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Drei Dates und ein großes Geheimnis: Kunststudentin Darcy steht eine turbulente Weihnachtszeit bevor ...
Ganz Kopenhagen erstrahlt in festlichem Lichterglanz. Doch Kunststudentin Darcy ist ganz und gar nicht in Weihnachtsstimmung. Ihr Freund hat sie verlassen, und sie möchte sich am liebsten mit ihren Büchern zu Hause verkriechen. Nur widerwillig lässt sie sich von ihrer besten Freundin Freja überreden, sich bis Weihnachten mit drei Männern zu treffen. Darcys Gedanken kreisen jedoch nicht um die Liebe, sondern um ein rätselhaftes Gemälde, das kürzlich entdeckt wurde. Bei ihrer Recherche begegnet sie dem attraktiven Anwalt Max – der sich ausgerechnet als ihr erstes Date entpuppt. Die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Aber Max hat ein Geheimnis …
Der große neue Weihnachtsroman der SPIEGEL-Bestsellerautorin – die perfekte Lektüre zum Fest der Liebe!
Pressestimmen zu Karen Swan:
»Tolle Plots, großartige Figuren und jede Menge Romantik.« Heat
»Herrlich glamourös und unwiderstehlich romantisch.« Hello!
»Fesselnd und zauberhaft.« Woman
»Karen Swan schreibt die bezauberndsten Weihnachtsromane.« The Visitor
»Es gibt nichts Besseres als einen Roman von Karen Swan, um in Weihnachtsstimmung zu kommen.« Woman & Home
»Weihnachtlicher Eskapismus vom Feinsten.« Women's Weekly
»Mit tollen Plot-Twists, Einfühlungsvermögen, Charme und Humor beschert uns Karen Swan die perfekte Einstimmung auf die Feiertage.« Yorkshire Post
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Seitenzahl: 560
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ganz Kopenhagen erstrahlt in festlichem Lichterglanz. Doch Kunststudentin Darcy ist ganz und gar nicht in Weihnachtsstimmung. Ihr Freund hat sie verlassen, und sie möchte sich am liebsten mit ihren Büchern zu Hause verkriechen. Nur widerwillig lässt sie sich von ihrer besten Freundin Freja überreden, sich bis Weihnachten mit drei Männern zu treffen. Darcys Gedanken kreisen jedoch nicht um die Liebe, sondern um ein rätselhaftes Gemälde, das kürzlich entdeckt wurde. Bei ihrer Recherche begegnet sie dem attraktiven Anwalt Max – der sich ausgerechnet als ihr erstes Date entpuppt. Die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Aber Max hat ein Geheimnis …
Weitere Informationen zu Karen Swan
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.
Karen Swan arbeitete lange als Modejournalistin für Zeitschriften wie Vogue, Tatler und YOU. Heute lebt sie mit ihrer Familie im englischen Sussex und schreibt jedes Jahr zwei Romane – einen für die Sommersaison und einen zur Weihnachtszeit.
Karen Swan im Goldmann Verlag:
Ein Geschenk von Tiffany. Roman
Ein Geschenk zum Verlieben. Roman
Ein Weihnachtskuss für Clementine. Roman
Winterküsse im Schnee. Roman
Winterglücksmomente. Roman
Sternenwinternacht. Roman
Winterwundertage. Roman
Das Funkeln einer Winternacht. Roman
Der Glanz einer Sternennacht. Roman
Der Zauber eines Wintertages. Roman
Winterträume im Schnee. Roman
Ein Geschenk zur Winterzeit. Roman
Schneeflockenträume. Roman
Das Geheimnis einer Winternacht. Roman
Sommerhaus mit Meerblick. Roman
Ein Sommer in den Hamptons. Roman
Sterne über Rom. Roman
Eine Insel zum Verlieben. Roman
Das Leuchten eines Sommers. Roman
Sommerträume am Meer. Roman
Sommer im Paradies. Roman
Sommernächte in Paris. Roman
Die Inseltöchter – Der letzte Sommer. Roman
Die Inseltöchter – Die gestohlenen Stunden. Roman
Die Inseltöchter – Der verlorene Liebhaber. Roman
Die Inseltöchter – Das verborgene Herz. Roman
Karen Swan
Roman
Aus dem Englischen von Sylvia Strasser
Die englische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »All I Want for Christmas« bei Macmillan, an imprint of Pan Macmillan, London.
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Deutsche Erstveröffentlichung September 2025
Copyright © 2024 by Karen Swan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung von Bildmaterial von avan Images / Alamy Stock Photo, Shutterstock / Creative_Bird, Serhii Yevdokymov, wirakorn deelert, Jihan Nafiaa Zahri, Evgeniya Litovchenko, Getty Images / praetorianphoto
Redaktion: Beate De Salve
LS · Herstellung: ik
ISBN 978-3-641-33318-8V001
www.goldmann-verlag.de
Für Sam Burns – niemand kann besser zuhören oder dröhnender lachen.
Kopenhagen, 25. November 2024
»Was genau tust du da eigentlich?«, wollte Darcy wissen, während sie ihre eifrig auf dem Handy tippende Mitbewohnerin beobachtete. Allmählich beschlich sie der Verdacht, dass Freja nicht nach der Wettervorhersage suchte, wie sie behauptet hatte.
»Dir ein bisschen auf die Sprünge helfen«, antwortete Freja, ohne aufzuschauen. »Es sind jetzt schon drei Wochen.«
»Hast du nichts Besseres zu tun?« Darcy legte stöhnend den Kopf in den Nacken und starrte an die Kiefernholzdecke des Cafés, die mit künstlichen Tannenzweigen und Lichterketten dekoriert war.
»Du musst wieder unter Leute«, erwiderte Freja. Sie hatte einen Schnurrbart von ihrer heißen Schokolade, was sie aber nicht weiter zu stören schien. Alles, was sie aß oder trank, hinterließ irgendwelche Spuren an ihr.
»Sagt wer?«, fragte Darcy mit einem Blick auf ihre Mitbewohnerin, die sich in höchster Konzentration auf die Lippe biss.
»Deine Mutter zum Beispiel. Du bist sechsundzwanzig. Sie wünscht sich Enkelkinder.«
»Dafür hat sie Cara.«
»Cara ist neunzehn und gerade beim Wildwasser-Rafting in Thailand.«
Darcy verdrehte die Augen. Die Gap-Year-Abenteuer ihrer kleinen Schwester waren definitiv spannender als alles, was in ihrem eigenen Leben passierte, wo das Aufregendste ein Zahnarzttermin und die nächste Abgabefrist für ihre Dissertation waren. Hätte Lars sie nicht betrogen, wäre sie letztes Wochenende nach Stockholm gefahren, hätte am Freitag in einer Woche in der zweiten Reihe des The-Weekend-Konzerts gesessen und jemanden gehabt, der an Weihnachten am anderen Ende des Knallbonbons zog. Aber er hatte ja vor drei Wochen in einer Bar ein Mädchen küssen müssen, das er gerade mal achtundzwanzig Minuten gekannt hatte, was die Gefühle, die Darcy zwei Monate und fünf Tage in ihn investiert hatte, schlagartig ausgelöscht hatte.
Sie tippte mit einem Finger auf den kleinen quadratischen Tisch. »Ich genehmige mir auch eine Auszeit, weißt du? Ich brauche mindestens weitere drei Wochen.«
»Abgelehnt. Dir macht es vielleicht nichts aus, wenn du Weihnachten allein verbringst, aber mich stört es. Und da du nicht mit mir zu meinen Eltern fahren willst, müssen wir eben jemanden suchen, der dir Gesellschaft leistet.«
»Freja, ich muss an meiner Dissertation arbeiten. Ich bin derart in Verzug, dass es schon nicht mehr lustig ist. Hätte ich Zeit, mit dir Weihnachten zu feiern, könnte ich auch zu meiner eigenen Familie in die Ferien fliegen. Ich würde auch lieber an einem Strand in Thailand faulenzen, anstatt hier zu hocken und zweitausend Wörter am Tag in die Tasten zu hauen.«
»Und genau deshalb brauchst du in den Pausen eine Auszeit mit einem Bad Boy.« Freja warf ihr einen Blick zu. »Außerdem wirst du nicht jünger.«
»Und anscheinend auch nicht klüger.«
»Sie sind nicht alle wie er.«
»Ach ja?« Darcy zog eine Braue hoch. »Ich hab ihn für einen von den Guten gehalten. Langweilig, aber solide, zuverlässig, mit einem anständigen Job und guten Aussichten.«
»Vielleicht liegt genau da das Problem: Du hast die Messlatte zu tief gelegt.«
»Oh, bist du zur Expertin geworden?«
»Allerdings«, entgegnete Freja mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Ich schlafe seit einem ganzen Monat mit demselben Mann, und das bedeutet, dass ich zur anderen Seite übergewechselt bin. Plötzlich sehe ich alles ganz klar.«
Eine Spur Sarkasmus schwang in ihrer Stimme mit. Obwohl Darcy lachte, als sie nach ihrer heißen Schokolade griff, konnte sie sich nur schwerlich an diese neue verliebte Ausgabe ihrer Mitbewohnerin gewöhnen.
Freja hatte noch nie jemanden länger als eine Woche gedatet. Als Scheidungskind glaubte sie nicht daran, dass irgendetwas ewig hielt, Beziehungen schon gar nicht. Sie schaffte es nicht einmal, Miss Petals, ihre Zimmerpflanze, am Leben zu erhalten, was für eine auf Genomforschung spezialisierte Mikrobiologie-Doktorandin erschreckend war.
Die beiden Frauen hatten sich im Sommer auf der Toilette einer Studentenkneipe kennengelernt, als Darcy, die neu in der Stadt und auf der Flucht vor einem miesen Tinder-Date war, Freja dabei ertappte, wie sie mit einem Kragenstäbchen den Tamponspender zu manipulieren versuchte. Darcy hatte ihr das nötige Kleingeld für den Automaten gegeben, woraufhin Freja im Gegenzug ihr Date abserviert hatte: Sie habe Darcy wegen eines positiven Schwangerschaftstests weinend auf der Toilette gefunden, hatte sie geflunkert. Der Typ war auf der Stelle verduftet. Ihre Dating-Katastrophen hatten die beiden zu Freundinnen und Komplizinnen gemacht – jedenfalls bis zum Beginn von Frejas jüngster heißer Affäre vor wenigen Wochen, die einfach nicht abkühlen wollte.
