Sommernächte in Paris - Karen Swan - E-Book

Sommernächte in Paris E-Book

Karen Swan

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Beschreibung

Ein unvergesslicher Sommer in der Stadt der Liebe ...

Die Kunstagentin Flora Sykes ist ständig in der Welt unterwegs. Für ein Privatleben oder eine ernsthafte Beziehung bleibt da keine Zeit. Nun führt sie ein geheimnisvoller Auftrag nach Paris, wo die wohlhabende Familie Vermeil ein Apartment voller Kunstschätze geerbt hat, das seit über siebzig Jahren niemand mehr betreten hat. Warum war es so lange verschlossen? Und woher stammen die Bilder? Statt Antworten zu finden, stößt Flora bei ihren Nachforschungen auf immer mehr Geheimnisse. Und zu allem Überfluss lenkt Xavier Vermeil, der unverschämt gut aussehende Sohn der Erben, sie immer wieder von der Arbeit ab ...

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Buch

Die Kunstagentin Flora Sykes ist ständig in der Welt unterwegs. Für ein Privatleben oder eine ernsthafte Beziehung bleibt da keine Zeit. Nun führt sie ein geheimnisvoller Auftrag nach Paris, wo die wohlhabende Familie Vermeil ein Apartment voller Kunstschätze geerbt hat, das seit über siebzig Jahren niemand mehr betreten hat. Warum war es so lange verschlossen? Und woher stammen die Bilder? Statt Antworten zu finden, stößt Flora bei ihren Nachforschungen auf immer mehr Geheimnisse. Und zu allem Überfluss lenkt Xavier Vermeil, der unverschämt gut aussehende Sohn der Erben, sie immer wieder von der Arbeit ab …

Weitere Informationen zu Karen Swansowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Karen Swan

Sommernächte in Paris

Roman

Aus dem Englischenvon Gertrud Wittich

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Paris Secret« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung April 2023

Copyright © 2016 by Karen Swan

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: Frau © Elisabeth Ansley Trevillion Images; Häuserfassade © Julian Elliott Photography / gettyimages; Straße mit Eiffelturm, Himmel, Sterne, Laterne: FinePic®, München;

Fassade mit Café © Hernandez & Sorokina / Stocksy

Redaktion: Beate De Salve

LS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-29966-8V001

www.goldmann-verlag.de

Für Tante Flora – ein Hoch auf ihren schlechten Einfluss!

Prolog

Paris, Juli 2016

Der Mond versteckte sich hinter den Wolken, und der Himmel war nachtblau. Die Lichter der berühmten Stadt waren fast alle erloschen, nur die Spitze des Turms, eines ihrer bekanntesten Wahrzeichen, schickte noch immer seinen Schein in die Dunkelheit.

Zwei Männer huschten geduckt über die Dächer. Für die schlafenden Bewohner der darunterliegenden Wohnungen klangen ihre Schritte nicht lauter als das Tippeln von Katzenpfoten. Sie orientierten sich an der gegenüberliegenden identischen Hauszeile und hielten, als sie ihr Ziel erreicht hatten, zwischen zwei Giebeln an. Nachdem sie das richtige Stockwerk und das richtige Fenster ausfindig gemacht hatten, schnallten sie ihre Ausrüstung ab und rollten die Seile aus. Mit leise klirrendem Klettergeschirr und vor Erregung hämmernden Herzen näherten sie sich dem Dachfirst. Dort verankerten sie die Seile mithilfe der Karabiner an einem Schornstein.

Der erste Mann warf zunächst einen Blick über die Dachkante, bevor er sich ein letztes Mal davon überzeugte, dass alles hielt. Dann ließ er sich mit einem vertrauten Gefühl der Erregung langsam an der Fassade hinunter und stieß sich dabei alle paar Meter mit den Füßen ab.

Der andere Mann folgte ihm, und schon wenig später waren sie vor der verstaubten Balkontür eines offenbar seit langer Zeit leer stehenden Apartments angelangt. Die Fenster waren tatsächlich so matt, wie es aus der Ferne gewirkt hatte, und der schmale Balkon bot lediglich Platz für eine kleine Topfpflanze. Doch zumindest würden die beiden Männer dort Halt finden, und so schwangen sie ihre Beine über das verschnörkelte gusseiserne Geländer. Die Füße an die Mauer gestemmt und die Beine im rechten Winkel zur Wand, bogen sie ihre Oberkörper nach vorne. Sie schirmten die Augen mit beiden Händen ab und spähten angestrengt durch die staubige Fensterscheibe ins Innere. Doch es war, als würden sie versuchen, sich in dichtem Rauch zurechtzufinden.

Als in der Ferne eine Sirene ertönte, erstarrten sie. Angestrengt versuchten sie festzustellen, aus welcher Richtung das Geräusch kam und ob es sich womöglich näherte.

Nein, offenbar nicht. Mehr brauchten sie nicht zu wissen.

Sie nahmen ihre Beschäftigung wieder auf, rüttelten mit behandschuhten Händen vorsichtig an den grifflosen Türflügeln. Die rechte der beiden Türen hatte ein wenig Spiel. Nun, das genügte. Das Holz der alten Rahmen war morsch und rissig, und ein kräftiges Niesen hätte gereicht, um die dünnen Glasscheiben zum Zerbersten zu bringen. Doch das würde nicht nötig sein. Der erste der beiden Männer war bereits in die Knie gegangen und befand sich nun auf Augenhöhe mit dem Türschloss. Deutlich konnte er den Metallarm des schlichten Riegels erkennen, mit dem die Tür von innen verschlossen war. Das war kaum ein Hindernis. Er zog sein Messer aus dem Rucksack und schob die Klinge in den Spalt zwischen den Türflügeln. Ein Ruck nach oben, und der Haken legte sich klirrend um.

So einfach war das – ein scharfes Auge, ein Seil und ein Messer, mehr war nicht nötig.

Die Türflügel protestierten quietschend bei dem Versuch, sie aufzudrücken, und ließen sich nur widerwillig öffnen. Doch schließlich gelang es, und beide Männer betraten den alten Parkettboden. Sie knipsten ihre Stirnlampen an und schnallten die Seile ab. Dann begannen sie auf leisen Sohlen mit der Erkundung der Wohnung.

Die Luft war derart abgestanden, dass man kaum atmen konnte, und obwohl ihnen jedes Geräusch zum Verhängnis werden konnte, mussten beide loshusten. Ihre Schritte hinterließen eine so deutliche Spur in der dicken Staubschicht auf dem Fußboden, dass es fast wirkte wie eine Fährte im Schnee. Aber wer würde es bemerken? Es war offensichtlich, dass keiner außer ihnen von der Existenz dieses Ortes wusste. Die Gleichgültigkeit der übrigen Hausbewohner sorgte dafür, dass das Geheimnis eines blieb. Das Apartment würde schon einen Besitzer haben, dachten sie sich wahrscheinlich, ihr Problem war es jedenfalls nicht. Man konnte eine Wohnung ja schlecht vergessen. Vergessen, dass sie einem gehörte. Und doch schien genau das der Fall zu sein.

Der erste Mann betrat die Küche und sah sich um. Ein Stuhl lag umgekippt auf dem Fußboden, und es gab einen Geschirrschrank mit leeren Haken, die sich wie arthritische Finger krümmten. Kein Topf war zu sehen, keine Pfanne, nicht einmal ein Wischeimer oder ein Besen. Es war alles leer geräumt.

Enttäuscht setzten sie ihre Suche im Flur fort, wobei sich die Strahlen ihrer Stirnlampen wie duellierende Degen kreuzten.

An der Schwelle zum Schlafzimmer blieben sie erneut stehen. Ein Bettgestell war an die Wand geschoben worden, aber das war es nicht, was ihren Puls in die Höhe schnellen ließ. Es war die Holzkiste in der Mitte, deren Deckel aufgestemmt war. Das Brecheisen lag daneben, auf dem eisernen Bettgestell.

Sie eilten sofort zur Kiste. Der erste Mann versuchte zu entziffern, was auf dem kleinen Zettel stand, der an der Innenseite befestigt war. Die Handschrift war jedoch schon sehr verblichen, sodass man sie kaum noch entziffern konnte. Immerhin war ein Firmenzeichen erkennbar, ein ovales Logo. Offenbar handelte es sich um eine Art Lieferschein.

In dem Moment stolperte der zweite Mann über etwas, was auf dem Fußboden lag, und stieß sich dabei versehentlich am Bettgestell. Leise schimpfend blickte er sich um und hob den Gegenstand auf: ein Kuscheltier, eine Frotteeente, die offenbar heiß geliebt worden war, denn sie war ganz abgenutzt und fadenscheinig. Der Mann musste niesen und ließ das Ding sofort wieder fallen.

Von wegen »leise«, dachte sein Gefährte grimmig. Wieso nicht gleich eine Party veranstalten und die Nachbarn dazu einladen?

Er leuchtete mit seiner Lampe in die Kiste hinein.

»Heilige Scheiße«, flüsterte er verblüfft.

Der zweite Mann eilte herbei und lenkte den Strahl seiner Stirnlampe ebenfalls ins Innere der Holzkiste.

Beide Männer starrten das, was sich darin befand, mit offenen Mündern an. Es überstieg ihre kühnsten Erwartungen.

»Schnell, nehmen wir sie raus.«

1. Kapitel

Wiltshire, England, August 2016

Der Sommer hielt England fest im Griff. Die Hitzewelle, unter der Europa schon seit einiger Zeit ächzte, hatte nun auch die Küsten der Britischen Inseln erreicht. Wie immer, wenn die Quecksilbersäule die Dreißigermarke erreichte, herrschte Ferienstimmung im Land – in den Parks luden Liegestühle zum Verweilen ein, Sommersprossen erschienen auf den Gesichtern, Kinder planschten in den städtischen Springbrunnen, und das unverkennbare Geräusch von nackten Füßen in Flipflops war in den Straßen zu hören.

