer Nachbarn abhängig zu sein, ging gegen Effies Stolz und auch gegen den ihres Vaters.

»Aye, mag sein«, gab sie zu, und ihre Empörung schien bereits verpufft. Im Grunde war sie gutmütig, auch wenn sie manchmal aufbrauste, und niemals nachtragend.

Floras Mutter ging mit einem Kessel voll heißem Wasser an ihnen vorbei. »Na, mal wieder am Schwatzen, ihr beiden?«, sagte sie missbilligend.

»Soll ich dir das abnehmen, Ma?« Flora verdrehte seufzend die Augen. Ständig wurde ihr vorgeworfen, sie sei arbeitsscheu.

»Nein. Ich muss sowieso zu Big Mary. Aber du kannst zu den Felsen runtergehen und Flechten sammeln. Ich möchte heute ein paar Stoffbahnen färben.«

»Aye.« Flora nickte und zog den Flechtenschneider aus dem Tonkrug. Er sah aus wie ein normaler Löffel, nur halbiert, sodass er eine scharfe Kante zum Schaben hatte. »Kommst du mit?«, fragte sie Effie.

»Sicher. Dann kann ich meinem Dad aus dem Weg gehen.«

»Macht seine Hüfte wieder Probleme?«

Zur Bestätigung verdrehte Effie nun ebenfalls die Augen, und gemeinsam traten sie hinaus in den Sonnenschein. Flora konnte der Versuchung nicht widerstehen und blickte die Straße hinauf zu den Besuchern, die jetzt vor dem Haus der MacKinnons standen, wo Rachel, Mhairis Mutter, ihnen eine Vorführung am Spinnrad gab.

Flora hielt nach Mhairis unverkennbarem leuchtend rotem Haar Ausschau, konnte es aber nicht entdecken. »Keine Mhairi?«

»Sie ist mit Molly oben bei den Lazybeds.« Effie blickte nun ebenfalls die Straße hinauf.

»Ah.« Floras Blick blieb an dem hellblonden Haarschopf hängen. Der Mann schien weit weniger interessiert an dem Spinnrad als seine weibliche Begleitung – Mutter? Schwestern? – und versuchte stattdessen, einen der Hunde auf sich aufmerksam zu machen. Flora lächelte, als sie sah, wie er ihn mit dem Stängel einer Butterblume necken wollte und der Hund ihn eisern ignorierte.

»Ach, nein.« Effie stöhnte auf. »Nicht schon wieder eine Eroberung.«

»So würde ich es nicht nennen, Eff.« Seufzend warf Flora ihren Zopf über die Schulter zurück. »Er hat etwas dafür bezahlt, mich zu fotografieren, das ist alles.«

»Das ist niemals alles. Vermutlich ist er jetzt in dich verliebt?«

»Weit davon entfernt. Wir haben vielleicht zehn Worte miteinander gewechselt. Oder weniger.«

»Hm.« Effie schüttelte schnaubend den Kopf. Gemeinsam gingen sie die Straße hinunter. »Der sieht nach Ärger aus, dieser Blonde mit dem …« Sie tippte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Du weißt schon, was Mad Annie immer sagt: ›Grübchen am Kinn, der Teufel steckt drin.‹«

»Annie sagt viel. Davon abgesehen würde ich mich freuen, seine Teufeleien zu erleben.« Flora lächelte provozierend.

»Es ist wie ein Sport für dich, all diese Männer zu reizen.«

Kokett warf Flora abermals das Haar zurück. »Tja, ich schätze, es amüsiert mich ein bisschen.«

»Ha. Du wärst wohl weniger amüsiert, wenn mal jemand den Spieß umdrehen würde.«

»Unmöglich.« Flora hatte an keinem der heiratsfähigen Männer der Insel Interesse, und die Touristen waren immer viel zu schnell wieder weg, als dass sich eine oberflächliche Anziehung jemals zu irgendetwas Tieferem hätte entwickeln können.

Sie liefen jetzt über die Wiese zum Strand hinunter. Es war Ebbe, und die Wellen schwappten mit hochsommerlicher Trägheit an die Küste, wie geschwächt vom endlosen Sonnenschein. Flora blickte über die Bucht. Hier war die einzige Stelle auf der Insel, wo Schiffe anlegen konnten, geschützt von dem Bogen der Insel Dún im Westen und dem Bergrücken des Oisebhal im Osten. Zwischen den beiden Landmassen war der Blick bis zum Horizont frei, nur gelegentlich sah man ein Fischerboot vorbeiziehen oder einen Wal, der kurz aus den Wellen auftauchte.

Flora seufzte. Hinter dieser blauen Linie existierte eine andere Welt: eine Welt, in der Autos, »sprechende Bilder« und elektrisches Licht eine Selbstverständlichkeit waren; in der die Menschen sich ihr Abendessen kaufen konnten, anstatt es auf der Jagd zu erbeuten. Eine Welt, in der Haare frisiert und gefärbt wurden und Kleider nicht unbedingt aus selbst gesponnener Wolle bestanden, die man zuvor noch den eigenen Schafen abnehmen musste. Hinter dieser blauen Linie lag eine Welt, in der Bequemlichkeit, Leichtigkeit und Schönheit keinen Luxus, sondern die Normalität darstellten.

Sie betrachtete die Jacht, die diesen Edward, diesen James und den Rest der Gruppe hierhergebracht hatte. Sie war bei weitem nicht die größte, die sie hier je gesehen hatte, strahlte aber Überlegenheit und Reichtum aus, und es klirrte leise an den Masten, als das Boot sanft in der Bucht hin- und herschaukelte. Es war ein heller, warmer Tag, aber langsam zog ein scharfer, böiger Wind auf.

Sie fingen an den freiliegenden Felsen an, die Büschel von ockerfarbenen Flechten abzukratzen. Flora benutzte ihren Löffel, Effie die Fingernägel – ihre Hände waren unglaublich kräftig vom Felsklettern. Alles, was sie fanden, stopften sie in ihre tiefen Rocktaschen, ohne ihre Unterhaltung zu unterbrechen.

»Hm, eine magere Ausbeute hier«, murmelte Effie nach einer Weile. »Es sind schon andere vor uns auf dieselbe Idee gekommen.«

»Aye«, stimmte Flora ihr zu und setzte sich in der Hocke auf. Ihre Mutter würde nicht begeistert sein; hier gab es kaum genug, um eine Kanne Tee damit aufzubrühen, geschweige denn, um einen Ballen Tweedstoff zu färben.