Darcy schaute aus dem Fenster auf die Schlittschuhläufer, die ihre Mittagspause nutzten, um mehr oder weniger elegant über die Eisbahn im Tivoli zu gleiten oder zu stolpern. Obwohl der Dezember noch nicht begonnen hatte, war der riesige Weihnachtsbaum bereits aufgestellt worden, und in den Verkaufsbuden lagen Sojakerzen, Lavendelsäckchen und Holzspielsachen zum Befüllen der Weihnachtsstrümpfe bereit. Lichterketten schmückten die Bäume, die Leute führten ihre Hunde aus, und kleine Kinder mit an Schnüren baumelnden Handschuhen watschelten durch den Park. Junge und alte Stimmen übertönten die surrenden Geräusche der Fahrgeschäfte und das Zischen der Schlittschuhkufen auf dem Eis. An einem Ort wie diesem, der sich in Schnee hüllte wie in einen Schal und an dem die angeblich glücklichsten Menschen der Welt lebten, war es leicht, frühzeitig in Weihnachtsstimmung zu kommen.
Auf der anderen Seite der Eisbahn posierte ein Paar gekonnt für ein Selfie. Er hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt, und sie hob den Kopf, als er sich für einen langen, innigen Kuss zu ihr hinunterbeugte.
Angesichts dieser ungenierten Zurschaustellung von Glück ließ sich Darcy genervt gegen die Stuhllehne fallen.
»Iiih, das ist ja ekelhaft!«
Freja schaute auf und folgte ihrem Blick. »Verstehst du, was ich meine? Die guten Männer werden dir vor der Nase weggeschnappt.«
»Dann zieh ich eben nach Paris. Oder Barcelona. Dort gibt’s auch jede Menge Männer.«
»Zu spät. Ich erkläre die Trauerzeit hiermit offiziell für beendet.«
»Aber ich trauere gern«, brummte Darcy mürrisch, den Blick immer noch auf das glückliche Paar gerichtet. »Ich mag Schwarz.«
Sie hob die Hände zu ihren langen hellbraunen Haaren. Die blonden Highlights vom Sommer waren im Gegensatz zu dem Stufenschnitt noch nicht vollständig herausgewachsen, aber die Ibiza-Bräune ihrer olivfarbenen Haut war mittlerweile verblasst.
»Ich sag dir, was wir machen werden …« Freja gab ihr mit einem triumphierenden Ausdruck in den Augen ihr Handy zurück. »Schau mal auf deinen Startbildschirm.«
»Was hast du gemacht?« Darcy runzelte misstrauisch die Stirn.
»Na los, guck nach.«
»Hm. Wonach suche ich denn?«
»Raya.«
»Raya?« Darcys Brauen schossen in die Höhe. »Raya wie in ›die Promi-Dating-App‹?«
»Das ist maßlos übertrieben«, wehrte Freja ab. »So viele Promis sind da gar nicht. Ich meine, ein paar, ja. Aber was du hauptsächlich da findest, sind Leute wie du und ich. Erfolgreich, exklusiv, vermögend …«
»Ich bin nicht vermögend! Ich muss mir überlegen, wie viele Bananen ich kaufe, damit sie nicht verderben und ich sie wegwerfen muss, das kann ich mir nämlich nicht leisten!«
»Aber du bist schön und intelligent, und genau das ist es, was diese Männer suchen.«
Darcy machte ein zweifelndes Gesicht. Ihrer Erfahrung nach hatten es Männer nicht gern, wenn die Frau klüger war als sie selbst. »Aufgenommen wird man doch nur auf Empfehlung, oder?«
»Stimmt. Tristan hat dich gestern Abend empfohlen.«
»Tristan ist auf Raya?« Darcy wusste zwar, dass Frejas aktueller Schwarm, den sie noch nicht kennengelernt hatte, erfolgreich war, aber sie hatte nicht gewusst, dass er so erfolgreich war. Freja, die im Rahmen ihrer Promotion gerade ein Praktikum absolvierte, hatte ihr erzählt, sie und Tristan hätten nach einer Geschäftsreise was miteinander gehabt. Eigentlich hätte es ein One-Night-Stand bleiben sollen, aber inzwischen waren über dreißig Nächte daraus geworden – Darcy musste zu ihrer Schande gestehen, dass sie mitzählte.
»Er war«, antwortete Freja und verbesserte sich dann hastig: »Ich meine, er ist! Er ist! Im Augenblick lässt er die Mitgliedschaft bloß ruhen. Er wird wieder aktiv werden, bevor du auch nur sagen kannst …« Sie suchte vergeblich nach dem richtigen Wort.
»Flibbertigibbet?«, schlug Darcy vor, die zu ihrer Bestürzung erkannte, dass Frejas Glücksgefühle offenbar immer noch nicht abebbten.
»Flibb…?« Ein Zungenbrecher für jemanden, dessen Muttersprache nicht Englisch war.
»Hm.« Alles klar. Konnte es sein, dass Freja im Begriff war, sich in diesen Typen zu verlieben?
Darcy blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn in diesem Moment langte Freja herüber und tippte auf die App. Zu ihrer Überraschung war sie bereits eingeloggt und …
»Ich habe einen Account?«
»Ich weiß doch, dass du dich nie dazu aufgerafft hättest«, erwiderte Freja achselzuckend. »Du wirst viel zu zynisch in deinem zweiten Lebensviertel.«
Freja hatte ihrer beider Lebenszeit in Fünfundzwanzigjahr-Phasen eingeteilt, und Darcy gefiel der kleine Reminder, dass sie mittlerweile in die zweite Phase eingetreten war, überhaupt nicht.
»Na los, schau sie dir an – Extraklasse, findest du nicht? Überwiegend starke Achter … aber wenn du eine Vier oder eine Fünf siehst, heißt das, dass er stinkreich ist.«
Darcy blinzelte. »Stinkreich ist eigentlich nicht mein Ding.«
»Aber es kann auch nicht schaden, oder?«
»Was nützt mir stinkreich, wenn er ein hässlicher Langweiler ist?«
Freja schnappte in gespieltem Entsetzen nach Luft. »Dann legst du also nur Wert auf ein attraktives Äußeres? Ganz schön oberflächlich, meinst du nicht auch?«, zog sie ihre Freundin auf.
Darcy lachte.
Freja streckte die Hand aus und verdeckte das Display. »Bevor du wie wild drauflostippst – es gibt ein paar Regeln.«
»Regeln?«
»Ja. Ich will, dass du drei aussuchst. Nicht mehr als drei!«
»Umgekehrte Psychologie? Ist das dein Ernst?« Darcy kannte ihre Freundin nur zu gut. Sie stellte ihr ein Meer voller Fische in Aussicht und beschränkte ihren Fang dann auf drei. Obwohl Darcy gerade noch behauptet hatte, gar keinen zu wollen, funktionierte der Trick.
»Meinetwegen«, gab sie sich geschlagen. »Dann schauen wir mal, ob wir uns auf drei einigen können.«
Freja rückte mit ihrem Stuhl näher heran und schmiegte eine Wange an Darcys Arm, während diese von einem hübschen Gesicht zum nächsten wischte. Die Männer lachten entweder, als hätten sie gerade einen guten Witz gehört, oder starrten mit zusammengebissenen Zähnen düster in die Ferne, als wüssten sie nichts von der Handykamera, die auf sie gerichtet war. Einige spielten Fußball oder Frisbee in irgendeinem Park, mit hochgerutschtem Hemd, sodass ein Stück ihres Sixpacks zu sehen war. Einer, offenbar ein Bergsteiger, grinste von einer Steilwand in die Kamera; ein anderer spielte mit schmachtender Miene Banjo an einem Lagerfeuer, das einen goldenen Schein auf seine Wangenknochen warf.
Auf den ersten Blick sahen sie alle wie die perfekte Zehn aus – unbekümmert, fit, allererste Sahne. Aber darauf fiel Darcy nicht herein. Es gab Dinge, die sie aus den Fotos herauslesen wollte. Dinge wie Beziehungsprobleme, einen Mutterkomplex oder einen Hang zum Narzissmus. Sie musste die Betrüger, die Lügner herausfiltern.
Mit einem gewissen Zynismus – sie gab es ja zu – betrachtete sie einen nach dem anderen.
Der Typ, der einen Hund knuddelte? Jede Wette, dass das nicht sein eigener war. Sie wischte nach links.
Der Typ auf der Hochzeit? Der Frack sah aus, als hätte er ihn geliehen. Nach links.
Der Typ im Ferrari? Wer wollte denn jemanden mit einem Ferrari? Nach links.
Doch bei einem Profil verweilte sie länger.
Aksel. Tierarzt. 29. Persönliche Bestzeit im Lösen des Rubik-Würfels: 13 Sekunden.
Ein Lächeln huschte über Darcys Gesicht. Hoffentlich wollte er sich mit dieser albernen, großspurigen Bemerkung nur über sich selbst lustig machen.
»Oh, wie süß«, stellte Freja fest.
»Find ich auch. Und er sieht erstaunlich normal aus. Als ob man tatsächlich mit ihm reden könnte.« Er hatte verwuschelte dunkelbraune Haare, ausdrucksstarke braune Augen und ein schüchtern wirkendes Lächeln.
Sie zappte durch seine anderen Fotos: mit zwei Freunden auf einer Parkbank, anscheinend in einer Jogging-Pause (gute Beine); in einer Bar mit einem verdächtig pinkfarbenen Drink vor sich; auf einem Sofa mit einem Berner Sennenhund, der doppelt so groß zu sein schien wie er selbst (könnte sein eigener Hund sein, schließlich war er Tierarzt). Er wirkte authentisch, aber Darcy konzentrierte sich auf die Fakten: Er war attraktiv und wohnte nur knapp zwei Kilometer weit weg. Sie wischte nach rechts.
