Der letzte Admiral 2: Perlenwelt - Dirk van den Boom - E-Book

Der letzte Admiral 2: Perlenwelt E-Book

Dirk van den Boom

4,0

Beschreibung

Wie Phönix aus der Asche ist die menschliche Zivilisation im System der Wega aus den Zerstörungen des Krieges gegen den Hive emporgestiegen. Wie Perlen umkreisen große Habitate die einstmals dicht besiedelte Hauptwelt und ein neues Zeitalter voller Größe und Eleganz scheint angebrochen. Doch der schöne Schein ist nicht ohne Makel, wie Sia, Ryk, Uruhard und Momo herausfinden dürfen. Innere Spannungen bedrohen die heile Welt. Als die Suchenden herausfinden, dass auch der hiesige Hive nicht ganz so friedlich ist, wie er zu sein scheint, wird eine unheilvolle Kette an Ereignissen ausgelöst, an deren Ende eine schreckliche Erkenntnis steht. Bizarre Rituale, eine mysteriöse Künstliche Intelligenz, ein böses Erwachen und der drohende Zusammenbruch einer Gesellschaft, basierend auf einer Lüge: Je tiefer die Verwicklung der Vier in die Eskalation wird, desto ungewisser ist die Aussicht, ob sie jemals ihre Reise zum Letzten Admiral werden fortsetzen können.

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DIRK VAN DEN

BOOM

DER LETZTE

ADMIRAL

2|PERLENWELT

DER LETZTE ADMIRAL 2: PERLENWELT

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler; Verantwortlicher Redakteur

und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild;

Satz: Rowan Rüster/Cross Cult; Cover Artwork: Arndt Drechsler;

Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice.

Printed in the Czech Republic.

Copyright © 2020 Dirk van den Boom

Originalausgabe

Print ISBN 978-3-96658-063-2 (April 2020) · E-Book ISBN 978-3-96658-064-9 (April 2020)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

EPILOG

1

Conrad wirkte nicht wie jemand, der gerne mit anderen Menschen sprach. Jedenfalls saß er nur so da, die Augen geschlossen, und das fand Ryk eher verwirrend. War es eine bewusste Missachtung ihrer Anwesenheit? Desinteresse? Oder versuchte er nur, sich zu beherrschen und angesichts ihrer Begegnung einen klaren Verstand zu bewahren? Er schien ganz gelassen zu sein.

Seine beiden Kollegen, ein Mann und eine Frau, waren deutlich aufgeregter. Der Mann war aus seinem Großmaulanzug geklettert, der offenbar nicht mehr nötig war, da die Passagiere dieses Sporenschiffes sich als harmlos und irritiert herausgestellt hatten. Sie starrten die terranischen Flüchtlinge mit aufgerissenen Augen an, die Wangen gerötet. Ihre Ganzkörperanzüge, die aus ihnen Großmäuler machten, wirkten nicht mehr so gefährlich, nachdem sie ihre Köpfe abgesetzt hatten. Sie waren sehr lebensecht. Produkte einer hoch entwickelten Technik oder sehr langwieriger und genauer Handwerkskunst.

Ryk wusste es nicht.

Er wusste gar nichts.

Hier sprach ja niemand mit ihnen!

Gegenseitiges Anstarren, vielleicht mit Mühe als Taxieren zu verstehen, und dabei nur ein paar gemurmelte Bemerkungen, ein bisschen Grunzen vielleicht. Immerhin, wenn Schweigen herrschte, dann galt dies auch für die Waffen, und bisher hatte man auch noch keine Anstalten gemacht, ihnen die ihren wegzunehmen. Ryk drängte es, das Wort zu ergreifen, aber jedes Mal, wenn er zu heftig einatmete, kassierte er einen strafenden Blick von Sia und das gemahnte ihn, lieber abzuwarten.

Irgendwann hatten die anderen genug.

»Also.« Conrads Stimme klang etwas kratzig, als würde er sie nicht allzu oft benutzen, und das würde zu seinem Auftreten auch recht gut passen. Er sagte nur dieses eine Wort und blinzelte, etwas träge, zu langsam und abwesend für Ryks Geschmack. Nahm der Mann Drogen?