»Du musst weiter raus. Dort drüben gibt es bestimmt gutes Material.« Effie zeigte mit dem Kinn in Richtung der Oisebhal-Landzunge, wo sich auch das Federnlager befand. »Die Felsen dort sind für Leute wie Crabbit Mary zu glitschig – die würde für ein bisschen Moos sicher nicht ihren Hals riskieren.«

»Na, dann los.« Flora raffte seufzend ihren Rock zusammen.

Aber Effie schüttelte den Kopf. »Ich gehe lieber zurück und sehe nach, ob die Klettervorführung stattfindet. Wir brauchen das Kleingeld.«

Sie trennten sich am Federnlager, nachdem Effie Flora ihren dürftigen Ertrag übergeben hatte, und Flora ging weiter zu den Felsen. Wegen der Ebbe war alles besonders glitschig, dicke Stränge von gekräuseltem Seetang bedeckten die glatten Steine, und sie hob ihren Rock an und rutschte auf dem Hintern hinunter bis knapp oberhalb der Wasseroberfläche. Sie summte vor sich hin, als sie wieder anfing zu kratzen, ohne die Krebse zu bemerken, die davonkrabbelten, oder die Eissturmvögel und Sturmtaucher, die über ihr kreisten.

Nach ungefähr einer Stunde hörte sie Stimmen auf dem Wasser und sah, dass die Besucher zu ihrer Jacht gerudert wurden. Reisten sie schon ab? Das enttäuschte sie.

Es überraschte sie auch. Sie blickte auf das Meer hinaus und sah, dass die Wellen immer höher wurden, weiter draußen waren weiße Schaumkronen zu erkennen. Falls die Besucher beabsichtigten, der rauen See zuvorzukommen, so hatten sie den Zeitpunkt bereits verpasst. Hamish Gillies und Norman Ferguson ruderten mit dem üblichen Elan, und Flora unterbrach ihre Arbeit, als sie wieder den blonden Haarschopf erkannte. Edward hatte sich zurückgelehnt und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. Er wirkte wie ein Mann, dessen Leben immer heiter und leicht war. Die hohen Stimmen des Mädchens und der jungen Frau im lavendelfarbenen Mantel drangen zu ihr, auch wenn sie ihre Worte nicht verstand.

Sie erreichten die Jacht, und der Kapitän ließ die Leiter herunter. An Bord zu klettern war selten eine elegante Angelegenheit, und Flora beobachtete amüsiert, wie die Damen sich abmühten, mit den Armen ruderten und kreischend nach Halt suchten. Edward dagegen sprang einfach an Bord und verschwand beinahe sofort unter Deck.

Es versetzte Flora einen schmerzlichen Stich, dass er nicht einmal einen Blick zurück zum Ufer warf, um sie noch ein letztes Mal zu sehen. Sie reisten früh ab, viel früher als die meisten Besucher; die Reise hierher war lang und beschwerlich, da hatten die meisten es nicht eilig damit, wieder aufs Wasser zu kommen, und blieben viele Stunden auf der Insel, wenn nicht gar Tage.

»Oh … Miss MacQueen, sind Sie es?«

Sie fuhr herum, aufgeschreckt von der klangvollen Stimme, die – das wusste sie, ohne hinzusehen – nicht hierhergehörte.

»Mr …« Sie betrachtete den ruhigen Mann und merkte erst jetzt, dass ihr seine Abwesenheit auf dem Boot gar nicht aufgefallen war, so sehr hatte sie sich auf Edward konzentriert.

»… Callaghan.«

»Sie sind … aber Sie …« Verwirrt zeigte sie zwischen ihm und der Jacht hin und her.

»Ja. Die anderen ruhen sich ein wenig aus. Es war eine … schwierige Überfahrt.«

»Oh.« Sie blickte wieder auf das Schiff. Alle Passagiere waren jetzt an Bord, und Hamish und Norman ruderten zurück an Land. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass ihre Beine nackt waren, und sie zog mit seltener Bescheidenheit ihren Rock herunter.

Er räusperte sich. »Leider meint der Kapitän, dass wir heute Abend nicht mehr abreisen können, deshalb haben sie beschlossen, sich frisch zu machen und etwas zu essen, bevor sie noch einmal an Land gehen, um … noch umfassendere Erfahrungen zu sammeln.«

Flora kniff die Augen zusammen bei seiner Wortwahl. Umfassendere Erfahrungen? Erwarteten diese Leute, mit Wikingern zu Abend zu essen? Mit Dinosauriern spazieren zu gehen? Und dachten sie, die Gastfreundschaft der Inselbewohner sei eine Selbstverständlichkeit? Schon viele Male hatten sie unwillkommene Gäste einfach auf dem Wasser gelassen, oft bei schlimmstem Wetter, weil die Männer des Dorfes es abgelehnt hatten, das Ruderboot fertig zu machen, um sie herüberzuholen. Selbst der Pfarrer hatte bei seiner Ankunft bei rauer See seine Sachen schon selbst ausladen müssen, nachdem er mit Old Fin aneinandergeraten war, weil er ihn fürs Pfeiferauchen getadelt hatte, und die anderen Männer für Fin Partei ergriffen hatten.

Sie seufzte, aber sie war heute in heiterer Stimmung und beschloss, über seine Herablassung hinwegzusehen. Wieder blickte sie auf die offene See hinaus. »Das Meer sieht unruhig aus.«

»Ja. Der Kapitän glaubt, dass es morgen eine Gelegenheit geben wird.«

»Eine Gelegenheit, uns zu entkommen?« Sie hob die Augenbrauen.

»Nun, aus Rücksicht auf die Damen müssen wir auf Nummer sicher gehen. Ich glaube nicht, dass eine von ihnen sich als Abenteurerin bezeichnen würde.«

»Wie enttäuschend für Sie.«

Er wirkte irritiert. »Dass die Damen nicht abenteuerlustig sind?«

»Dass Sie hier über Nacht festsitzen.«

»Nein, gar nicht. Ich bin eher erfreut darüber.«

»Tatsächlich?« Flora legte den Kopf schief und betrachtete ihn genauer. Auch wenn er nicht Edwards kühne, herausfordernde Natur besaß, bemerkte sie in seinem Blick ein Interesse, das sie gut kannte; es flackerte auf und erlosch wie eine Flamme, aber es war da, und sie spürte einen Anflug von Stolz. Es hatte an ihrem Ego gekratzt, als er sie vorhin übersehen hatte, aber wahrscheinlich war ihm nur klar gewesen, dass er gegen das Charisma seines Freundes keine Chance hatte. »Und warum sind Sie so erfreut, noch hierzubleiben?«, fragte sie kokett, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

»Weil ich jetzt nach Fossilien suchen kann.«

Für einen Moment herrschte Stille. »Fossilien?«

»Ja, das ist ein Hobby von mir«, antwortete er und zeigte mit einem Kopfnicken auf die Felsen. »Fossilien sammeln.«

»Ich verstehe.«

»Sie wissen vermutlich, dass der Archipel St. Kilda Teil eines vulkanischen Kraters ist?« Seine Augen funkelten vor Begeisterung und Forschergeist.