»Du willst mit ihnen reden?«, neckte Freja sie.
Milas, 30, Grafikdesigner; angeblich einen Meter fünfundachtzig groß, aber er stand in einem Türrahmen und war eindeutig kleiner. Darcy wischte nach links, nicht weil er klein, sondern weil er unaufrichtig war.
Calvin, 27, Börsenmakler. Er präsentierte sich typgerecht mit ein paar Flaschen Roederer Cristal Magnum in einem Club. Sie wischte nach links.
Der Nächste sah starr in die Kamera, nicht lächelnd, aber auch nicht nicht lächelnd. Er blickte eher leicht belustigt drein, als durchschaute er die Absicht desjenigen, der die Aufnahme machte.
Max, 32; Kopenhagen. Rechtsanwalt. Hobbys: Skifahren, Wein, Gewinnen. Keine Zeit zum Daten.
Auf den Punkt gebracht, dachte Darcy, die es nicht berauschend fand, dass er offenbar für nur eins Zeit hatte. Doch obwohl die Bios anderer Profile witziger und charmanter formuliert waren, fesselte sie das Wort »Gewinnen«.
Wieder betrachtete sie das Foto, diesen direkten Blick. Eine fast an Verachtung grenzende Arroganz lag darin. Er war dunkelblond, hatte blaue Augen und Züge wie gemeißelt. Er sah auf eine kalte Art gut aus.
Weitere Fotos gab es nicht, nur diese eine Porträtaufnahme, kein Hintergrund, kein Narrativ, keine Stimmungen oder andere Blickwinkel. Als einziges Bewertungskriterium diente dieser Blick.
»Hm.« Freja zog die Brauen zusammen. »Nein, definitiv nicht. Der ist heißer, als es gut für ihn ist.«
»Ich dachte, Reden werde total überschätzt?«, spöttelte Darcy.
»Wird es auch. Aber der sieht aus, als müsste man ihn von seinem hohen Ross runterholen.«
»Stimmt«, pflichtete Darcy ihr bei. Er machte den Eindruck eines Mannes, der grundsätzlich bekam, was er wollte. Würde er sich jedes Mal, wenn jemand nach rechts wischte, als Gewinner fühlen?
Sie war versucht, nach links zu wischen. Aus Prinzip. Sie wollte es wirklich, aber der Finger verharrte über dem Bildschirm und weigerte sich, den Befehl auszuführen.
Der Typ war unglaublich sexy. Musste sie ihn mögen? Sie musste jedenfalls nicht mit ihm reden. Er sah gut aus und war immerhin ehrlich, was man von den meisten Männern hier nicht sagen konnte. Er präsentierte sich so, wie er war, und stellte weder eine märchenhafte Beziehung noch ein Happy End in Aussicht. Keine Frau, die bei Verstand war, würde so einem Mann vertrauen, aber wenigstens wusste sie bei ihm, woran sie war.
Darcy starrte in die kalten blauen Augen und wischte dann wider besseres Wissen nach rechts.
Freja schnappte hörbar nach Luft. »Du hast drei Versuche und verschwendest einen für den da? Wieso?«
»Weil er eine Zehn ist und ich tatsächlich so oberflächlich bin«, antwortete Darcy augenzwinkernd. »Ich weiß, dass ich bekomme, was ich sehe.«
Liam, 28, Profi-Polospieler. In Kopenhagen? Einer Seehafenstadt? Niemals.
Ben, 27, Architekt. Das zweite Foto zeigte ihn beim Klavierspielen mit einem kleinen Mädchen. Möglicherweise seine Nichte und nicht seine Tochter, aber das Risiko wollte Darcy nicht eingehen. Bloß keine Komplikationen! Sie wischte nach links.
Erik, 29, Bauunternehmer. Tiefe Bräune, gebleichte Zähne, zurückgekämmte Haare, keine Socken. Er sah aus, als würde er die Sommer auf Mykonos und die Winter in Courchevel verbringen. Die anderen Fotos zeigten ihn beim Jetskifahren, beim Kitesurfen, inmitten von Formel-1-Rennwagen am Start … Moment mal, war das Lando Norris?
Was soll’s?, dachte sie und wischte nach rechts.
»Aber du kannst diesen Eurotrash-Vibe doch nicht ausstehen«, sagte Freja verwirrt.
»Schon, aber ich finde Charles Leclerc so süß, und über den Typen komme ich vielleicht an ihn ran.« Darcy tippte mit dem Fingernagel auf das Display.
»Vielleicht aber auch nicht! Willst du wirklich einen weiteren Versuch für diese vage Hoffnung vergeuden?«
Darcy ließ ihr Handy auf den Tisch fallen und seufzte lächelnd. »Sie sind alle reine Zeitverschwendung, Freja.«
»Wow, Lars hat ja ganze Arbeit geleistet.«
»Nein, er hat mir nur den letzten Rest gegeben. Ich kann dir genau sagen, wie sich die Dinge bei einem Match entwickeln werden: Der Tierarzt wird gefühlvoll und lieb sein, aber keine feste Bindung wollen, der arrogante Anwalt entpuppt sich als Fuckboy, und Mr Eurotrash wird länger an seinen Haaren herumfummeln als an mir.«
Freja ließ sich lachend gegen die Rückenlehne sinken, raffte ihren blonden Lockenschopf mit beiden Händen zusammen und ließ die Haare dann wieder auseinanderfallen.
Darcy grinste. »Stimmt doch, oder?«
»Ich würde dir zu gern widersprechen«, stieß Freja schwer atmend hervor. »Wirklich zu gern.«
»Ja.« Darcy schaute einem Eisläufer zu, der eine Pirouette drehte. »Kennen wir alles. Und wir wissen auch, wie es endet.«
»Mag schon sein. Aber vergiss nicht: Der Weg dorthin ist das, was Spaß macht. Bald ist Weihnachten, da kannst du dich doch nicht ganz allein in deiner Wohnung verkriechen.«
»Ich wär ja nicht allein, wenn du mal nach Hause kämst!«
»Alles zu seiner Zeit. Der Sex ist einfach zu gut, Schätzchen.«
Darcy stöhnte auf.
»Keine Bange, wir werden noch bald genug in Flammen aufgehen. Aber bis dahin musst du raus, unter Leute, und das ist der beste Weg. Wenn diese Kerle Augen im Kopf und einen Puls haben, werden sie dich liken, und dann kannst du noch vor Weihnachten drei richtig heiße Typen daten. Wer weiß? Vielleicht wirst du sogar positiv überrascht.«
Darcy griff nach ihrem Becher und angelte ein weiteres Marshmallow heraus. »Wenn einer von denen imstande ist, mich positiv zu überraschen, fresse ich einen Besen. Ich werde jedenfalls keine Purzelbäume schlagen vor lauter Vorfreude, das verstehst du hoffentlich.«
Darcy hängte gerade ihren Mantel über die Stuhllehne, als Ida, Ottos Sekretärin, den Kopf zur Tür hereinstreckte.
»Ah, Darcy, Sie sind wieder da, sehr gut. Otto hat schon nach Ihnen gefragt. Er sagt, es ist dringend.«
»So?« In Otto Borups Welt war nie etwas dringend. Der Rektor der Schule für Bildende Kunst und ihr Doktorvater hatte eine bedächtige Art und vertrat die Ansicht, dass Worte nicht selten überschätzt wurden und ein wohlüberlegtes Schweigen genauso viel – oder sogar noch mehr – zum Ausdruck bringen konnte. Wenn Otto also etwas als dringend einschätzte, lag er entweder im Sterben, oder aber die Königlich Dänische Kunstakademie stand in Flammen.
»Ja. Sie sind alle in Werkraum drei und warten schon auf Sie.«
»Alle?« Darcy erschrak bei der Vorstellung, dass sie – wobei auch immer – Zuschauer haben würde.
Werkraum drei war der Sitz der Abteilung für Restaurierung und Konservierung. Als Doktorandin hatte Darcy nur selten Grund oder Gelegenheit für einen Abstecher dorthin, fühlte sich dann aber jedes Mal wie ein Kind in einem Süßwarenladen.
Hatte sie etwas falsch gemacht?
»Wissen Sie, worum es geht?«
»Ja.« Ida nickte, machte aber keine Anstalten, eine Erklärung hinterherzuschieben.
»Verstehe … Danke.« Darcy schluckte nervös und eilte durch den Flur an den Fakultätsbüros vorbei zur Treppe. Die Tür zu Ottos Zimmer stand halb offen, und auf seinem Schreibtisch stapelten sich Dokumente und mit Haftnotizen gespickte Nachschlagewerke. Sein Stuhl war offenbar zurückgestoßen und dann so stehen gelassen worden. Es sah aus, als ob Otto in aller Eile aufgesprungen wäre.
Ging es um ihre Dissertation? Der zuständige Ausschuss hatte sie schon vor Monaten zum Promotionsverfahren zugelassen. Hatten sie es sich anders überlegt? War das überhaupt möglich?
Ihr Unbehagen wuchs mit jedem Schritt. Die Gebäude von Schloss Charlottenborg, dem Sitz der Königlich Dänischen Kunstakademie, waren hufeisenförmig um einen großen Platz angeordnet, und die Werkräume befanden sich im mittleren Flügel. Dank der großen Stahlfenster auf beiden Seiten waren die langen weiß getünchten Räume normalerweise auch an trüben Tagen sehr hell, aber als Darcy die Tür zu dem Werkraum im dritten Stock aufstieß, herrschte drinnen ein dämmriges Licht, weil die schwarzen Vorhänge zugezogen waren.
In der Mitte standen lange, breite Tische, an den Wänden Werkbänke. Überall stapelten sich Bücher und Schriftstücke, dazwischen standen Gipsbüsten sowie mit Tüchern abgedeckte Leinwände auf Staffeleien. Pinsel steckten in Gefäßen, bernsteinfarbene Flüssigkeiten schimmerten in Gläsern. Alles war voller Hocker, Stühle, Pullover und Taschen; es roch nach Lösungsmitteln und Kaffee.