Nicht dass Flora Sykes etwas davon mitbekommen hätte, denn das gut drei Hektar große Anwesen ihrer Familie im ländlichen Wiltshire war von einer hohen Buchenhecke umschlossen. Vor drei Stunden war sie in Heathrow gelandet, und nun lag sie bäuchlings auf einer Sonnenliege am Pool. Freddie, ihr Bruder, hatte sich bisher noch nicht blicken lassen, und ihr Vater befand sich, wenig überraschend, auf dem Golfplatz. Floras Mutter widmete sich, nachdem sie das halbherzige Hilfsangebot ihrer vollkommen erschöpften Tochter mit einem lässigen Wink abgelehnt hatte, dem Kochen von Langusten. Trotz ihrer Versuche, mit der Plastiktüte, in der sie steckten, über den Küchentresen davonzukriechen, landeten sie am Ende alle in dem großen Topf.

Flora hatte eigentlich ein Buch lesen wollen, da einer ihrer Vorsätze fürs neue Jahr lautete: weniger Arbeit, mehr Muße. Aber ihr Vorhaben, die Bestsellerliste abzuarbeiten, war bisher kläglich gescheitert. Sie wäre schon froh, wenn es ihr gelingen würde, Titel Nummer eins – im Januar gekauft und bisher nur zu einem Drittel gelesen – in absehbarer Zeit zu Ende zu lesen. Doch das Problem war das Adrenalin, das durch ihre Adern rauschte. Lange, intensive Arbeitsphasen, durchsetzt von kurzen Episoden völliger Erschöpfung, die nie zum Auftanken reichten. Da blieb herzlich wenig Zeit für Freizeitaktivitäten wie Lesen.

Diese Woche war ein Paradebeispiel: Montags war sie in Palm Beach aufgewacht, am Mittwoch in Chicago, und gestern hatte sie ein Meet and Greet in Manhattan eingeschoben, ehe sie – noch im Cocktailkleid – zum Flughafen JFK geflitzt war, um ihren Flug nach Heathrow zu kriegen.

»Ein Tässchen Tee, Schatz?« Die Stimme ihrer Mutter drang wie durch Watte in Floras schläfriges Gehirn, dazu vernahm sie das Geräusch von Porzellan auf Kalksteinplatten. »Du solltest dir die Schultern eincremen, Liebling, die sind schon rosa.«

Eine warme Hand berührte prüfend ihre Haut.

Als Flora verschlafen den Kopf hob, fielen ihr die butterblonden Haare ins Gesicht und über die Schultern.

»Hm?«, murmelte sie.

»Ach, Schätzchen, ich mach mir Sorgen um dich! Diese ständige Hin-und-her-Fliegerei und die Jetlags bringen deine innere Uhr ja vollkommen durcheinander.«

Flora warf ihr Haar zurück und setzte sich langsam auf. Ihre Mutter ließ sich auf der benachbarten Liege nieder, in der einen Hand eine Teetasse, in der anderen eine Modezeitschrift. Ein Strohhut beschattete ihr Gesicht. Auch mit Ende fünfzig war sie noch sehr schön.

Flora zupfte an den Trägern ihres Liberty-Print-Baumwollbikinis. Zum Baden war der Stoff nicht geeignet, aber sie hatte ohnehin nicht die Absicht, schwimmen zu gehen – es sei denn, Freddie würde sie in den Pool werfen.

Sie nahm die Teetasse und atmete den aufsteigenden Dampf ein, der ihr vom Schlaf rosa angehauchtes Gesicht noch mehr rötete. Träge beobachtete sie den Flug der großen stahlblauen Libellen über dem Wasser und den der Schwalben hoch oben am wolkenlosen Himmel.

»Du arbeitest zu viel, das ist nicht gut für dich.«

»Ich weiß, aber im Moment geht es nun mal nicht anders. Wir müssen dringend neue Klienten anwerben – deshalb hat Angus mich schließlich eingestellt. Entspannen kann ich mich an Weihnachten.«

»An Weihnachten?! Wenn du dann noch lebst! Wirklich, Schatz, ich mach mir ernsthaft Sorgen.«

»Ach, Mum, du machst dir doch immer Sorgen!« Flora schmunzelte. »Wenn es nichts mehr gäbe, worüber du dir Sorgen machen könntest, würdest du dir darüber Sorgen machen.« Sie wechselte das Thema. »Wann kommt Dad zurück?«

»Ich hab ihm gesagt, dass es um halb eins Mittagessen gibt.« Ihre Mutter warf Flora einen zweifelnden Blick zu. »Das heißt, er wird nicht vor eins auftauchen.«

»Und wann gibt es wirklich Mittagessen?«

»Um zwei.«

Flora lachte. Ihr Vater war bekannt dafür, dass er sich ständig verspätete. Das hatte er schon immer getan: bei seiner Hochzeit (ein geplatzter Reifen am Aston Martin), bei Freddies Geburt (der dichte Verkehr in Mayfair), bei Floras Geburt (der Hund hatte sich im Hyde Park von der Leine gerissen, und der Notarzt hatte nicht so lange warten können), ja sogar bei der Beerdigung seines Bruders (die Straße nach Marlborough war wegen eines Bauernmarkts gesperrt gewesen). Nur zur Arbeit war er nie zu spät gekommen, kein einziges Mal in fast vierzig Jahren. Er war Chefauktionator bei Christie’s gewesen, von den späten Achtzigerjahren, bis er vor ein paar Jahren in den Ruhestand gegangen war. Dabei hatten die Auktionen, bei denen ihr Vater den Hammer geschwungen hatte, mehr an ausgelassene Partys erinnert. Er war für seine witzigen Kommentare bekannt gewesen, mit denen er die Laune im Saal gehoben und in der Folge nicht selten Rekordpreise erzielt hatte.

Aber das Mittagessen konnte natürlich warten, wie die Familie aus leidvoller Erfahrung wusste. Zweifellos würde er sich um halb eins noch irgendwo am sechzehnten Loch abmühen, obwohl er sich vorgenommen hatte, seine Frau – die er abgöttisch liebte – nicht zu enttäuschen.

»Freddie kommt mal wieder nicht vor zwölf aus den Federn, was?«, bemerkte Flora und nippte an ihrem Tee.

Eigentlich war es sogar schon Viertel nach zwölf, auch wenn Floras unausgeschlafener Körper sich in den frühen Morgenstunden glaubte.

»Nein, wohl nicht.«

Flora bettete ihren Kopf an die Teakholzlehne der Liege und blickte ihre Mutter von der Seite an.

»Was ist denn mit ihm?«, erkundigte sie sich.

»Nichts.«

»Mum, diesen Tonfall kenne ich doch. Was ist los?«

Die Mutter schaute Flora abwesend an. Offenbar war sie mit den Gedanken ganz woanders.

»Er ist so schrecklich dünn geworden.«

»Er war doch immer dünn.«

»Ja, aber er hat noch mehr abgenommen. Ich glaube, er isst nicht richtig.«

»Nein, sogar ganz bestimmt nicht!« Flora stöhnte und begutachtete ihre sorgfältig pedikürten Zehen. Der Nagellack war schon drei Wochen drauf und hielt immer noch. »Wir reden hier von dem Mann, der behauptet, Skorbut vorbeugen zu wollen, indem er sich von Kartoffelchips ernährt!«, witzelte sie.

Doch ihre Mutter lachte nicht. Ihr Blick war auf den weitläufigen grünen Rasen gerichtet.

»Ich glaube, da stimmt was nicht.«

Flora schnaubte. »Das glaubst du doch immer«, sagte sie wegwerfend, doch dann bemerkte sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter. »Mum, das Einzige, was Freddie fehlt, ist Aggie. Ich wette, er vermisst sie schrecklich. Er hat endlich kapiert, was für ein Riesenfehler es war, sich von ihr zu trennen. Mehr ist da nicht, glaub mir.« Sie ließ einen Fuß von der Liege herabhängen und genoss die Sonnenstrahlen auf der Haut. »Aggie ist – war – das Beste, was ihm passieren konnte.«

»Aber sie trifft sich angeblich bereits mit einem anderen.«

Flora öffnete ein Auge. »Woher weißt du das?«

»Ich hab eben meine Kontakte. Eure Generation hat den Kaffeeklatsch schließlich nicht erfunden.« Ein schmerzhafter Ausdruck huschte über das Gesicht ihrer Mutter. »Dieser dumme Junge.«

Flora legte sich auf die Seite und zog die Beine an. »Natürlich lässt sie ihn jetzt eine Weile zappeln. Aber sie wird ihn schon wieder zurücknehmen, ganz sicher.«

Ihre Mutter presste die Lippen zusammen. Das tat sie immer, wenn sie besorgt war. So hatte sie bei Floras Matheprüfung ausgesehen, als ihr Vater den Helikopter-Führerschein gemacht hatte, und natürlich auch, als Freddie verkündet hatte, am Marathon des Sables teilnehmen zu wollen.

»Na, hoffentlich hast du recht.«

Beide schwiegen. In der Stille war nichts zu hören außer dem Blättern der Zeitschrift, dem Summen der Bienen in den Hortensien, dem Zwitschern der Amseln in der großen Eiche und dem dumpfen Aufschlag von Labrador Bollys Schwanz, wenn Flora ihre Hand über die Liege hängen ließ und ihn streichelte.

Schließlich klappte ihre Mutter die Zeitschrift zu und schaute Flora an.