»Also.«

Ryk wusste nun, dass der Mann mit den geschlossenen Augen zumindest dieses eine Wort beherrschte. Es war hoffentlich der Beginn von weiteren, vielleicht sogar vollständigen Sätzen, möglicherweise einer Erklärung. Ja, eine Erklärung. Das wäre in diesem Moment wirklich sehr angebracht. Ryks Erleichterung, es nicht mit echten Großmäulern zu tun zu haben, war Verwirrung und Ungeduld gewichen. Und er hasste es, in den Anzug zu pinkeln, egal wie weit diese Technologie entwickelt war. Es fühlte sich einfach falsch an. Er wollte hier raus und er wollte wissen, was das alles zu bedeuten hatte.

»Also.«

Ryk bekämpfte den langsam in ihm aufsteigenden Zorn und glücklicherweise öffnete Conrad jetzt seine Augenlider endgültig, sah von einem zum anderen und nickte, allerdings mehr zu sich selbst.

»Von der Erde. Dem alten Terra, ja?«

Das hatte Uruhard ihm erzählt. Ihre ersten, hektischen Erklärungen, gegeben in dem Bemühen, Missverständnisse und Feindseligkeit zu vermeiden. Alle drei hatten sie durcheinandergeredet, allein Momo hatte sich zurückgehalten, wie es seine Art war. Conrad hatte mit regloser Miene zugehört und nicht andeutungsweise gezeigt, ob er der hanebüchenen Geschichte Glauben schenkte oder nicht. Sein Tonfall klang etwas ungläubig, aber nicht völlig abfällig. Ryk ahnte, dass er wusste, woher das Sporenschiff kam. Das Außergewöhnliche war also nicht Terra, sondern nur die Zusammensetzung der Besatzung.

»Metropole 7«, ergänzte Ryk.

»Eine Stadt?«

»Um einen Hive.«

Conrad nickte und verzog das Gesicht. »Ja, der Hive. Natürlich.« Er kratzte sich am Kopf, die erste richtige Geste, die ihn nun langsam zu einem normalen Menschen machte. »Gibt es auf Terra die Union noch?«

»Mit einem Hive mittendrin?«, fragte Sia. »Wie soll das gehen?«

Sie hatten dem Mann alles nur in groben Zügen erklären können, dabei aber auch nichts verborgen, nicht einmal die plötzlich naiv und albern klingende Motivation ihrer Reise. Conrad hatte nicht reagiert, als sie vom Letzten Admiral begonnen hatten. Seine beiden Begleiter aber waren eher entgeistert gewesen, als stünden sie Irren gegenüber. Das hatte Ryks Zuversicht nicht gerade gestärkt.

Conrad sah sie lange an, zweifellos vor allem deswegen, weil sein Blick gar wohlgefällig auf der Hybriden ruhte, deren weittragende Stimme mit dem wunderbaren Timbre ihm keinesfalls entgangen sein dürfte. Sia hörte sich immer gut an, selbst wenn sie verärgert oder frech wirkte.

»Was machen wir mit ihnen?«, fragte derjenige, der die Öffnung in das Sporenschiff geschnitten und sie vor mittlerweile einer guten Stunde entdeckt hatte. »Wir müssen doch was mit ihnen machen. So was ist noch nie passiert. Wir könnten sie nach Crawlertown bringen.«

»Ja«, sagte Conrad nachdenklich. »Das könnten wir wohl.« Dafür dass er hier die Autorität innehatte, wirkte er wenig entschlussfreudig. Für einen Moment hatte Ryk Angst, dem Mann würden erneut die Augen zufallen und die Wartezeit würde kein Ende finden, doch Conrad sah sich offenbar durch die Umstände gedrängt, eine Entscheidung zu treffen.

»Aber wir schaffen es nicht, das geheim zu halten. Crawlertown ist kein Ort für so was. Früher oder später wird die Heptarchie davon Wind bekommen und wir kommen in ernsthafte Erklärungsnöte. Außerdem brauchen wir das Geld. Verdammt dringend sogar. Nein.« Er schüttelte den Kopf, als müsse er eine Niederlage eingestehen. »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als sie mitzunehmen und zu den Auri zu bringen. Jede andere Vorgehensweise nützt uns nichts.«

»Wir könnten sie für uns behalten. Wir müssen doch nicht immer alles den Auri in den Arsch schieben. Das ist hier etwas Besonderes. Ich bin für Crawlertown!«, schlug die Frau vor, die sich bisher nicht geäußert hatte. Sie hatte ein viereckiges Gesicht, kurz geschorene, sandbraune Haare und wirkte im Gegensatz zum deutlich älteren Conrad mit seinem eher verwahrlosten Äußeren aufmerksam, gespannt und konzentriert. Ryk wünschte sich fast, sie würde das Kommando übernehmen. Er wünschte sich auch, diese Leute würden mit ihnen reden und nicht die ganze Zeit nur über sie.