Ganz hinten drängte sich eine kleine Gruppe um einen der Tische. Alle redeten mit gedämpfter Stimme durcheinander. Darcy erkannte die gefürchtete Direktorin der Nationalgalerie, Margit Kinberg, den Chefrestaurator und -konservator der Königlichen Kunstakademie, Lauge Bekker, und natürlich Otto. Auch ohne den in New York weilenden Direktor der Kunstakademie war diese Versammlung so beeindruckend, dass Darcy ihren Schritt unwillkürlich verlangsamte. Sie hatte sich den falschen Tag ausgesucht, um herzukommen – eigentlich hatte sie sich auf einen ruhigen Nachmittag im Magazin des Museums gefreut. Was in aller Welt konnten sie von ihr wollen? Hatte sich Ida einen Scherz mit ihr erlaubt?
In diesem Moment drehte sich Otto zu ihr um. »Ah, Darcy, da sind Sie ja!«
Er war ein eleganter Mann, nicht besonders groß, schlank, mit Glatze, einem kurz getrimmten weißen Bart und wachsamen blauen Augen. Er trug ausschließlich nüchterne Blau-, Grau- oder Schwarztöne. Die klobige Schildpattbrille war die einzige persönliche Note, ein kleiner Hinweis auf den Mann hinter der strengen Fassade, dem der Ruf großer Ernsthaftigkeit vorauseilte. Er neigte nicht zu Small Talk, übertriebenem Lob oder auch nur zum Lächeln, doch heute schien er eine Ausnahme zu machen.
Darcy entspannte sich ein bisschen. Er würde nicht lächeln, wenn er schlechte Nachrichten für sie hätte, oder? Es sei denn, aus Mitleid …
»Danke, dass Sie gekommen sind. Lauge kennen Sie ja bereits.«
»Lauge.« Darcy nickte ihm höflich zu.
»Ich weiß nicht, ob Sie Margit Kinberg schon kennengelernt haben?«
»Freut mich sehr«, sagte Darcy, als sie ihr die Hand gab.
Kinberg war eine blasse Frau mit einem schwarzen Bob und Brille. Sie war bekannt dafür, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm, und ihr Händedruck war fest und kräftig.
»Otto hat mich bezüglich Ihrer Arbeit auf den neuesten Stand gebracht, Ms Cotterell.« Sie sprach Englisch, obwohl man sich auf Dänisch unterhalten hatte, als Darcy hereingekommen war. Alle hier sprachen fließend Englisch, aber Darcy hatte auch ausgezeichnete Dänisch-Kenntnisse, da sie und ihre Schwester bei einer dänischen Mutter aufgewachsen waren.
»So?« Darcy lächelte Otto zaghaft zu. Wieso interessierte sich Margit Kinberg für ihre Dissertation mit dem Thema »Hausmütterchen und Revolutionärinnen – eine Neubewertung der Rolle der Frau im sogenannten Modernen Durchbruch«?
»Sehen Sie sich das an, Darcy«, forderte Otto sie auf und trat zur Seite.
Auf dem Tisch hinter ihm lag unter einer UV-Lampe ein Gemälde, dessen Rahmen entfernt worden war. Darcy erkannte es sofort und bekam Herzklopfen – es handelte sich um Ihre Kinder, ein Meisterwerk von Johan Trier, das für die im neuen Jahr geplante Retrospektive des Künstlers in der Nationalgalerie vorsichtig restauriert worden war.
Johan Trier galt als Vorläufer der dänischen Neuen Meister. Otto hatte die letzten zwei Jahre mit anderen Museen, Galerien und Privatsammlungen über Leihgaben verhandelt, um die Ausstellung kuratieren zu können, die umfassendste seit Triers Tod vor fast genau fünfzig Jahren. Das Kulturministerium erhoffte sich für die Nationalgalerie den gleichen Effekt, den die Würdigung Vermeers vor einigen Jahren für das Amsterdamer Rijksmuseum gehabt hatte.
»Und? Was sehen Sie?«
Unter den aufmerksamen Blicken der anderen beugte sich Darcy über das berühmte Ölgemälde, das sie schon unzählige Male bewundert hatte. Es zeigte eine Frau am Strand, die, eine Hand in die Seite gestemmt, ihre im flachen, aber aufgewühlten Wasser watenden Kinder wachsam beobachtete. Der starke Wind presste ihr Rock und Bluse an den Körper, das Bindeband ihrer Schürze flatterte hinter ihr.
»Das ist Triers Ihre Kinder. Eins seiner bedeutendsten Werke.« Berühmt war es nicht nur wegen der meisterhaften Darstellung der Kinder oder des dramatischen Lichts, sondern auch, weil die Haltung der Frau – ihre ruhige Geduld im Kontrast zu ihrem angestrengt aufmerksamen Blick – die Vielschichtigkeit und Intensität des Mutterseins spiegelte.
»Und was wissen Sie über Trier?«
»So aus dem Handgelenk?« Kinbergs Frage brachte Darcy ein wenig aus dem Konzept. »Nun, er war ein begnadeter Zeichner. Obwohl er sich ursprünglich einen Namen als Porträtmaler machte, waren Landschaften, später vor allem Strandszenen, seine Spezialität. Wegen der detailgetreuen Wiedergabe des Gewebes von Frauenkleidern und seiner Verwendung von Farben wurde er oft mit John Singer Sargent verglichen. Weiß, aber auch Rosa dominierten. Natürliches Licht war für ihn ein großes Thema. Er wurde stark von den Impressionisten beeinflusst und eignete sich ihre Impasto-Technik und die kurzen, schnellen Pinselstriche an.«
Sie betrachtete das Ölgemälde. Es war ein seltenes Privileg, ihm so nahe zu sein, die Leinwand sehen zu dürfen, wie der Künstler sie gesehen hatte. Das Bild war ein Juwel in der Krone dänischer Kunst.
Kinberg nickte. »Und jetzt? Was sehen Sie jetzt?«
Otto hatte die UV-Lampe eingeschaltet. Als ihr kräftig violettes Licht über das Gemälde flutete, blickte Darcy in das Gesicht einer Frau, das unter der Strandszene sichtbar wurde.
Sie fuhr erschrocken zurück. An den aufgeregten Blicken der anderen erkannte sie, dass sie ähnlich überrascht gewesen sein mussten. Sie senkte den Blick, wie um sich zu vergewissern, dass ihre Augen ihr keinen Streich spielten. Doch da war es wieder, das Kopf-und-Schultern-Porträt einer jungen Frau. Obwohl Farben und Details so verschwommen waren, als würde man sie durch eine schmutzige Fensterscheibe betrachten, zeugten die Kopfhaltung und der direkte Blick von großem Können.
»Oh!«, hauchte Darcy. »Sie ist wunderschön!«
»Ja, nicht wahr?« Margit Kinberg nickte und richtete den Blick ebenfalls auf das Porträt. »Der Fund hat uns alle überrascht.«
»Es gab nie einen Hinweis darauf?«, fragte Darcy.
»Seit 1959, als ein Rohrbruch zu erhöhter Luftfeuchtigkeit führte und die Farbe in Mitleidenschaft gezogen wurde, hat niemand mehr das Gemälde angerührt«, erklärte Lauge Bekker. »Die Mal- und Grundierungsschichten sind damals gesichert worden, weitere Untersuchungen gab es nicht. Und da das Bild seitdem in einer konstanten Umgebung hing, gab es keinen Grund, sich damit zu befassen. Erst jetzt kam es wegen der Retrospektive für eine sanfte Reinigung herein.«
Darcy war keine Restauratorin, dennoch wusste sie, dass UV-Licht zwar bereits seit den 1930er-Jahren zur Untersuchung von Gemälden verwendet wurde, diese Technik aber erst in den 1980er-Jahren weite Verbreitung gefunden hatte.
Die Bedeutung dieser Entdeckung lag auf der Hand. Johan Trier war der bedeutendste dänische Maler des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Haus, in dem er gewohnt hatte, war eine Touristenattraktion, und seine Bilder, von denen viele aus den 1920er-Jahren stammten, waren in die ganze Welt verkauft worden.
»Ein Jammer, dass er das übermalt hat«, murmelte Darcy mit einem weiteren prüfenden Blick auf das geisterhafte Porträt. Aus Sorge um ihr »Vermächtnis« übermalten viele Künstler Werke, die sie für unbedeutend oder schlecht hielten.
»Tja, das ist das Spannende daran«, bemerkte Margit und sah sie an. »Er hat es nicht übermalt. Das Porträt ist auf der Rückseite. Es ist nicht darunter, sondern hintendrauf.«
»Zwei Gemälde in einem?«
»Ganz genau«, sagte Lauge. »Eine erste Untersuchung deutet leider darauf hin, dass es sich um mehrere verleimte Leinwände handelt …«
Verleimt? Darcy verzog schmerzlich das Gesicht, genau wie Otto und Margit.
»… was bedeutet, dass sich das Porträt zwischen den Schichten befindet.«
»Besteht die Möglichkeit, heranzukommen?«, fragte Darcy.
»Das hoffen wir natürlich«, antwortete Lauge Bekker. »Aber das ist eine heikle Angelegenheit. Wir müssen behutsam vorgehen, schließlich können wir nicht riskieren, dass Ihre Kinder beschädigt wird. Sollte sich das Risiko als zu groß erweisen, brechen wir das Ganze ab. Wenn wir zwischen den beiden wählen müssen, werden wir uns selbstverständlich für den Spatz in der Hand entscheiden.«
»Keine Frage.« Darcy nickte, den Blick auf die schemenhaften Umrisse der Frau unter den Ölfarben gerichtet. Ihre Kinder war eines der Aushängeschilder der Kunsthalle – das Motiv fand sich unter anderem auf Postkarten, die im Museumsshop verkauft wurden –, aber es wäre ein Jammer, wenn dieses Porträt verborgen bliebe. Die Unbekannte strahlte etwas Besonderes aus, Darcy spürte es. »Wie lange wird es dauern, die beiden Gemälde voneinander zu lösen?«
»Normalerweise würde ich sagen, ein paar Monate, aber wegen der bevorstehenden Retrospektive müssen wir uns beeilen. Der Druck ist immens.« Lauge warf Margit Kinberg einen schnellen Blick zu. Darcy nahm die Spannungen zwischen den beiden wahr.
