Der Heiratsschwindler - Anny von Panhuys - E-Book

Der Heiratsschwindler E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Lotta Wendel, Monika Holn, Erna Schade – das sind nur drei Frauen von vielen, die Opfer eines skrupellosen und gefährlichen Heiratsschwindlers geworden sind. Zusammen mit Hans Wendel, der das Leben seiner Schwester Lotta an dem Betrüger rächen will, sind sie die Hauptfiguren dieses spannenden Romans. Wird es Hans Wendel und seinen Verbündeten am Ende gelingen, den Heiratsschwindler Ludwig Hammel dingfest zu machen und ins Zuchthaus wandern zu lassen? Doch dazu bedarf es einer Menge Glück, und es sind reichlich Schwierigkeiten zu überwinden und Abenteuer zu bestehen, bis am Ende die Gerechtigkeit siegt und zumindest Monika Holm ein neues Lebensglück findet – woran Hans Wendel im Übrigen nicht ganz unbeteiligt ist. Anny von Panhuys erweist sich mit „Der Heiratsschwindler" ein weiteres Mal als eine der großen Erzählerinnen auf dem Gebiet des unterhaltenden Frauenromans; eine Meisterin des Gefühls, die die Abgründe und die Verzweiflung des Herzens schildert, aber darüber nie die Hoffnung und ihre ganz besondere, weise Herzensgüte verliert.

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Anny von Panhuys

Der Heiratsschwindler

Roman

Saga

Der Heiratsschwindler

© 1952 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570227

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont www.egmont.com

Vorspiel

„Lotte, ich bitte dich, lass den Kerl laufen, er ist mir einfach widerwärtig“, sagte Hans Wendel in beschwörendem Ton zu seiner Schwester, die eben ein Stenogramm des Bruders aufgenommen.

Die Geschwister führten als Erben ihrer Eltern gemeinsam die kleine Druckerei und den Haushalt weiter und vertrugen sich ausgezeichnet, bis Lotte, die zweiunddreissig Jahre alt war, einen Herrn kennengelernt hatte, der in ihren Augen das Ideal eines Mannes verkörperte.

Seitdem hatte sie allerlei Geheimnisse vor dem Bruder, und da er vier Jahre jünger war als sie und sie ihn von je ein wenig bemutterte, wagte er sich manchmal mit seiner Kritik nicht so recht an sie heran. Vielleicht war das eine sehr törichte Scheu, aber er kam nicht ganz darüber hinweg.

So sehr er die Schwester auch liebte, war sein Urteil über sie doch dadurch nicht befangen. Er wusste, Lotte war unscheinbar, war eine „kleine graue Motte“, auch die hübschesten Kleider und Hüte vermochten das nicht zu ändern.

Lotte fuhr mit der Hand über ihr krauses rotbraunes Haar, das wirklich schön war, und sie schalt erregt: „Du sollst dich nicht in meine persönlichen Angelegenheiten mischen, Hans. Ich glaube nämlich, jeder Mensch besitzt ein Selbstbestimmungsrecht, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, noch dazu in meinem Alter. Und kraft dieses Rechtes kann ich mich verlieben, in wen ich will, und den Mann, den ich mir ausgesucht habe, auch heiraten.“

„So weit bist du schon mit diesem Menschen?“ fragte er erschreckt.

„Ja, so weit bin ich schon mit diesem Menschen!“ gab sie zu, und ihre Stimme war rauh vor Zorn.

Hans Wendel, dessen Gesicht dem der Schwester unverkennbar ähnelte, nur dass seine Züge ins Hübschere übertragen waren und seinem Haar der kupferne Glanz fehlte, sah sie nicht an.

„Liebe Lotte, wenn du schon so weit mit ihm bist, dürfte nicht mehr viel dagegen zu machen sein; jedenfalls bitte ich dich, mir endlich diesen Herrn vorzustellen. Ich bin dein Bruder, und die Geheimniskrämerei, die du um den Mann machst, mag ich nicht. Dieses spätabendliche Treffen gefällt mir nicht, wie es mich auch keineswegs begeistert, dass alles so rasch gegangen ist. Hätte ich dich nicht letzthin zufällig mit diesem Menschen getroffen, wüsste ich jetzt noch nicht, was schuld daran ist, dass du dich seit einiger Zeit so auffallend verändert hast. Ich wiederhole dir, der Mann gefällt mir nicht! Er hat etwas von einem Talmikavalier an sich, er sieht zu geleckt aus.“

Sie trumpfte auf: „Er stammt aus gutem Hause, mein lieber Hans, aus sehr gutem Hause! Man merkt, du hast nicht den richtigen Blick, um Echtes von Talmi zu unterscheiden.“ Ihre Stimme wurde weich und schwingend: „Ich habe ihn lieb, und das ist doch wohl die Hauptsache.“

Er wehrte ab: „Nein, das ist nicht die Hauptsache. Es geht vor allem darum, wes Geistes Kind er ist und wie gesagt —“

Er brach ab. Schliesslich durfte er sich gegen einen Mann, den er nicht kannte und den er nur ein einziges Mal in Gesellschaft seiner Schwester in einem Berliner Bierlokal entdeckt und beobachtet hatte, nicht zu Ungerechtigkeiten hinreissen lassen.

„Wie heisst er eigentlich?“ fragte er.

