Die Inseltöchter - Das verborgene Herz - Karen Swan - E-Book

Die Inseltöchter - Das verborgene Herz E-Book

Karen Swan

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Beschreibung

Eine Insel voller Geheimnisse, eine bemerkenswerte Frau, eine unerwartete Liebe

St. Kilda 1930: Jayne Ferguson ist mit dem attraktivsten Mann der Insel verheiratet und hat die seherische Gabe ihrer Mutter geerbt. Doch beides ist mehr Fluch als Segen. In ihrer Ehe fühlt sie sich gefangen, und sie weiß vor allen anderen, wenn ein Unglück droht. Nachdem das Schicksal einmal mehr zugeschlagen hat, findet Jayne unerwarteten Trost bei einem Freund und schöpft Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Der Tag, an dem die ganze Insel evakuiert werden soll, rückt näher – und damit auch die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Doch Jayne weiß genau, dass man der Vergangenheit nicht so einfach entkommt ...

Das große Finale der »Inseltöchter«-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Karen Swan, basiert auf historischen Ereignissen.

Pressestimmen zu den »Inseltöchter«-Romanen:

»Der beste historische Liebesroman des Jahres.« Independent

»Lebendig erzählt und wunderbar atmosphärisch. Ein wahrer Genuss!« Heat Magazine

»Diese großartige Geschichte und ihre unkonventionelle Heldin werden viele Herzen erobern.« Publishers Weekly

»Die aufregendste, bezauberndste und bewegendste Geschichte über verbotene Liebe, die ich jemals gelesen habe.« Cathy Bramley

»Eine hinreißende Liebesgeschichte im wilden Schottland der 1930er-Jahre. Perfekt für alle, die vom Sommer träumen.« Rachel Hore

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

St. Kilda 1930: Jayne Ferguson ist mit dem attraktivsten Mann der Insel verheiratet und hat die seherische Gabe ihrer Mutter geerbt. Doch beides ist mehr Fluch als Segen. In ihrer Ehe fühlt sie sich gefangen, und sie weiß vor allen anderen, wenn ein Unglück droht. Nachdem das Schicksal einmal mehr zugeschlagen hat, findet Jayne unerwarteten Trost bei einem Freund und schöpft Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Der Tag, an dem die ganze Insel evakuiert werden soll, rückt näher – und damit auch die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen. Doch Jayne weiß genau, dass man der Vergangenheit nicht so einfach entkommt …

Weitere Informationen zu Karen Swan

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Karen Swan

Das verborgene Herz

Die Inseltöchter

Roman

Aus dem Englischen von Anne Fröhlich

Die englische Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »The Midnight Secret« bei Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2025

Copyright © 2025 by Karen Swan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: Andy Sutton /Alamy Stock Photo

FinePic®, München

Kartenillustration: Hemesh Alles

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

LS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32862-7V001

www.goldmann-verlag.de

Für Daphne und Colin Hydes,die ihr Happy End so sehr verdient haben

Karte

Earth’s crammed with HeavenBut only he who sees takes off his shoes

Die Erde ist voller Himmel,Doch nur wer das erkennt, zieht seine Schuhe aus.

(Elizabeth Barrett Browning)

Prolog

3. November 1926 Village Bay, St. Kilda

Es regnete, aber Regen sollte Glück bringen.

Nicht dass Jayne es nötig hatte. Sie heiratete den schönsten, größten Mann der Insel, einen Mann, bei dem sie Schmetterlinge im Bauch hatte, wenn sie ihn ansah. Seine Augen hatten die Farbe des Junihimmels, und sein glänzend schwarzes Haar trug er ein wenig länger als üblich – »zottig«, hatte Mad Annie es einmal genannt, »wie ein Schaf in der Mauser«. Er hatte breite, kräftige Schultern und lange Arme und Beine und war zwei Köpfe größer als alle anderen Männer, abgesehen von Angus MacKinnon.

Niemand bestritt, dass Norman der schönste Mann auf der Insel war, und Jayne erinnerte sich noch daran, wie sie vor Überraschung kaum hatte antworten können, als er sie im Sommer nach der Kirche angesprochen und gefragt hatte, ob sie einen Spaziergang mit ihm machen wolle. Sie war sich so sicher gewesen, dass er die neue Krankenschwester fragen würde, denn die Frauen redeten beim Wäschewaschen am Bach über keine andere. »Frisches Blut!«, hatte Ma Peg erfreut ausgerufen, und »eine Frau von Welt!«, hatte Mad Annie mit seltener Bewunderung gesagt, als Lorna vor Kurzem auf die Insel gezogen war. Die Krankenschwester war sechsundzwanzig und damit vier Jahre älter als Norman, gebildet und klug und hübsch in ihrer Ernsthaftigkeit. Sie konnte den Menschen auf so viele Arten helfen, die Jayne – die gerade achtzehn geworden war und sich in nichts besonders hervortat – nicht zur Verfügung standen. Allen war klar, dass Lorna für den beliebtesten Junggesellen aus dem Dorf die bessere Partie war … Und dennoch hatte er Jayne gewählt!

Ihr erster gemeinsamer Spaziergang war von Verlegenheit geprägt gewesen, das ließ sich nicht leugnen. Jayne hatte die erstaunten Blicke von Rachel MacKinnon und Christina MacQueen sehr wohl bemerkt, als sie und Norman sich von den anderen abgesondert und in Richtung Klippen gegangen waren. Keiner von beiden hatte etwas zu sagen gewusst, und entweder hatten sie gleichzeitig das Wort ergriffen oder waren beide in Schweigen verfallen. Aber er hatte darauf geachtet, dass sie in Sichtweite des Dorfes blieben. Die Leute würden reden, und er wollte Jaynes Ruf nicht gefährden – auch wenn sie keine Familie mehr hatte, die das kümmerte.

Nach dem Tod ihrer Mutter war ihr Vater nach Australien gegangen und hatte ihre beiden jüngeren Brüder mitgenommen. Er hatte Jayne nicht geglaubt, als sie ihm gesagt hatte, dass sie nicht mitkommen wolle, und selbst als er an Bord des Walfängers gestiegen war, der ihn zum Festland brachte, hatte er noch erwartet, sie würde von diesem »Unsinn« ablassen und ihm folgen. Aber schließlich hatte er auch seine Frau nie verstanden und welche Bürde Mutter und Tochter an ihrer Gabe zu tragen hatten: Hinaus in die Welt zu gehen und in einer größeren Gemeinschaft zu leben, hätte das Risiko bedeutet, dass ihre Visionen zunahmen, und die waren in einem Dorf mit weniger als vierzig Einwohnern schon schwer genug zu ertragen. Also hatte er Jayne nur mit sprachloser Bestürzung angestarrt, als sie mit bleichem Gesicht zwischen den anderen an der Küste stehen geblieben war und ihm nachgewinkt hatte.

Als das Schiff die Landzunge umrundete, waren alle in kleinen Gruppen zurück zu ihren Cottages gegangen und hatten die Lücke, die nun in ihrer Mitte klaffte, schon fast vergessen. Doch Ma Peg hatte Jayne in ihrer selbstgewählten Verlassenheit zitternd an der Küste stehen sehen, ihr die Hand gereicht und sie zum Abendessen mit zu sich genommen – und dort war Jayne geblieben. Zwei Jahre später – diesen Sommer – war Lorna gekommen und in Jaynes ehemaliges Zuhause gezogen, und so hatte sich das Rad des Insellebens weitergedreht, ein bisschen anders als zuvor und doch gleich.

Aber heute würde Jayne ausziehen. In einer Stunde würde sie Mrs Norman Ferguson sein, und heute Nacht würde sie neben ihrem Ehemann im Cottage Nummer zwei schlafen. Er lebte dort mit seiner jüngeren Schwester Molly; die beiden waren zu Waisen geworden, als er fünfzehn Jahre alt gewesen war und Molly gerade neun, und er passte gut auf sie auf. Keiner der Jungen aus dem Dorf hätte es je gewagt, Molly an den Haaren zu ziehen oder ihr einen Kuhfladen vor die Tür zu legen!

In den letzten Monaten waren die beiden Mädchen einander nähergekommen, trotz ihres Altersunterschieds. Molly hatte Jayne gefragt, ob sie noch einmal mit Norman spazieren gehen würde, auch wenn er kein gefühlvoller Mensch sei. Sie hatte ihr erzählt, was ihn interessierte, damit sie beim nächsten Mal ein Gesprächsthema hatten – und das hatte funktioniert, hatte die Förmlichkeit zwischen ihnen abgemildert, sodass ihre Spaziergänge häufiger geworden waren.

»Hier, wusste ich’s doch, dass ich es noch irgendwo habe.« Ma Peg richtete sich langsam von der Truhe auf, in der sie gewühlt hatte, eine Hand auf dem Rücken, in der anderen ein dünnes Nachthemd, zerknittert und vergilbt. Soweit Jayne erkennen konnte, waren seine einzigen Vorzüge, dass es aus feinerer Baumwolle bestand als ihre üblichen Kleidungsstücke – die Sommerhemden eingeschlossen –, und dass es ein schwach fliederfarbenes Blumenmuster aufwies. »Das habe ich in meiner Hochzeitsnacht getragen.« Ma Peg drückte sich das Nachthemd gegen den kräftigen Körper. »Natürlich war ich damals noch wesentlich schlanker«, bemerkte sie kichernd. »Damals hat es mir wie angegossen gepasst. Ich weiß noch genau, wie Hamish mich angesehen hat …« Ihre Miene wurde weich bei der Erinnerung.