»Gehen wir das Ganze optimistisch an«, sagte Margit entschlossen. »Es ist in aller Interesse, auf ein Best-Case-Szenario hinzuarbeiten: bei der Retrospektive ein jüngst entdecktes Meisterwerk von Johan Trier vorzustellen.«
»Margit …«, begann Lauge.
»Ja, ich weiß, vielleicht schaffen wir es nicht.« Sie sah ihn streng an. »Aber wir werden es auf alle Fälle versuchen. Wir werden so schnell arbeiten, wie wir können, und zwar an allen Fronten.«
Sie wandte sich Darcy zu.
»Das wird ein abteilungsübergreifendes Projekt werden«, erklärte sie. »Während Lauges Leute an der Ablösung der Gemälderückseite arbeiten, wird die technische Abteilung einen doppelseitigen Exponathalter gestalten, damit wir die Vorder- und die Rückseite gleichzeitig ausstellen können.«
»Verstehe.« Darcy fragte sich mit wachsender Spannung, welche Rolle ihr zugedacht war. Man hatte sie eindeutig nicht nur hinzugeholt, damit sie die Neuentdeckung bewunderte.
»Womit wir zu Ihnen kommen, Darcy«, warf Otto ein, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Ebbe Busk, die Leiterin der Wissenschaftsabteilung, haben Sie vermutlich noch nicht kennengelernt – sie ist bis Mitte März im Mutterschutz.«
»Ich kenne sie nur dem Namen nach.«
»Wir haben zwar eine Teilzeitvertretung für sie, aber das Team hat alle Hände voll mit den Vorbereitungen für die Retrospektive zu tun. Deshalb haben wir gemeinsam überlegt, wer ähnlich qualifiziert und außerdem kurzfristig verfügbar ist, und da habe ich an Sie gedacht.«
Darcy blinzelte. »Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Otto. Aber ich bin hier nicht angestellt, und versicherungstechnisch betrachtet …«
»Sie werden mit dem Gemälde nicht in Berührung kommen. Wer wäre geeigneter für diese Aufgabe als jemand, der eine Professur anstrebt und dessen Hauptinteresse den Künstlerinnen jener Zeit gilt?«
»Dann ist sie also Künstlerin?«, fragte Darcy mit einem kurzen Blick auf das Porträt.
»Vermutlich nicht. Aber da der bedeutendste Maler der damaligen Zeit sie porträtiert hat, kann sie auch keine Unbekannte gewesen sein. Mäzene und Künstler bewegen sich in den gleichen Kreisen, und ich bin sicher, dass sie in der Peripherie dieser Kreise zu finden ist.«
Darcy schluckte kräftig. Das war keine einfache Aufgabe, die man ihr da übertragen wollte.
»Und meine Dissertation? Mein nächster Abgabetermin ist …«
»… verhandelbar. Immerhin bin ich Ihr Betreuer. Und angesichts dieser außergewöhnlichen Umstände bin ich gern bereit, den Papierkram für die Bewilligung eines kleinen Aufschubs auf mich zu nehmen.«
Margit räusperte sich. »Ganz abgesehen davon wäre das eine gute Gelegenheit, einmal mehr auf Ihrem Gebiet zu glänzen. Otto hat mir erzählt, dass Sie schon eine Skagen-Malerin entdeckt haben?«
»Ja, Katje Lange.«
»Katje Lange, richtig.« Margit nickte. »Angeblich Magd auf einem Bauernhof, wenn ich mich richtig erinnere.«
Darcy nickte ebenfalls. In ihrer Masterarbeit hatte sie nachgewiesen, dass das kleine, auf dem Dachboden eines Bauernhauses an der Nordküste entdeckte Portfolio die Arbeiten von Katje und nicht, wie ursprünglich angenommen, die ihres berühmten Mannes enthielt.
»Ohne Ihre Forschungsarbeit wäre ihr Name in Vergessenheit geraten«, stellte Margit heraus.
»Und das soll ich jetzt auch machen? Diese Frau identifizieren? Herausfinden, wie sie hieß?«
Wieder nickte Margit. »Graben Sie alles aus, was Sie über sie finden können, Darcy. Wenn wir einen bislang unbekannten Johan Trier präsentieren wollen, müssen wir in der Lage sein, eine lückenlose Biografie vorzuweisen. Medien aus aller Welt werden über diesen Fund berichten.«
Darcy zögerte. Einerseits war das eine einmalige Gelegenheit – andererseits, vier Wochen vor Weihnachten und fünf bis zum Beginn der Retrospektive, eine Riesenbelastung.
»Kommt Ihnen die Porträtierte irgendwie bekannt vor?«, wollte Otto wissen.
Darcy war ein wenig verlegen. Einige der kompetentesten, sachkundigsten Leiter der Kunstakademie legten Wert auf ihre Meinung?
»Nein«, antwortete sie zögernd. »Aber ich kann Ihnen mit Bestimmtheit sagen, wer sie nicht ist.« Zentrales Thema ihrer Dissertation waren die weniger bekannten Künstlerinnen aus Triers Zeit, und Darcy wusste, dass es keine von ihnen war. »Es ist weder Anna Felsing noch Ingrid Hjort oder Charlotta Juhl. Auch nicht Elsa Tobiassen, Dorrit Knudsen oder Grete Caspersen. Aber für eine genauere Prüfung bräuchte ich ein Bild in einer besseren Auflösung …«
Otto nickte. »Unser Bildgebungsteam arbeitet bereits daran.«
»Okay.« Darcy bezweifelte allerdings, dass viel dabei herauskommen würde. Solange man die Rückseite noch nicht abgelöst hatte, war es unmöglich, das Bild nachzuschärfen, und ohne deutlich erkennbare Details konnte nicht einmal die Haar- oder Augenfarbe bestimmt werden. Die Frau war kaum mehr als eine Silhouette, ein Schatten aus der Vergangenheit. Wie sollte Darcy etwas über sie herausfinden, wenn sie keinerlei Anhaltspunkte hatte? Es gab nicht einmal einen Hinweis darauf, dass die Existenz des Porträts bekannt gewesen war …
Margit, die ihre Skepsis gespürt haben musste, räusperte sich erneut. »Darcy, ich verstehe, dass Ihr Schwerpunkt auf Ihrer Dissertation liegt. Aber ich hoffe, Ihnen ist klar, was für eine außergewöhnliche Bedeutung dieser Fund hat – nicht nur für die Retrospektive, sondern für die dänische Kultur im Allgemeinen.«
»Natürlich. Das ist eine einmalige Chance. Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Teil des Projekts sein zu dürfen.«
»Gut.«
Darcy senkte den Blick wieder auf das Gemälde. Die Frau zitterte wie eine Luftspiegelung. Dann schaltete Otto die UV-Lampe aus, und sie verschwand wieder in den Tiefen des Gemäldes.
Die schwarzen Vorhänge wurden zurückgezogen, und grelles Tageslicht strömte herein.
»Schön, dann wollen wir uns mal an die Arbeit machen«, sagte Margit und schaute auf ihre Uhr. »In fünfzehn Minuten gebe ich eine Pressekonferenz, in der ich den Fund verkünden werde. Weisen Sie Ihre Abteilungen an, etwaige Fragen an die Pressestelle weiterzuleiten.«
Schon zerstreute sich die Gruppe. Die Uhr tickte.
»Ich muss noch ein paar Anrufe erledigen, Darcy«, sagte Otto. »Kommen Sie doch in einer Stunde in mein Büro, damit wir die ersten Schritte besprechen können.«
»Mach ich.«
Ohne Eile durchquerte er den Werkraum Richtung Tür. Die Restauratoren streiften ihre weißen Handschuhe über und hoben das Gemälde so behutsam an, als trügen sie eine verletzte, zerbrechliche Fee.
Darcys Rolle war klar. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, die Identität einer Frau zu ermitteln, die vor hundert Jahren gelebt hatte.
Ihr einen Namen zu geben. Eine Biografie.
Mit anderen Worten: einen Geist zu finden.
Als Darcy eine Stunde später anklopfte, telefonierte Otto immer noch, aber er winkte sie herein. Sie setzte sich ihm gegenüber und hörte ihn »Mm« und »Mm-hmm« brummen, während sein Gesprächspartner die Unterhaltung offenbar ganz allein bestritt.
Den Hörer am Ohr, schob Otto ihr den Farbausdruck des Porträts auf seinem Schreibtisch hin.
Darcy starrte auf das Bild und versuchte, angesichts der minimalen Verbesserung nicht allzu enttäuscht zu sein. Die Frau hatte ihre langen Haare nicht wie damals üblich hochgesteckt, sondern anscheinend nach hinten gekämmt. Das hochgeschlossene Kleid war schlicht und schmucklos, und sie trug eine einfache Halskette. Man konnte unmöglich sagen, ob sie schwarze oder braune Haare hatte, ob ihre Augen blau, grün oder haselnussbraun waren. Es gab keinerlei Identifikationsmerkmale. Keinen Namen, kein Gesicht.
Da sie von einem der bedeutendsten dänischen Maler porträtiert worden war, musste das Bild in irgendeinem Dokument erfasst worden sein. Aber es war vor etwa hundert Jahren entstanden. Offensichtlich hatte niemand von seiner Existenz gewusst, und es war zu befürchten, dass die entsprechenden Aufzeichnungen inzwischen verloren gegangen waren.
Einige Augenblicke später bemerkte Darcy, dass Otto sein Gespräch beendet hatte und sie aufmerksam beobachtete. Konnte er ihr die Bedenken ansehen?
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er.
»Mutlos.« Die negative Antwort tat ihr selbst weh, aber ihr Fachgebiet waren vergessene Künstlerinnen und nicht ihre berühmten männlichen Kollegen.