»Und du? Was gibt es Neues?«, erkundigte sie sich gespielt munter. »Und ich meine nicht die Arbeit. Triffst du dich mit jemandem?«

Flora warf ihr einen Seitenblick zu, ohne dabei den Kopf zu bewegen. »Nein. Keine Zeit.«

»Liebling, du musst dir aber die Zeit nehmen!« Ihre Mutter unterdrückte einen Seufzer. »Wie willst du denn jemanden kennenlernen, wenn du dein ganzes Leben in irgendwelchen Lagerhallen, Kellern oder Galerien zubringst und ständig im Flugzeug unterwegs bist?«

»Mum, ich lerne jede Menge Leute kennen. Nur eben keinen Mann, der …« Sie stockte, suchte nach dem treffenden Ausdruck.

»Niemand Besonderen?«

»Niemanden, der irgendwie anders ist, wollte ich eigentlich sagen. Aber das ist wohl dasselbe.«

»Anders als was?«

Flora zuckte mit den Schultern, doch eigentlich wusste sie genau, was sie meinte. In ihrem Beruf begegnete sie vielen Männern: Kunsthändlern, Galeriebesitzern, Sammlern, Historikern, Restauratoren … und natürlich ihren Kunden, doch mit denen würde sie sich selbstverständlich niemals einlassen, es gab schließlich Grenzen. Letztendlich lief es jedoch immer auf zwei Typen von Männern hinaus. Männer wie ihren Chef, Angus, die eine Oxbridge-Erziehung genossen hatten und über die entsprechenden Kontakte verfügten: gepflegt, elitär, in Maßanzüge gekleidet. Und Männer wie ihren Vater: gebildet und exzentrisch, überlebensgroße Persönlichkeiten, dabei aber lebensfremd und hoffnungslos unpraktisch. Doch Flora wünschte sich jemanden mit etwas mehr Kanten.

»Du bist so eine schöne junge Frau. Ich begreife nicht, wieso dich nicht schon längst einer genommen hat.«

»Mum!« Flora lachte. »Ich bin doch kein Joghurt mit Verfallsdatum.«

»Doch, natürlich, Schatz. So wie alle Frauen. Etwas anderes anzunehmen wäre naiv.«

Diesmal war Flora diejenige, der ein Seufzer entschlüpfte. Wenn ihre Mutter nur nicht immer auf diesem Thema herumreiten würde!

»Mum, ich kann dir versichern, dass ich mit meinem Leben völlig zufrieden bin, und zwar so, wie es jetzt ist. So was lässt sich nicht erzwingen. Es kommt, wenn es kommt.«

Beide schwiegen, es war eine Art Waffenstillstand.

Floras Blick fiel auf ein paar Amseln, die auf der Suche nach Würmern über den Rasen hüpften. Um Bolly musste man sich mittlerweile keine Gedanken mehr machen, seine Jagdzeit war vorbei. Mittlerweile hatte er Arthritis und lag am liebsten faul im Schatten.

Sie beschloss, das Thema zu wechseln.

»Sind die Langusten alle im Topf?«, erkundigte sie sich.

»Ja, schön rosa und auf den Punkt gegart, so wie es sein soll«, antwortete ihre Mutter mit sichtlicher Befriedigung. Nicht nur ihr Modegeschmack war unfehlbar, sie war auch eine begnadete Köchin. »Zum Nachtisch habe ich Käsekuchen gebacken, den mag dein Bruder am liebsten.«

»Ah, gut, wenn ihn das nicht aus dem Bett holt … Ansonsten lass ich einen Knallfrosch vor seinem Zimmer hochgehen.«

Ihre Mutter verzog das Gesicht und lachte. In diesem Moment war in der Auffahrt das Aufspritzen von Kies zu hören. Flora drehte sich um und sah den Wagen ihres Vaters mit offenem Verdeck heranbrausen. Das weiße Haar flatterte im Fahrtwind, und aus den Lautsprechern des Jaguars XK8 dröhnte Fleetwood Mac.

»Nicht zu fassen! Er ist sogar mal pünktlich«, rief Flora überrascht.

»Ja, aber er rast, als ob er wieder mal zu spät dran wäre«, bemerkte ihre Mutter kopfschüttelnd. Sie schwang die pedikürten Füße von der Liege, stand auf und schlüpfte in ihre weißen Ledersandalen. »Der wird mir noch den Rittersporn ruinieren. Wofür hält er sich? Für Sterling Moss?«

Seufzend nahm sie Flora die leere Teetasse aus der Hand und schritt über den Rasen, um sich zur Abwechslung mal um ihren Mann zu sorgen.

Vorbei war es mit der trägen Sommerruhe. Als ihr Vater eine halbe Stunde später mit roten Backen und einem Bärenhunger aus der Dusche kam, plärrte Musik aus dem Radio. Im Flur und auf der Treppe hatte er wieder einmal die punktförmigen Spuren seiner erdverkrusteten Golfschuhe hinterlassen.

»Hallo, Paps!«

Flora, die auf der Anrichte in der Küche saß und die Füße in das große Spülbecken gestellt hatte, strahlte ihren Vater an. Sie mochte diesen etwas ausgefallenen Sitzplatz, seit sie mit acht Jahren in die Brennnesseln gefallen war und ihre Mutter die schmerzenden Füße hinterher in Eiswasser gekühlt hatte. Sie machte sich auf die stürmische Begrüßung ihres Vaters gefasst, der wie immer ihr Gesicht in beide Hände nahm, sodass die Welt nur noch gedämpft an ihre Ohren drang, und ihr einen dicken Kuss auf die Stirn gab.

»Wie war’s beim Golfen?«, erkundigte sie sich.

Das war offenbar die falsche Frage, denn ihr Vater verzog schmerzlich das Gesicht und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

»Schrecklich, einfach schrecklich!«, jammerte er. »Ich hätte den Ball genauso gut mit einem Laubbläser spielen können! Irgendwas stimmt nicht mit mir, ich weiß auch nicht.«

»Aber ich weiß es«, behauptete ihre Mutter, während sie mit der Schere ein paar Rosmarinzweige aus einem der Kräutertöpfe schnitt, die auf dem Fensterbrett standen. Dabei fiel ihr Blick in den Garten, wo ein Eichhörnchen auf der Suche nach Eicheln ihren Lobelien ein wenig zu nahe kam. Sie klopfte mit den Fingerknöcheln ans Fenster, und das Eichhörnchen flitzte am Stamm einer Eiche hinauf. »Du hättest den Maury gestern Abend nicht mehr aufmachen sollen; das war definitiv ein Glas zu viel.«

Ihren Worten folgte ein entsetztes Schweigen.

»Aber es gab Feigen!«, verteidigte Floras Vater sich schließlich, als ob der Verzehr von Feigen ohne die Granatapfelnote eines Maurys undenkbar wäre.

»Du weißt, was ich meine.« Ihre Mutter warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Während sie sich wieder dem Ofen zuwandte und, die Hände bis zu den schlanken Oberarmen in unförmigen Ofenhandschuhen, das Tablett mit dem Olivenbrot aus dem Backrohr nahm, versuchte er sie zu umarmen. »Der Pouilly-Fumé hätte völlig gereicht«, sagte sie ungerührt. Dann richtete sie sich auf, drückte ihm das Tablett in die Hände und streute den frischen Rosmarin über das duftende Weißbrot. »Bring das bitte nach draußen, ja?«

Flora musste kichern, als sie sah, wie betrübt ihr Vater dreinblickte, während er tat, wie ihm geheißen. Sie wusste, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn seine Frau sich nicht ganz so viele Sorgen um den Zustand seiner Leber gemacht hätte.

Armer Daddy! Gestern der Wein, heute die verdreckte Diele und die Raserei mit dem Sportwagen … er hatte etwas gutzumachen.

Ihre Mutter richtete die noch warmen Langusten auf dem Salat an, und Flora nutze die Gelegenheit, um sich ein Stückchen Avocado zu stibitzen. Als ihre Mutter das sah, wollte sie ihr zuerst einen Klaps auf die Hand geben, doch dann überlegte sie es sich anders und gab ihr stattdessen noch ein Stück.

»Wir müssen dich aufpäppeln. Und jetzt sag bitte deinem Bruder Bescheid, dass es Essen gibt, ja?« Sie hob die große Servierplatte an. »Und bring nachher noch die Servietten und die Blumen mit raus.«

»Jawohl, Ma’am!« Grinsend knallte Flora die Hacken zusammen.

Ihre Mutter konnte nur den Kopf schütteln und seufzen, während sie sich mit der Platte auf den Weg nach draußen machte.

Flora sprang von der Anrichte und lief hinaus in die Diele.

»He, Ratfink!«, brüllte sie so laut, wie sie konnte, nach oben. »Komm, es gibt Essen! Oder soll ich die Armee schicken, um dich runterzuholen?«

»Wenn ich gewollt hätte, dass die ganze Nachbarschaft erfährt, dass es bei uns Mittagessen gibt, dann hätte ich sie zu uns eingeladen«, bemerkte ihre Mutter trocken, als Flora mit den lachsrosa Servietten und einem Milchkrug voller Duftwicken auf der Terrasse erschien.

»Na, jedenfalls ist er jetzt wach.« Flora setzte sich schmunzelnd neben ihren Vater, stürzte sich hungrig auf eine Scheibe von dem noch warmen Weißbrot und biss hinein.