Jayne wartete angespannt. Sie brauchte mehr. Heute Nacht würde Molly hier bei Ma Peg schlafen, sodass Jayne und Norman ihre erste gemeinsame Nacht allein verbringen konnten, und Jayne hatte keine Ahnung, was auf sie zukam. Sie hatte versucht, Ma Peg zu fragen, was sie tun sollte, und ihre Antwort hatte gelautet, sie solle den Dingen einfach ihren natürlichen Lauf lassen – aber wenn sich zwischen ihr und Norman noch nicht einmal ein Gespräch auf natürliche Weise entspann, wusste sie nicht, wie das funktionieren sollte.

Ihr Gesicht musste ihre Unsicherheit verraten und die alte Frau dazu veranlasst haben, auf alle viere zu gehen und die Truhe zu durchsuchen.

»Achte nur darauf, dass du im Feuerschein stehst, Lassie.« Ma Peg sah sie mit einem wissenden Lächeln an. »Dann kommt er direkt zu dir.«

Jayne war verwirrt. »Im Feuerschein?«

»Du wirst schon sehen.« Ma Peg nickte und drückte Jayne das Nachthemd in die Hand, gerade als die Tür aufging und Mhairi MacKinnon hereinschaute.

»Molly und er sind gerade losgegangen«, berichtete sie aufgeregt. Zusammen mit Flora hatte sie in den letzten vierzig Minuten Wache gehalten und das Cottage des Bräutigams genau beobachtet, als müssten sie dafür sorgen, dass er nicht davonlief (auch wenn Jayne sich fragte, wie man das auf einer zwei Meilen langen Insel inmitten des Atlantiks bewerkstelligen sollte), und Effie Gillies war bei der Kirchentür »stationiert«, um sicherzugehen, dass er auch wirklich hineinging. Armer Norman! Jayne lächelte. Die Mädchen würden schon dafür sorgen, dass er sie heiratete, ob er nun wollte oder nicht.

»O Jayne! Du siehst so hübsch aus wie eine Fee!«, stieß Mhairi hervor.

Wirklich? Ma Peg hatte ihr das hellbraune Haar mit hundert Strichen gebürstet, damit es glänzte, und ihr dann Butterblumen und Gänseblümchen hineingeflochten. Auf den Inseln gab es keine Bäume, deshalb war eine Blütenkrone noch nie eine Option gewesen, aber jetzt war auch nicht die Jahreszeit für Wildblumen. Butterblumen und Gänseblümchen waren das Einzige, was ihnen zur Verfügung stand, und die Mädchen hatten den ganzen Vormittag damit zugebracht, welche zu pflücken.

»Lass mich mal!« Flora drängte sich an Mhairi vorbei, darauf erpicht, Jayne zu betrachten. »Oh! Du bist die schönste Braut, die ich je gesehen habe!«

Jayne wollte nicht darauf hinweisen, dass sie die einzige Braut war, die Flora je gesehen hatte, denn das Mädchen hatte verzückt die Hände vor der Brust verschränkt, und ihre grünen Augen leuchteten vor Aufregung. Mit ihren fünfzehn Jahren war Flora schon eine erstaunliche Schönheit, und sicher war ihr ein leichteres Leben bestimmt als das, was St. Kilda ihr bieten konnte. Jayne hatte das Gefühl, dass Floras Hochzeit weit spektakulärer sein würde als alles, was diese kleine Insel je gesehen hatte.

»Danke«, sagte sie ruhig. Sie musste dem Wort der Mädchen vertrauen, dass sie … vorzeigbar war. Manchmal fand sie die Aussicht, einen so gutaussehenden Mann zu heiraten, beängstigend, und sie musste sich daran erinnern, dass er derjenige war, der sie gewählt hatte; dass er etwas in ihr gesehen hatte, das ihm gefiel. »Du bist ein feines junges Mädchen«, sagte Ma Peg immer, wenn sie abends am Feuer saßen, strickten und über die Ereignisse des Tages plauderten, aber Jayne fiel es schwer, das zu glauben, nachdem sie ihr Leben lang übersehen worden war. Die Leute hielten Abstand zu ihr, genauso wie sie es bei ihrer Mutter getan hatten. Sie haben einen bestimmten Blick, wenn sie uns anschauen, Kind. Sie lächeln, aber sie sind immer misstrauisch, haben Angst vor dem, was wir gesehen haben könnten.

Jayne hatte immer das Gefühl, als würde sie einen Schleier tragen. Das, was die Menschen als Erstes von ihr sahen, war ihre »Gabe« des Zweiten Gesichts, die ihr immer einen Schritt vorauszueilen schien, sodass sie sich stets in ihrem Schatten bewegte. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn einem die Sonne ins Gesicht schien.

»Effie Gillies, wie siehst du denn aus!«, schimpfte Ma Peg, als ein paar Minuten später Effie in das Cottage stürmte. »Deine Füße sind schwarz!«

»Aye, es regnet«, erwiderte Effie keuchend und sah vollkommen unbekümmert aus.

»Und hättest du nicht wenigstens eine Haarbürste benutzen können?«

Das Mädchen runzelte die Stirn. »Warum? Ich bin doch nicht diejenige, die heiratet.«

»Also wirklich«, murmelte die alte Frau und schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Was ist das?«, fragte Effie neugierig, als sie das Nachthemd in Jaynes Händen sah.

Jaynes Wangen röteten sich, als wäre für jede im Raum ersichtlich, dass sie damit heute Nacht ihren Ehemann verführen sollte.

»Das geht euch überhaupt nichts an!«, schimpfte Ma Peg, nahm Jayne das Hemd ab und hob tadelnd den Zeigefinger. »Ihr solltet längst in der Kirche sein!«

»Aye. Und ich bin gekommen, um euch zu sagen, dass Norman schon dort ist – und dass er seinen Anzug trägt.«

»Das will ich hoffen!«, erwiderte Ma Peg säuerlich und betrachtete noch einmal prüfend die Braut.

Jayne konnte sich nicht erinnern, wann sich zuletzt jemand so intensiv um sie gekümmert hatte. Bestimmt nicht mehr, seit ihre Mutter gestorben war.

»Jetzt ab mit dir, Effie, und nimm diese Gören mit.« Ma Pegs Blick fiel auf die verschmitzten Gesichter von Flora und Mhairi. »Wir kommen in ein paar Minuten nach. Sorgt dafür, dass eine von euch an der Tür steht, um Jayne die Stiefel auszuziehen. Ich bin zu alt, um mich dauernd zu bücken.«

»Ich kann das …«, begann Jayne, aber Ma Peg fiel ihr ins Wort.

»Unsinn. Wer hat je von einer Braut gehört, die sich selbst die Stiefel ausgezogen hat. Außerdem will ich nicht, dass dir die Blumen aus dem Haar fallen.«

»Bis dann, Jayne! Wir werden extra laut für dich singen!«

Jayne ging in die Küche und hörte das Kreischen und Lachen ihrer Freundinnen draußen auf der Straße, wo sie Arm in Arm über die Pflastersteine sprangen. Die ganze Insel war bereit für ein Fest, ungeachtet des Wetters. Ma Peg hatte Jayne ihre Lieblings-Haferküchlein zum Frühstück gemacht – als Abschiedsgeschenk –, und die Teller standen noch da und warteten darauf, zum Bach gebracht und abgespült zu werden. Jayne spürte den Drang, der Gewohnheit zu folgen und es zu tun – die Frauen hatten heute wenig Zeit gehabt, ihren täglichen Aufgaben nachzugehen, so sehr waren alle damit beschäftigt gewesen, das Essen vorzubereiten. Die Männer hatten am Morgen ein Lamm geschlachtet, das jetzt draußen am Spieß gebraten wurde, unter Schafshäuten, die über Wäscheleinen gespannt waren, um den Regen abzuhalten. Nach dem Ehegelübde würde es ein Festessen geben, und danach würden sie auf einem Ceilidh tanzen.

Und dann würde sich die Tür von Nummer zwei schließen, und es würde keine Blicke mehr geben, die ihnen folgten, und auch keine geplanten Gespräche. Jayne und Norman würden allein sein. Sie würde im Nachthemd im Feuerschein vor dem Mann stehen, der sie gleichzeitig verunsicherte und faszinierte. Dann würde er sie küssen – zum ersten Mal, denn er war ehrenhaft und zurückhaltend –, und sie versuchte vergeblich, sich seinen Mund auf ihrem vorzustellen. Flora, in ihrer frühreifen Art, hatte ihr gezeigt, wie man es am eigenen Arm üben konnte. Als ob dieses Mädchen Bescheid wüsste! Jayne hatte gelacht und sie weggescheucht, aber heute Nacht im Bett, allein in der Dunkelheit, hatte sie es dennoch ausprobiert.

Ma Peg kam wieder herein, zufrieden, dass die Mädchen schon auf dem Weg zur Kirche waren. Sie sah Jayne mit großmütterlicher Zuneigung an und rückte ein paar Gänseblümchen in ihrem Haar zurecht.

»Er ist ein Glückspilz, dieser Norman Ferguson.«

»Nein, ich bin die Glückliche.«

»Ha! Das hätte er gern, dass du das glaubst, so viel ist klar.« Ma Peg kicherte. »Dieser Mann ist sowieso schon ziemlich von sich überzeugt.« Sie verschwand im Schlafzimmer und kam einen Augenblick später mit dem Nachthemd zurück. »Das dürfen wir nicht vergessen«, sagte sie mit wissendem Blick, als wäre die Verführung bereits in allen Einzelheiten abgesprochen.