Sie antwortete gewichtig und mit einem glücklichen Lächeln: „Klaus von Tannstätten. Er ist Oberingenieur gewesen und leitet jetzt in einem Vorort Stettins ein eigenes Unternehmen. Er hat hier geschäftlich zu tun.“

Hans Wendel überlegte. Er begriff nicht, dass ein Oberingenieur, der ein eigenes Werk leitete und einen klangvollen Namen trug, dem sicher die Wahl unter den schönsten Mädchen freigestellt war, sich ausgerechnet in seine zweiunddreissigjährige Schwester verliebte. Dieser Baron von Tannstätten gehörte ausserdem zu den Männern, die den Frauen leicht gefallen. Ein sogenannter Herzensbrecher war er, gross, hübsch und von zuvorkommendem Benehmen. Ihm aber war dieser Herr von Soundso auf den ersten Blick unangenehm gewesen, geradeheraus gesagt — unausstehlich. Immerhin wollte er sich nicht zu einem Urteil über jemanden hinreissen lassen, mit dem er bisher noch kein einziges Wort gesprochen hatte.

Er fragte geradezu: „Wo hast du ihn eigentlich kennengelernt, Lotte?“

Sie lächelte vor sich hin.

„Ich sah ihn das erste Mal in einer kleinen Konditorei, in der ich manchmal eine Tasse Kaffee trinke. Er sass am Nebentisch und guckte heimlich zu mir herüber; ich merkte es bald und dachte erst, mein Hut sässe schief oder ich hätte irgend etwas Komisches an mir. Schliesslich sprach er mich an. Ach, es ist nichts Besonderes gewesen, was er sagte, aber es hat mich berührt.“

Ihre schmalen, sehr hellen Augen blickten verloren ins Weite; über ihre fahle Wangenhaut zog fliegende Röte und verjüngte das unschöne Gesicht. „Er sagte, ich solle ihm nicht böse sein und mich durch seine Blicke nicht etwa belästigt fühlen, ich hätte sehr grosse Ähnlichkeit mit seiner frühverstorbenen Schwester. Er würde durch mich so stark an sie erinnert, und er müsste mich deshalb immer wieder ansehen.“

Hans Wendel erging es jetzt nicht anders, er musste Lotte ebenfalls immer wieder ansehen. Sie schien ihm mit einem Male völlig verwandelt — in ein junges glückliches Mädchen verwandelt, das von seiner ersten Liebe schwärmt.

Er verlor den Mut zu jeder weiteren misstrauischen Bemerkung und wäre sich roh vorgekommen, wenn er noch etwas von dem, das er dachte, geäussert hätte.

Er sagte lebhaft und warmherzig: „Mich soll es bestimmt nicht stören, falls du eine Frau von Tannstätten würdest, und ich will meine Abneigung gegen den von dir geliebten Mann bekämpfen und versuchen, mich mit ihm anzufreunden; aber sorge dafür, dass ich ihm recht bald kennenlerne, Lotte. Schiebe mich nicht einfach länger beiseite, als wenn ich nicht zu dir gehörte, wo es doch um dein Lebensglück geht.“ Er legte seine Rechte auf ihre im Schoss ruhenden gefalteten Hände. „Lotte, ich wünsche dir viel, viel Glück, aber diese Heimlichkeit wäre nicht nötig gewesen. Mit der soll es nun vorbei sein.“

Sie neigte zustimmend den Kopf.

„Ja, Hans, das verspreche ich dir. Doch möchte ich erst noch einmal mit ihm allein reden. Heute abend will ich ihm sagen, dass du alles weisst. Er war eigentlich dafür, dass ich dir noch nichts verraten sollte, das bisschen gemeinsame Heimlichkeit wäre so schön. Und ich fand das auch.“

Hans grübelte verwundert, wie die Liebe den Menschen zu verändern vermochte. Lotte, die nüchterne, praktische Lotte, redete wie ein blutjunges Mädchen. Er war sehr begierig, den Mann kennenzulernen, der das zustande gebracht hatte.

Und doch hatte Lotte dem Bruder keine Andeutung davon gemacht, wie sie sonst noch mit dem Geliebten stand. Etwas hatte sie absichtlich unterschlagen. Es schien ihr auch nicht besonders wichtig. Klaus von Tannstätten hatte ihr zudem auf die Seele gebunden, zu niemandem darüber zu sprechen. Er hatte ihr erzählt, dass er in augenblickliche Geldschwierigkeiten geraten sei, da er für eine Maschine, die er gegen Barzahlung gekauft hatte, einige tausend Mark mehr hätte anlegen müssen, als er ursprünglich gerechnet habe. Sie hatte ihm daraufhin Geld angeboten, das die Eltern eigens für sie gespart, und er hatte es mit vielen herzlichen Worten angenommen. Fünftausend Mark waren es. Für zwei Wochen brauchte er es nur. Wozu also erst Hans gegenüber etwas davon zu erwähnen?

Der Bruder nickte ihr freundlich zu.

„So, Lotte, jetzt schreibe gleich die Briefe, die noch bis Mittag weg sollen, und verschreib dich nicht, olles Mädel!“

Lotte erledigte alle Büroarbeiten der kleinen Firma, kochte selbst und hielt mit Hilfe einer jungen Hausgehilfin auch den Hausstand in Ordnung.

Hans Wendel war sich klar darüber, dass Lotte ihm einmal sehr fehlen würde. Nun, wenn sie ihn verliess, wollte er ebenfalls bald heiraten, es war wohl sowieso dazu an der Zeit.

Die Druckerei befand sich in einem niedrigen Hofgebäude. Der Betrieb zählte zwanzig Mann. Im zweistöckigen Vorderhaus wohnten im ersten Stock die Geschwister, im unteren ein älteres Ehepaar. —

Am Abend des gleichen Tages sass Lotte in dem kleinen Restaurant, in dem sie sich bisher verabredet hatten, Klaus von Tannstätten gegenüber. Wohl wissend, dass ihr Haar auffallend schön war, trug Lotte einen kleinen schwarzen Filzhut, der einen grossen Teil der lockigen rotbraunen Pracht freigab.