Ihr Vater verteilte mit sichtlichem Widerwillen das Limonenwasser, das ihm seine Frau als geeigneten Ersatz für eine Sektschorle angepriesen hatte. Flora nahm einen Schluck von der eisgekühlten Flüssigkeit und schloss wohlig die Augen. Sie konnte spüren, wie sich Kondenswasser auf ihrem Glas bildete, das ihre Fingerspitzen benetzte. Dazu die träge Hitze des Sommers, die wie eine sanfte Berührung auf ihrer Haut lag …

Sie brauchte die Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, dass ihr Bruder endlich erschienen war. Sie hatte gehört, wie die Schwelle geknarrt hatte, als er auf die Terrasse hinausgetreten war, ebenso wie das Geräusch, das die aufschwingende Terrassentür gemacht hatte, als sie gegen die Wand gestoßen war. Ihren scharfen Ohren hatte Flora auch den Spitznamen zu verdanken, den sie von Freddie bekommen hatte: Bat Ears, Fledermausohr. Über die Jahre war daraus Batty geworden. Im Gegenzug nannte sie ihren Bruder Ratfink, Scheißkerl, oder kurz Ratty.

Es lagen nur knapp zwei Jahre zwischen den Geschwistern, und seit dem Tag, an dem ihre Mutter mit Baby Flora aus dem Krankenhaus heimgekehrt war, waren sie unzertrennlich. In ihrer Kindheit war Freddie nachts immer zu ihr ins Bettchen geklettert und hatte sein Lieblingsschmusetier mit ihr geteilt. Von ihrem ersten Schultag an hatte er auf sie aufgepasst und sie beschützt, und er hatte ihr sonntags beim Zeitungsaustragen geholfen, wenn die Ausgabe wegen der vielen Werbeprospekte mal wieder besonders dick und schwer ausgefallen war. (Ihr Vater hatte darauf bestanden, dass sie sich ihr Taschengeld – zumindest teilweise – selbst verdienten.) Niemals hatte er sie verraten, nicht einmal, als sich das Schmetterlings-Tattoo an ihrer Hüfte entzündet hatte. Er hatte jedem seiner Freunde gedroht, der versuchte, sie anzumachen, und nahm ihre Liebhaber schärfer unter die Lupe als ihr Vater.

»Ja, lass dir nur Zeit, Ratty«, sagte sie grinsend und schlug langsam die Augen auf. »Wir verhungern hier, und du – ach du Scheiße!«

»Flossie, nicht in diesem Ton!«, schimpfte ihre Mutter.

Aber Flora konnte kaum den Blick von ihrem Bruder abwenden – von ihrem schlaksigen, langgliedrigen, sommersprossigen Bruder, mit seinem zerzausten hellblonden Haarschopf. (Einmal hatten sie versucht, seine Sommersprossen zu zählen, indem sie mit einem schwarzen Filzstift Verbindungslinien gezogen hatten.) Aber offenbar hatte er seit ihrem letzten Wiedersehen nicht nur sein typisches schiefes Grinsen verloren, das ihm so manche Strafarbeit erspart hatte, sondern auch mindestens acht Kilo Körpergewicht.

Freddie zeigte mit dem Finger auf seine Schwester, die sich erschrocken aufgerichtet hatte.

»Und du? Bist noch genauso potthässlich wie früher«, witzelte er. »Finger weg vom Büfett!«

Aber diesmal blieb Flora das Lachen im Hals stecken – und ihren Eltern ebenso.

»Zur Hölle, was ist denn mit dir passiert?«, fragte sie entsetzt.

»Flora, nicht in …«, begann ihre Mutter abermals, aber Flora bemerkte aus den Augenwinkeln, dass ihr Vater sie mit einer Handbewegung zum Verstummen brachte.

»Nichts«, antwortete Freddie achselzuckend. »Beruhig dich mal.«

»Aber sieh dich doch an! Du bist klapperdürr!« Flora musste fast lachen über den Versuch ihres Bruders, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Dabei war es alles andere als lustig.

»Und du? Siehst auch nicht besser aus.« Freddie setzte sich an den Tisch. Er nahm einen Schluck Limonenwasser und verzog das Gesicht. Sein Blick huschte zu ihrem Vater, der hilflos mit den Schultern zuckte.

»Mum, sag du’s ihm«, befahl Flora.

»Hab ich doch schon, Schätzchen, und dir doch auch vorhin.« Sie häufte ihrem Sohn eine besonders große Portion Salat auf den Teller. »Was glaubst du, wieso ich extra ein Kilo Langusten mehr bestellt habe?«

Freddie musterte seinen Teller, als ob ihm gleich übel werden würde. Seine Gabel verharrte unschlüssig über dem Essen.

»Du siehst furchtbar aus.« Flora stützte die Ellbogen auf den Tisch und begutachtete ihren Bruder. Die Veränderung in seinem Äußeren war so erschreckend, dass man nicht einfach darüber hinweggehen konnte. Flora kannte ihren Bruder besser als jeden anderen Menschen. »Was ist bloß los mit dir?«

Freddie machte den Mund auf, brachte aber kein Wort hervor. Offenbar wollte die Sprache nicht heraus und das Essen nicht hinein. Er konnte nur hilflos mit den Achseln zucken.

Stille trat ein. Jetzt machte sich die Familie ernsthaft Sorgen. Denn selbst wenn Freddie mal keinen Appetit hatte – reden konnte er normalerweise immer.

Flora überlegte fieberhaft. Ob er mitbekommen hatte, dass sich Aggie mit einem anderen traf? Hatte ihn das derart aus der Bahn geworfen?

Aber für Fragen blieb keine Zeit. Freddie schob abrupt seinen Stuhl zurück, der kratzend über die Steinplatten fuhr, dann stakste er mit schwingenden Armen ins Haus zurück. Beinahe wäre er gerannt.

Der Rest der Familie blickte ihm erschüttert nach.

»Ihr beiden versteht euch doch so gut. Hat er nicht wenigstens dir gegenüber etwas erwähnt?« Ihre Mutter beugte sich über den Tisch zu Flora hinüber. »Weißt du nicht, wieso er so ist?«

Flora schüttelte den Kopf, den Blick dorthin gerichtet, wo Freddie verschwunden war, als befände sich dort ein ausgefranstes Loch in der Atmosphäre.

»Ich geh ihm nach.« Ihr Vater warf seine Serviette auf den Tisch und wollte aufstehen, aber Flora legte die Hand auf seinen Arm.

»Nicht, überlass das mir.«

Sie erhob sich und lief ins schattige Haus. Der alte Holzboden knarrte unter ihren Füßen, und der Duft von Jasmin und Geißblatt, dessen Ranken durch die offenen Fenster hereinspitzten, hing im Raum.

Flora lief leichtfüßig, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und streifte dabei mit den Fingerspitzen über die knubbeligen alten Wände. Kurz schaute sie in Freddies Zimmer, obwohl sie bereits wusste, dass sie ihn dort nicht finden würde. Noch eine Treppe weiter, hinauf unters Dach, wo sich das frühere Au-pair-Zimmer befand. Auf dem Bett lag eine kaputte Uhr, an den kleinen Giebelfenstern flatterten karierte Vorhänge, und die Wände waren mit einer türkisfarbenen Toile-de-Jouy-Tapete ausgekleidet. Freddie und sie hatten sich nie davon abhalten lassen, aufs Dach zu klettern – nicht einmal, wenn eins der schwedischen oder deutschen Au-pair-Mädchen, die auf sie aufpassen sollten, dort geschlafen hatte.

Sie blieb vor der Wand stehen, in der auf halber Höhe eine Luke zum Dach hinaufführte. Früher war es ihnen ausdrücklich verboten gewesen, dort hinaufzuklettern, doch Freddie und sie hatte das nie abgeschreckt, ihr Lieblingsversteck aufzusuchen.

Flora hievte sich durch die Luke und gelangte auf eine ebene kleine Dachfläche, die zwischen Giebeln verborgen lag und von unten nicht einsehbar war. Und dort saß Freddie. Offenbar war er nicht überrascht, sie zu sehen. Flora huschte, aus reiner Gewohnheit, geduckt zu ihm hin.

Früher hatten sie immer hier oben in der Sonne gelegen, hier hatten sie auch ihre erste Zigarette geraucht. Nur Alkohol hatten sie nie mit raufgebracht, weil Freddie das nicht wollte. Alkohol und große Höhen vertrugen sich einfach nicht, hatte er gemeint.

Flora setzte sich dicht neben ihren Bruder und lehnte sich an ihn.

»Was ist denn? Jetzt erzähl schon.«

Normalerweise lagen sie auf dem Rücken und starrten zum Himmel oder zum Mond hinauf, doch heute saß Freddie zusammengekauert da, die Knie an die Brust gezogen, wie ein zusammengerollter Käfer.

»Ich kann nicht.«

Er schüttelte den Kopf und bestätigte damit, was Flora und ihre Mutter bereits vermuteten: Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht.

»Jetzt komm schon!« Besorgt packte sie Freddies Arm. »Ich bin auf deiner Seite, das weißt du doch. Was immer es ist, du kannst es mir sagen.«

Er warf ihr einen Seitenblick zu und schüttelte den Kopf.

»Nein, das nicht, glaub mir.«

»Freddie, du kannst mir alles sagen! Ich würde nie an dir zweifeln. Du bist mein großer Bruder, und ich hab dich lieb.«

Er ließ den Kopf hängen und ballte die Hände zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervortraten. Flora erschrak.

»Hast du deshalb dieses Familientreffen einberufen?« Flora hatte Himmel und Hölle in Bewegung setzen müssen, um sich freimachen und hierherkommen zu können. Es war ungewöhnlich genug, dass ihr Bruder darum bat.