Jayne hielt Ma Peg den Arm hin, um ihr die Stufe hinunterzuhelfen, und sie gingen zusammen die verlassene Straße hinunter. Natürlich standen die Türen aller Cottages offen, Feuer flackerten mit kleiner Flamme, und der Geruch von verbranntem Torf mischte sich mit dem Duft des Lammbratens, der langsam über dem Feuer schmorte.

Die Flut war da, das Meer von einem dunklen Grau, aber ausnahmsweise ging kaum Wind. Dünner Nebel hing über den Gipfeln des Oisebhal und des Ruiaval, die die Village Bay flankierten wie zwei Wachposten. Leichter Regen fiel, und Jayne hoffte, dass er sich wie Tau auf ihre Wangen legen, wie Diamanten an ihren Wimpern glitzern würde.

Vor Nummer zwei blieben sie stehen, und Jayne lief mit dem Nachthemd hinein und legte es auf das ungemachte Bett. Sie biss sich auf die Unterlippe und fühlte ihr Herz schneller schlagen bei dem heimlichen Besuch. Sie war noch nie in seinem Schlafzimmer gewesen und erlaubte sich, sich kurz umzuschauen: Seine Kletterhosen aus Tweed hatte er nachlässig auf einen Binsenstuhl geworfen, abgestreift, als er in seinen Sonntagsanzug geschlüpft war; eine Decke, die Molly gestrickt hatte, lag über dem Fußende des Betts; und sein herber Duft hing in der Luft, als hätte er gerade erst das Zimmer verlassen. In einer Stunde würde dieser Raum auch ihrer sein … Sie wünschte sich, die Zeit würde schneller vergehen und sie in die Zukunft zaubern.

Es dauerte weniger als zwei Minuten, dann waren sie bei der Kirche, und als sie an der Tür standen, verstummten drinnen die Gespräche.

Molly wartete mit leuchtenden Augen auf sie. Jayne wusste, dass sie durch ihre Heirat nicht nur einen Ehemann gewann, sondern auch eine Schwester. Von heute an würde sie eine Familie haben. Sie würde dazugehören.

»Du bist eine noch schönere Braut, als ich es mir in meinen Träumen vorgestellt habe«, flüsterte Molly, als sie sich daranmachte, ihr die Schuhe auszuziehen.

Jayne lächelte schüchtern. Sie wusste, dass sie keine besondere Schönheit war, aber die Begeisterung der Mädchen war ansteckend, und so fing sie langsam an zu glauben, dass sie – möglicherweise, vielleicht – heute hübsch aussah.

Keine Musik spielte, um die kurze Pause zu überbrücken, als Molly sich mit den Schnürsenkeln abmühte. Jayne sah sich in der vertrauten, winzigen weiß getünchten Kapelle um, die völlig schmucklos war bis auf die Gänseblümchen in Jaynes Haar.

Sie sah die Reihen der Dorfbewohner, die auf sie warteten, und konnte jeden Einzelnen von hinten erkennen. Das war ihr Leben; sie kannte die Geschichten und Geheimnisse all dieser Menschen.

Einige räusperten sich, jemand putzte sich die Nase … und dann wurde es still.

Jayne sah, dass Norman sich umdrehte, sah seine schönen blauen Augen mit den dunklen Wimpern, als er sie betrachtete, und die Schmetterlinge in ihrem Bauch begannen zu flattern. Er lächelte sie nicht so strahlend an, wie die Mädchen es getan hatten, aber er war ja auch kein junges Mädchen und außerdem kein gefühlvoller Mensch.

Ma Peg drückte ihren Arm, und ihr wurde bewusst, dass sie irgendwo unterwegs die Rollen getauscht hatten und sie nicht mehr Ma Peg stützte, sondern umgekehrt.

»Bist du dir sicher?«, flüsterte Ma Peg und hielt sie fest, während sie über die Köpfe ihrer Nachbarn hinweg auf den Pfarrer blickten, der am anderen Ende des Ganges neben dem Bräutigam stand. Auch er wartete.

Jayne nickte. Noch nie war sie sich einer Sache so sicher gewesen, und sie machte einen kühnen ersten Schritt, begierig darauf, ihrem Schicksal entgegenzugehen.

1. Kapitel

Jayne

Vier Jahre später, Ende August 1930

Village Bay, St. Kilda

Jayne starrte auf das bescheidene Kreuz hinunter. Es war aus Treibholz gezimmert, das vor langer Zeit an ihre Küste gespült und seitdem im Coffin-Cleit aufbewahrt worden war, bereit für den nächsten Todesfall.

Obwohl sie sich viel Mühe damit gegeben hatten, war es kaum genug, um die Erinnerung an ein Mädchen zu ehren, das so strahlend gewesen war. Mit Effies Farben hatten Jayne, Flora, Mhairi und Effie Mollys Namen darauf gemalt, mit Blumen zwischen den verschnörkelten Buchstaben und dem winzigen Bild eines St. Kilda-Zaunkönigs, dessen Gesang Molly so geliebt hatte.

Jayne sank zu Boden und berührte das üppige Gras. Leuchtende Butterblumen schienen ihr zuzunicken, aber noch jetzt wurde ihr bei diesem Anblick ganz elend … Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, wie die Gänseblümchen und Butterblumen in ihrer Hochzeitsnacht zu Boden gesegelt waren, aus ihrem Haar geschüttelt wie Regentropfen, eine nach der anderen, bis nichts Schönes mehr da gewesen war …

Sie wandte den Blick ab, fassungslos, ihre junge Schwägerin hier zurückzulassen. Es fühlte sich an, als würde sie Molly noch einmal verlieren. Hier hatte sie wenigstens den Trost gehabt, ihr Grab besuchen zu können, und Jayne hatte sich angewöhnt, regelmäßig zum Friedhof zu gehen und sich mit ihrem Strickzeug neben das kleine Kreuz zu setzen. Die hohe Mauer, die den ovalen Platz umgab, schützte sie vor Windböen und neugierigen Blicken. Fast jeden Tag saß sie hier und hielt das Mädchen, das sie wie eine Schwester geliebt hatte, auf dem Laufenden, was im Dorf geschah, und sie unterhielten sich, wie sie es immer am Küchentisch getan hatten: Flora und Mhairi verbrachten den Sommer mit der Schafherde drüben in der Glen Bay, Crabbit Mary war – endlich – schwanger, und das Baby konnte jeden Moment auf die Welt kommen. Donald hatte drüben auf Boreray beim Auskämmen der Schafe einen schweren Sturz erlitten, erholte sich jedoch gut, und Effie hatte sich in den Sohn eines Grafen verliebt, der ihr – wie konnte es anders sein – das Herz gebrochen hatte …

Seit Mollys Tod war so viel Leben vonstattengegangen, selbst hier auf ihrer winzigen Insel, wo normalerweise nie etwas passierte. Jayne konnte sich schlichtweg nicht vorstellen, was sie auf der anderen Seite des Ozeans erwartete, und sie konnte kaum glauben, dass die Evakuierung überhaupt stattfand. Als sie im Mai die Nachricht erhalten hatten, waren alle verblüfft gewesen. Natürlich, sie hatten sich in den Wochen nach Mollys Tod auf ein »Alle-oder-Keiner« geeinigt, nachdem Lorna – angetrieben von Schuldgefühlen oder Wut – argumentiert hatte, dass niemand in diesem Alter an einer Lungenentzündung sterben sollte, und dass Molly, hätten sie Hilfe bekommen und über die richtige Ausstattung verfügt, noch leben könnte. Hatten sie nicht alle mehr verdient? Etwas Besseres?, hatte Lorna gefragt.

Ausdrücke wie mehr und besser kamen im Wortschatz der Inselbewohner nicht vor, so dachten sie nicht; aber Lorna war ja auch keine gebürtige St. Kildaerin, sondern hatte sich diesen Wohnort selbst gewählt. Die Diskussion hatte sich über viele lange, dunkle Winterabende hingezogen, und irgendwie war es dann zu einer Petition gekommen, in der die Inselbewohner um die Evakuierung aufs Festland baten.

Die St. Kildaer waren sich uneins gewesen. Die Älteren wollten bleiben, aber die jüngere Generation lockten die Annehmlichkeiten der anderen Seite. Es war unbestreitbar, dass die Einwohnerzahl mit sechsunddreißig auf ein kritisches Level gesunken war. Die Hälfte der St. Kildaer war alt oder noch nicht erwachsen, und sie brauchten starke junge Männer, die auf die Klippen klettern und die Vögel jagen und die Eier einsammeln konnten, von denen sie alle lebten. Sie brauchten starke junge Frauen, damit zukünftige Generationen von St. Kildaern geboren werden konnten, zumal Mhairi nun mit einem Farmer auf Harris verlobt war und Flora mit ihrem Gentleman aus Glasgow. Effie war ein Wildfang und für die Ehe so wenig geeignet, wie der Wind sich in eine Kiste sperren ließ. Der Verlust von Molly war aus vielen Gründen schmerzlich.