Klaus von Tannstättens Augen hingen an ihrem Gesicht.

„Mein geliebtes Mädchen, du glaubst gar nicht, wie sehr ich an dich denke, wenn ich nicht bei dir bin. Gottlob erwiderst du meine Liebe, und wir brauchen uns vor dem endgültigen Beisammenbleiben nicht lange zu trennen. Heute wollen wir von unserer Heirat sprechen, bitte, nur davon. Du ahnst nicht, wie ich unsere Hochzeit herbeisehne.“

Sie strahlte ihn an und gestand ihm: „Mein Bruder weiss von unserer Liebe und möchte dich kennenlernen, Klaus. Und weisst du, ich will auch nicht länger Heimlichkeiten vor ihm haben, schliesslich brauchen wir beide das doch gar nicht.“

In seiner Antwort klang Verdruss:

„Hast also nicht schweigen können, Lotte! Schade, mir wäre es zunächst noch lieber gewesen.“

Er sprach nicht lauter als sonst, aber sie hatte unwillkürlich das Gefühl, als ob er sie heftig angefahren hätte.

In ihrem Gesicht spiegelte sich erschrecktes Staunen. „Mein Bruder hat uns zufällig zusammen gesehen und ...“

Er sagte sanft: „Aber, Lottemädel, du entschuldigst dich ja förmlich. Das hast du wahrhaftig nicht nötig. Ich wollte unsere Liebe noch ein kleines Weilchen geheimhalten, kein Dritter sollte unser stilles Glück stören. Aber schliesslich bedeutet ein Bruder wohl keine Störung. Wenn du willst, werde ich ihn schon morgen fragen, ob er mir seine Schwester zur Frau geben will. Schon morgen.“

Lotte Wendel lächelte heiter und entspannt. Da hatte sie sich wohl gründlich geirrt, Klaus war nicht im geringsten verstimmt oder gar auf sie erzürnt. Sie blickte ihn dankbar an.

„Du bist so lieb und gut, Klaus, und ich begreife noch immer nicht, dass gerade ich das Glück habe, von dir geliebt zu werden.“

Sie war eine einfache Natur, grosse Worte lagen ihr nicht, ja, sie waren ihr peinlich.

Er nahm ihre Hand, streichelte sie.

„Schon recht, Lottchen, ich habe dich über alles lieb, und dein Bruder wird einsehen, dass wir zusammengehören und uns keine Schwierigkeiten in den Weg legen. Ich begreife, dass es ihm schwerfallen wird, eine Schwester wie dich herzugeben.“

Sie war förmlich benommen. Soviel Glück kam über sie, so überwältigend viel Glück! Mit einem Male, als sie schon gar nicht mehr daran gedacht hatte, dass sie noch heiraten würde. Und was für einen Mann noch dazu! Einen, der Können, vornehmen Namen und blendende Erscheinung in die Waagschale zu werfen hatte.

Beseligt sass sie da, nippte ab und zu an ihrem Weinglas und sagte zu allem ja, was er vorschlug. Er versprach am übernächsten Tag, vormittags gegen elf Uhr, ihren Bruder zu besuchen. Er würde sehr pünktlich sein.

Sie sah ihn strahlend an.

„Danke schön, Klaus, dass du sofort einverstanden gewesen bist. Ich freue mich schon darauf, wenn du zu uns kommen wirst.“ Ein Sorgenfältchen schob sich zwischen ihre Brauen. „Aber, Klaus, es ist sehr einfach bei uns, sogar ein bisschen spiessbürgerlich.“

Sie fand, seine hohe, schlanke Gestalt passte nicht recht in die ein wenig verstaubte Pracht der einstigen guten Stube ihrer seligen Mutter. Sie rechnete bestimmt damit, Hans würde ihr gegenüber widerrufen, was er Hässliches über ihren Liebsten gesagt hatte. Sie grübelte: Wie könnte Klaus von Tannstätten auch nur einem einzigen Menschen widerwärtig sein? Auch Hans würde ihm sehr bald gut sein.

Er lächelte in ihre bewundernden Gedanken hinein. „Lottekind, ich muss einmal telephonieren. Ich habe nämlich nachher noch eine wichtige Verabredung. Mein Geschäftsfreund hat am Tage keine Zeit gehabt, und das Treffen mit dir wollte ich auf keinen Fall aufgeben.“

Sie streichelte seine Hand scheu und leicht.

Er erhob sich. „Entschuldige mich also bitte ein paar Minuten, Lottchen, ich bleibe nicht lange fort.“

Er eilte ans Telephon, das sich in einer Kabine draussen auf dem Gang befand. Es war gut, dass Lottchen sein Gespräch nicht mit anhörte. Er rief nämlich eine Frau an, die er „Liebling“ nannte und der er versicherte, er würde noch durch eine langatmige geschäftliche Unterredung festgehalten, doch in spätestens einer Stunde wolle er sich losreissen.

Er kehrte zu Lotte Wendel zurück, und als er schräg durch das Lokal auf ihren Tisch zuschritt, drückte Lotte unwillkürlich den Kopf in den Nacken vor Stolz, von so einem Prachtmenschen geliebt zu werden. Er war gross und schlank, dabei breit in den Schultern, seine Züge waren scharf geschnitten und sein braunes Haar dicht und glänzend. Die Augen von leuchtendem Blau schienen alles durchdringen zu wollen.