»Ich dachte, ich könnte das. Ich dachte, ich könnte es euch sagen. Weil’s nun mal sein muss …«

»Das kannst du doch auch«, flüsterte Flora. »Ehrlich.«

»Kann ich nicht.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich euch da unten hab sitzen sehen, als ob nichts wäre. Du bist wie immer einfach perfekt und lieb und sarkastisch, Dad raubeinig, und Mum macht – auch wie immer – alles so schön für uns und sorgt sich wegen allem.« Er hielt inne. »Aber jetzt hat sie tatsächlich Grund, sich Sorgen zu machen. Ich hab’s versaut, Flora.«

»Versaut? Was meinst du?«

»Uns. Den Ruf der Familie. Ich kann es kaum ertragen, mir vorzustellen, wie ihr mich ansehen werdet, wenn ihr’s erst wisst.«

Schweigend musterte Flora ihren Bruder, der sich wieder in sein Schneckenhaus zurückzuziehen schien.

»Was hast du angestellt, Freddie? Komm, du musst es mir sagen.« Sie packte ihn fester. »Du kommst hier erst wieder runter, wenn du es mir erzählt hast.«

Ein bebender Atemzug. »Es ist eine Lüge, das musst du mir glauben.«

»Natürlich glaub ich dir, wenn du das sagst, Freddie. Das weißt du doch.«

»Du hast ja noch gar keine Ahnung, worum es geht.«

»Nein. Aber ich kenne dich, und ich halte zu dir. Ich werde immer zu dir halten, egal worum es geht.«

Er nickte, ließ den Kopf hängen und die Tränen fließen. Dann begann er zu reden …

2. Kapitel

London, eine Woche später

Der Auktionssaal war überfüllt und alle Stühle besetzt. Hinten drängten sich jene, die keinen Sitzplatz mehr ergattert hatten. Man lachte und unterhielt sich, man schaute sich, den Katalog in der Hand, im Saal um. Wer war gekommen? Oder vielmehr: Wer nicht?

Auf einer Seite des Raums erstreckten sich lange Tische, hinter denen sich das Personal von Sotheby’s bereitmachte, die Gebote der Interessenten entgegenzunehmen, die telefonisch oder online mitbieten wollten.

Flora rückte sich auf ihrem Stuhl zurecht. Das Paddel mit ihrer Bieternummer lag in ihrem Schoß, halb verborgen zwischen den Falten ihres blassrosa Seidenrocks. Flora beteiligte sich vor einer Auktion nie an den Unterhaltungen um sie herum. Selbst wenn man da den einen oder anderen Kontakt hätte knüpfen können, hielt sie sich lieber im Hintergrund und beobachtete. Networking funktionierte ihrer Meinung nach ohnehin am besten in einem fabelhaften Kleid und mit einem Cocktail in der Hand.

Geduldig sah sie zu, wie Peter Doigs Ölgemälde von behandschuhten Portiers hereingefahren wurde. Erst danach kam die Marilyn von Andy Warhol, wegen der sie hier war. Dass ihr Chef Angus ihr ungefähr alle drei Minuten eine Textnachricht schickte, hatte allerdings einen anderen Grund, deshalb ignorierte sie das Summen ihres Handys in der Handtasche. Sie musste nicht wissen, wo genau er im Verkehr feststeckte. Wenn er schon unbedingt dabei sein wollte, wenn dieses Triptychon von Francis Bacon versteigert wurde, hätte er nicht einen Flug von New York nehmen sollen, der erst vierzig Minuten vor Beginn dieser Abendveranstaltung landete.

Flora stieß irritiert die Luft aus. Wieso musste er immer so einen Wirbel machen? Angus war ein regelrechter Adrenalinjunkie, eine Versteigerung ohne Drama war für ihn kein echter Erfolg.

Ein Mann mit gerötetem Gesicht und einer roten Krawatte, auf der Affen abgebildet waren, die auf Teetassen tanzten – aha, von Hermès also –, fing Floras Blick ein und wies mit hochgezogenen Augenbrauen auf den leeren Stuhl neben ihr, dem einzigen, der noch unbesetzt war. Flora schüttelte höflich, aber bestimmt den Kopf, tippte auf ihr uhrenloses Handgelenk und verdrehte die Augen. Der Mann verstand, wandte sich mit gereizt zusammengepressten Lippen ab und stellte sich wieder nach hinten.

Flora strich ihr langes blondes Haar zurück und fächelte sich mit ihrem Paddel frische Luft zu. Es war ein schwüler Abend, man rechnete mit Gewittern. Bereits bei ihrer Ankunft hatte sich etwas am Himmel zusammengebraut. Flora hoffte, rechtzeitig zu Hause zu sein, bevor sich die Schleusen öffneten. Sie hatte keine Zeit gehabt, im Büro vorbeizuschauen, um ihre Jacke zu holen, war direkt von einem Termin hierhergeeilt. In diesem Rock, mit der weißen Seidenbluse und ihren hochhackigen Riemchensandalen wollte sie lieber nicht in ein Unwetter geraten.

Vorne ging abermals die Tür auf, und der Warhol wurde hereingerollt. Mit einem Mal war die Atmosphäre so angespannt wie ein Stück Stoff in einem Webstuhl. Flora blieb äußerlich ruhig, doch auch ihr Puls beschleunigte sich. Ein Raunen ging durch den Saal, viele lächelten erwartungsvoll. Dieser Siebdruck der Marilyn war in düsteren Farben gehalten, ein rauchiges Schwarz mit einem Hauch von Pink, es handelte sich um das Negativ der ursprünglichen Aufnahme. Bekannter waren die farbigen Drucke Warhols, zu deren Besitzern die größten Stars gehörten. Aber die vorliegende Version war ideal für Floras neueste Klienten, ein junges Ehepaar aus Dubai, das nach London gezogen war und sich im noblen Mayfair niedergelassen hatte. Bereits seit achtzehn Monaten kümmerte sich Flora intensiv um das Paar, hatte ihren Geschmack gebildet und sie in diverse Museen und Galerien geführt, darunter Kunstmessen in Maastricht und Palm Beach. Einige ihrer Käufe entstammten Privatsammlungen (Chatsworth und Dubai), andere hatten sie bei öffentlichen Auktionen in New York, Zürich und Los Angeles erstanden. Inzwischen verfügten die beiden über eine kleine, aber feine Sammlung moderner Kunst im Wert von über elf Millionen Pfund. Flora war heute Abend hier, um für ihre Klienten die Marilyn zu ersteigern. Das junge Paar wollte sich den Druck ins Schlafzimmer, übers Bett, hängen – allerdings für den richtigen Preis. Die Frau hatte in Erwartung des Gemäldes ihre Dekorateure bereits angewiesen, die Wände mit Blattgold auszukleiden.

Giles, der Auktionator, schob seine Unterlagen zusammen und blickte auf. Flora kannte ihn von der Uni. Sie hatte ein – sehr – kurzes Verhältnis mit ihm gehabt, deshalb wusste sie, dass er einen ziemlich zweifelhaften Hosengeschmack und eine Schwäche für Spanking hatte.

Im Saal trat erwartungsvolle Stille ein. Flora machte sich bereit.

»Ladys und Gentlemen, wir kommen jetzt zu Stück zwölf: aus der Serie ›Reversals‹ von Andy Warhol, ein Negativ-Print der Marilyn Monroe, Acryl und Siebdruck, schwarz-pink, entstanden zwischen 1979 und 1986, ein Jahr vor dem viel zu frühen Ableben des Künstlers.« Die sonore Stimme des Mannes füllte den Saal, aber Flora konnte nur daran denken, wie er ihr damals, schluchzend, Sprachnachrichten hinterlassen und sie angefleht hatte, sie möge ihn nicht verlassen. »Ungerahmt …«

Flora hörte aufmerksam zu, dabei wusste sie bereits genau, was jetzt kam. Sie hatte Herkunft und Zustand des Gemäldes zuvor sorgfältig geprüft, war aber nicht beunruhigt von den feinen Haarrissen an den Ecken, wo die Leinwand über den Rahmen gespannt war.

Flora konzentrierte sich so sehr, dass sie zunächst gar nicht mitbekam, wie sich Angus neben sie setzte. Seine rotblonden Locken kringelten sich schweißfeucht, seine Pausbacken waren rosig angelaufen, und er keuchte, als ob er den ganzen Weg vom Flughafen hierher gelaufen wäre. Immerhin hatte er es gerade noch geschafft, obwohl man ihm ansah, wie gestresst er war.

»Wie läuft’s?«, flüsterte er vernehmlich und lockerte seine Krawatte. Man hatte inzwischen mit dem Bieten begonnen.

»Gut.« Flora hielt den Blick starr nach vorne gerichtet. Das Geschehen im Saal registrierte sie nur aus den Augenwinkeln und ohne dabei den Kopf zu bewegen. Dennoch entging ihr nichts. Nicht diejenigen, die ihr Interesse am Gemälde offen zeigten. Nicht, wer neben wem saß und wer wen repräsentierte. Nicht, wer stumm dasaß und sich nicht rührte, wer sich das Gemälde im Katalog angestrichen oder die Seite umgeknickt hatte … Es war kein Zufall, dass sie eine ausgezeichnete Pokerspielerin war, vor allem bei hohen Einsätzen.

»Ich dachte …«

»Nicht reden«, murmelte sie.

Sie behielt einen Mann im grauen Anzug im Auge. Er saß ihr schräg gegenüber in einer Ecke und hatte den Arm lässig über die Stuhllehne gelegt, die Beine etwas seitlich angewinkelt. Gleich zu Anfang hatte er ein Gebot abgegeben und sich dann nicht mehr beteiligt, aber Flora konnte an seiner Körpersprache erkennen, dass er keineswegs draußen war.