»Aye«, murmelte sie, obwohl solche Details sie nie sonderlich interessiert hatten.

»Der Vulkan war im Paläogen aktiv und bildete intrusive magmatische Gesteine. Sie sind größtenteils kristallin, daher hoffe ich, hier etwas Quarz oder Feldspat zu finden.«

»Ich verstehe«, wiederholte Flora. Sie sprach absichtlich in gelangweiltem Tonfall, aber das schien er nicht zu bemerken.

»Ich habe einen Ihrer Nachbarn gefragt, wo die besten Stellen für Steinschlag sind, und er sagte mir, gleich unterhalb des McKinnon-Felsens, hinter dem Federnlager. Bin ich hier richtig?«

Flora bedachte ihn mit einem finsteren Blick – sie hatte die Steine auf ihrer Heimatinsel in ihrem ganzen Leben noch nie beachtet –, und er reagierte mit einem gelassenen Lächeln. Wie konnte er nur so gleichgültig auf ihre Provokation reagieren?

»Der McKinnon-Fels ist ein Stück weiter weg, dort drüben.« Sie zeigte vage auf die Landzunge, die übersät war von Felsbrocken, Steinen und Geröll. Wenn er dort eine bestimmte Stelle suchte, würde er sie niemals finden.

»Ach so …« James Callaghan blickte einen Moment hinüber. »Dort drüben also … irgendwo …« Er sah sie mit einem verwirrten Lächeln an, schien auf mehr Unterstützung zu hoffen, aber sie ging nicht darauf ein. »Nun gut, dann gehe ich in diese Richtung … Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe.«

»Sie haben mich nicht gestört«, murmelte sie und wandte sich verärgert wieder den Felsen zu ihren Füßen zu.

»Nein?« Er zögerte. »Was tun Sie denn hier?«

Seufzend griff sie in ihre ausgebeulte Rocktasche und zog ein Büschel ockerfarbener Flechten hervor. »Ich sammle Flechten, um Tweed zu färben.«

»Das klingt interessant.«

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Eigentlich nicht.«

»Oh.«

Sie gab ein wenig nach; normalerweise brachte es die Männer zur Verzweiflung, wenn sie schmollte, aber bei seiner freundlichen Art kam sie mit schroffem Verhalten nicht weiter. Er schien es nicht einmal wahrzunehmen. »Es wird nur immer schwieriger, welche zu finden«, sagte sie. »Sie wachsen langsam, und wir alle brauchen sie für unsere Mietzahlungen.«

»Mietzahlungen?«

»Aye, der Tweed, den wir weben. Die Leute wollen keine braunen Stoffe. Jetzt sind Farben in Mode.« Sie musste an den lavendelblauen Mantel der jungen Frau denken, und ihre Stimme bekam eine gewisse Schärfe.

»Dann muss es Sie ziemlich unter Druck setzen, wenn diese Ressource begrenzt ist.«

Sie zuckte mit den Schultern und fuhr fort, mit dem Löffel Flechten vom Stein zu schaben. Was kümmerte ihn das? »Mit dem Torf ist es dasselbe – es wird immer schwieriger, genug davon zu bekommen. Aber wir schaffen das schon.«

Die Glocke am Schulhaus läutete – die Kinder gingen jetzt zum Essen. Floras Magen knurrte, aber daran war sie gewöhnt, und sie veränderte ihre Position nicht.

Er hatte sich schon halb abgewandt, drehte sich aber noch einmal zu ihr herum. »Miss MacQueen«, sagte er nachdenklich, »ich frage mich … Würde es helfen, wenn ich Sie dafür bezahle, mich zum McKinnon-Felsen zu führen?«

»Helfen?«, erwiderte Flora gereizt. »Ich brauche Ihre Wohltätigkeit nicht, Mr Callaghan.«

»Nein, das weiß ich. Ich meinte nur, also … Eigentlich würden Sie mir einen Gefallen tun. Ich habe keine Ahnung, wo ich suchen soll, und ich würde mich nicht ganz so schlecht fühlen, weil ich Ihre Zeit stehle, wenn ich Sie wenigstens dafür bezahlen dürfte.«

Sie starrte ihn an. Er schien nicht zu verstehen, dass die meisten Männer unbedingt Zeit mit ihr verbringen wollten und sich das auch gerne etwas kosten ließen. Er aber wollte ihr Geld geben, damit er Steine fand?

»Ich fürchte, ich kann nicht. Ich muss das hier zu meiner Mutter bringen.« Sie klopfte auf ihre ausgebeulten Taschen. »Bestimmt wartet sie schon darauf.«

»Ich verstehe.« Er blickte in Richtung Dorf. Die Kinder strömten aus dem Schulhaus, voller Vorfreude auf das Essen.

»Und wenn eins von den Kindern dort die Flechten für Sie nach Hause bringt?«

Sie schaute zu ihnen hinüber, dann wieder zu ihm, zweifelnd.

»Schnell«, sagte er und schnippte mit den Fingern. »Bevor sie weg sind.«

Flora spürte, wie bei dieser Geste wieder Wut in ihr aufflammte, Ärger über seine gebieterische Haltung. Langsam kam sie zu dem Schluss, dass sie ihn ganz falsch eingeschätzt hatte; er war nicht gelassen, sondern unfreundlich, nicht zurückhaltend, sondern hochmütig, nicht würdevoll, sondern arrogant.

Er schien zu bemerken, dass sie vor Ärger leicht errötete. »Würde ein Pfund ausreichen?«, fragte er.

Ein Pfund? Damit sie ihn zum McKinnon-Felsen brachte? Sie wusste nicht, was für Schätze er dort zu finden hoffte, aber ganz sicher würde er bitter enttäuscht werden. Falls es dort irgendetwas von Wert gab, hätten die Inselbewohner es längst entdeckt.

Aber das war nicht ihr Problem.

Sie wandte sich den Schulkindern zu.

»Bonnie!«, rief sie.

Ihre sechsjährige Schwester drehte sich um und rannte sofort zu ihnen. »Was ist, Flossie?«, fragte sie, wie üblich auf Gälisch. »Wer ist das?«

»Ein aufgeblasener, arroganter Dummkopf«, murmelte Flora, ebenfalls auf Gälisch, ging vor Bonnie in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein, und schob ihr eine Haarsträhne hinter das Ohr. Das Mädchen hatte einen Kreidefleck auf der Wange, und Flora befeuchtete ihren Finger, um ihn wegzuwischen. Zwischen ihnen lagen zwölf Jahre Altersunterschied, aber sie liebte ihre kleine Schwester abgöttisch.