Irgendwie ging es verschwommen durch ihren von wirren, aber glückseligen Gedanken erfüllten Kopf: Es gibt noch Märchen, die Wahrheit werden ... So ein wahrgewordenes Märchen ist die Liebe Klaus von Tannstättens zu ihr ...

Sie brachen bald auf, und draussen meinte er: „Ich würde dich herzlich gern nach Hause bringen wie sonst, aber die geschäftliche Verabredung lässt mir nicht mehr die Zeit dazu und sie ist sehr, sehr wichtig.“ Seine Stimme wurde zärtlich: „Nimm dir eine Taxe, Lottemädel, fahre heim, ich erlaube auf keinen Fall, dass du noch so spät allein durch die Strassen gehst.“

„Mir tut niemand was!“ lachte sie, und es war ein Lachen, beladen mit Innigkeit.

Als der Wagen anfuhr, winkte sie dem Manne noch einmal zu, und er stand draussen am Strassenrand und winkte lachend zurück. Seine weissen Zähne blitzten. Mit einem kleinen Seufzer, den ihr das übergrosse Glück erpresste, sank Lotte Wendel in die Polster zurück.

Sie spann holde Zukunftsträume; ihre Hände falteten sich fest vor inbrünstiger, heisser Bewegung. Es war die allerhöchste Steigerungsstufe des Glückempfindens, die das Schicksal der kleinen tüchtigen, aber unschönen Lotte Wendel überhaupt auf Erden schenkte, denn was danach kam, war traurig und trübe, es blieb ihr unfassbar bis zu ihrem letzten Atemzug.

Aber davon ahnte sie jetzt noch nichts.

Der Vormittag, an dem der Besucher erwartet wurde, kam heran. Das Wohnzimmer war völlig verwandelt worden. Lotte hatte die Möbel umstellen lassen, hatte neue teure Gardinen angeschafft und einen schönen modernen Teppich erworben. In den Vasen steckten frische Blumen. Fichtennadelduft, den Lotte verstäubte, lag wie ein wundersamer Waldesgruss über allem.

Lotte hatte sich gestern ein neues Kleid gekauft, ein blaugraues Wollspitzenkleid, und beute früh ihr Haar vom Friseur in Locken aufstecken lassen.

Hans Wendel fand, seine Schwester sah wirklich besonders vorteilhaft aus. Zwar die Nase blieb zu klein und dick, die hellen Augen waren zu schmal, die Backenknochen zu stark — immerhin sie hatte aus sich gemacht, was nur möglich war. Er nahm sich vor, dem zukünftigen Schwager freundlich entgegenzukommen und jedes Vorurteil in sich zu ersticken.

Lotte strahlte und wirkte gut um einige Jahre jünger. Hans Wendel begriff, dass „Liebe“ eine grosse Zauberin war. Er kannte die Liebe noch nicht — ein paar Liebeleien lagen auf dem Wege seiner Vergangenheit, Liebeleien, deren Ende weder ihm noch seiner jeweiligen Mitspielerin weh getan.

Es schlug elf Uhr vom Turm einer nahen Kirche, und die alte Standuhr in einer Ecke der Wohnstube schlug ebenfalls elfmal. Lottes Gesicht gewann vor Erwartung noch mehr Farbe. Schon in der nächsten Minute musste es an der Korridortür klingeln, und dann würde die Hausgehilfin melden: Herr von Tannstätten ...

Ihr Herz verhielt vor atemloser Spannung, vor erregtem Warten auf diesen nahe bevorstehenden, fiebrig herbeigesehnten Augenblick förmlich den Schlag. Die Uhr tickte laut, es schien Lotte dieses Ticken plötzlich fast zu überdeutlich vernehmbar. Es störte sie beim Hinauslauschen. Jetzt — nein, nichts! Doch nun klingelte es wirklich.

Aber es war nur der Geldbriefträger, der Zeitungsgeld einzog.

Die unbarmherzige Uhr tickte weiter und tat ihre Pflicht. Es wurde halb zwölf und wurde zwölf. Die Geschwister wechselten manchmal ein paar Worte, um halb eins aber sprang Hans Wendel auf, wollte etwas Zorniges sagen, doch schluckte er es hinunter, zu blass und elend sah Lotte aus.

„Er hat sicher nicht kommen können, er wird schreiben“, versicherte Lotte, und Hans Wendel dachte voller Mitleid, dass seine Schwester den Eindruck eines Menschen machte, der jämmerlich fror.

Lotte fror wirklich, so recht von innen heraus. Das vergebliche Warten hatte sie in eine grosse, unbestimmte Angst hineingejagt, dem Geliebten müsse etwas zugestossen sein. Sie wollte sich gleich erkundigen. Oder nein, lieber noch nicht, schliesslich konnte er wohl noch kommen.

„Immerhin werden wir jetzt essen“, schlug ihr Bruder vor. „Ich habe Hunger.“

Die Schwester nickte. „Gleich wird aufgetragen werden.“

Es wurde ein stilles Mahl zu zweien. Lotte quoll der Bissen im Mund vor bitterer Enttäuschung und auch vor Angst, es könnte Klaus von Tannstätten ein Unglück geschehen sein. Hans Wendel schmeckte es ebensowenig. Er war wütend auf den angekündigten Besucher, der nicht gekommen war.

Wahrscheinlich hatte er es sich in letzter Minute noch überlegt, der noble Herr, und die Liebe zu Lotte war nichs weiter gewesen als ein kleiner Schritt vom gewohnten Wege, den er schon bedauerte. Er hatte vielleicht gar nicht an eine Heirat gedacht; das hatte sich Lotte wahrscheinlich nur selbst eingeredet.

Der Tag verging, es kam keine Nachricht, keine Entschuldigung.