»Sehr schön.« Otto nickte. »Das ist die richtige Antwort. Das ist keine leichte Aufgabe, und es hat keinen Sinn, sich etwas vorzumachen.« Er griff nach dem obersten Hefter auf dem Stapel und reichte ihn ihr. »Das ist unsere Standard-Biografie von Trier. Sie werden bei ihm mit Ihren Nachforschungen beginnen, nehme ich an?«
»Muss ich wohl. Im Augenblick ist er der einzige Anhaltspunkt.« Darcy überflog das Schriftmaterial. »1895 in Aalborg geboren, 1974 im Alter von neunundsiebzig Jahren in Paris gestorben. Nie verheiratet, keine Kinder …«
»Sie finden darin auch eine vollständige Liste seiner Werke – jedenfalls der bekannten – in chronologischer Reihenfolge.«
»Okay. Hier steht, Ihre Kinder wurde im August 1922 gemalt und verkauft, damals war er …« Darcy rechnete schnell nach. »Siebenundzwanzig. Noch ganz am Anfang seiner Karriere.« Sie sah Otto an. »Logischerweise müsste das Porträt davor entstanden sein. Und weil es ihm nicht gefallen hat, hat er es umgedreht und Ihre Kinder auf die Rückseite gemalt.«
»Das sehe ich auch so. Womit wir davon ausgehen können, dass das Porträt vor August 1922 entstanden ist.«
»Wunderbar. Damit hätten wir einen ersten Baustein«, sagte Darcy nachdenklich. »Das Bild kann also nicht nach 1922 gemalt worden sein, aber es ist auch unwahrscheinlich, dass es lange davor entstanden ist. Stimmen Sie mir zu? Künstler sind chronisch knapp bei Kasse, und ich bezweifle, dass er die Tafel jahrelang ungenutzt in seinem Atelier herumstehen ließ. Vermutlich ist das Porträt nur wenige Jahre vor Ihre Kinder entstanden.«
»Dabei handelt es sich natürlich nur um eine Vermutung, aber ja, wahrscheinlich ist es so. Ich schlage vor, Sie beginnen mit diesem Zeitrahmen und dehnen ihn aus, falls Ihre Nachforschungen ergebnislos bleiben.«
»Gut. Da Margit Kinberg in das Projekt involviert ist, nehme ich an, dass ich Zugang zu den Archiven der Nationalgalerie habe?«
»Der Nationalgalerie?«
»Ja. Dort gibt es doch sicher reichlich Material über Trier.«
»Bestimmt, aber ich habe eine bessere Idee. Haben Sie schon mal von der Stiftung Madsen gehört?«
Darcy schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Bertram Madsen, ein vermögender Industrieller, war Triers Mäzen. Er hat dem Maler zum Durchbruch verholfen. Seine Tochter war in den besseren Kreisen eine bekannte Schönheit, und er bestellte bei Trier etliche Porträts seiner Familie für die zahlreichen Häuser, die er besaß. Madsen war es auch, der ihn mit den Reichen und Mächtigen bekannt machte. Doch dann kam es zum Bruch, und der Grund dafür war ausgerechnet Ihre Kinder.«
»Was ist passiert?«
»Als sein Mäzen hatte Madsen ein Vorkaufsrecht auf alle seine Arbeiten. Er hatte Trier in seinem Sommerhaus in Hornbæk am Meer ein Atelier eingerichtet, und als er eine frühe Skizze von Ihre Kinder sah, wollte er das Bild unbedingt für sein neues Haus in der Toldbodgade haben.«
»Aber?«
»Aber Trier hat es einem deutschen Touristen verkauft, der an dem Haus in Hornbæk vorbeischlenderte und den Garten bewunderte. Die beiden kamen anscheinend ins Gespräch, und ehe es sich Madsen versah, war das Gemälde über der Grenze und in einer Privatsammlung in München. Dreißig Jahre blieb es im Ausland.«
Darcy lehnte sich verwundert zurück. »Das wusste ich nicht.«
Otto zuckte mit den Schultern. »Madsen ließ ihn daraufhin fallen, und von da an ging es mit Triers Karriere ziemlich schnell bergab. Seine Vorgehensweise wurde als Verrat betrachtet und hatte zur Folge, dass er aus den feinen Kreisen ausgeschlossen wurde. Er bekam keine Aufträge mehr, und zu guter Letzt zog er nach Frankreich, wo er abwechselnd in Paris und im Languedoc lebte.«
Darcy biss sich auf die Lippe. »Das Gemälde an einen zufällig vorbeikommenden Touristen zu verkaufen, war eine ziemlich unüberlegte Entscheidung.«
»Er muss ihm ein Angebot gemacht haben, das er nicht ablehnen konnte. Künstler sind nicht gerade für vorausschauende finanzielle Planungen bekannt.« Wieder zuckte Otto mit den Schultern. »Vielleicht hatte er es aber auch einfach satt, nach Madsens Pfeife zu tanzen. Mit den Porträts hat er zwar eine Menge Geld verdient, aber wie seine späteren Arbeiten zeigen, galt seine Leidenschaft der Landschaftsmalerei. Gewollt oder nicht, Ihre Kinder gab ihm den Schlüssel in die Hand, um sich aus seinem goldenen Käfig zu befreien.«
»Das klingt sehr hart. Wird man bei der Stiftung überhaupt zu einer Zusammenarbeit bereit sein? Zumal es um das Gemälde geht, das den Bruch verursacht hat?«
»Das ist alles lange vergessen und vergeben. Jahre später – ich glaube, es war in den Sechzigern – kam es zu so etwas wie einer Annäherung. Bertram Madsen war da schon lange tot, aber Frederik, sein ältester Sohn, gründete eine Kunststiftung. Die steigenden Preise für Triers Arbeiten auf dem internationalen Markt dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Seit fünfzig Jahren kaufen sie jedes Werk von ihm, das sie in die Hände bekommen, für die eigens gebaute Galerie in der Stockholmsgade. Wenn Sie mich fragen, ein Prestigeprojekt. Triers erster Mäzen stammt aus ihrer Familie, und diese Verbindung soll bestehen bleiben, besonders jetzt, wo sich Trier in der dänischen Leitkultur so großer Beliebtheit erfreut. Sie sind die selbst ernannten Wächter des Trierschen Vermächtnisses.«
»Dann sind sie – und nicht die Nationalgalerie – auch im Besitz des Quellenmaterials, nehme ich an?«
»So ist es. Sie haben einen ausgezeichneten Archivar, Viggo Rask. Er ist Ihr Ansprechpartner. Ich habe ihn bereits angerufen. Er erwartet Sie morgen.«
»Wow! Danke.«
»Die Zeit arbeitet gegen uns«, erwiderte Otto nur.
Darcy richtete den Blick wieder auf die Farbkopie. Die Augen leicht zusammengekniffen, starrte sie auf einen verschwommenen, runden Fleck auf der linken Schulter der Unbekannten.
»Was, glauben Sie, ist das?« Sie streckte Otto das Blatt hin.
»Hmm …« Er betrachtete es einen Moment. »Eine Fuchsstola vielleicht? So etwas war damals in Mode.«
Darcy verzog angewidert das Gesicht. »Dann wäre das der Kopf?«
»Tja, damals wurde das ganze Tier verwendet: Pfoten, Kopf …«
»Iiih, bitte nicht!«
»Das waren andere Zeiten, Darcy.« Er schaute zu, wie sie den Ausdruck in die Schutzhülle schob und sie ihm hinstreckte. »Den können Sie behalten, der ist für Sie.«
»Danke. Gut, dann werde ich mich besser mal an die Arbeit machen …«
Sie wollte aufstehen, aber Otto hielt sie mit einer Handbewegung zurück.
»Noch etwas. Margit hat heute Abend zu einem Umtrunk in die Nationalgalerie eingeladen. Ich weiß, das ist sehr kurzfristig, aber da Sie jetzt Teil dieses ganz besonderen Projekts sind, sollten Sie wirklich kommen. Haben Sie schon was vor?«
Darcy zögerte kurz. Erik, der Bauunternehmer, hatte keine Zeit verloren und sie für den Abend um ein Date gebeten, da er am Donnerstag geschäftlich nach Dubai flog und sie gerne vorher noch kennenlernen wollte.
»Nichts Besonderes«, sagte sie schließlich.
»Sehr schön. Es ist ein privates Event für Freunde und Förderer. Von der Stiftung Madsen werden ebenfalls ein paar Leute aus der Führungsebene da sein. Das ist eine gute Gelegenheit zum Networking.«
»Okay.« Wieder wollte sie aufstehen, doch Otto hielt sie ein weiteres Mal zurück.