»Warum schaut er dich die ganze Zeit an?«

Flora seufzte. »Weil er außerdem unhöflich ist.«

»Bonnie, nicht wahr?«, mischte Callaghan sich ein und ging ebenfalls in die Hocke. Er sprach die englischen Worte besonders deutlich aus. »Darf ich dich um Hilfe bitten?«

Bonnie sah ihn mit großen Augen an und schwieg, als er ein silbernes Sixpence-Stück hochhielt.

»Wenn ich dir meine glänzendste Münze gebe, nimmst du dann die Flechten, die« – er sah Flora von der Seite an – »Flossie in ihren Taschen hat, und bringst sie eurer Mutter?«

Flora spürte, dass ihre Wangen brannten. Vielleicht hatte er nur zufällig das Wort »Flossie« herausgehört und verstanden, dass es sich dabei um ihren Spitznamen handelte, aber irgendwie sagte ihr sein Blick, dass er sie genau verstanden hatte.

Sie schluckte und leerte ihre Taschen, stopfte die Flechten vorsichtig in Bonnies hohle Hände. »Sei vorsichtig«, sagte sie. »Und pass auf, wo du hintrittst. Ich habe mehr als eine Stunde gebraucht, um sie zu sammeln – ich will sie nicht auf der Straße herumliegen sehen, wenn ich zurückkomme.« Sie küsste ihre Schwester auf die Stirn.

»Was soll ich Mama sagen?«

»Dass ich einem der Besucher den McKinnon-Fels zeige. Er sucht Fossilien und gibt mir auch eine glänzende Münze«, erklärte sie mit Nachdruck. Es war wichtig, dass ihre Mutter wusste, dass sie Geld verdiente, sonst würde sie die jüngeren Männer aus dem Dorf hinter ihnen herschicken. Die Sache mit Floras »Ehre« wurde sehr ernst genommen.

»Ja, Flossie«, sagte Bonnie, drehte sich um und rannte davon, ganz offensichtlich ohne darauf zu achten, wo sie hintrat.

Flora blickte wieder zu James Callaghan und merkte, dass er sie ansah. »Sie sprechen Gälisch«, sagte sie steif, nachdem sie einen Augenblick geschwiegen hatten.

»Ja, mein Vater hat darauf bestanden, dass ich es lerne … Es ist überraschend nützlich«, sagte er und blieb dabei vollkommen ernst.

Sie starrte ihn an und hielt den Kopf ein wenig höher. Sie würde sich nicht entschuldigen. Nein. Er war selbst grob und beleidigend gewesen, also konnte er sie ruhig ebenfalls bei solchem Verhalten ertappen.

»Wollen wir?«, fragte sie und ging voran zu dem Weg über die Landzunge.

Er nickte nur zur Antwort, auch wenn sich, beinahe unbemerkt, wieder dieses winzige Lächeln in seine Augen schlich.

2. Kapitel

Das erste Stück in Richtung Landzunge legten sie schweigend zurück.

»War der Mann, den ich vorhin gesehen habe, Ihr Vater?«, fragte Flora dann mit gepresster Stimme.

»Nein, das war Mr Rushton. Gerald. Und seine Frau Virginia und ihre beiden Töchter, Sophia und Martha.«

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. Die Auslassung war allzu auffällig. »Und was ist mit Edward?«

Er hob leicht die Augenbraue, als klänge es merkwürdig, den Namen aus ihrem Mund zu hören. Oder er war erstaunt, dass sie sich an ihn erinnerte. »Edward ist sein Sohn, ja. Wir waren zusammen in Cambridge.«

»Dann sind Sie also ein Freund und reisen mit der Familie?«

»Ja.« Er schien noch etwas sagen zu wollen, die Worte dann aber doch zurückzuhalten, und sie fragte sich, was er vielleicht noch hinzugefügt hätte, um zu erklären, warum er mit dieser Familie unterwegs war. Ob es etwas mit Miss Sophia Rushton zu tun hatte, mit ihrer modischen Kleidung und den gewagt entblößten, schlanken Beinen? Flora war nicht entgangen, wie die junge Frau ihn vorhin auf der Straße angesehen hatte, und auch nicht ihr Schmollen, als er auf das Familienfoto verzichtete. Erhoffte man sich eine Verbindung zwischen den beiden Familien, oder war sie sogar bereits arrangiert? Es interessierte sie nicht, war bedeutungslos; sie war einfach nur erfreut zu hören, dass Sophia und Edward Geschwister waren.

Bei der Aussicht, ihn wiederzusehen, spürte sie eine Welle der Vorfreude. Hier gab es so wenig Aufregendes, und sie sehnte sich nach einem Abenteuer, einer glühenden Liebesaffäre mit einem gut aussehenden Fremden. Alle jungen Männer auf der Insel waren entweder wie Brüder für sie oder ihr einfach nicht gewachsen, denn sie hatte einen scharfen Verstand, der zu ihrer Schönheit passte, und auch ein hitziges Temperament. Keiner von ihnen konnte damit umgehen, und alle wussten das. Doch Edward Rushton besaß eine Vitalität, die zu ihrer eigenen passte, und sie spürte eine urtümliche Anziehungskraft von Gleichgesinnten zwischen ihnen.

»Was meinen Sie, werden sie lange an Bord bleiben?«, fragte sie und blickte im Gehen zu der Jacht hinüber. Sie ging jetzt vor ihm her, weil der Pfad schmaler wurde.

»Das bezweifle ich. Edward ist ein unruhiger Geist. Er langweilt sich schnell.«

»Wirklich?«, fragte sie mit Betonung, um ihr Interesse zu bekunden, in der Hoffnung, dass er dann mehr von seinem Freund erzählte; er musste doch das kleine Techtelmechtel zwischen ihnen vorhin bemerkt haben? Aber er schien sich mehr auf die Klippen zu konzentrieren, die vor ihnen aufragten, betrachtete aufmerksam die Felsen. Anscheinend waren die Fossilien interessanter.

Flora führte ihn weiter auf die Landzunge, bis sie die Bucht – und die Jacht – hinter sich gelassen hatten und über das offene Meer hinweg auf den Horizont blickten, hinter dem die fernen Inseln Lewis und Harris verborgen lagen. Noch ein Stück weiter, und sie würden die Nachbarinsel Boreray sehen, wo die St. Kildaer ihre Schafe weiden ließen; bestimmt interessierte sich James Callaghan für Schafe genauso wie für Steine. Sie fragte sich, wie anders, wie viel aufregender dieser Spaziergang wohl wäre, wenn sie mit Edward hier wäre und nicht mit seinem unbeholfenen Freund.