Abends fing Lotte plötzlich an zu lachen: „Er wird vergessen haben, wo wir wohnen, das ist des Rätsels Lösung!“

„Unser Name steht im Adressbuch und im Telephonbuch, Lotte“, erinnerte er sie.

Sie ging ans Telephon, und nach einem Weilchen kehrte sie sichtlich verwirrt zurück.

„Er wohnt gar nicht in dem Hotel, das er mir genannt hatte.“

„So, so!“ machte Hans Wendel, und kopfschüttelnd stellte er fest: „Ein merkwürdiger Heiliger, dieser Herr, der einen Namen trägt, welcher ihn eigentlich verpflichten sollte, sich nicht wie ein Stromer zu benehmen.“

„Hans, ich bitte dich!“ wehrte sie entsetzt ab.

„Da soll der Teufel daraus klug werden! Was hat denn der Mensch eigentlich beabsichtigt, dass er dir eine falsche Wohnung angab? Es lässt auf Dinge schliessen, die meines Erachtens mit der Handlungsweise anständiger Menschen nichts mehr zu tun haben.“ Er polterte heraus: „Sei froh, Lotte, dass er dich nicht hochgenommen, ich meine angepumpt hat. In diesem Fall würde ich nämlich sofort wissen, woran wir bei ihm sind.“

Lottes Augen starrten ihn, unnatürlich geweitet, plötzlich mit einem solchen Ausdruck des Entsetzens an, dass er abbrach; aber ehe er noch zuspringen konnte, glitt die Schwester bereits vom Stuhl und lag nun regungslos auf dem neuen farbigen Teppich, den sie in der Vorfreude auf den Besuch gestern noch gekauft hatte.

Eine schwere Ohnmacht ersparte ihr zunächst jedes weitere schmerzhafte Denken. Die Worte des Bruders hatten ihr blitzartig das Dunkel erhellt, das um ihr „Märchen“ lag. Sie hatte erkannt, dass dieses nur ein geschickt eingefädeltes Gaunerstück gewesen war.

Am nächsten Tage berichtete sie dem Bruder die volle Wahrheit, und dann verbrachte sie acht schlimme Tage, zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her gerissen. In diesen acht Tagen stellte Hans fest, dass es allerdings einen Klaus von Tannstätten gegeben hatte, einen alten Herrn, der als Junggeselle vor einigen Jahren gestorben war.

Jetzt war auch Lotte Wendel überzeugt, dass der elegante Herr Baron, der mit ihren fünftausend Mark wohl längst das Weite gesucht hatte, tatsächlich ein Heiratsschwindler gewesen war.

Sie wünschte aber keine Anzeige bei der Polizei; aufgeregt bat sie den Bruder, nichts in der Sache zu unternehmen. Sie verachtete den schlechten Menschen, der sie so elend betrogen, aber ihr Herz schlug immer noch für ihn.

Hans mochte nicht schweigen, er wollte Anzeige erstatten.

„Der Kerl muss gesucht werden!“ beharrte er ihren Bitten gegenüber. „Er kann sonst noch viel Unheil anrichten, der Schuft! Das schmutzige Handwerk, das er treibt, muss ihm gelegt werden.“

Lotte litt an Schlaflosigkeit und nahm manchmal ihre Zuflucht zu Veronal. Eines Abends, als ihr Herz vor Sehnsucht nach ihm, den sie immer noch liebte, keine Ruhe gab, nahm sie zuviel von dem Schlafmittel und schlief ein, um nicht mehr aufzuwachen zu Erdenfreude und Erdenleid ...

Und nun da er es gekonnt hätte, ging Hans Wendel nicht zur Polizei. Er mochte das Andenken der geliebten Schwester nicht in einem Prozess dem Hohn und dem Spott fremder Menschen aussetzen. Aber er gelobte sich, wenn ihm jemals dieser Verbrecher in den Weg kommen sollte, sein Schweigen zu brechen und an ihm zu rächen, was er der armen Lotte angetan hatte.

Als der Sarg in die Erde hinuntergelassen wurde, war es ihm, als ob er mit unheimlicher Deutlichkeit den Mann dicht vor sich sähe, dem er doch nur ein einziges Mal im Leben begegnet war. Sein Bild hatte sich unverlierbar in sein Gedächtnis eingegraben. Er wusste, er würde ihn sofort wiedererkennen.

Arme, arme Lotte! Sie hatte ihn mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens geliebt und war in den Tod gegangen, weil er sie so entsetzlich enttäuscht hatte.

Hans Wendel warf drei kleine Schaufeln Erde auf den Sarg der Schwester und dachte: Vielleicht kann ich dich später einmal rächen, arme, liebe, törichte Lotte ...

1.

So ein Septembertag hat es in sich. Wenn er schön sein will, bringt er das besser fertig als ein Frühlingstag, und die Menschen spüren seinen Sonnenschein wie ein Gottesgeschenk.

Monika Holm lächelte unwillkürlich, als die Sonne aus der kleinen Agraffe, die sie auf Anordnung der Direktrice in die schwarze Hutrosette aus Ripsband einnähen sollte, bunte Blitze hervorlockte.

Die Direktrice, Frau Schade, beobachtete ihr Tun ein Weilchen und rief plötzlich scharf: „Monika, Sie scheinen zu glauben, sich in einem Kinderhort zu befinden. Ich möchte Sie daran erinnern, dass wir hier sind, um zu arbeiten. Sie vergessen das leider manchmal.“

In Monikas blasses Gesicht stieg jähe Röte.