Sie hatte ihn noch nie gesehen. Ein Kunsthändler war er nicht und, soweit sie wusste, auch kein Sammler, denn sie kannte alle wichtigen Player in diesem hochkarätigen Segment der Branche. Vor sechs Jahren hatte sie ihren Abschluss in Kunstgeschichte an der Universität von St. Andrews gemacht und danach verschiedene Anstellungen in Galerien gehabt, darunter bei Phillips, Christie’s und der Saatchi Gallery, ehe sie letztes Jahr Juniorpartner in Angus’ renommierter Kunstagentur, Beaumont’s Fine Art Agents, geworden war. Und Flora verfügte über beste Kontakte. Sie konnte fast jedem Gesicht einen Namen zuordnen, mit den meisten hatte sie schon den einen oder anderen Manhattan getrunken.

»Sorry, sorry, mach du nur dein Ding«, flüsterte Angus und lockerte mit allen zehn Fingern sein verschwitztes rotes Haar.

An den Telefonen herrschte ebenfalls reger Betrieb. Flora beobachtete das Sotheby’s-Personal beim Austausch mit den Bietern. Jene, die aufgemuntert werden mussten, um dabeizubleiben, würden schnell aufgeben, das wusste Flora. Viel interessanter waren die stillen Beobachter. Nach Floras Einschätzung gab es ohnehin nur zwei ernst zu nehmende Interessenten.

Der Typ im grauen Anzug saß noch immer fast provokant lässig auf seinem Stuhl, aber Flora konnte sehen, dass seine Halsmuskeln zuckten und er sich förmlich davon abhalten musste, die Hand zu heben und sich wieder zu beteiligen.

Ihr Blick huschte erneut zu den Telefonen, dort war nur noch ein Bieter übrig. Auch im Saal gingen immer weniger Paddels hoch, als die gebotenen Summen immer höher wurden. Das Bild entfernte sich langsam aus der Reichweite der meisten Bieter. Es war, als hätte sich eine Jacht von ihrer Vertäuung gelöst und würde nun langsam gen Horizont entschwinden.

Der Auktionator blickte sich im Saal um. Jetzt war nur noch der Telefonbieter übrig.

Gerade als Floras Blick auf den Mann im grauen Anzug fiel, nickte dieser. Also doch: Er war in den Ring zurückgekehrt.

Zufrieden über ihre korrekte Prognose, ließ Flora sich die beiden eine Weile überbieten. Der Schätzwert lag zwischen 1,2 und 1,8 Millionen Pfund, aber inzwischen war man bereits bei 1,92 Millionen angelangt. Nun jedoch ließ das Tempo merklich nach, und zwischen den Geboten traten immer längere Pausen ein. Der anwesende Bieter hatte sein Limit erreicht, das konnte Flora daran erkennen, wie er versuchte, Schultern und Nacken zu dehnen, um die Verkrampfung zu lockern. Auch blickte er sich jetzt häufiger im Saal um, um sich zu vergewissern, dass ihm niemand die Beute wegschnappen würde. Flora hatte er überhaupt nicht auf dem Radar – oder falls doch, hielt er sie nicht für eine Bedrohung.

Ein Irrtum. Deshalb hatte Angus sie angeworben. Flora stand in dem Ruf, meist zu gewinnen, dabei aber einen kühlen Kopf zu bewahren und nie mehr aufs Spiel zu setzen, als der Klient zu zahlen bereit war. Das taten nur Amateure.

Flora warf ihr Haar zurück, sie war selbstbewusst und zuversichtlich. Sie wusste, dass ihr Moment gekommen war, straffte den Rücken und hielt ihr Paddel bereit. Das Gebot lag jetzt bei 2,1 Millionen Pfund, eine Zahl, mit der sich keiner der beiden Verbliebenen wohlfühlte. Flora war selbst nicht sonderlich angetan – alles über zwei Millionen überschritt möglicherweise künftige Verkaufsgewinne. Aber Flora hatte bei ihren Recherchen sowohl das Wachstum des Kunstmarktes berücksichtigt, insbesondere im Bereich der modernen Kunst, als auch globale Faktoren wie den Schwund der chinesischen Wirtschaft. Sie war bereit, maximal bis 2,3 Millionen zu gehen, das würde immer noch eine Wertsteigerung von zwei Prozent in fünf Jahren oder sogar acht Prozent in den nächsten zehn Jahren ergeben. Ein lohnendes Geschäft. Und sie war autorisiert, eine entsprechende Entscheidung zu treffen.

Giles hob den Hammer und deutete auf den Mann im grauen Anzug. Sein Blick huschte noch einmal über die Anwesenden, um zu überprüfen, ob vielleicht doch noch ein weiteres Gebot kam – womit er allerdings nicht mehr rechnete.

»Zwei Komma eins fünf«, rief er. »Zum Ersten, zum Zweiten …«

Floras Paddel zuckte hoch. Die Leute, die in ihrer Nähe saßen und bereits geglaubt hatten, beim Fallen des Hammers applaudieren zu können, keuchten auf. Giles’ Augenbrauen hoben sich beinahe bis zum Haaransatz, und er ließ den dramatisch erhobenen Hammer wieder sinken.

»Zwei Komma zwei! Wir haben zwei Komma zwei!«, rief er aufgeregt.

Der Mann im grauen Anzug sah zu ihr herüber. Die Lässigkeit war von ihm abgefallen. Grimmig versuchte er zu erkennen, wer ihm da noch in letzter Minute in die Suppe spuckte. Flora verzog keine Miene.

Der Mann im grauen Anzug hob wütend den Arm.

»Zwei Komma zwei fünf!« Giles Blick huschte zu Flora hin, und sie nickte. »Zwei Komma drei.«

Sein Blick kehrte zu dem Mann im grauen Anzug zurück.

»Zwei Komma fünf!«, rief dieser großspurig und arrogant.

Abermals ging ein Keuchen durch den Saal, und einige schmunzelten. Das hatte gesessen!

Flora schnalzte missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf, dann lehnte sie sich wieder zurück. Sie war draußen. Ihr Limit würde sie nicht überschreiten.

Der Mann im grauen Anzug grinste höhnisch und drehte sich wieder nach vorne. Als der Hammer nun endgültig herabfiel, klatschte er sich selbst Beifall. Er hatte das Rennen gemacht.

»Schade«, sagte Angus leise. »Pech gehabt, Flora.«

In den Saal kam Bewegung.

»Ach was. Bei Christie’s Palm Beach wird nächsten Monat die Elizabeth Taylor von Warhol angeboten. Mir war sowieso nicht wohl dabei, die zwei Millionen zu überschreiten. Dieser Typ hat sich mitreißen lassen und viel zu viel bezahlt; typisch Amateur. Du bleibst noch für das Triptychon von Francis Bacon?«

»Du etwa nicht?!« Angus konnte es kaum glauben, aber Flora war bereits aufgestanden und machte Anstalten, sich an ihrem Chef vorbeizuschieben.

»Ich hab heute Abend noch was vor«, erklärte sie.

»Ein Date?«

»So was in der Art. Wir sehen uns morgen. Allerdings werde ich ein bisschen später im Büro sein. Ich hab eine Verabredung zum Frühstück, mit dem neuen Chef von Phillips, der für die Alten Meister zuständig ist.«

»Na, dann viel Spaß«, rief Angus ihr hinterher, während sie sich an höflich eingezogenen Knien vorbei zum Mittelgang schob.

»Wobei – beim Dinner oder beim Frühstück?«

»Bei beidem!«

Flora lächelte. Sie erreichte den Mittelgang zur selben Zeit wie der Mann im grauen Anzug.

»Gratuliere«, sagte sie und hielt ihm die Hand hin. »Ein wirklich schönes Stück.«

Er grinste triumphierend. »Ja, finde ich auch.«

Sie machten sich auf den Weg zum Ausgang. Flora wollte ihr Paddel zurückgeben, und der Mann im grauen Anzug musste schließlich bezahlen.

»Tja, schade, dass es bei Ihnen doch nicht ganz gereicht hat«, sagte der Mann leichthin, während sie sich durch die hinten stehende Menge schoben. »Dabei wurde es gerade erst interessant.«

Flora hätte am liebsten die Augen verdreht. Das war ganz sicher kein Profi, kein Agent oder Kunsthändler.

»So hoch wäre ich sowieso nicht gegangen. Zwei Komma drei, das war mein Limit. Sie müssen das Bild wirklich unbedingt gewollt haben.« Sie hatten die Anmeldung erreicht, und Flora händigte ihr Bieterpaddel aus.

»Zwei Komma drei?!« Der Mann im grauen Anzug sank sichtlich in sich zusammen. Seine Angeberei hatte ihn hundertfünfzigtausend Pfund mehr gekostet, als nötig gewesen wäre. Wenn er nur ein Gebot länger abgewartet und sich nicht so provoziert gefühlt hätte, weil – Gott bewahre – ihn eine Frau (und noch dazu eine so junge) zu überbieten versuchte …

Autsch. Flora presste unwillkürlich die Lippen zusammen, um sich das Grinsen zu verbeißen. Es hatte ihn schwer getroffen, das konnte man sehen.

»Wie gesagt, ein echt schönes Stück. Sie werden trotzdem was daran verdienen. Irgendwann.« Und mit einem Lächeln ging sie.

Der Mann im grauen Anzug starrte ihr mit offenem Mund hinterher, noch ganz bei dem Preis, den ihn sein Stolz gekostet hatte.

Flora verließ den Saal und ging, um ihre Sachen zu holen. Der Saal leerte sich nicht, im Gegenteil, es wurde noch voller. Sammler, Galeristen, Restauratoren, Agenten, die Büroangestellten, ja sogar die Kellner und das Barpersonal drängten sich in den großen Raum, um dabei sein zu können, wenn das Bacon-Triptychon versteigert wurde. Dann würde der Abend erst richtig losgehen. Das Anfangsgebot lag bei 12,5 Millionen Pfund.