»Ein letztes Wort zur politischen Landschaft.«
Darcy zog die Brauen zusammen. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, an der Oberfläche wird Friede, Freude, Eierkuchen herrschen, aber darunter brodelt es. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird zuallererst an der Kultur gespart, und das Kulturministerium hat bereits Sparmaßnahmen angekündigt. Margit steht unter Druck, sie muss Gelder beschaffen.«
»Daher die kleine Party heute Abend.«
»Richtig. Um die Gönner bei Laune zu halten. Der schnellste und effektivste Weg zu einer größeren Summe Geld ist natürlich der Verkauf von Objekten aus Museumsbeständen, und Margit muss die Einschnitte in ihrem Budget irgendwie kompensieren. Sie steht bald mit dem Rücken zur Wand, und das wissen auch die Leute von der Stiftung Madsen. Sie kreisen sie ein.«
Darcy klappte der Unterkiefer herunter, als ihr klar wurde, worauf Otto hinauswollte. »Sie würde ihnen Ihre Kinder doch nicht verkaufen?«
»Sie behauptet, nein. Man würde nur über ihre Leiche an das Bild herankommen.«
»Na, Gott sei Dank! Das Gemälde ist ein Nationalheiligtum. Es gehört dem dänischen Volk.«
Otto nickte. »Darin sind wir uns alle einig. Aber die Stiftung glaubt einen Anspruch auf alles zu haben, was mit Johan Trier zu tun hat, und die Tatsache, dass wir ein neues Gemälde entdeckt haben, wird sie rasend machen.« Er holte tief Luft. »Sie haben uns für die Retrospektive zwar unterstützt, indem sie uns Zugang zu ihrer Sammlung gewährt haben, aber glauben Sie nicht, dass sie das aus reiner Menschenfreundlichkeit getan haben. Madsen Holdings, die Muttergesellschaft, will im neuen Jahr an die Börse gehen und ist deshalb auf gute Publicity aus, um den Kurs in die Höhe zu treiben. Denken Sie immer daran, dass sie grundsätzlich aus Eigeninteresse handeln, egal, was sie tun. Auch wenn wir scheinbar alle auf der gleichen Seite sind, gehören wir nicht demselben Team an. Achten Sie auf Ihre Worte, und vergessen Sie nie, dass wir etwas haben, was sie gern hätten.«
»Du meine Güte«, murmelte Darcy. »Ich hab nicht gewusst, dass das ein solches Haifischbecken ist.«
»Die Kunstwelt ist ein Markt im Wert von achtundsechzig Milliarden Dollar. Es geht nicht nur um hübsche Bilder und Champagner schlürfen. Es geht um das ganz große Geschäft.«
»Ich werd’s mir merken.« Der Umtrunk am heutigen Abend kam ihr auf einmal nicht mehr so verlockend vor. »Apropos Champagner schlürfen – darf ich heute Abend mit Begleitung kommen?«
Ihr graute davor, sich ganz allein in die Höhle der Löwen zu wagen. Vielleicht wäre die Party mit hundert Fremden ringsherum ein guter Rahmen für ein erstes Date.
»Lieber nicht. Diese Events sind ziemlich konservativ. Alter Geldadel, Sie wissen schon.«
Sie kannte diese Sorte Mensch zwar nicht persönlich, konnte sich aber denken, was er meinte: Leute, die Retrospektiven finanzierten, Museen in ihrem Testament bedachten und in der Oper ihre eigene Loge hatten. Flirty erste Dates zwischen Raya-Matches gehörten definitiv nicht in diese Kategorie.
»Wir sind aus geschäftlichen Gründen dort, nicht, um uns zu amüsieren.«
»Verstanden.« Endlich durfte sie aufstehen. Sie war schon auf dem Weg zur Tür, als sie Otto fragen hörte:
»Sie haben hoffentlich ein Cocktailkleid?«
Wahrscheinlich war er insgeheim entsetzt über ihre zusammengewürfelten Joggingsachen.
»Na klar«, schwindelte sie.
»Gut. Ich maile Ihnen noch die Einzelheiten«, brummte er. Damit war sie entlassen.
Hastig trat sie auf den Flur hinaus und verdrehte die Augen. Ein schwarzes Schlauchkleid, das sich mehr für Kneipenabende als für Cocktailpartys eignete, war das einzig Elegante in ihrem Kleiderschrank. Sie würde sich also noch etwas Passendes kaufen müssen. Ein weiterer Punkt auf ihrer To-do-Liste, die von Minute zu Minute länger wurde – und um vier musste sie auch noch ein Seminar abhalten!
An den Fakultätsbüros vorbei lief sie den Flur hinunter. Die Sohlen ihrer Turnschuhe quietschten deutlich schneller über den Boden als auf dem Hinweg.
»Ich muss für heute Abend absagen, sorry. Eine berufliche Verpflichtung, da komm ich nicht raus.«
Darcy schaute auf die Uhr. Zwanzig nach sieben? Der Tag war an ihr vorbeigerast und schien noch nicht langsamer werden zu wollen.
»Was arbeiten Akademiker denn am Abend? Die Bibliotheken haben doch bestimmt längst zu?«
»Haha. Ich muss zu einem formellen Empfang.«
Hatte sie ihren Lippenkonturenstift eingesteckt? Sie kramte in den Fächern ihrer Handtasche.
»Lass ihn ausfallen. Du lebst nur einmal.«
»Geht nicht. Ich muss ein paar wichtige Leute treffen wegen eines Projekts, an dem ich gerade arbeite.«
»Wie wär’s mit danach?«
»Keine Ahnung, wie lange es dauert.«
Sie starrte ihre Fingernägel an: sauber, aber für eine Maniküre war keine Zeit gewesen.
»Diese Geschäfts-Events kenne ich. Die ziehen sich nicht so lange hin. Spätestens um zehn bist du da raus. Dann könnten wir uns immer noch auf einen Drink treffen.«
»Ich weiß nicht recht. Mal sehen.«
»Lässt du dich immer so lange bitten?«
Darcy seufzte. Sie hatte keine Zeit für eine ausführliche Unterhaltung.
»Nein, ich will nur keine Verabredungen treffen, die ich vielleicht nicht einhalten kann.«
»Ich nehme das Risiko, dass du nicht auftauchst, in Kauf … Außerdem hast du dich bestimmt in Schale geworfen, oder? Wär doch ein Jammer, die ganze Mühe nur für Arbeitskollegen …«
Sie lächelte. Das war eine weibliche Perspektive.
»Das stimmt allerdings.«
Sie betrachtete sich im Spiegel der Umkleidekabine. Das neue Kleid war schwarz und trägerlos wie das alte, aber aus Samt, nicht aus Jersey, außerdem zierte das Oberteil ein elfenbeinfarbenes Satin-Bandeau. Es gewährte weder vorne noch hinten zu tiefe Einblicke; was allerdings die Länge anging …
Sie tastete mit den Fingerspitzen am Rocksaum entlang. War es vielleicht zu kurz? Es kostete mehr, als sie eigentlich für ein Kleid, das sie für einen beruflichen Anlass kaufte, ausgeben wollte. Ob Freja sich daran beteiligen würde? Wenn ja, könnte sie sich auch noch neue Schuhe kaufen.
»Wo findet der Empfang denn statt?«
»In der Nationalgalerie.«
»Ganz schön vornehm. Wie werde ich dich erkennen? Was hast du an?«
Darcy zögerte kurz und fotografierte dann ihr Spiegelbild. »Das.«
»Wow!«
»Danke.«
»Ich werde am Eingang auf dich warten.«
»Nein. Das ist was Berufliches. Es kann spät werden …«
»Dann warte ich eben so lange. Muss jetzt los, wir sehen uns später.«
Er beendete den Chat, bevor sie ihm die Sache ausreden konnte.
Darcy starrte auf die Nachrichten. Da hatte sie die Dating-App gerade mal einen halben Tag, und schon hatte sie eine Verabredung.
Hartnäckig war Erik, das musste sie ihm lassen. Anscheinend ein Machertyp. War diese Zielstrebigkeit, diese Entschlossenheit, das Geheimnis seines Erfolgs? Als sie ihm geschrieben hatte, dass sie ihre Verabredung absagen musste, hatte er es irgendwie geschafft, das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Er hatte die Konkurrenz um Längen geschlagen!
Sie klickte auf die letzte Nachricht von Aksel, dem Tierarzt. Er hatte sich kurz nach Erik gemeldet, im Gegensatz zu diesem aber eine Unterhaltung begonnen. Ein kurzer Chat unmittelbar vor ihrem Seminar, während sie auf ihre Studenten gewartet hatte, nichts Aufregendes. Nichts, was auch nur andeutungsweise ein Flirt gewesen wäre, lediglich die Art von Small Talk, die sie auf Dinnerpartys so hasste. Ein Sammeln von Informationen, kein echtes Interesse.
»Warst du schon mal in Südamerika?«
Darcy verdrehte die Augen und spürte, wie sich ihr bei der unverfänglichen Frage die Nackenhaare aufstellten. Sie konnte dieses höfliche Getue nicht ausstehen, diese geheuchelte Anteilnahme am Leben des anderen. Schließlich wussten sie beide, wie das Ganze ausgehen würde: Sobald er hätte, was er wollte, würde er sie entweder betrügen, ghosten oder ihr erklären, dass er für etwas Ernstes noch nicht bereit war.
Tja, das war sie auch nicht. In den nächsten Wochen würde sie sich voll und ganz auf dieses Projekt konzentrieren müssen. Da würde sie keine Zeit haben, einem wunderbaren Märchen nachzujagen. Sie würde die Männer mit ihren eigenen Waffen schlagen: sich nehmen, was sie brauchte, und ihre emotionale Energie ausschließlich in ihre Arbeit stecken.
Sie tippte hastig.
»Bin in meinem Gap Year durch Patagonien gewandert. War auch in Machu Picchu. Sagenhaft! Da würde ich gern noch mal hin.«
Das war gelogen. Sie hatte die Ruinenstadt einmal gesehen, und das reichte. Warum in ihren eigenen Fußspuren rückwärtslaufen, wenn es so viel mehr auf der Welt zu sehen gab? Aber wenn es sie und den Tierarzt weiterbrachte … Sagten Männer nicht andauernd das, was Frauen ihrer Ansicht nach hören wollten?
»Irgendwann in den nächsten Wochen würde ich gern einen Städtetrip nach Stockholm machen. Was sollte ich mir unbedingt ansehen? Irgendwelche Tipps?«
Ein Wink mit dem Zaunpfahl, damit er ihr anbot, ihr die Stadt zu zeigen. Ein schmutziges Wochenende mit einem heißen Tierarzt würde ein für alle Mal einen Schlusspunkt hinter die Geschichte mit ihrem Ex setzen.
Max, der Anwalt, hatte sich nicht gemeldet. War er zu beschäftigt, um sein Match anzuschreiben, oder war sie einfach nicht sein Typ? Die Vorstellung, von ihm übersehen zu werden, wurmte sie. Vermutlich hatte einer wie er die Qual der Wahl.
Darcy legte ihr Handy weg und zwang sich, nicht über einen Mann nachzudenken, dem sie noch nie begegnet war.
Seufzend betrachtete sie ihr Spiegelbild. War sie passend gekleidet für den Empfang heute Abend? Sexy genug für Erik? Entweder das eine oder das andere – beides ging nicht.
Sie drehte die Haare zu einem lockeren Knoten zusammen und stellte sich auf die Zehenspitzen. Absätze. Zu dem Kleid gehörten definitiv Absätze.