»Nein, Rita, das geht nicht«, erwiderte Conrad. »Das wird rauskommen und dann haben wir richtig Ärger. Die Situation ist schwierig genug, da müssen wir uns nicht noch unnötigen Stress machen. Der kleinste Funke … Nein, der will ich nicht sein.«

Rita nickte, wirkte aber nicht überzeugt und schaute rebellisch drein. Ihr Gesicht war nicht unangenehm, auf eine faszinierende Art symmetrisch, aber nichts an ihrem Körper wirkte auch nur ansatzweise entspannt. Eine Frau voller schwer gebändigter Energie, sehr unzufrieden mit etwas. Oder mit allem.

»Wir nehmen ihnen die Anzüge ab und schubsen sie ins All«, schlug der bisher noch namenlose Mann vor. Er sagte es leichthin, eher beiläufig, und sah die Flüchtlinge dabei ohne jedes Mitgefühl an. Rita schüttelte den Kopf. Ryk wusste nicht viel über das Weltall, aber ihm war klar, dass das zu seinem Tod führen würde. Er konnte den Typen instinktiv nicht leiden. Er war etwa in Ritas Alter und hatte ein langes Gesicht mit einem so spitz zulaufenden Kinn, dass man sich wahrscheinlich daran verletzen konnte. Er wirkte weiterhin unbeteiligt. Vielleicht hatte er es auch nur gesagt, weil er unter Beweis stellen wollte, was für ein harter Hund er war.

Conrad tat so, als würde er den Vorschlag ernsthaft überdenken.

Das empfand Ryk als sehr beunruhigend.

»Das ist normalerweise keine schlechte Idee«, sagte der Ältere dann. Er beobachtete die Neuankömmlinge dabei überraschend intensiv, gar nicht schläfrig oder abwesend. »Normalerweise. Aber ich glaube, die Auri werden es zu schätzen wissen, wenn wir die hier abliefern. Es kann nicht schaden, ein wenig nett zu sein. Und sie werden gut zahlen, dafür wird Solos schon sorgen. Er weiß, wann etwas sein Geld wert ist. Was danach geschieht, kann uns dann ja egal sein. Und wer weiß, wofür es gut ist.«

»Seit wann bist du so ein Arschkriecher?«, fragte Rita mit Verachtung in der Stimme. »Solos …« Sie brach ab, als würde ihr der Name im Hals stecken bleiben.

»Seit wann, Rita? Das fragst du mich ernsthaft? Seit unser Crawler eine Inspektion benötigt, oder willst du noch ein paar Wochen in einen Plastikbeutel scheißen?«

Rita schwieg. Offenbar wollte sie das lieber nicht. Trotzdem war sie weiterhin nicht einverstanden. Ihr Gesicht blieb die steinerne Maske bewusster Anstrengung.

Conrad erhob sich. Er sah die Flüchtlinge an, abschätzend, nicht feindselig. Er wirkte jetzt, wo er stand, weitaus müder als im Sitzen, die Gestalt etwas vornübergebeugt, die Stimme leise, sodass man genau hinhören musste, um ihn zu verstehen.

»Keine Ahnung, was an eurer Geschichte wahr ist, aber ihr seid definitiv nicht von hier. Euer Dialekt ist ganz seltsam und verdammt, ihr seid in einem Sporenschiff angereist, das gerade am Sprungpunkt angekommen ist. Ihr kommt von Terra? Meinetwegen. Ihr habt eine Mission? Ich will es gar nicht so genau wissen. Ich übergebe euch den Auri, sollen die sich einen Reim darauf machen. Bis dahin bleibt ihr unsere Gäste.« Er musste das Wort »Gäste« gar nicht besonders betonen, um zu verdeutlichen, was wirklich damit gemeint war.

»Wer oder was sind die Auri?«, fragte Ryk.