Flora händigte soeben ihren Garderobenschein aus, als unversehens Angus angeschnauft kam. Sein Gesicht leuchtete auf.

»Gott sei Dank erwische ich dich noch«, keuchte er.

»Was gibt’s denn?« Flora zog eine Augenbraue hoch. Wenn Angus sich den Bacon entgehen ließ, musste es schon etwas ganz Besonderes sein. Schließlich war er extra deswegen aus New York angereist.

»Etwas noch Wichtigeres.«

»Wie bitte? Was könnte denn noch wichtiger sein als Bacon?«, scherzte sie. Angus ließ sich immer so leicht provozieren.

»Ich fürchte, du musst deine morgige Verabredung absagen – und auch alles, was du für den Rest der Woche geplant hast. Wir müssen morgen früh in Paris sein.«

»Weshalb?«

Er deutete auf sein Handy und ließ sie die Textnachricht selbst lesen.

»Deshalb.«

3. Kapitel

Paris

Um Viertel vor zehn erreichten sie die Rue de Rivoli, und neun Minuten später betraten sie den Salon des palastartigen Anwesens der Vermeils. Während Flora sich umsah und die Gemälde in Augenschein nahm, lief Angus nervös vor den Fenstern hin und her, ohne sein Handy auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Flora bewunderte gerade einen Canaletto, als sich die hohen, holzvertäfelten Türflügel öffneten und Madame Vermeil den Raum betrat. Flora erhob sich. Dank der in den Saum eingenähten kleinen Bleigewichte, umspielte ihr marineblaues Valentino-Kleid faltenfrei ihre schlanke Figur. Trotz der dreistündigen Anreise und des Aufbruchs im Morgengrauen wirkte sie frisch und erholt. Zweifel hatte sie lediglich, was ihre Rockstud-Flats betraf, die im Vergleich zu Madames klassisch-dezenten Chanel-Ballerinas ein wenig zu viel sein könnten.

Angus trat mit einem eingeübten Strahlen auf die Hausherrin zu und zog ihre Hand an seine Lippen.

»Lilian, Sie sehen wieder einmal hinreißend aus!«

Madame Vermeils Empfang war nicht weniger herzlich. Der Kreis der Kunstliebhaber, die sich Gemälde, wie die Vermeils sie besaßen, leisten konnten, war ziemlich überschaubar. Da war die Beziehung zum Kunsthändler des Vertrauens oftmals eine sehr persönliche, die nicht selten über Generationen gepflegt wurde. Flora sah sofort, dass es sich hier um eine solche Beziehung handelte.

Angus hatte ihr während der Zugfahrt Einblick in seine Akte gegeben, damit sie mehr über den familiären Hintergrund der Vermeils erfuhr. Sie stammten aus der Schweiz, hatten ihr Vermögen in der Telekommunikationsbranche gemacht, engagierten sich in diversen Wohltätigkeitsorganisationen und hatten enormen politischen Einfluss sowie Kontakte bis in die höchsten Kreise. Jacques Vermeil, der Hausherr, war ein angesehener Kardiologe im Ruhestand.

»Darf ich Ihnen meine neue Geschäftspartnerin vorstellen? Das ist Flora Sykes. Ich habe sie von Saatchi abgeworben, sie leitet jetzt unsere Geschäfte in Europa.«

»Sykes …«, überlegte Madame Vermeil, während sie Flora interessiert musterte.

»Ah ja. Floras Vater dürfte Ihnen bekannt sein – Hugh Sykes war Vorstand von LAPADA und davor …«

»Chefauktionator bei Christie’s«, ergänzte sie sofort. »Ja, natürlich, ich erinnere mich. Ich war damals dabei, als er van Goghs Sonnenblumen verkauft hat. Für wie viel noch mal? Fünfundzwanzig Millionen?«

»Vierundzwanzig Komma fünfundsiebzig, um genau zu sein.« Flora nickte. Sie kannte die Zahl auswendig, auch wenn sie damals noch gar nicht geboren gewesen war. Ihr Vater war danach in seinem Jaguar XK-E angebraust gekommen, dass der Kies auf die Lupinen spritzte, auf direktem Weg hinunter in den Weinkeller gelaufen, hatte die Flasche Puligny-Montrachet heraufgeholt und zusammen mit ihrer Mutter und dem Gärtner im Rosengarten angestoßen. Freddie und Flora kannten die Geschichte so gut, dass sie fast glaubten, selbst dabei gewesen zu sein.

»Niemals werde ich die Atmosphäre im Saal vergessen. Die Gebote kletterten höher und höher und höher – den Leuten stockte buchstäblich der Atem.« Madame Vermeil illustrierte ihre Worte, indem sie sich an die Kehle fasste. »So etwas hatte es noch nie gegeben, und das wird es vermutlich auch nie wieder.«

»Stimmt«, bestätigte Flora schmunzelnd. »Meine Mutter sagt, mein Vater habe danach fast einen Monat lang auf Wolken geschwebt.«

Madame Vermeil musterte die junge Frau. Sie selbst war wohl Ende fünfzig, überschlank, mit ausgeprägten Gesichtszügen, aschblondem Haar und gepflegter Kurzhaarfrisur. Der Blick aus ihren graublauen Augen huschte hierhin und dorthin, flink wie ein Fisch im Wasser. Sie verströmte diese dezente Pariser Eleganz. Zu einer schmal geschnittenen dunkelblauen Hose, die die schlanken Fesseln freiließ, trug sie eine Bluse aus taubenblauer matter Seide und um den schlanken Hals eine Perlenkette.

»Sie sind also dem Familienunternehmen beigetreten, ja? Ich nehme an, die Kunst liegt Ihnen im Blut.«

»Ja, das war irgendwie von Anfang an klar, schon seit ich mir als Kind mal Mutters bestes Limoges-Teeservice ausgeborgt habe, um mit meinen Puppen eine Teestunde zu veranstalten. Vater hätte mich ohnehin enterbt, wenn ich es gewagt hätte, stattdessen Jura zu studieren.«

»Das haben Sie also auch in Betracht gezogen?«

»Eine Weile zumindest.«

Madame Vermeils Blick kehrte zu Angus zurück. »Schönheit und Verstand, wie? Sie haben eine kluge Wahl getroffen, Angus.«

»Als ob ich das nicht wüsste!« Er lachte. »Ich habe in den letzten drei Monaten kaum ein Essen selbst bezahlt. Dauernd rufen Leute an, die ›uns‹ zum Lunch einladen wollen. Kommt mir sehr verdächtig vor …«

Madame Vermeils glockenhelles Lachen erfüllte den Raum.

»Flora, bitte sagen Sie Lilian zu mir. Kommen Sie, setzen wir uns.«

Mit wenigen, beinah lautlosen Schritten überquerte sie einen dicken Teppich. Dann legte sie einen vergilbten kleinen Umschlag auf ein Beistelltischchen und nahm auf einem Samtsofa Platz, dessen kräftiger Blauton einen lebhaften Kontrast zu dem gelben Teppich bildete.

Flora und Angus sanken auf das Sofa gegenüber. Rechts und links von ihnen standen große Vasen, aus denen eine Fülle von rosa Pfingstrosen quoll. Die Morgensonne fiel durch die hohen Fenster herein und tauchte den Raum in honiggelbes Licht.

»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, aber ich hatte noch etwas mit unserem Anwalt, Monsieur Travers, zu besprechen. Sie können sich ja vorstellen, was für eine Überraschung das für die Familie ist. Man erfährt schließlich nicht jeden Tag, dass man eine Immobilie besitzt, von deren Existenz man bis dahin gar nichts geahnt hat, non?«

»Allerdings«, musste Angus ihr beipflichten. »Ich war gestern Abend bei der Versteigerung des Bacon-Triptychons, als ich Ihre Textnachricht bekommen habe, die sofort alles andere in den Schatten gestellt hat. Ich weiß immer noch nicht, für wie viel der Bacon schließlich unter den Hammer gekommen ist.« Er blickte Flora fragend an.

»Für siebenundzwanzig Millionen«, antwortete sie.

Angus lachte ungläubig auf, wendete sich dann aber mit einem Schulterzucken wieder seiner Klientin zu.

»Egal, wen interessiert’s? Viel aufregender ist doch, was womöglich in diesem Apartment auf uns wartet!«

Madame Vermeil nickte. »Niemand außerhalb der Familie – außer natürlich Ihnen beiden – weiß darüber Bescheid. Wir möchten jede Publicity vermeiden, nicht zuletzt, weil Jacques’ Mutter die Nachricht keineswegs mit derselben Begeisterung aufgenommen hat wie wir. Um ehrlich zu sein, sie ist sehr verstimmt.« Sie wandte sich an Flora. »Ich nehme an, Angus hat Sie über die Einzelheiten informiert?«

»Ja. Ich hätte so was nicht für möglich gehalten. Die Wohnung wurde wirklich seit dreiundsiebzig Jahren nicht mehr geöffnet?«

Die Antwort bestand in einem vielsagenden Achselzucken.

»Wir haben jedenfalls erst durch den Brief davon erfahren«, ergänzte Madame Vermeil dann. »Monsieur Travers, unser Anwalt, musste seinen Urlaub abbrechen und frühzeitig zurückkommen, um sich der Angelegenheit anzunehmen. Er hat uns bestätigt, dass die Besitzurkunde für die Immobilie in seiner Kanzlei hinterlegt wurde. Allerdings scheint es einen Anhang zum Testament zu geben, in dem verfügt ist, dass die Wohnung erst nach dem Tod von Jacques’ Eltern geöffnet werden darf. Mein Schwiegervater starb während des Krieges, aber meine Schwiegermutter lebt noch, sie wohnt in Antibes.«

»Dann dürften Sie, genau genommen, noch gar nichts von der Existenz dieser Immobilie wissen?«, vergewisserte sich Angus.