Sie blieb stehen und zeigte nach oben. »Also, da ist er. Der McKinnon-Fels«, erklärte sie mit einem Seufzen, während sie auf den unscheinbaren scharfkantigen Felsen deutete, der wie ein Zahn vor ihnen aufragte. Sie beobachtete, wie James den etwas enttäuschenden Anblick aufnahm – alleine hätte er den Stein niemals gefunden, vor allem nicht von hier unten. Wenn man ihn von weiter oben sah, wirkte er etwas auffälliger.

Sie schwiegen eine Weile, und sie fragte sich, was für Schätze genau er hier zu finden hoffte. Für sie waren Steine einfach Steine, etwas, worauf man sich setzen, was man werfen oder womit man sich einen Unterschlupf bauen konnte.

»Wie ist er zu seinem Namen gekommen?«, fragte er und blinzelte gegen das Sonnenlicht.

»Durch eine Reihe von unglücklichen Ereignissen für diese Familie, die sich an dieser Stelle ereignet haben«, antwortete sie düster. »Sie kommen jetzt nicht mehr hierher, obwohl es dreißig Jahre her ist, seit der letzte McKinnon hier verunglückt ist.«

Er sah sie an, und weil er so groß war, wirkte es, als würde er auf sie herabschauen. »Sind Ihre Leute abergläubisch, Miss MacQueen?«

Sie beäugte ihn misstrauisch. Wollte er sie beleidigen? »Meine Leute sind vernünftig, Mr Callaghan. Sie wiederholen ihre dummen Fehler nicht. An einem Ort wie diesem stirbt es sich viel zu leicht.« Sie hörte den empörten Tonfall ihrer Mutter in ihrer eigenen Stimme.

»Das kann ich mir vorstellen.« Er betrachtete die steilen Klippen und schien ihre Gereiztheit nicht bemerkt zu haben. »Obwohl ich glaube, dass darin auch etwas Positives liegt: sich der eigenen Lebendigkeit bewusst zu sein – eine besondere Wertschätzung dem Leben gegenüber?«

Er lächelte so plötzlich, so strahlend und unerwartet, dass sie ihren Ärger kurzzeitig vergaß und unwillkürlich zurücklächelte. Ihre Blicke begegneten sich, und sie spürte ein intensives Zusammentreffen, als sähen sie einander zum ersten Mal. Er besaß zwar nicht die strahlende Leichtigkeit seines Freundes, aber seine intensive Ernsthaftigkeit war auf ihre Weise ebenfalls anziehend. »Ja, vielleicht«, gab sie zu, obwohl sie darüber noch nie nachgedacht hatte.

Er blickte auf das Meer hinaus. »Ich versuche selbst, in diesem Bewusstsein zu leben … auch wenn das zu Hause nicht so einfach ist. Zu viel behaglicher Komfort vernebelt den Geist.«

»Mir scheint das Leben dort drüben wunderbar zu sein«, erwiderte sie seufzend. Sie liebte es, sich diesen Komfort vorzustellen.

Er sah sie erstaunt an, schien sich über ihre Haltung zu wundern. »Es hat natürlich seinen Reiz. Die Modernisierung schreitet schnell voran und macht zweifellos den meisten Menschen das Leben leichter. Aber manchmal frage ich mich, ob wir nicht mit jedem technologischen Fortschritt auch etwas Wichtiges verlieren. Die Verbindung mit der Natur, mit unseren Sinnen … Hier dagegen sind alle so frei; es gibt nur die Menschen und die Elemente. Mutter Natur. Und ihn selbst, Gott.«

»Ihn selbst?« Sie lachte abfällig. »Sie glauben also, dass Gott ein Mann ist? Mad Annie würde Ihnen ordentlich die Meinung geigen, wenn sie das hören würde.«

»Mad Annie?«, fragte er belustigt.

»Eine der Dorfältesten. Sie glaubt nicht an das Patriarchat. Sie sagt, die Frauen seien den Männern überlegen.«

»Inwiefern?«

»Wir haben einen schärferen Verstand, lernen leichter, können Schmerz besser ertragen, sind belastbarer und können mit unserem Körper sowohl Leben schenken als auch Leben erhalten. Sie sagt, wenn Gott ein Mann wäre, hätte er diese Gaben nicht den Frauen geschenkt, sondern den Männern. Also ist Gott eine Frau.«

»Ich verstehe.« Sein Lachen klang herzlich und tief. »Und was sagt Ihr Pfarrer dazu?«

»Ach, sie streiten sich fürchterlich darüber, aber sie geraten eh wegen allem aneinander«, erwiderte sie mit einem Achselzucken. »Annie geht ohnehin nie in die Kirche, deshalb ist ihr egal, was er denkt. Sie tut alles, was er missbilligt, ich glaube vor allem, um ihn zu ärgern – sie trinkt Whisky, raucht Pfeife und spuckt wie ein Lama.«

Er hob eine Augenbraue. »Haben Sie je ein Lama spucken sehen?«

»Ich habe überhaupt noch nie ein Lama gesehen«, gab sie zu. »Aber ein Fischer hat uns einmal davon erzählt, nachdem Annie ihm vor die Füße gespuckt hatte, weil er ihr schöne Augen machte.«

»Sie wollte nicht, dass er ihr schöne Augen macht?«

»Sie ist Witwe. Sie sagt, sie hätte in ihrem Leben genug Zeit mit Männern verbracht und sich ihren Frieden verdient.«

Er lachte, und wieder klang es natürlicher und herzlicher, als sie es von einem Mann erwartet hätte, der sich für Fossilien interessierte. »Klingt, als sollte man sich lieber nicht mit ihr anlegen. Woran erkenne ich sie, wenn ich ihr begegne?«

»Oh, vertrauen Sie mir – Sie werden es schon merken.« Sie zog eine Grimasse, die ihn erneut zum Grinsen brachte.

»Ich werde wachsam sein. Und ihr auf keinen Fall schöne Augen machen.«

Flora schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich auf die Zunge zu beißen. Das war doch sicher ein Witz? James Callaghan war genauso wenig in der Lage, einer Frau schöne Augen zu machen, wie sie selbst fliegen konnte.

Sie setzte sich auf einen glatten Stein, und er fing an, den Bereich rund um den McKinnon-Fels abzusuchen. Auf dem Boden kauernd ging er die Steine durch, die überall verstreut lagen, viele davon Bruchstücke von größeren Felsbrocken, die bei ihrem Sturz von den Klippen zersplittert waren. Er untersuchte jeden Stein sorgfältig, fuhr mit dem Daumen über die Oberfläche, untersuchte Ränder und Bruchstellen, dann wendete er sich dem nächsten zu.