Jayne war zusammengebrochen, als sie zum ersten Mal Mollys Gesicht in einer Vision gesehen hatte; es hatte sich angefühlt, als würde sie innerlich zu Staub zerfallen. Mit niemandem hatte sie darüber sprechen, ihren Schrecken teilen können. Auch wenn alles in ihr danach geschrien hatte, die Zukunft irgendwie zu beeinflussen, das Schicksal auszutricksen und verzweifelte Warnungen auszusprechen, wäre es gewissenlos und grausam gewesen, das zu tun. Ihre Mutter hatte sie vor dem nutzlosen Versuch gewarnt, jemals ändern zu wollen, was vorherbestimmt war.

Der Schrecken des Tages, an dem Molly gestorben war, lag noch in der Luft, wenn sie am Grab saß, Erinnerungen blitzten auf und quälten sie. Daran, wie sie Molly vom Fußboden aufgehoben und zu ihrem Bett gebracht hatten … An Norman, der bei der plötzlichen Verschlimmerung blass geworden war und zu einem Gott betete, an den er nicht glaubte … Lorna, die mit grimmigem Blick fieberhaft arbeitete … Die alles verschlingende Dunkelheit, die sie umgab, eine wogende Energie, die Molly wegtrug, als wäre sie nur ein Bündel Lumpen …

»Komm schon, Moll!«, hatte Lorna ihre Patientin beschworen und immer schneller gearbeitet, während ihnen die Zeit davonlief …

»O Gott!« Norman hatte es auch gespürt. »Moll, nein!«

Die Pausen zwischen den flachen, keuchenden Atemzügen hatten sich ausgedehnt, bis Molly nur noch gelegentlich verzweifelt nach Luft schnappte. Dann unheilvolle Stille – ohrenbetäubend.

»Moll?« Normans brechende Stimme, die den großen Mann plötzlich ganz klein wirken ließ. Er hatte geschworen, seine Schwester zu beschützen, und dabei an einen reichen Ehemann und ein Haus auf dem Festland gedacht. Damit, dass Schafe in einem Schneesturm sie in Gefahr bringen würden, hatte er nicht gerechnet.

Lorna, die sich mit aschfahlem Gesicht zu ihnen umdrehte. »Sie ist gegangen.«

»Nein!« Norman hatte Molly in seine Arme gerissen. »Wach auf, Moll!« Sein verzweifeltes Stöhnen, als ihr Kopf zurücksank, als schrecklicher Beweis.

Das Knarren der Tür, Schritte … David MacQueen, der stehen blieb bei dem Anblick, der sich ihm bot; Jayne, Lorna, Norman und Molly, erstarrt wie Marmorstatuen. Seine Beine gaben nach, er taumelte rückwärts, das Gesicht verzerrt wie eine Maske in einer griechischen Tragödie – Augen und Mund weit aufgerissen –, während Norman einen Laut ausstieß, der klang, als würde ihm die Seele entrissen. Aber es war noch schlimmer.

Man kann ohne Seele leben. Aber ohne Herz?

Norman hatte Jayne angesehen, und der Schmerz in seinem Blick hatte sich in Wut verwandelt – weil sie das alles gewusst hatte. Vorhergesehen und nicht verhindert. Niemanden gewarnt hatte.

Ihr war ganz schwach geworden, sie hatte gewusst, dass es Konsequenzen geben würde. Die gab es immer …

»Dachte ich es mir doch, dass ich dich hier finde.«

Die Stimme drang in ihre Erinnerungen und schob sie in die Tiefen ihres Bewusstseins zurück. Als Jayne aufblickte, sah sie David vor sich, eine dunkle Silhouette vor dem hellen Himmel, die Sonne im Rücken, sodass er zu glühen schien.

»Natürlich«, sagte sie lächelnd, als er sich zu ihr setzte, wie immer mit angezogenen Knien, und den Hügel hinunterblickte auf die Bucht. Sie wusste, dass er genauso empfand wie sie. Molly zurückzulassen, würde das Schwerste sein, wenn sie von hier fortgingen. Egal, was für Annehmlichkeiten sie anderswo erwarteten, hier war der einzige Ort, an dem sie sich in Frieden fühlten.

Seit Mollys Tod vor neun Monaten war hier ihr Treffpunkt. Natürlich hatten sie das nicht beabsichtigt; keinem von ihnen wäre jemals in den Sinn gekommen, sie könnten Freunde werden (zumal David ein paar Jahre jünger war als Jayne). Aber sie hatten beide das Bedürfnis gehabt, sich Molly nahe zu fühlen, und so zog es sie Tag für Tag hierher. Zuerst hatten sie sich bemüht, einander Raum zu geben – David war Mollys Liebster gewesen, Jayne ihre Schwägerin. Aber nach einer Weile hatten sie angefangen, gemeinsam hier zu sitzen und sich über die Vergangenheit und das Mädchen, das sie beide geliebt hatten, zu unterhalten. Die Erinnerungen zu teilen, war ihre Form zu trauern geworden, ein neues Ritual. Jayne erzählte von der stillen Vertrautheit, mit der sie zusammen gekocht, am Bach Wäsche gewaschen oder vor dem Kamin gestrickt hatten. In Davids Erinnerungen war mehr Lebhaftigkeit: Sie hatten beim Ceilidh miteinander getanzt, Molly mit geröteten Wangen und glänzenden Augen; in der Kirche hatten sie einander schöne Augen gemacht; sie hatten Nachrichten in ihren Gebetsbüchern versteckt. Er erinnerte sich an ihren letzten gemeinsamen Tag, an dem sie sich in Mollys Zimmer heimlich geküsst hatten. Obwohl Norman sie dort nicht sehen konnte, hatten sie der Versuchung widerstanden, in dem falschen Glauben, sie hätten eine gemeinsame Zukunft und alle Zeit der Welt. Aber was hatten ihnen ihre Geduld und ihre Tugend letzten Endes genützt?

»Lässt der Wahnsinn da unten langsam nach?«, fragte Jayne jetzt und fuhr mit dem Stricken fort.

Alle packten seit Tagen. Mad Annie hatte auf der Straße geübt, ihr Spinnrad auf dem Rücken zu tragen, bereit, damit an Bord zu gehen. Effie hatte die Kletterseile überprüft und nichts davon hören wollen, dass diese auf dem Festland nicht gebraucht wurden. Ma Pegs Fensterscheiben glänzten, obwohl in zwei Tagen niemand mehr hindurchsehen würde.

»Es wird immer schlimmer«, murmelte David und schüttelte den Kopf. »Old Fin beharrt darauf, dass er vor dreißig Jahren einen Sovereign im Schornstein versteckt hat, aber er kann ihn nicht finden …«

»Wie ist er denn vor dreißig Jahren an einen Sovereign gekommen?« Jayne runzelte die Stirn. Auf der Insel herrschte Tauschwirtschaft; die Familien halfen sich gegenseitig mit häuslichen Aufgaben oder Erledigungen. Reiche Besucher, die ihnen einen Shilling für ein Foto oder Wollsocken anboten, waren erst seit dem Weltkrieg mit dem Schiff auf die Insel gekommen.

»Er sagt, er hat ihn beim Armdrücken mit einem Kapitän gewonnen.«

Jayne musste lächeln. Old Fin hatte seinen Lebensabend erreicht, aber vor dreißig Jahren …? Es gab nicht viele Männer, die es mit den kräftigen Armen eines St. Kildaers aufnehmen konnten. Da das Überleben der Inselbewohner vom Felsklettern abhing, war es nicht ratsam, einen von ihnen zum Armdrücken herauszufordern.

»Er glaubt, dass er ihn nun endlich brauchen wird, und hat den kleinen Murran in den Schornstein geschickt, damit er ihn sucht.« David verdrehte die Augen. »Rachel war davon nicht gerade begeistert.«

»Ich glaube, ich habe den Radau gehört.« Jayne nickte lächelnd. Das bedeutete eine Extrarunde Wäschewaschen, bevor sie an Bord gingen. »Hast du Norman irgendwo gesehen?« Ihr Mann war in den letzten zwei Tagen kaum zu Hause gewesen.

»Aye, unten beim Verwalterhaus. Hing mit Frank Mathieson zusammen, als wären sie dicke Freunde. Ich glaube, Norman ist hier der Einzige, der nicht froh sein wird, ihm den Rücken zu kehren.«

»Aye. Ich verstehe das auch nicht«, murmelte sie, aber vielleicht tat sie es doch. Für alle anderen Dorfbewohner war der Mieteintreiber des Landlords, der MacLeod auf der Insel vertrat, ein Tyrann. Er spielte den großen Herren, und einige der Männer waren davon überzeugt, dass er sich eine beträchtliche Summe in die eigene Tasche steckte, indem er das, was er bei ihnen einkaufte, zu einem weit höheren Preis weitergab. Aber ihr Ehemann war ehrgeizig: Das hatte er schon bewiesen, indem er seiner Schwester ihren Herzenswunsch verwehrt hatte, David zu heiraten. Die Nachricht von der bevorstehenden Evakuierung hatte ihn mehr gefreut als jeden anderen. Ohne Molly war er noch unzufriedener mit dem Leben auf der Insel, und jetzt sah er eine Chance auf das »Mehr« und »Besser«, das Lorna ihnen versprochen hatte.

Anders als alle anderen betrachtete Norman den Verwalter als seinesgleichen; er hielt sich selbst für einen Mann von Welt und nicht für jemanden, der irgendwo verwurzelt war. Der Verwalter war schon viel herumgekommen, und obwohl Norman zu stolz war, um sich Rat zu erbitten, sog er Mathiesons aufgeblasene Prahlereien auf wie ein Schwamm. Er lernte von ihm, wollte so viel wie möglich wissen.