„Ich habe nur ausprobieren wollen, ob die Agraffe wirklich in die Rosette hineinpasst.“

„Ich finde, sie passt dahin, wo ich sie angebracht wissen will, Monika“, gab Frau Schade, eine üppige Vierzigerin, ärgerlich zurück. „Sie haben immer eigene Ideen und glauben, Schick und Geschmack gepachtet zu haben. Ich verbitte mir ein für allemal Ihr ewiges unausstehliches Besserwissen. Schliesslich bin ich hier Direktrice!“

Dunkelbraune Mädchenaugen blitzten sie an, und eben wollte Monika ihre, ein ganz klein wenig mit Rot nachgezogenen Lippen zu einer unüberlegten hastigen Antwort öffnen, als sie einen so kräftigen Fusstritt spürte, dass sie beinah einen Wehlaut ausgestossen hätte.

Sie neigte den Kopf tief über die Arbeit und begann mit geübten, schnellen Fingern das umstrittene unechte Schmuckstück in die Rosettenmitte festzunähen, wo es nun als schimmernder Kelch prangte.

Diese Misshelligkeiten zwischen Frau Schade und Monika Holm wiederholten sich oft. Hätte die Chefin nicht immer wieder alles ins rechte Gleis gebracht, Monika hätte längst den netten Fensterplatz in dieser Arbeitsstube, von wo aus man am besten in den kleinen Hof mit der grossen Akazie sehen konnte, aufgeben müssen. Frau Schade machte kein Hehl daraus, wie angenehm es ihr gewesen wäre, wenn Monika Holm eines Tages nicht mehr wiederkäme.

Monika aber tat ihr den Gefallen nicht.

Sie hatte im Putzatelier Munbert gelernt und wollte hier bleiben. Sie war hierher gewöhnt.

Für den kräftigen Fusstritt konnte sie sich, wie bei ähnlichen Gelegenheiten, auch heute bei Nesse Bürger bedanken, die neben ihr sass.

Diese Fusstritte erhielt sie immer dann, wenn sie den Mund öffnen wollte zu einer Antwort, die Frau Schade nur noch mehr in Harnisch gebracht hätte.

In Sachen des Geschmackes gerieten beide nur zu leicht aneinander.

Der Hauptgrund lag in persönlicher Abneigung.

Frau Schade ärgerte schon der blosse Anblick der sieghaft hübschen Monika. Sie selbst musste sich sehr „herrichten“, um leidlich etwas vorzustellen; dem jungen Mädchen aber hatte die Natur ein Äusseres geschenkt, das erfreulich auffiel. Die Fünfundvierzigjährige beneidete die Einundzwanzigjährige. —

Von ein bis drei Uhr hatten die Putzmacherinnnen Freizeit. Monika und Nesse traten gemeinsam auf die Strasse, die zu den belebtesten der mittelgrossen süddeutschen Stadt gehörte.

Nesse sagte vorwurfsvoll: „Du solltest wirklich endlich mit der Schade Frieden halten. Ihre Ideen sind ihr heilig. Warum schlägst du ihr immer wieder Neuerungen vor? Sie versteht sie einfach nicht, und am fernen Jugendhorizont unserer Chefin steht noch die Kapotte. Dass sie trotzdem ihre gute Kundschaft behalten hat, dankt sie nur ihrem alten Ruf; aber er fängt allmählich an brüchig zu werden, und eines Tages wird es wohl so weit kommen, dass die Damen woanders hingehen.“

Monika, die ihr Rad führte, hatte kaum zugehört. Sie sagte lebhaft: „Lass schon, Nesse, ich mag von dem Kram gar nichts hören! Wenn die herrliche Schade im Einverständnis mit Fräulein Munbert von mir verlangen sollte, ich müsse ’ne Kapotte mit Reiherstutz, neckischem Vergissmeinnicht und breitem Kinnband als neueste Mode garnieren, na, dann tue ich’s eben. Ich habe diese Art von Kampf bis zum Halse satt und hoffe, eines Tages nach meinem Gusto arbeiten zu dürfen. Ein eigenes Geschäft schwebt mir vor, ich möchte den Leuten zeigen, was Geschmack ist.“

Nesse, eine rosige Blondine mit klaren grauen Augen, fragte lächelnd: „Ist die Erfindung deines Onkels vielleicht fertig, von der er sich soviel verspricht?“

Monika lachte ärgerlich.

„Ach, diese Erfindung! Ich habe davon noch nicht einmal soviel“ — sie schnippte mit den Fingern — „zu sehen bekommen. Keinen Schimmer habe ich, um was es sich überhaupt handelt, und manchmal meinte ich, die Erfindung, von der Onkel schon seit beinahe zwei Jahren phantasiert, besteht nur in seiner Einbildung. Damit hält er mich hin, auf bessere Zeiten zu warten und ruhig zu bleiben, weil er mein Muttererbe schon angerissen hat.“ Zornig fügte sie hinzu: „Dies soll ich nicht tun und jenes nicht, ausgehen soll ich nicht und keine Bekanntschaften machen! Goldene Berge verspricht er mir für die Zeit, wenn er mit der Erfindung fertig ist, Schlösser im Mond und dergleichen. Nichts wie Seifenblasen und Humbug, Nesse, ich mache das nicht mehr lange mit! Die Luft ist stickig bei uns in der Nonnengasse, am Ende der Welt.“

Die Freundin, die eigentlich Agnes hiess und der die Mutter den Kosenamen „Nesse“ gegeben, schüttelte den Kopf.

„Du hast seit einiger Zeit etwas Verbittertes im Wesen, Monika, das hast du früher nicht gehabt. Schade, es kleidet dich nicht, es passt nicht zu dir.“

Monika lächelte bitter.