Sie textete ihrer Mitbewohnerin und schickte ihr ein Foto von sich.
»Wollen wir uns das teilen? Du brauchst was Schickes, wenn Loverboy dich ausführen will!«
Frejas Antwort ließ nicht auf sich warten.
»Superschön! Abgemacht!«
Darcy grinste und blickte dann ernüchtert auf, als sie sah, wie spät es war.
Hastig zog sie den Reißverschluss auf, stieg aus dem Kleid und schnappte sich ihre Sachen. Das Geschäft würde bald schließen, die Schuhabteilung befand sich im Stockwerk darüber, und der Empfang begann in zehn Minuten …
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, zischte sie, während sie ihren Arm in den verdrehten Ärmel des Pullovers zu bohren versuchte. Sie würde sich auf der Toilette umziehen und schminken müssen. Mit dem Taxi wäre sie in zehn Minuten an der Nationalgalerie, würde also innerhalb der akademischen Viertelstunde eintreffen – und hoffentlich nach Otto und allen anderen, die sie kannte.
Ihr Handy verkündete den Eingang einer Nachricht. Sie warf einen Blick auf den Bildschirm, während sie sich das Kleid über die Schulter schmiss und aus der Kabine lief.
»Ein Absacker heute Abend?«
Max, der Anwalt. Wenn man vom Teufel sprach …
Darcy blieb wie angewurzelt stehen. Ein Hochgefühl durchströmte sie. Dann gefiel ihm also doch, was er auf ihrem Profil gesehen hatte. Freja hatte mit der Auswahl ihrer Fotos erstklassige Arbeit geleistet, das musste sie zugeben.
Sie starrte auf die Frage. Kein flirtender Unterton, nur ein Vorschlag. Kein »Warst du schon mal in Südamerika?«, nicht einmal ein »Hallo« wie von Erik. Darcy erinnerte sich an den arroganten Ausdruck in Max’ Augen, an seine überhebliche Ausstrahlung. Er wurde seinem Profil absolut gerecht. Immerhin spielte er keine Spielchen. Trotzdem gönnte sie sich den kleinen Triumph, »Hab leider keine Zeit« zurückzuschreiben.
Mit Genugtuung steckte sie das Handy in ihre Tasche und sprintete Richtung Treppe.
Die Absätze von Darcys neuen Schuhen klackerten über den Kalksteinboden der alten Museumssäle. Das Geräusch bildete einen krassen Gegensatz zum Quietschen der Gummisohlen vom Nachmittag. Sie hatte sich in eine andere Frau verwandelt: Ihre Bürosachen hatte sie in ihren Rucksack gestopft und diesen an der Garderobe abgegeben, Arme und Beine waren nackt, die langen Haare zu einem Knoten geschlungen, die Lippen rot angemalt.
Männer in Dinnerjackets, die sich in gedämpfter Lautstärke unterhielten, gingen vorüber und musterten sie bewundernd. Es war weit nach acht und damit bedeutend später, als sie gehofft hatte. Doch es war gar nicht so leicht gewesen, ein Uber zu bekommen, da schon die ersten Weihnachtsfeiern stattfanden. Man konnte meinen, die ganze Stadt wäre auf den Beinen.
Darcy eilte durch den Skulpturenweg, einen gläsernen Gang, der das ursprüngliche, aus dem 19. Jahrhundert stammende Gebäude mit der hypermodernen Erweiterung verband. Der Empfang fand im Veranstaltungsbereich statt, einem überhohen, makellos weißen Saal mit gewölbter Decke, zu dem eine dramatisch geschwungene Treppe hinunterführte. Hier kam man sich vor wie in einem griechischen Tempel.
Darcy blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die Szene: Kellner, die sich – Tabletts mit Champagnerflöten in den Händen – durch die Menge schlängelten, Gäste, die sich ungezwungen und entspannt auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegten. Der Geruch von Geld war unverkennbar, wie ein Nektar, den sie schmecken, ein Gewicht wie Gold, das sie spüren konnte. Ein Streichquartett spielte vor der riesigen Glasfront, und Darcy fragte sich kurz, wie die Szene auf Spaziergänger draußen im Park wirken mochte. Sah sie aus, als würde sie hierhergehören? Konnte man erkennen, dass Kleid und Schuhe brandneu waren?
Sie entdeckte Margit Kinberg, die bei einer Gruppe von Männern stand, fand aber, dass sie sie nicht gut genug kannte, um auf sie zuzugehen. Während sie mit den Blicken den Raum absuchte, wurde sie immer nervöser, weil sie keine bekannten Gesichter sah. Dann bemerkte sie Otto, dessen Glatze sogar in einem Raum voller Siebzigjähriger auffiel, und atmete erleichtert auf. Bedächtig ging sie die Treppe hinunter und durch die Menge auf ihn zu. Eine grauhaarige Frau in einem goldfarbenen Jacquard-Kostüm und ein korpulenter Brillenträger standen bei ihm.
»Guten Abend«, grüßte Darcy und fing seinen Blick auf, aber es dauerte einen Moment, bis er reagierte.
»Darcy!«, sagte er überrascht. »Ich dachte schon, ich hätte Sie verpasst.«
Sie lächelte. »Ich hab nicht gleich ein Taxi bekommen.«
»Kennen Sie Mr und Mrs Albert Salling schon?«
Salling? Den Namen hatte sie auf einem Messingschild in einem der Universitätsgebäude gelesen.
Otto wandte sich an das Ehepaar. »Darcy Cotterell ist Doktorandin vom Londoner Courtauld Institute of Art, sozusagen eine Leihgabe für ein Jahr. Eine fabelhafte Wissenschaftlerin. Sie ist eine echte Bereicherung für unser Team.«
»Eine Doktorandin«, sagte Albert Salling, ergriff ihre Hand und hielt sie locker in seiner. »Dann heißt es wohl bald Frau Professorin Cotterell?«
»Das ist der Plan, aber es ist noch ein weiter Weg bis dahin.«
»Was ist Ihr Fachgebiet?«, erkundigte sich Mrs Salling. Ein Saphirarmband baumelte an ihrem dünnen Handgelenk.
»Mich interessieren vor allem Künstlerinnen, die um die Jahrhundertwende lebten. Viele von ihnen wurden schlicht nicht beachtet oder sind in Vergessenheit geraten. Diese dunklen Nischen möchte ich ausleuchten.«
»Ein aktuelles Thema.«
Otto nickte. »Darcy beschäftigt sich insbesondere mit den Widersprüchen in der dänischen Kunst, als der Moderne Durchbruch sich für die Rechte der Frauen einsetzte, es aber die Männer waren, die das Wort ergriffen, anstatt die Frauen für sich selbst sprechen zu lassen.«
Mrs Salling lachte. »Das war in unserer Familie immer so.«
»Darcy ist auch mit der Leitung der Forschungsarbeiten über das neue Trier-Porträt betraut worden«, fuhr Otto fort. »Sie haben bestimmt von dem Fund gehört? Dem Porträt, das auf der Rückseite von Ihre Kinder entdeckt wurde?«
»Allerdings«, bestätigte Mr Salling. »Das hat sich in Windeseile herumgesprochen und die Anziehungskraft des heutigen Events enorm gesteigert. Werden wir im Laufe des Abends mehr darüber erfahren? Margit sieht aus wie die Katze, die von der Sahne genascht hat.«
»Stimmt«, pflichtete Otto ihm bei. »Aber weitere Informationen haben wir im Augenblick nicht. Das Restauratorenteam arbeitet mit Hochdruck daran, das Porträt freizulegen.«
»Können Sie schon erste Erfolge verzeichnen?«, wandte sich Mr Salling an Darcy.
»Na ja, wir haben heute erst begonnen …«
»Ah, Otto, da sind Sie ja.« Eine manikürte Hand legte sich auf seine Schulter, und Margit Kinbergs kühles Lächeln stieg hinter ihm auf wie der Mond. »Albert. Valerie. Wie geht es euch?«
Wangenküsschen wurden getauscht. Alte Freunde. Herzliches Lächeln.
Otto warf Darcy einen warnenden Blick zu, als wollte er sie an ihre Unterhaltung am Nachmittag erinnern.
»Was für eine fantastische Entdeckung«, schwärmte Valerie Salling.
»Nicht wahr? Wir sind alle ganz begeistert.«
»Das kann ich mir vorstellen. Das ist unglaublich aufregend!«
Darcy lächelte. Sie klangen wie stolze Großeltern.
»Wir müssen unbedingt zur Eröffnung der Retrospektive von den Bahamas zurück sein«, meinte Albert Salling. »Was kannst du uns sonst noch über das Bild sagen?«
Darcy spürte, wie ihr Lächeln gefror, während die Unterhaltung zum Ausgangspunkt zurückkehrte. Das würde ein sehr langer Abend werden.
Als ein Kellner vorbeikam, nahm sie sich dankbar ein Glas. Tapfer widerstand sie der Versuchung, es in einem Zug zu leeren.
Auch Ottos Lächeln war starr geworden. Darcy fragte sich, wie viele solcher Partys er besuchen und den Reichen Honig um den Bart schmieren musste, um Spenden und Sponsorengelder lockerzumachen. So sah die Realität nun einmal aus. Kunst war immer schon eine Leidenschaft der Wohlhabenden gewesen, und Leute wie die Sallings mit ihren tiefen Taschen spielten eine wichtige Rolle in der Szene.
Die kleine Gruppe öffnete sich, als ein paar andere Gäste auf sie zusteuerten.
»Helle.« Otto löste sich aus seiner Starre und straffte sich. »Ich hatte gehofft, Sie heute Abend hier zu sehen. Das ist die Wissenschaftlerin, von der ich Ihnen erzählt habe, Darcy Cotterell. Darcy, das ist Helle Foss – die leitende Geschäftsführerin der Stiftung Madsen.«
»Freut mich sehr.« Darcy gab der zierlichen kleinen Frau, die in graue Seide gekleidet war und eine Perlenkette trug, die Hand.
Eine Pause entstand.
»Sie sind aber noch sehr jung«, entgegnete Helle Foss schließlich.