»Da kommt Mhairi«, murmelte David, den Blick auf den Hang des Oisebhal gerichtet. Jayne erkannte die entfernte Gestalt, die auf die Schafhürden am An Lag zustrebte, an ihrem flammend roten Haar. Eine kleine Herde Schafe trottete vor ihr her, die von zwei Hunden zusammengetrieben wurde, einer davon Poppit. Automatisch suchte Jayne den Hang nach Effie ab, denn die war nie von ihrem Hund getrennt. Sie stand etwas weiter oben, wo sie mit ausgebreiteten Armen die Tiere in das richtige Gehege scheuchte. Effies Bewegungen waren beschwingt, und Jayne konnte sogar von hier unten erkennen, dass sie froh war, wieder bei ihrer Freundin zu sein. Mhairi und Flora hatten erstmals den Sommer auf den weiter entfernten Weiden verbracht, und wenn schon Jayne ihre Gesellschaft vermisst hatte, musste Effie sich so einsam gefühlt haben wie ein Geist.

Sie beobachtete, wie sich die nervösen Schafe in kleinen Gruppen gegen die Steinmauern drängten. Jetzt bewegten sie sich leicht und frei, ganz anders als damals im November, am Tag des Schneesturms … Wie konnte etwas so Harmloses so tödlich enden? Zuerst hatte es ausgesehen, als würden sie Mhairi verlieren, aber die stand nun dort oben in der Sonne, während Molly hier unter der Erde lag. Diese Wendung des Schicksals war ein Schock für alle außer Jayne gewesen.

Abrupt wandte sie den Blick ab. David tat dasselbe, und sie wusste, dass sie den gleichen Gedanken hatten. Das kam oft vor.

»Was machen wir, wenn wir auf dem Festland sind und nicht mehr hierherkommen können?«, murmelte David.

Die Brust wurde Jayne eng bei dieser Frage, die sie sich in stillen Stunden schon oft selbst gestellt hatte. Aber ihre Stimme klang ruhig, als sie antwortete. »Wir werden weiterhin reden, du und ich, nur an einem anderen Ort. Wir werden einen besonderen Platz für unsere Gespräche finden, einen Platz, den Molly geliebt hätte.«

Sie lächelte ermutigend, aber er runzelte die Stirn. »Aber was, wenn sie uns nicht zusammenbleiben lassen?«

»Sie haben gesagt, sie würden es versuchen, und ich … ich habe beschlossen, ihnen zu glauben«, antwortete sie nach kurzem Zögern, unfähig, sich die Alternative vorzustellen. Sie wusste, dass er, genau wie sie selbst, niemanden hatte, mit dem er sonst über Molly reden konnte. Die Dorfbewohner, ihre Freunde, lebten ihr Leben weiter; Molly blieb in liebevoller Erinnerung, aber ihr Name wurde schon jetzt seltener erwähnt. Wenn sie die Insel erst verlassen hätten, würde Molly noch weiter von ihnen entfernt sein. Eine Jahreszeit folgte der anderen, und auf St. Kilda, wo man so hart arbeiten musste, um zu überleben, konnten sich die Menschen nicht mit dem Tod aufhalten.

»Aber wenn nicht, Jayne?«, beharrte er.

Sie schluckte. »Dann können wir uns hoffentlich schreiben und unsere Gespräche auf diese Weise fortsetzen.«

Er sah sie an, und ihr wurde klar, dass das keine zufriedenstellende Lösung war. So viel von dem, was sie miteinander teilten, fand ohne Worte statt; ihr Schweigen, wenn sie zusammensaßen, war voller Gedanken und Erinnerungen. Wie sollte man das alles zu Papier bringen? Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie nach Molly auch noch David verlieren könnte. Das Leben konnte sie ebenso leicht auseinanderbringen, wie es der Tod vermochte. Ihre neue Freundschaft war wie eine Glaskugel, stark und zerbrechlich zugleich. Hier trieb sie auf dem Wasser – aber würde sie auf dem Festland zerspringen?

Er sah sie an, als erriete er ihre Gedanken, doch dann wandte er sich abrupt ab und umklammerte seine Knie fester. Eine Weile sprach keiner von ihnen. »Jayne, ich bin hier heraufgekommen, weil … also, es gibt etwas, das ich dir sagen wollte.«

»Ja?«

»Ich habe mich gefragt, ob wir hier bei ihr bleiben könnten in der letzten Nacht? Ich … ich möchte sie nicht alleine lassen.«

»Du meinst, wir sollen hier schlafen?«

»Unter den Sternen, aye. Molly wird nie wieder in unserer Gesellschaft sein, und ich kann die Vorstellung von ihr hier ganz allein – in völliger Stille – kaum ertragen.«

Jayne spürte, wie ein Schluchzen auch in ihrer Kehle aufstieg. Molly, vollkommen verlassen. Es würde kein menschliches Leben mehr hier geben, nur noch Knochen in der Erde.

»Also?«, drängte er.

Sie zögerte. Wie sollte sie ihrem Mann erklären, dass sie ihre letzte Nacht auf St. Kilda nicht in ihrem Ehebett verbrachte? Sie wusste, dass er es nicht gut aufnehmen würde, aber sie sah das Flehen in Davids Augen und nickte. Für ihn, für Molly, würde sie es möglich machen. Norman konnte sich ihnen anschließen, wenn er wollte – schließlich war Molly seine Schwester gewesen –, obwohl er kein gefühlvoller Mensch war, wie Jayne nur zu gut wusste. »Ich glaube, das wäre eine schöne Art des Abschieds«, murmelte sie.

»Gut. Ich bin froh, dass du einverstanden bist.« Er stand auf und klopfte sich ein paar Grashalme von der Hose. »Ich muss gehen. Pa will, dass ich ihm helfe, den Webstuhl runterzuholen.«

Die sperrigen Webstühle, die fast einen ganzen Raum einnahmen, wurden den Sommer über unter den Dachsparren aufbewahrt, und sie herunterzuholen bedeutete, dass der Umzug kurz bevorstand. Morgen würde die Dunara Castle in der Bucht ankern, und dann würden sie damit anfangen, ihren Hausrat und ihre Tiere an Bord zu bringen. Am darauffolgenden Tag würde die HMS Harebell anlegen, um die Dorfbewohner abzuholen, und dann wäre die Evakuierung in vollem Gange.

Jayne ertrug die Vorstellung nicht, wie die Insel dem Schweigen anheimfallen würde. Nach zweitausend Jahren menschlicher Besiedlung wäre ihr uralter Felsen dann Wind und Wellen überlassen, den Vögeln und den Schafen. Es würden keine Abendnachrichten mehr auf der Straße ausgetauscht werden, kein Rauch von Torffeuern würde mehr aus den Schornsteinen aufsteigen. Niemand würde Seeleute, die Schutz vor einem Sturm suchten, am Strand willkommen heißen.

Sie sah David nach, als er an den vielen anderen grob gezimmerten Kreuzen vorbeiging, die hier in der Erde steckten. Er war jetzt vollständig erwachsen, groß und schlaksig, und sein lässiger Gang war selbst aus der Entfernung unverkennbar. Sein beinahe schwarzes Haar kräuselte sich im Nacken, und seine blauen Augen blickten immer freundlich. Jane wusste, dass seine Zukunft verheißungsvoller war, als er es sich im Moment vorstellen konnte. Im Herzen war er immer noch an Molly gebunden – auch weil ihn hier sonst nichts hielt –, aber auf dem Festland würde es jede Menge Mädchen geben, denen ein so hübscher junger Mann gefiel. Er hatte eine Perspektive, auch wenn ihm das jetzt noch nicht klar war, und es versetzte Jayne einen Stich, wenn sie an Molly dachte. Sie würde ihn an die andere Seite verlieren.

Sie beide würden das.

»Du bist zurück«, sagte sie und blickte auf, als Norman hereinkam. Nach den langen und anstrengenden letzten Tagen im Freien war er sonnenverbrannt, und sein Leinenhemd hing an ihm herab wie ein Lumpen. Er sah gut aus, aber auch wenn ihr Herz bei seinem Anblick immer noch einen Taktschlag aussetzte, zuckte ihr Körper vor ihm zurück.

Von ihrem Stuhl aus sah sie zu, wie er sich über den Eimer beugte, um sich zu waschen, und wie seine Muskeln sich in müheloser Eleganz anspannten. Ihre Ehe hatte ein heikles Gleichgewicht erlangt, eine seltsame Spannung zwischen Misstrauen und Verlangen, Verzweiflung und Resignation. Im Laufe der Jahre war ihr klar geworden, warum er sie, die einfache Jayne, gewählt hatte: Sie war kaum mehr als ein Schatten im Raum, ein warmer Hauch im Bett. Genau aus diesem Grund hatte er sie geheiratet, weil sie das absolute Minimum war und in seinem Leben keinen Raum einnahm.

»Das klingt, als hätte ich eine andere Möglichkeit«, antwortete er und spritzte sich Wasser ins Gesicht, dann fuhr er sich mit der nassen Hand durch die Haare.