„Was weisst denn du! Ich möchte aus allem heraus. Möchte weg von dem Erfinder, möchte aus dem Haus weg und aus der Nonnengasse.“

„Um dein Heim bist du doch zu beneiden, du Unzufriedene. Weshalb drückst du dich so spöttisch aus? Ihr wohnt im letzten Haus vor dem Wald. Der Duft der Tannen zieht durch die Fenster bis in dein Zimmer, und wenn nachts der Wind weht, rauschen dir die hohen Buchen ein Abendlied.“

Monika zuckte die Achseln und warf den Kopf zurück.

„Alles schön und gut, zugegeben, aber ich möchte endlich etwas mehr vom Leben haben als Tannenduft und Buchenrauschen. Die Zukunftsvertröstungen Onkels fressen meine besten Jahre, und nachher stehe ich mit leeren Händen da als alte Schreckschraube.“

Nesse lachte: „Bis zur Schreckschraube hast du noch viel Zeit!“ Sie gab ihr einen freundschaftlichen Klaps, ihr Weg führte jetzt nach links. „Guten Appetit!“ wünschte sie, was Monika dankend erwiderte.

Monika verschwendete keinen Gedanken mehr an diese Unterhaltung, schwenkte nach rechts hinüber, sprang auf ihr Rad, und in zwanzig Minuten erreichte sie die Nonnengasse.

Die schmale Strasse hiess so, weil hier einmal ein Frauenkloster gelegen hatte. Sie bestand aus kleinen alten Häusern, von denen das jüngste schon über hundert Jahre alt war.

Otto Holms Haus lag dort, wo die Strasse eigentlich schon ein Stück zu Ende war. Es fiel aus der Reihe und hatte seinen Platz längst eingenommen, ehe man ein zweites Haus in der Nähe des Waldes gebaut und danach ein drittes, längst ehe der Name Nonnengasse die Zusammengehörigkeit dieser Häuser am Wald festlegte.

Mehr als bescheiden sieht unser Haus aus, fand Monika, und ihr Blick streifte verächtlich die Front des Gebäudes, von dem stellenweise der Verputz abgefallen war, das feuchte Flecke zeigte und das aus Erdgeschoss und sehr niedrigem Boden mit lukenartigen Fenstern bestand. Nur in der Mitte, unter der Höhe des Daches, gab es ein grösseres Fenster. Es gehörte zu dem einzigen obengelegenen Zimmer. Monika bewohnte es.

Aber ein hübscher Garten zog sich um das Haus, darin fütterten ein paar pausbäckige Putten aus längst verwittertem Sandstein ebenso verwitterte Tauben. Sie taten es unentwegt im Sommer und Winter. Sie lächelten bei jedem Wetter, und Monika dachte: Ihre Sandsteinnerven müsste man haben, um das Leben „in der Nonnengasse, am Ende der Welt“ ertragen zu können! Das Dasein war reich und bunt und vielfältig, sie aber kam sich vor wie ein Zaungast des Lebens, der alles nur von weitem betrachten durfte.

Tante Suse, die Gutmütige, immer Zufriedene, die etwas derb aussah, kam ihr auf dem Flur entgegen und sagte freundlich: „Geh nur gleich in die Wohnstube. Monika, heute gibt’s Kartoffelpuffer, dein Leib- und Magenfutter.“

Monika nickte ihr zu. Die Tante tat ihr manchmal sehr leid, und sie hätte nicht einmal sagen können warum, denn die Frau war immer zufrieden.

In der Wohnstube sass Onkel Otto, dessen schmales Gesicht etwas Verbissenes und zugleich Durchtriebenes hatte. Sein Haar war eisgrau, seine Hände waren auffallend schmal. Er lebte von seiner Altersrente. Er war Graveur gewesen und musste seit zwei Jahren feiern. Monika zahlte Kostgeld, seit sie als Gehilfin verdiente.

Frau Suse brachte eine Schüssel voll Puffer und setzte sie mitten auf den Tisch.

„Fangt nur immer an“, ermunterte sie, „ich möchte fertigbacken, und frisch schmecken sie doch am besten.“

Sie verschwand wieder in der Küche.

Otto Holm verzog den dünnlippigen Mund.

„Pastetchen möchte ich als Vorspeise, dann Lendenbraten mit Spargel, Artischocken und Champignons, danach Ananas mit Schlagsahne. Dazu eine Flasche Haut Sauterne. Herrgott, Mädel, wenn’s doch endlich so weit wäre!“

Monika antwortete nicht. Was sollte sie auch darauf noch sagen? Er wiederholte diesen Speisezettel in kleinen Abänderungen fast täglich.

Nervös zwinkerte er mit den Lidern.

„Monika, wenn meine Erfindung erst reif sein wird — und es dauert nicht mehr lange bis dahin — dann ändert sich für uns alles mit einem Schlag. Es ist eigentlich unvorstellbar.“ Er legte den Kopf zurück; die Lippen geniesserisch spitzend, versprach er: „Das eleganteste und umworbenste Mädchen der Stadt wirst du werden, Monika, und im teuersten Auto werden wir fahren. Wir ...“

Monika schnitt ihm das Wort ab.

„Wenn du dir so sehr viel von deiner Erfindung versprichst, kannst du mir doch wenigstens erklären, um was es sich überhaupt handelt. Deine Geheimniskrämerei geht entschieden zu weit. Ich werde bestimmt nichts ausplaudern. Es ist unrecht von dir, dass du uns keine Silbe verrätst, weder deiner Frau noch mir.“

Er zog die etwas verwilderten Brauen hoch, und die breitgeschnittenen Flügel seiner zu langen Nase schienen zu flattern, so lebhaft bewegten sie sich.