»Sie sagen es. Deshalb ist Magda ja so außer sich. Sie findet, dass wir gegen den ausdrücklichen Wunsch ihres verstorbenen Mannes, François, verstoßen.«

»Ihre Schwiegermutter hat also die ganze Zeit von diesem Pariser Apartment gewusst?«, erkundigte sich Angus.

Lilian schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ja, ich glaube schon. Leider besteht sie darauf, dass zumindest wir die Wohnung auf keinen Fall betreten dürfen.«

Flora kaute nachdenklich an ihrer Unterlippe. Warum hatten Madame Vermeils Schwiegereltern dieses Apartment unbedingt geheim halten wollen? Was befand sich dort?

Madame Vermeil nahm den vergilbten kleinen Umschlag zur Hand, öffnete ihn, holte einen altmodischen gusseisernen Schlüssel hervor und hielt ihn Angus hin.

»Monsieur Travers hat mir den hier ausgehändigt. Ich fürchte, Sie werden ohne mich hingehen müssen.« Sie schmunzelte. »Meine Schwiegermutter ist zwar sehr alt, dennoch möchte man sich nicht mit ihr anlegen.«

Angus starrte den Schlüssel ein wenig perplex an und nahm ihn dann.

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie mit meinen Nachfragen nerve, aber gilt denn dieser Testamentsanhang überhaupt noch? Ich meine, jetzt, wo das Apartment sozusagen zu Lebzeiten Ihrer Schwiegermutter wiederentdeckt und geöffnet wurde? Ich möchte einfach nur sichergehen, dass wir nichts Illegales tun, Sie verstehen. Es ist mir wichtig, dass es nicht zu Unklarheiten in Bezug auf die Besitzrechte kommt, falls wir etwas Wertvolles dort finden sollten.«

Madame Vermeil lächelte. »Gewissenhaft wie immer, mein lieber Angus. Aber Monsieur Travers hat mir versichert, dass wir das Gesetz auf unserer Seite haben. Uns bleibt gar keine andere Wahl, als diese Wohnung zu betreten, nachdem dort eingebrochen wurde und man uns von deren Existenz in Kenntnis gesetzt hat. Jetzt, wo wir von der Wohnung wissen, ist der Anhang natürlich null und nichtig. Und seien wir realistisch: Meine Schwiegermutter wird nächstes Jahr hundert Jahre alt.« Sie hob vielsagend die Augenbrauen. »Es hätte ohnehin nicht mehr lange gedauert, bis wir von der Immobilie erfahren hätten.«

Lieber früher als später, schien sie damit zu sagen. Das Verhältnis zu ihrer Schwiegermutter war offenbar angespannt.

»Wenn ich fragen dürfte – wer hat denn dieses Schreiben geschickt?« Flora beugte sich interessiert vor. Sie hatte in ihrer Kindheit sämtliche Agatha-Christie-Krimis verschlungen. Ihre Schwäche für Rätsel war ebenso groß wie Angus’ Schwäche für Dramatik.

»Die Einbrecher«, antwortete Madame Vermeil und warf die Arme hoch, um ihre Verblüffung zu unterstreichen.

»Die Einbrecher haben Ihnen einen Brief geschrieben?« Flora konnte es nicht glauben. »Um Sie von ihrem Einbruch in Kenntnis zu setzen?«

Madame nickte. »Unglaublich, non?«

»Und was stand darin?«, fragte Flora verblüfft. »›Wussten Sie schon, dass Sie diese Wohnung besitzen?‹«

Madame Vermeil lachte. »Ja, so was in der Art.«

Angus fand das gar nicht lustig. »Und ist schon klar, ob etwas gestohlen wurde? Ich meine, wenn diese Leute dort herumgewühlt haben …«

Es trat eine Pause ein, in der sich Ernüchterung breitmachte.

»Das wissen wir nicht, und vielleicht werden wir es auch nie erfahren«, antwortete Madame Vermeil ernst. »Wir haben ja keine Ahnung, was sich überhaupt dort befindet – falls überhaupt etwas. Wie sollten wir?«

»Wenn ich mir vorstelle, dass dieses Apartment jahrzehntelang unangetastet geblieben ist, nur um eine Woche vor seiner Entdeckung noch ausgeplündert zu werden …« Angus stöhnte und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. Flora sah, dass er Gefallen an der Dramatik der Situation fand.

Madame streckte anmutig den Rücken durch. »Trösten Sie sich, mein lieber Angus, ich glaube kaum, dass sich dort etwas wirklich Wertvolles befindet. Mein Schwiegervater war ein kluger Mann. Wie sonst hätte er ein solches Vermögen gemacht?« Ihr flinker Rundumblick verwies auf ihre prächtige Umgebung. »Die Kunst hat ihm alles bedeutet. Er hätte wohl kaum wertvolle Kunstwerke in einem alten Apartment vergammeln lassen.«

Das musste Angus wohl oder übel einsehen, selbst wenn er sich mit der Rationalität eines solchen Arguments nicht so recht anfreunden konnte. Würde sie dort etwa nur hochpreisiger Ramsch erwarten?

»O mein lieber Angus, ich kann nur hoffen, dass meine Bitte, Sie möchten sofort herkommen, Ihre Erwartungen nicht zu sehr hochgeschraubt hat«, versuchte Madame ihren langjährigen Agenten zu beruhigen. Offensichtlich kannte sie ihn gut.

»Keineswegs! Wir helfen gerne«, versicherte er glatt und klatschte mit den Handflächen auf seine Oberschenkel. »Gut, machen wir erst mal Inventur. Mal sehen, was wir finden, falls es überhaupt etwas zu finden gibt. Anschließend melden wir uns wieder und planen die nächsten Schritte. Alles neu verpacken und an Sie übergeben oder eine Versteigerung vorbereiten – das ist ganz allein Ihre Entscheidung.«

»Ich hoffe nur, die Wohnung steht nicht vollkommen leer.« Madame Vermeil lachte verlegen auf, dann stützte sie das Kinn auf die Fingerspitzen. »Wäre das nicht schrecklich? All unsere Hoffnungen, ganz umsonst.«

Jetzt verging selbst Angus das routinierte Lächeln. So etwas wollte er sich gar nicht vorstellen!

Während der Zugfahrt hatte er herumgezappelt wie ein Kind vor der Bescherung, hatte überlegt und spekuliert, welche Schätze sich womöglich in diesem Apartment verbargen. Immerhin handelte es sich bei den Vermeils um eine reiche, renommierte Familie!

Flora wusste außerdem, dass sich Angus mit ihrem neuen New Yorker Hauptquartier in Tribeca ein wenig übernommen hatte. Sie hatte im April einen Blick in die Finanzen geworfen und festgestellt, dass die Geschäftskonten mittlerweile um zweihunderttausend Pfund überzogen waren. Er brauchte dieses Projekt und die damit einhergehende Provision, und zwar dringend.

»Das hoffe ich auch, Lilian. Das hoffe ich sehr!«

Madame Vermeil überließ den beiden für die Fahrt den Chauffeur der Familie. Das Apartment befand sich im 14. Arrondissement, in Montparnasse. Glücklicherweise war der Verkehr um die Mittagszeit nicht zu dicht. Die Sonne brannte vom Himmel, und ein Großteil der Pariser hatte die heiße Millionenstadt bereits verlassen und befand sich an kühleren Urlaubsorten, an der See oder in den Alpen.

Während die Limousine über die Place de la Concorde in Richtung Seine sauste, überprüfte Flora im Make-up-Spiegel ihr Aussehen.

»Unglaublich, dass diese Wohnung all die Jahre unentdeckt geblieben ist, oder?«, bemerkte sie und begutachtete ihre ein wenig spitz hervortretenden Wangenknochen. Es war gestern Abend spät geworden – eine nette Verabredung, aber … na ja, nett, mehr nicht. »Hat denn wirklich keiner gemerkt, dass dort nie jemand kommt oder geht?«

»Die Leute sind mit sich selbst beschäftigt«, antwortete Angus, schon wieder ganz in sein Handy vertieft. »Die kümmern sich wenig um das, was ihre Mitmenschen tun, vor allem in den Nobelvierteln. Viele Wohnung gehören reichen Ausländern irgendwo auf der Welt. Hier wird größtenteils vermietet, und die Vermieter mögen es bequem. Möglichst langfristige Verträge mit Leuten, die keinen Ärger machen. Stell dir vor, ein Bekannter von mir musste tatsächlich seine Eltern um eine Bürgschaft bitten – dabei ist er schon achtunddreißig!«

»Ja, aber wirklich keinen Mucks, dreiundsiebzig Jahre lang? Unvorstellbar.«

Angus zuckte nur mit den Schultern.

»Da fallen doch Reparaturen an, die Wartung von Wasser- oder Heizungsrohren. Oder der Strom! Wird der nicht jährlich abgelesen und die Kosten neu berechnet?«

Angus ließ sich das durch den Kopf gehen.

»Ich bezweifle, dass die Wohnung überhaupt schon Elektrizität hat«, sagte er dann. »Wenn sie tatsächlich während des Krieges aufgegeben worden ist, dann wurden die Leitungen doch sicher abgeklemmt und nicht wieder angeschlossen. Da kommt auch niemand vom Elektrizitätswerk vorbei.«

»Aber was ist mit den laufenden Kosten?«