»Ich meinte nur, dass ich dich in den letzten Tagen kaum gesehen habe.«

»Mir scheint, du bist die Einzige, die Zeit zum Rumsitzen hat.« Er blickte kurz in ihre Richtung. Hatte er gesehen, wie sie mit David auf dem Friedhof gesessen hatte? Er verabscheute David, weil er untrennbar mit dem Moment von Mollys Tod verbunden war. Da hatte Norman die Kontrolle über seine Gefühle verloren, und David war Zeuge seiner Schwäche geworden. Sie wusste, dass Norman ihm das nie verzeihen würde. »Alle anderen beeilen sich, fertig zu werden, aber du sitzt auf deinem Hintern und stopfst Socken.«

Jayne sah sich in dem blitzsauberen Cottage um. Sie besaßen wenig – anders als Menschen mit einer großen Familie –, aber sie hatte ihre Decken, Leintücher und Kleider zusammengefaltet und in der Truhe verstaut, das Geschirr poliert, bis es glänzte. Der Herd war gereinigt, ihr Spinnrad und ein Paket mit Garnrollen standen bereits neben der Tür. Die Pfannen schimmerten sauber, das Butterfass war geschrubbt … Aber es war besser, sich nicht zu verteidigen.

»Also, dein Essen ist fertig«, sagte sie stattdessen, stand auf und öffnete die Ofenklappe. Sie hatte geröstete Papageientaucher vorbereitet, einen Leckerbissen zum Abschied. Lorna hatte ihr erzählt, dass man dieses Gericht auf der anderen Seite nicht ohne Weiteres bekam – warum auch, wenn man täglich beim Metzger zwischen Lamm-, Rind-, Hühner- und Schweinefleisch wählen konnte? Jayne hatte mit großen Augen zugehört und sich gefragt, ob sie vielleicht eines Tages mit so etwas wie Sehnsucht an ihre kärgliche Inselkost zurückdenken würden. Es war schwer vorstellbar.

»Später. Ich muss Mathieson bei ein paar Arbeiten helfen.«

Sie richtete sich erneut auf. »Schon wieder? Hast du ihm nicht vorhin schon geholfen?«

»Aye, bevor ich das Sturmvogelöl für uns von oben geholt habe.«

»Aber was hat Mr Mathieson zu tun, dass er so viel Hilfe braucht? Er ist doch bestimmt nur hier, um die Mietzahlungen einzusammeln und den Umzug zu überwachen?«

»Jayne, ich weiß, dass du simpel gestrickt bist, aber selbst du kannst doch sicher verstehen, dass er im Auftrag von MacLeod einiges erledigen muss? Hirta wird aufgegeben, und er muss die Cleits auf der ganzen Insel überprüfen, um sicherzugehen, dass nichts zurückbleibt. Wir können froh sein, wenn wir das in der kurzen Zeit zu zweit überhaupt schaffen.«

»Dann können die anderen Männer doch bestimmt mithelfen? Es ist nicht fair, wenn die ganze Arbeit an dir hängen bleibt.«

Jetzt sah er sie an. »Sie haben keine Zeit. Alle anderen haben Familien, um die sie sich kümmern müssen.«

Sie nahm das Schweigen wahr, das auf seine Worte folgte, die indirekte Anklage, weil sie nicht in der Lage war, ein Kind zu gebären. Jayne wandte den Blick ab. Er war immer schnell bereit, seine Fäuste einzusetzen, aber oft verursachte seine Zunge noch größeren Schmerz. Sie sei unfruchtbar, vertrocknet, unnütz, das waren die Beleidigungen, die noch in ihr nachhallten, wenn die Male an ihrem Körper schon längst verblasst waren. Sogar Crabbit Mary und Donald hatten schließlich geschafft, woran sie selbst scheiterten – dabei wusste jeder, dass die beiden es kaum zusammen im selben Raum aushielten, geschweige denn in einem Bett.

»Wen habe ich schon, außer dir?« Er zuckte die Achseln und ging ins Schlafzimmer.

Jayne starrte zu Boden, lauschte auf seine Schritte, die verstummten, als er stehen blieb. Dann fing er an, im Raum hin und her zu laufen, und merkte, dass alles eingepackt und nichts mehr an seinem Platz war. Einen Augenblick später stand er wieder in der Tür. Jayne war es schon immer als grausame Ironie erschienen, dass er am schönsten war, wenn die größte Gefahr von ihm ausging.

»Wo ist mein Messer?«

»Wozu brauchst du das?«

Norman bedachte sie mit einem finsteren Blick. »Keine Fragen, Frau! Wo ist es?«

Sie eilte zur Tür, drängte sich an ihm vorbei und spürte seinen Blick, als sie ihn dabei streifte. Für einen Augenblick dachte sie, er würde sie am Handgelenk packen und zurückhalten, wie er es manchmal tat, aber dann war sie schon an ihm vorbeigeschlüpft, erreichte die Truhe und öffnete sie. Das Messer, zusammen mit Normans Kletterseil, lag zuoberst auf den Leintüchern und Decken. »Hier.«

Er nahm es ihr aus der Hand, und sein Blick lastete immer noch schwer auf ihr. Er war in den letzten Nächten so spät ins Bett gekommen, dass Jayne sich nicht einmal sicher war, dass er überhaupt da gewesen war, und im Morgengrauen aufgestanden, bevor sie aufwachte. Sie wusste, dass er mit sich rang. Er war ein Mann mit Bedürfnissen, aber auch mit Ehrgeiz, und wenn er eine Gelegenheit sah, sich beim Verwalter einzuschmeicheln, würde er sie nicht verstreichen lassen. Nicht einmal dafür.

»Halt das Essen bereit, bis ich zurückkomme«, murmelte er schließlich.

Sie wollte ihn schon fragen, wann das sein würde, wiederholen, dass das Essen längst fertig war, aber sie tat es nicht, sondern sah nur zu, wie er das Messer in seinen Hosenbund steckte und das Cottage verließ. Er würde zurücksein, wann es ihm passte. Mehr musste sie nicht wissen.

Das Bett knarrte, als Norman sich auf sie legte, sein keuchender Atem dicht an ihrem Ohr. Sie fixierte den gewohnten Fleck an der Decke und wartete, wusste, dass die Sache in wenigen Augenblicken für diese Nacht erledigt sein würde. Ihr Körper war passiv fügsam, als Norman schneller wurde, anfing zu stöhnen und sich selbst verlor, ein hilfloser Tyrann, und schließlich innehielt und über ihr zusammensank. Ein paar Sekunden lang drückte sein Gewicht sie tiefer in die Pferdehaarmatratze, dann stützte er sich hoch und rollte sich mit einem Seufzen zur Seite.

Sie sprachen nie während des Akts, und auch nicht danach, und es vergingen kaum zwei Minuten, bis sie hörte, dass er langsamer und tiefer atmete. Jayne zog die Decke eng um ihre Schultern und drehte den Kopf zum Fenster. Der Vorhang war dünn, konnte das Licht des Vollmonds nicht abhalten, und sie versuchte, sich ihre kleine Landmasse aus seiner Perspektive vorzustellen, ein schillerndes Staubkorn im nachtschwarzen Ozean. Das half ihr, sich ihre eigene Unbedeutendheit vor Augen zu führen, als könnte die Kleinheit irgendwie den Schmerz und die Einsamkeit verringern, die sie so oft überwältigten. »Es ist nichts«, flüsterte sie dann in die Dunkelheit. »Wir sind nichts.«

Sie schloss die Augen und versuchte zu schlafen, auch in dem süßen Vergessen zu versinken, das ihr Mann genoss, der nie von bösen Träumen oder unruhigen Nächten geplagt wurde. Aber es wollte sich keine Ruhe einstellen. Sie fühlte sich merkwürdig angespannt, und als sie erneut in die Dunkelheit blinzelte, wusste sie auch warum.

Der Raum begann zu verschwimmen, goldene Schatten flackerten vor ihren Augen.

O Gott, nein …

Sie versuchte, sich zu bewegen, als wäre diese Sache etwas, dem sie ausweichen konnte, aber das Unheil senkte sich über sie wie ein Mantel aus Blei und drückte sie nieder. Ihre Finger begannen zu kribbeln, und in ihr breitete sich eine Schwere aus, als würde sich ein fremder Geist ihrer Seele bemächtigen.

Die Zeit stand still.

Sie nahm nichts anderes mehr wahr als ihren eigenen Herzschlag, als die Zukunft vor ihr inneres Auge trat, in rätselhaften Bildern, wie ein kurzer Blick hinter einen Schleier. Am Anfang war es immer schwer, das Gesehene zu verstehen. Das, was sich vor ihr abspielte, war oft nur ein vager Eindruck, der erst deutlicher wurde, wenn der Moment näher rückte. Aber diesmal erschien ein vollkommen klares Gesicht, und Jaynes Angst war noch größer als in dem Moment, als sie Molly gesehen hatte – weil ihr klar wurde, dass das alles verändern würde. Sie standen kurz vor ihrer Abreise, aber das Schicksal war noch nicht mit ihnen fertig.

Der Tod kam wieder nach St. Kilda.

2. Kapitel

Jayne beobachtete von den Felsen aus, wie die Männer die letzten Tiere an Bord der Dunara Castle brachten. Sie waren zwei Tage lang mit dem Boot hin und her gerudert, um die Schafe vom An Lag nach und nach überzusetzen, und Hamish hatte sich ein blaues Auge geholt, weil ein besonders wütendes Mutterschaf ihn dabei getreten hatte. Jetzt banden sie die Kühe, die laut protestierten, wenn sie ihnen das Seil um die Hörner schlangen, hinter dem kleinen Boot an. Jayne hatte noch nie etwas so Merkwürdiges gesehen, und sie fragte sich, wie die Tiere das Ganze wohl wahrnahmen; sie hatten keinen Bezug zu dem historischen Ereignis, dessen Teil sie waren. Sie wussten nicht, dass es den Anfang vom Ende bedeutete.