„Ich werde auch weiterhin schweigen. Von Erfindungen verstehen Frauen doch nichts, rein gar nichts. Und wenn ihr, Tante und du, niemals von mir etwas darüber hören werdet, ist es auch gleichgültig. Für euch kommt es doch darauf an, ob meine Arbeit von Erfolg gekrönt sein wird, und damit rechne ich bestimmt. Meine gute Alte behelligt mich niemals mit Fragen; die glaubt an mich und wartet ab, bis wir über Nacht reiche Leute geworden sein werden. Das aber geschieht, so wahr ich dir jetzt gegenübersitze, Monika. Doch ich ...“

Er zögerte, es wurde ihm schwer weiterzureden.

Sie wusste: Jetzt würde er gleich anfangen, vom Geld zu reden, von ihrem kleinen mütterlichen Erbteil. Tausend Mark fehlten schon daran, und sie konnte ihm keine Schwierigkeiten machen, wenn er noch mehr haben wollte. Er erklärte ihr jedesmal, er hätte sie seit zehn Jahren, seit ihre Eltern gestorben wären, wie seine eigene Tochter gehalten, hätte sie einige Jahre sogar eine höhere Schule besuchen und sie beruflich ausbilden lassen. Das alles verpflichte. Überdies würde sie das Geld mit Zins und Zinseszins zurückerhalten. Und dann fing das schon zu oft gehörte Lied von der Erfindung wieder von vorn an. Zukunftshoffnungen stiegen gleich leuchtenden Raketen in den Himmel, der ziemlich einförmig und grau über der Gegenwart in diesem Hause stand, und zerstäubten in der Höhe, fielen blitzend und glimmend weithin nieder wie Sterne, verheissungsvoll, verwirrend, ernüchternd ...

Sie fragte kühl und ablehnend: „Wieviel willst du denn nun schon wieder? Ich habe bloss noch fünfzehnhundert Mark und gehe nicht gern daran. Es ist mein Notgroschen, Onkel, vergiss das nicht. Falls es mit deiner Erfindung nichts wird, kann er uns allen noch zugute kommen.“

Sie sah ihn unter halbgeschlossenen Lidern an.

Er liess die Gabel auf den Tisch fallen, sie streifte klirrend den Tellerrand.

„Immer diese Ermahnungen! Du tust, als ob ich ein dummer Junge wäre, der das Geld hinauswirft!“ polterte er. Sein Kinn schob sich eckig, fast brutal vor.

Monika kannte diese Veränderung seines Gesichts und hasste sie.

Sie fragte kurz: „Also wieviel soll es sein; Sage es schon, damit ich Bescheid weiss.“

Er nahm die Gabel wieder auf und ass schweigend weiter. Erst nach einem Weilchen antwortete er: „Ich brauche nur noch fünfhundert Mark, alles in allem nur noch fünfhundert Mark. Damit bringe ich mein Modell so weit, wie ich es bringen muss und ...“

Sie unterbrach ihn rasch, um nur nichts mehr von den Zukunftshoffnungen hören zu müssen, an die sie nicht recht glaubte, wenn sie auch zuweilen dachte, dass es schön wäre, wenn sie sich verwirklichten.

„Ich werde dir gleich nachher einen Scheck geben“, sagte sie kurz, „dann kannst du dir das Geld holen.“

Seine Züge waren jetzt sehr wohlwollend, und überaus freundlich klang seine Stimme, als er bat: „Könntest du mir das Geld nicht mitbringen, Monika? Die Bank ist doch nicht weitab von deinem Geschäft. Du kannst dort sicher für ein paar Minuten abkommen.“

Sie nickte. „Gut, ich werde dir das Geld heute abend mitbringen.“

Es klang ergeben und gewissermassen abschliessend. Ungefähr so, als ob sie dazu erklärt hätte: Ich tue dir den Gefallen, aber jetzt lass mich, um des Himmels willen, endlich mit deinem Krempel in Ruhe!

Er schien es auch so aufzufassen, denn er schwieg von nun an und beschäftigte sich nur noch mit dem Essen.

2.

„Fünfhundert Mark hat mir Onkel Otto wieder abgeluchst“, vertraute Monika am Nachmittag der hellblonden Nesse an, von der jener Hauch überzeugender, lichter Sauberkeit ausging, der den Bildern auf Werbeplakaten für Seifen eigen ist. „Ich muss nachher auf die Bank gehen und das Geld holen.“ Sie seufzte. „Ich möchte wenigstens gern soviel behalten, um mich einmal selbständig machen zu können; wenn’s aber so weitergeht, muss ich den Traum aufgeben.“

Nesse tröstete: „Etwas muss doch an der Erfindung dran sein! Dein Onkel ist doch schliesslich ein seriöser Mensch.“

Monika sah nicht sehr überzeugt aus.

„Ich weiss nicht recht. Manchmal meine ich, es ist überhaupt nichts an dem ganzen Gerede, und es handelt sich lediglich um Schaumschlägerei, um mir das Geld abzunehmen. Den Rest will ich ihm jedenfalls nicht mehr hinwerfen, von jetzt an werde ich streiken.“

Nesse nickte zustimmend. Sie stammte aus einer Familie, die nichts von Luftschlössern und von unbestimmten Erfindungen hielt. Der Vater war Lokomotivführer, der älteste Bruder Mechaniker, der jüngste Bäckerlehrling. Die Familie Bürger, beste Vertreter ihres Namens, stellte gute, gediegene Bürger, die sich nach der Decke streckten und, wie Nesse stolz erklärte, keine Raupen im Kopf hatten.