Sie beobachtete ihn, irgendwie fasziniert von seiner Tätigkeit. Er hatte ein schönes Profil – verschwendet an einen so unbeholfenen Mann, wie sie fand, auch wenn er charismatische Momente hatte, plötzlich anziehend wirken konnte …

Als ob er ihren Blick gespürt hätte, sah er auf, dann blickte er wieder auf den Stein, den er zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. »Sie, äh … Sie haben vorhin gesagt, Ihnen gefällt das, was Sie vom Festland hören. Ich bedaure, dass ich Sie in diesem Moment unterbrochen habe mit meinem Gerede über die Freuden, die das hiesige Leben mit sich bringt. Waren Sie schon drüben auf dem Festland?«

»Nein.«

Er schien überrascht zu sein. »Wirklich nicht? Noch nie?«

»Noch nie. Aber ich sehne mich danach, es zu sehen.«

»Hm, vielleicht wären Sie enttäuscht.«

»Nein, niemals, da bin ich mir sicher.«

»Woher wissen Sie das?«

»Die Kapitäne bringen uns manchmal bunte Zeitschriften mit, die ihre Passagiere liegen gelassen haben, und die schauen meine Freundinnen und ich uns an, wenn wir abends im Kuhstall sind und unsere Eltern denken, dass wir stricken.« Sie lächelte, als sie sich daran erinnerte, wie schockiert Effie von der Abbildung eines Damen-Hüfthalters gewesen war; für sie sah diese Vorrichtung mehr wie eine etwas raffiniertere Kletterschlinge aus. Aber Flora war entzückt davon gewesen, wie sie die kurvige Figur einer Frau noch mehr betonte.

»Und was gefällt Ihnen daran?«

»Wir sehen uns die Mode, das Make-up und die Frisuren der Frauen an.« Sie strich sich über ihre Haare. »Hier ist der Wind so stark, wir müssen Kopftücher tragen, um uns davor zu schützen. Die Vorstellung von Haaren, die sich nicht bewegen …« Sie seufzte sehnsüchtig und starrte verträumt ins Leere, gerade als ein Windstoß, wie um sie zu ärgern, in ihren dicken Zopf fuhr.

»Ich verstehe. Sie sehnen sich also nach Haaren, die sich nicht bewegen«, wiederholte er. »Was noch?«

»Grammofone.«

»Sie mögen Musik?« Er legte einen Stein auf einen anderen und fing an, mit einem kleineren, spitzeren, darauf zu klopfen.

»Ich liebe das Singen. Das Tanzen auch, manchmal«, antwortete sie, während sie ihn bei der Arbeit beobachtete.

»Nur manchmal?«

»Wir haben hier nicht oft Gelegenheit dazu, nur bei Feiern. Der Pfarrer hält nicht viel von Vergnügungen. Er sagt, sie machen den Geist unruhig und wecken den Teufel.«

»Woher weiß er das?«, murmelte James mit einem leichten Stirnrunzeln, aber ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Legen Sie großen Wert auf seine Meinung?«

»Er ist der einflussreichste Mann auf dieser Insel.«

Er nickte. »Sehr zu Mad Annies Bedauern, wie ich mir denken kann.«

»Genau«, murmelte sie, erfreut, dass er es erfasst hatte. »Er ist der einflussreichste Mann, und sie ist die einflussreichste Frau.«

»Nun, dann würde ihr das Leben auf dem Festland vielleicht auch gefallen.«

»Warum glauben Sie das?«

»Weil so im Moment der Wind weht – mehr Rechte für die Arbeiterklasse und für Frauen. Der Pfarrer hätte auf der anderen Seite eine kleinere Zuhörerschaft, das kann ich Ihnen versichern.«

»Dann will ich jetzt noch lieber dorthin.«

Er sah zu ihr hoch, und sein Blick war wie ein Sonnenstrahl, der auf dem Wasser glitzert. »Eines Tages werden Sie das bestimmt erleben.«

»O ja, das weiß ich«, sagte sie voller Überzeugung.

»Wirklich?«

Sie nickte. »Ich bin hier geboren, aber ich hatte schon immer das Gefühl, dass ich hier nicht sterben werde.«

Er hörte auf zu klopfen, richtete sich in der Hocke auf und sah sie an. »Das Gefühl? Und Sie sind ganz sicher nicht abergläubisch?«

»Machen Sie sich nicht über mich lustig«, stieß sie hervor und warf eine Handvoll Moos nach ihm.

»Das waren Ihre Worte, nicht meine.« Er grinste und duckte sich.

Sie musste lachen und blickte schnell in eine andere Richtung, weil sie sich für ihre plötzliche Albernheit schämte. Sie war kindisch und primitiv.

»Wenn Sie sich für Aberglauben interessieren, müssen Sie Jayne Ferguson kennenlernen, die Frau von Norman«, sagte sie nach einer Weile.

Er riss dramatisch die Augen auf. »Ist sie eine Hexe?«

»Nicht ganz.«

»Nicht ganz?« Leise Ironie schwang in seinen Worten mit.

»Sie hat die Gabe des Zweiten Gesichts. Na ja, man nennt es Gabe, aber eigentlich ist es ein Fluch.«

»Und was sagt der Pfarrer dazu? Glaubt er an dieses Phänomen?«

»Es geht hier nicht um glauben oder nicht glauben, es ist unbestreitbar.« Sie zuckte mit den Schultern. »Jayne täuscht sich nie. Wenn sie einen ihrer Träume oder eine Vision hat, ist völlig klar, dass die betreffende Person innerhalb von drei Tagen stirbt.«

James hörte mit dem Steineklopfen auf, und der heitere Ausdruck war aus seinem Gesicht verschwunden. »Wie schrecklich für sie.«

»Das ist es wirklich; es ist eine Bürde. Sie bleibt meistens für sich. Ich glaube, damit will sie sich schützen.«

»Erzählt sie von ihren Träumen? Das muss doch ein furchtbares ethisches Dilemma sein?«

Flora schüttelte den Kopf. »Niemals vorher. Sie sagt, dass die Träume manchmal so … undeutlich sind, dass sie sie nicht ganz verstehen kann.«

»Sieht sie voraus, wie die Person stirbt?«

»Nein.«

»Das ist schade.«

Flora sah ihn empört an. »Warum?«

»Weil sie dann zumindest darauf hinweisen und der Person helfen könnte, ihr Verhalten zu ändern – wenn es sich bei der Todesursache zum Beispiel um einen Unfall handelt. Dann hätte sie die Möglichkeit, einzugreifen. Es muss schrecklich sein, sich in so einem Fall passiv verhalten zu müssen – nur abzuwarten und alles hilflos mit anzusehen.«