Vor jeder Haustür standen jetzt Truhen, Webstühle und Spinnräder, die Schiefertafeln im Schulhaus waren geputzt, die Küchenöfen kühlten langsam ab. Jede Familie hatte nur noch einen Kochtopf, eine Waschschüssel, Betten, Tisch und Stühle zur Verfügung; den Rest ihrer Besitztümer hatten sie zum ersten Mal in ihrem Leben eingepackt. Die Dorfbewohner fühlten sich wie in einem Schwebezustand – nicht mehr ganz hier, aber auch noch nicht fort. Alle schauten immer wieder hinaus auf die Bucht, wie um sich zu vergewissern, dass das Frachtschiff noch da war, oder um Ausschau zu halten nach der Harebell, die auch sie morgen wie von Zauberhand verschwinden lassen würde. Halb schienen sie mit einer Nachricht zu rechnen, dass alles vorbei sei, ein Missverständnis; sie würden doch hierbleiben.

Aber die Wahrscheinlichkeit dafür wurde mit jeder Stunde kleiner. Inmitten der brummenden Geschäftigkeit im Tal begriffen die Menschen langsam, dass dies nun wirklich der letzte Tag in der Heimat ihrer Vorfahren war.

Dass keine Aussicht auf Regen bestand, machte den Umzug leichter. Der Himmel war strahlend blau, die Spätsommersonne schien auf das ruhige Meer. Jayne sah sich um, während sie strickte – betrachtete die Butterblumen und Grasnelken auf der Wiese, hörte die in den Deichspalten versteckten Zaunkönige laut singen –, und fand, dass die Insel nie schöner gewesen war. War das ihr Lebewohl? Ihre Entschuldigung für den vergangenen harten Winter (und all die anderen davor), der ihnen so viel genommen hatte? Oder vielleicht der Versuch, sie zurückzuhalten, indem sie sie mit Wärme, Trost und einer schönen Aussicht verzauberte?

Nur die Seevögel blieben ungerührt, bildeten zu Tausenden ein weißes Gitter am Himmel und kreischten, wenn sie herabstießen und nach Fischen tauchten, die sie zu ihren Kolonien auf den Klippen brachten. Für sie würde das Leben jetzt auch einfacher werden. Ab morgen würden sie nur noch Jäger und keine Beute mehr sein, keine Menschen an Seilen würden ihnen mehr ihre Eier stehlen oder versuchen, ihnen den Hals umzudrehen.

Jayne hörte Schritte, das Rascheln eines Rocks, und sah Rachel MacKinnon auf sich zukommen. »Eins von den Dingen, die ich auf dieser Insel vermissen werde, ist der vertraute Anblick von dir auf einem Felsen«, sagte sie mit ihrem freundlichen Lächeln.

Jayne grinste. »Rachel! Keine Kleinen?« Rachel hatte neun Kinder, das jüngste war erst zwei Jahre alt, und wenn man sie einmal ohne eins davon antraf, dann wirkte es, als würde ihr ein Körperteil fehlen.

Rachel setzte sich auf den glatten Stein neben Jayne, und ihre braungebrannten Füße und schlanken Fußgelenke schauten unter dem Rock hervor. Ein Ausdruck von Ruhe trat auf ihr Gesicht, als sie mit einem zufriedenen Seufzen auf das Meer hinausschaute. Sie warf sich das rote Haar zurück und sah Jayne an. »Ian hat sie mit zu The Gap genommen für einen letzten Blick über die Insel … Damit sie eine Erinnerung haben, hat er gesagt, aber eigentlich tut er es für sich selbst.«

»Aye. Bei Norman ist es genauso. In den letzten Tagen war er beinahe die ganze Zeit unterwegs.« Ein paar Stunden nach ihrem nächtlichen Ritual hatte sie gehört, wie er aufgestanden war, in dem Glauben, sie schliefe noch. Für einen Mann seiner Größe hatte er sich sehr leise bewegt, nur das Klacken des Riegels an der Haustür hatte ihr verraten, dass er noch bei Mondschein wieder hinausgegangen war. »Er sagt, er hilft Mathieson, aber immer, wenn ich ihn sehe, steht er an einem Hang und genießt die Aussicht.«

»Dabei war er auch einer von denen, die unbedingt gehen wollten!«

»Das stimmt.« Jayne nickte. »Ich glaube, der Gottesdienst heute Abend wird ziemlich ergreifend werden.«

»Aye.« Rachel beobachtete, wie die hilflose Kuh der Familie Gillies an Bord gezerrt wurde. »Der Pfarrer ist heute nicht rausgekommen.« Sie stöhnte leise. »Wahrscheinlich will er uns mit seiner Predigt ordentlich Angst einjagen, wo doch so viele Versuchungen auf uns zukommen.«

Versuchung. Das war in einer Gemeinschaft, in der sich alles nur um die bloße Existenz gedreht hatte, ein merkwürdiges Konzept. Lornas Versprechen von »mehr« und »besser«, früher nur eine vage Vorstellung, nahm langsam konkrete Formen an. Für die jüngeren Männer bedeutete es, dass sie bald neue Mädchen kennenlernen würden, die älteren Männer sprachen vom Geldverdienen und dem Gefühl von schweren Münzen in den Hosentaschen. Die Kinder wollten Autos sehen und ins Kino gehen, die Frauen träumten von fließendem warmem Wasser, Nylonstrümpfen und einem eigenen Badezimmer.

Eine Weile saßen die zwei Frauen in einvernehmlichem Schweigen da. Jayne hatte – ganz untypisch für sie – in der letzten Reihe eine Masche verloren, deshalb trennte sie ein Stück auf und fädelte sie wieder auf die Nadel. Natürlich wusste sie, dass sie jetzt keine Socken mehr stricken musste. Es würden keine Touristen mehr kommen, um ihre Waren zu kaufen, und die Mietzahlungen an MacLeod waren erfüllt, der Verwalter hatte die Fässer mit Sturmvogelöl, die Säcke mit Schafwolle, die Federn und die Tweedstoffe im Federnlager bereits begutachtet und aufs Schiff verladen lassen. Aber das Stricken war die einzige Möglichkeit, die sie kannte, um ihren rastlosen Geist zu bezwingen. Es verbarg ihre zitternden Hände und hielt sie beschäftigt, während die Zeit verging und das Schicksal seinen Lauf nahm. Es war die einzige Möglichkeit, normal zu wirken, während sie als Einzige die Katastrophe erwartete.

»Deine Mhairi hat drüben in der Glen Bay hart gearbeitet«, sagte Jayne. »Und sie und Effie waren auch sehr fleißig, als sie die Herden hierhergetrieben haben.«

»Aye. Ich habe sie vermisst, aber so, wie es aussieht, war Donalds Plan, die Mädchen für die Lammsaison dorthin zu schicken, gar nicht so dumm. Sie haben insgesamt nur drei Lämmer verloren, und es gab mehrmals Drillinge. Habe ich richtig gehört, dass wir jetzt achtundzwanzig Tiere mehr haben als letztes Jahr?«

»Das hat Norman gesagt.«

»Dann werden wir bei der Auktion alle ein bisschen Geld verdienen. Wir hätten uns gar nicht so aufregen müssen nach dem Schaf-Drama …« Sie hielt inne und griff entschuldigend nach Jaynes Arm.

»Ist schon in Ordnung«, sagte Jayne. »Ich weiß, was du meinst.« Über sechzig Schafe hatten sie bei dem Sturm verloren, aber die erfolgreiche Lammsaison dieses Frühjahrs hatte den Verlust mehr als ausgeglichen. Mollys Tod war umsonst gewesen; sie hätten alle in ihren Häusern bleiben können und diesen Sommer trotzdem einen Gewinn gemacht. »Flora ist natürlich nicht zu sehen.«

»Aye«, erwiderte Rachel düster. Vor ein paar Tagen waren schreckliche Nachrichten eingetroffen, die das Mädchen niedergeschmettert hatten. Floras Verlobter, James Callaghan, ein reicher Geschäftsmann aus Glasgow, hatte an einer Expedition nach Grönland teilgenommen, und nun hieß es, sein Schiff sei im Eis stecken geblieben und zerdrückt worden. »Lorna sagt, sie hätte die Nachricht furchtbar schlecht aufgenommen. Dass sie so kurz davor war, ihn wiederzusehen, macht es noch schlimmer. Sie stand schon auf der Schwelle zu ihrem neuen Leben.«

»War Christina drüben, um nach Flora zu sehen?«

»Sie wollte es, aber Mhairi hat ihr erzählt, dass Flora zum Cambir Point gegangen ist, um eine Weile allein zu sein.«

»Sie wollte nicht mal ihre eigene Mutter sehen?« Jayne war überrascht. Flora und Christina waren einander immer sehr nah gewesen.

»So wurde es Christina gesagt.« Rachel zuckte mit den Schultern. »Und bei allem, was hier im Moment zu tun ist, hatte sie sowieso Schwierigkeiten, die Zeit dafür zu finden. Immerhin wird sie Flora auf jeden Fall morgen sehen. Und Mhairi ist ja bei ihr, Flora ist also nicht allein da drüben.«

Jayne begann eine neue Maschenreihe.