Flora dachte einen Augenblick über seine Worte nach. »Ich weiß nicht, ob sie eingreifen würde, selbst wenn sie es könnte. Jayne würde das als eine Einmischung in Gottes Plan begreifen.«

»Vielleicht hat sie recht.« Es dauerte eine Weile, bis James weitersprach, und Flora merkte, dass ihre Aussage ihn bekümmerte. »Mich wundert, dass sie morgens überhaupt aufsteht.«

»Meistens sondert sie sich ab. Sie lebt ziemlich zurückgezogen. Ich glaube, sie hat Angst, eine sichtbare Veränderung in ihrem Alltag könnte sie verraten, und es wäre so schrecklich, wenn sie aus Versehen jemandem mitteilen würde, dass sie von ihm oder ihr geträumt hat. Können Sie sich das vorstellen?«

»Ihr Ehemann muss ein mutiger Mensch sein. Ich weiß nicht, ob ich gerne neben jemandem nachts im Bett liegen würde, der jeden Moment meinen Tod vorhersehen könnte.«

»Hm.« Sie verdrehte die Augen. »Norman ist von allen Inselbewohnern am leichtesten zu täuschen.«

»Wirklich?« Er hatte seine Arbeit an dem Stein wieder aufgenommen. Flora konnte einen Spalt darin erkennen, der immer größer wurde. »Warum?«

»Er ist furchtbar roh und ungefähr so zartfühlend wie eine Axt. Jayne ist so sanft und bescheiden, dass er sie kaum wahrnimmt. Manchmal glaube ich, sie könnte in ihrem Sessel sterben, und er würde es erst merken, wenn sie nicht aufsteht, um ihm sein Abendessen zu machen.«

James zuckte zusammen, grinste aber gleichzeitig. Er klopfte jetzt fester. »Sie haben ein scharfes Urteil, Miss MacQueen. Ihr Ehemann muss auf der Hut sein.«

»Ich habe keinen Ehemann«, erwiderte sie schlicht. »Und werde hier auch keinen finden.«

»Nein? Aber es muss doch irgendeinen Mann geben, der sich für Sie interessiert?«

Flora starrte ihn fassungslos an. Was glaubte er … Aber sein Blick war so ernsthaft, dass sie keine Worte fand, um ihrem Ärger Ausdruck zu verleihen.

Auf einmal brach der Stein auf, er betrachtete ihn, verzog enttäuscht das Gesicht und seufzte. Was auch immer er sah, war nicht das, worauf er gehofft hatte. Alles war umsonst gewesen, und so würde es auch bleiben. Es gab keine Schätze auf diesen Inseln.

»Ich fürchte, ich muss zurück«, sagte sie und raffte ihren Rock zusammen. Noch nie hatte jemand sie so gekränkt. Wie konnte er nur glauben, dass sie irgendwelche Schwierigkeiten haben könnte, einen Mann zu finden, der sich in sie verliebte? Ihr Problem war eher, die Männer in Schach zu halten!

»Ja, natürlich«, murmelte er, blickte nach kurzem Zögern hoch und wollte ebenfalls aufstehen.

»Ist schon in Ordnung. Sie können hierbleiben. Ich komme gut alleine zurück.« Sie wusste, dass sie gereizt klang, konnte es aber nicht ändern. Er provozierte sie, und sie wollte fort von ihm. Schließlich hatte sie getan, worum er sie gebeten hatte, und ihn zum McKinnon-Fels geführt. Sollte er sie bezahlen, dann war sie ihn los.

»Nun ja, ich habe mein Werkzeug nicht dabei, und ohne das wären weitere Untersuchungen hier nutzlos, glaube ich.« Er erhob sich und ging zu dem Pfad zurück, ohne ihren Groll zu bemerken.

Auf dem Rückweg bestritt er die Unterhaltung, stellte ihr Fragen über sie und ihre Familie, als würde es ihn ernsthaft interessieren, aber was sie ihm wirklich gerne erzählt hätte, war, wie viele glühende Liebeserklärungen sie in ihrem jungen Leben schon bekommen hatte: von Jungen, die damit gedroht hatten, sich von der Klippe zu stürzen, wenn sie ihren Antrag ablehnte; von Männern, die sich ihr in beängstigenden Mutproben beweisen wollten. Manche hatten ihr Gedichte auf die Fensterbank gelegt oder ihr auf dem Weg zur Kirche verlegen einen Strauß Butterblumen überreicht; und dann die reichen Touristen, die ihr Geld gaben, damit sie sich mit ihnen fotografieren ließ …

Sie wollte ihm von alldem erzählen, spürte aber gleichzeitig, dass es ihn völlig ungerührt lassen würde, wenn sie es täte. Es kümmerte ihn einfach nicht. Er sah sie nicht so, wie andere Männer sie sahen. Und das bisschen Interesse, das er für sie aufbrachte, schien eher ihren Gedanken als ihrem Gesicht zu gelten.

Sie gingen am Ufer entlang zurück, jeder von ihnen seinen Gedanken nachhängend, bis sie die schützende Umarmung des Dorfes erreicht hatten.

»Da bist du ja!«, dröhnte eine Stimme, sodass sie beide abrupt stehen blieben. »Ich habe dich überall gesucht.«

Flora spürte Erleichterung in sich aufsteigen, als Edward vom Federnlager zu ihnen herüberkam, voller Elan und offensichtlich froh, sie zu sehen. Sie fragte sich, ob er sie oder seinen Freund angesprochen hatte.

»Miss MacQueen.« Strahlend ergriff er ihre Hand und küsste sie, als wäre sie eine Freundin, womit Floras Frage beantwortet war. »James«, sagte er dann und richtete sich auf. »Wir haben uns gefragt, wo du bist. Sophia war ziemlich besorgt.«

James runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht. Ich habe Martha doch von meinen Plänen erzählt.«

»Aber in letzter Minute. Ich dachte, du würdest zum Boot kommen?«

James zuckte mit den Schultern. »Das hatte ich vor, aber dann ist mir etwas eingefallen, was ich über den McKinnon-Fels gelesen hatte, und ich beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, ihn zu sehen.«

»Der McKinnon-Fels? Was ist damit?«

»Ich wollte dort nach Fossilien schauen.«

»Fossilien? Seit wann …?«

Flora unterbrach die beiden Männer, indem sie sich mit stolz erhobenem Kopf an James wandte: »Sie haben mir Geld versprochen, Mr Callaghan.«

Sie sah ihm in die Augen, und er brauchte einen Moment, bis er reagierte. »Ja … Das habe ich tatsächlich, Miss MacQueen.« Er griff in seine Tasche und zog das versprochene Pfund hervor.