Rachel lehnte sich zurück, auf die Ellbogen gestützt, und genoss den Blick aufs Meer. »Hast du schon gehört, dass Marys Wehen begonnen haben?«

»Nein!« Jayne keuchte auf. »Wird das Baby heute auf die Welt kommen?«

Rachel zuckte erneut mit den Schultern. »Lorna hat sie fast den ganzen Tag beobachtet, aber sie sagt, die Fruchtblase sei noch intakt, deshalb dauert es wahrscheinlich noch eine Weile. Du weißt ja, wie das bei Erstgeborenen ist, die lassen sich gerne Zeit.«

Jayne wusste das nicht, ihr Gebiet war der Tod, nicht die Geburt. »Dann könnte es vielleicht morgen kommen?« War das nicht noch schlimmer? »Wie bekommen wir sie dann aufs Schiff?«

Rachel verzog das Gesicht. »Wenn sie die Kühe dorthin verfrachten konnten, schaffen sie das auch mit Mary.«

Jayne hoffte, sie würden Mary nicht ebenfalls an Seilen hinaufziehen müssen! »Aber ein Schiff ist kaum der richtige Ort, um ein Kind zu bekommen. An Marys Stelle würde ich die Beine überkreuzen und durchhalten, bis wir angekommen sind.«

»So lange, wie Mary es schafft, jemandem zu grollen, könnte sie auch das sicher einen ganzen Monat durchhalten.« Rachel grinste. »Was sind schon vierundzwanzig Stunden?«

Jayne lächelte über den Scherz, hielt aber den Blick aufs Meer gerichtet, damit Rachel ihr nicht in die Augen sehen konnte. Sie wusste genau, wie viel sich innerhalb eines Tages verändern konnte – und würde –, aber es stand ihr nicht zu, ihre Freunde zu warnen, und auch nicht, ihnen Angst zu machen.

Die Stille, die eintrat, war bleischwer. Sie schien sich von den Deckenbalken der alten Kirche auf die Dorfbewohner herabzusenken, die auf ihren Kissen knieten und stumm in ihre gefalteten Hände beteten. Jayne betrachtete die Szenerie, ohne sich zu rühren, nahm die weiß hervortretenden Fingerknöchel ihrer Nachbarn wahr, die Tränen, die aus zusammengekniffenen Augen quollen, Lippen, die sich flüsternd bewegten. Sogar der Pfarrer, der ehrfurchtgebietend auf seiner Kanzel stand, war sprachlos. Seine Predigt war zu Ende, alle Warnungen waren ausgesprochen, und jetzt konnten sie nur noch hoffen, dass alles zu ihrem Besten war und auf diesen Abschied ein neuer, heller Anfang folgen würde.

Fast alle Plätze in der winzigen Kapelle waren besetzt. Selbst die kleinsten Kinder saßen ausnahmsweise einmal still, und sogar Mad Annie – seit dem Ertrinken ihres Ehemanns vor vierzehn Jahren bekannt für ihr entschlossenes Fernbleiben vom Gotteshaus – saß steif auf der Bank neben Ma Peg und Old Fin. Ihre Lippen bewegten sich nicht, und sie hielt auch den Kopf nicht gesenkt, aber immerhin war sie hier und beugte sich widerwillig einer Macht, die sogar noch größer war als ihre Empörung. Nur vier Dorfbewohner fehlten: Mhairi und Flora, die noch in der Glen Bay waren, sowie Crabbit Mary und Lorna. Marys Fruchtblase war schließlich doch noch geplatzt, und Donald saß allein in der Kirchenbank mit dem besorgten Blick des werdenden Vaters.

Es war auch ein Fremder unter ihnen: Mr Bonner, ein Reporter der Times aus London, war mit der Dunara Castle auf die Insel gekommen, um Zeuge des »historischen Ereignisses« zu sein. Er wohnte beim Pfarrer und seiner Frau im Pfarrhaus und hatte sich innerhalb eines Tages bei allen Dorfbewohnern unbeliebt gemacht, indem er ihnen Fragen stellte, während sie packten und ihre Häuser sauber machten. Niemand glaubte ihm, wenn er behauptete, die Evakuierung habe das Interesse der Öffentlichkeit geweckt. Warum sollte es irgendjemanden kümmern, was ihre Sechsunddreißig-Seelen-Gemeinschaft hier tat?

Jayne blickte an ihm vorbei und betrachtete die Gemeindemitglieder, die jungen und alten Gesichter, die sie so gut kannte, und versuchte, sich den Moment gut einzuprägen. Niemals wieder würden sie alle gemeinsam hier sitzen und zu einem Gott beten, dessen Schutz sich nur als dünne Haut erwiesen hatte, wenn es darum ging, sie vor der Macht von Mutter Natur zu behüten.

Norman neben ihr räusperte sich; es war eine harmlose Geste, aber sie kannte ihren Ehemann und wusste, welche Ungeduld darin steckte. Er war ein Mann der Tat, nicht der inneren Einkehr, und es gab noch viel zu tun, bevor sie morgen früh an Bord gehen konnten.

Der Pfarrer reagierte auf die Aufforderung, und seine Stimme erhob sich über die Stille. Tweedstoffe raschelten synchron und Gelenke knackten, als die Inselbewohner sich auf ihren Bänken zurücklehnten, während er einen letzten Segen für ihre Seelen aussprach. Inzwischen wussten alle ganz genau, welche irdischen Versuchungen sie auf der anderen Seite des Ozeans erwarteten, der Reverend hatte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, seine Herde einzuschüchtern und zu moralischem Gehorsam zu drängen.

Mit gesenkten Blicken sahen sie zu, wie er durch den Gang schritt und seinen Platz an der Tür einnahm. Dann standen die Dorfbewohner auf und fingen an, sich leise zu unterhalten. Normalerweise eilten alle zur Tür, aber heute Abend war es anders. Heute würden sie diesen Raum zum letzten Mal verlassen.

Jayne betrachtete die schlichten weißen Wände und die Balkendecke der Kirche, die sie zurückließen. Hier gab es keine aufwendigen Ornamente oder Buntglasfenster. Ohne die Kirchenbänke und den Altar hätten Außenstehende den Raum für ein Klassenzimmer halten können. Nur die St. Kildaer kannten die Hoffnung, die diesem Ort Leben eingehaucht hatte, bei Hochzeiten und Taufen oder nach hektischen Gebeten, wenn eine Ernte verdorben war, ein Sturm tobte oder Babys gestorben waren. Wundstarrkrampf und Pocken hatten ihrer Gemeinschaft in der Vergangenheit zugesetzt, und jetzt trieben Bequemlichkeit und ein leichtes Leben – oder zumindest die Aussicht darauf – sie von hier fort.

Das und ein unnötiger Tod.

Jayne starrte auf ihre Füße, die unruhig zuckten und loslaufen wollten, während die Menschen um sie herum sich unterhielten und niemand sie wirklich sah. Dann warf sie einen verstohlenen Blick in Richtung der MacQueens; Archie und Christina hatten ihre übermütige Kinderschar in der Kirchenbank zwischen sich genommen. David schien ihren Blick zu spüren und sah sie an; seine Wimpern waren feucht, seine Wangen gerötet. Sie wusste, dass er Mühe hatte, die Fassung zu bewahren. Wenn er Molly irgendwo hatte nah sein können, dann hier … aber das war jetzt vorbei.

Jayne lächelte, versuchte ihn mit ihrem Blick daran zu erinnern, dass sie immer noch die Nacht hatten, um Lebewohl zu sagen, und er senkte kurz den Kopf, um ihren Plan zu bestätigen. Doch sie erkannte keinen Trost in seinem Gesicht.

Sie sah zu Norman. Er stand einen Schritt von ihr entfernt und redete mit Euan Gillies darüber, wie schwierig es vorhin gewesen war, die Kühe auf das Schiff zu verfrachten. Jayne hatte noch keine Gelegenheit gefunden – oder Worte, oder Mut –, ihm von dem Plan zu erzählen, und war nervös. Was, wenn er Nein sagte? Ihm zu trotzen oder auch nur mit ihm zu streiten, war keine Option.

Sie waren jetzt beinahe draußen, und durch den Türspalt spürte sie schon die abendliche Kälte. Ihr war klamm und ein bisschen schwindelig, aus Gründen, die nichts mit den Temperaturen zu tun hatten, und sie musste dringend an die frische Luft.

»Norman. Jayne.« Der Pfarrer schüttelte Norman die Hand und nickte Jayne zu. »Ich hoffe, die Predigt hat euch getröstet? Ich hatte vor allem euch beide im Sinn, als ich darüber sprach, wie es ist, wenn wir unsere Lieben zurücklass…«

»Aye, danke. Beten Sie für uns, Reverend«, erwiderte Norman brüsk. Er hatte eine Art, das Richtige zu sagen und es zugleich irgendwie falsch klingen zu lassen. Jayne wusste, dass es ihm gelegen kam, wenn jemand das Beten für ihn übernahm. Er war noch nie gern in die Kirche gegangen und hasste die Macht, die der Pfarrer über ihre Inselgemeinde hatte; aber die schwand jetzt, genau wie die des Verwalters. Von morgen an würde er nicht mehr über ihr Seelenheil wachen.

»Danke, Reverend«, sagte Jayne und lächelte, um das schroffe Benehmen ihres Ehemanns zu entschuldigen, der ohne weitere Höflichkeitsfloskeln oder ein Dankeschön an dem Geistlichen vorbeiging. »Es war sehr aufmerksam von Ihnen, in einem so bedeutungsvollen Moment an uns zu denken.«