Flora biss sich auf die Unterlippe; das war weit mehr, als so eine unbedeutende Gefälligkeit wert war. Zum Dank – und um ihm ein Beispiel für ihre weibliche Macht zu geben – schenkte sie ihm das strahlende Lächeln, mit dem sie jeden Mann zu Fall brachte. Sicher würde er jetzt verstehen, dass ihre Ehelosigkeit nicht auf irgendwelche Mängel ihrerseits zurückzuführen war? Wenn er für ihre Reize blind war, war er der Einzige.

Aus dem Augenwinkel sah sie Edward lächeln, aber James sah sie verständnislos an – ihre Bemühungen waren wie Sonnenstrahlen, die auf Schlamm fielen.

»Das war eine kurze Pause«, sagte James zu seinem Freund.

»Tja, du kennst mich, alter Junge, ich kann nicht lange herumsitzen. Vor allem, wenn ich offenbar das Heimatland der berühmten Sirenen entdeckt habe.« Er hob provozierend eine Augenbraue in Floras Richtung, ganz und gar nicht auf Zurückhaltung bedacht.

Flora richtete sich sofort ein wenig auf, auch wenn sie nicht auf das Kompliment einging.

»Sind alle wieder zurück an Land?«, fragte James und ließ den Blick über die Bucht wandern.

»Die Mädchen und ich, ja. Meine Eltern ruhen sich noch aus.« Er richtete seine Worte an James, aber ohne Flora aus den Augen zu lassen. »Sophia und Martha nehmen gerade Strickunterricht bei einer von Miss MacQueens hübschen Freundinnen.«

»Oh, bei wem?«, fragte Flora.

»Ich weiß nicht, wie sie heißt. Hellbraunes Haar, ein Muttermal genau hier.« Er zeigte auf eine Stelle an seiner linken Wange.

»Ah, das ist Molly.«

»Sie klingen erleichtert.«

»Ja, das bin ich auch. Wenn es Effie wäre, die Strickunterricht gibt …« Sie verzog das Gesicht. »Sogar ihr eigener Vater sagt, mit ihren Strickdecken könne man nur noch Tote einhüllen.«

Edward lachte auf. »Klingt nach einem drolligen Burschen.«

»Auf jeden Fall ist er ziemlich scharfzüngig.« Flora lächelte. »Aber an Effie prallt das alles ab. Stricken interessiert sie nicht die Bohne, nur Felsklettern.«

»Klettern Sie auch, Miss MacQueen?«, fragte er, eine Hand in der Hosentasche.

Flora legte kokett den Kopf schief. »Sehe ich so aus?«

»Nein, wirklich nicht. Eher wie eine Frau, die Perlen trägt und Kuchen isst, während kleine Engel für sie singen.«

Sie lachte verblüfft auf, und sie starrten einander an, als sie merkten, dass sie die Anstandsregeln gebrochen hatten, indem sie offen miteinander schäkerten. Sie hatte nur ein paar Minuten dafür gebraucht: Dieser reiche, attraktive Mann war ihr bereits verfallen.

»Hätten Sie Lust, mit mir am Strand spazieren zu gehen?«, fragte Edward. »Ich schätze, das ist für Sie die langweiligste Sache der Welt, weil Sie es schon tausend Mal gemacht haben, aber ich mag den Anblick dieser Berge nicht, und außerdem möchte ich alles über Sie wissen.« Er winkelte den Arm an, damit sie sich bei ihm unterhakte. »Ich verspreche Ihnen, dass ich nicht nach Fossilien suche.«

Über seine Neckerei musste Flora lachen. »Also gut, wenn Sie das versprechen …« Damit nahm sie seinen Arm und warf einen beiläufigen Blick in James Callaghans Richtung. Hatte er jetzt noch irgendeinen Zweifel an ihren Fähigkeiten?

»Bevor Sie gehen …«, sagte James schnell.

Sie wartete triumphierend.

»Würden Sie mir sagen, wo ich Miss Ferguson finden kann?«

Flora verspürte einen schmerzlichen Stich – sie fühlte sich überflüssig, wie eine Fliege, die um ein Pferd herumschwirrt. »Drittes Haus rechts.«

»Herzlichen Dank, Miss MacQueen«, sagte er lächelnd und machte sich daran, seinen Weg fortzusetzen. »Einen angenehmen Spaziergang.«

3. Kapitel

Die Flut kam, aber es würde noch ein paar Stunden dauern, bis sie die Felsen erreichte, die den Strand säumten. Flora und Edward schlenderten über den Sand. Das Wasser strömte auf ihre Füße zu und zog sich sanft zischend wieder zurück.

Edward musste rennen, um dem schäumenden Meerwasser zu entgehen. »Ich fürchte, ich bin zu angezogen«, sagte er mit einem Blick auf Floras nackte Füße, ließ ihren Arm los und beugte sich hinunter, um seine Schuhe aufzuschnüren.

Flora grub ihre Zehen in den Sand und war sich bewusst, dass Schuhe oder das Fehlen derselben für die Kluft standen, die im Leben zwischen ihnen lag. Er zog seine Socken aus und krempelte die Hosenbeine hoch, damit sie trocken blieben. Es war seltsam, einen Teil seines Körpers zu sehen, der bisher von einer teuren Maßanfertigung versteckt gewesen war, und sie konnte nicht anders als auf die blasse, weiche Haut zu starren. Behaglicher Komfort, hatte James gesagt.

Er blickte ebenfalls hinab und wackelte scherzhaft mit den Zehen, als habe er ihre Gedanken erraten.

»Irgendwie schaffen Sie es, auch barfuß hoheitsvoll zu wirken, Miss MacQueen«, sagte er grinsend. »Während ich mir jetzt wie ein kleiner Junge in kurzen Hosen vorkomme.«

»Ganz und gar nicht«, versicherte sie ihm lächelnd. »Sie sehen jetzt wie ein echter Felskletterer aus.« Allerdings brachte ihn jeder kleine, spitze Stein ins Stolpern, und sie schritt noch selbstbewusster voran.

»Ich hatte gedacht, die Felskletterer wären das aufregendste Erlebnis an unserer Reise …«

Das unausgesprochene »Aber« entging Flora nicht. »Tatsächlich?«, fragte sie.

»Ja. Sie sind weltberühmt, die Männer dieser Insel. Ihre Fähigkeiten am Seil sind weit über London hinaus bekannt.«