Conrad sah ihn lange an und kratzte sich an der Stirn. Erst schien er zu einer Erklärung ansetzen zu wollen, dann aber besann er sich eines Besseren.

»Das werdet ihr früh genug erfahren.« Er zeigte ein weitgehend zahnloses Lächeln. »Ich will euch die Vorfreude nicht verderben. Die Auri haben in der Heptarchie das Sagen.«

Vorfreude war gewiss nicht das Gefühl, das hier angebracht wäre. Und so empfand Ryk auch eher das Gegenteil. Diese Heptarchie schien eine Machtinstanz zu sein, vor der auch Conrad Respekt hatte und die in Rita sehr rebellische Gefühle auslöste. Manche Dinge in der menschlichen Gesellschaft änderten sich nie, nur die Bezeichnungen passten sich an. Ryk war beinahe etwas enttäuscht. Tief in seinem Inneren hatte er wohl auf ein kleines Utopia gehofft.

Conrad machte eine einladende Geste zur Öffnung. »Ich darf dann bitten.«

Sie folgten der Aufforderung. Es war etwas schwierig, denn sobald sie das Sporenschiff verließen, empfanden sie plötzlich keine Schwerkraft mehr. Eine transparente, wurmartige Konstruktion verband das Sporenschiff mit einem völlig anders aussehenden Objekt. Ryks Lebensgeister belebten sich sofort, als er es erblickte. Ein Raumschiff! Ein richtiges, von Menschenhand gebautes Raumschiff. Ryk blieb unwillkürlich stehen. Es hatte eine grobe Keilform, war übersät mit allerlei Aufbauten und markiert von schimmernden oder blinkenden Positionslichtern. Es sah nicht elegant aus und mit seiner schartigen Außenhülle nicht einmal besonders funktionsfähig – ein Schiff, das seine besten Zeiten offensichtlich schon lange hinter sich hatte. Aber es funktionierte und es wurde von Menschen kommandiert. Das waren Erkenntnisse, die Ryk glücklich machten. Das Leben hier im System der Wega hatte eine andere Qualität.

Hieß das, der Hive hatte hier mehr übrig gelassen als auf der Erde? Menschen flogen durch das Weltall? Gab es hier noch so etwas wie die Union? Hatte diese Heptarchie ihr Erbe angetreten?

Gefangen oder nicht, er spürte eine starke Neugierde und wollte jetzt so viel wissen.

»Weiter! Staunen könnt ihr später. Es gibt noch Arbeit für uns zu tun.«

Ryk schaute nach rechts und links und erkannte, was das für eine Arbeit war. Weitere lange Schläuche hatten sich vom Raumschiff aus in den Leib des Sporenschiffs gebohrt und es war offensichtlich, dass sie irgendetwas herausschnitten oder abpumpten oder … was auch immer. Das Sporenschiff jedenfalls würde keinen Hive mehr erreichen, falls es hier wirklich noch einen gab. Wenn, dann reagierte er ungleich schwächer als einer von denen auf der Erde.

Gab es wohl so etwas wie Weltraumdrachen? Eine interessante Frage. Er legte sie zu all den anderen, die sich in seinem Kopf auftürmten.

»Weiter, habe ich gesagt. Keine Träumereien. Los jetzt!«

Die Stimme klang drängend und ungeduldig.

Ryk glitt durch den transparenten Tunnel und kam auf der anderen Seite an, wo eine geöffnete Schleusentür sie zum Eintreten einlud. Hier setzte auch die Gravitation wieder ein. Ein faszinierender Vorgang, wenngleich sein Magen sich über die ständigen Veränderungen eher beklagte.

»Wir ziehen jetzt die Anzüge aus«, sagte Conrad bestimmt, als sich die äußere Schleusentür schloss. »Und ihr gebt mir eure Waffen.«

»Und wenn nicht?«, fragte Sia herausfordernd. Sie begann, den Anzug zu öffnen, und ihre Bewegungen, obgleich an sich völlig harmlos, hatten etwas sehr Elegantes und Beherrschtes an sich, das zumindest Rita als stille Bedrohung wahrzunehmen schien. Die Frau machte einen Schritt zurück, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen.

Conrad zuckte mit den Achseln. »Dann lasse ich mir den Vorschlag von eben noch mal durch den Kopf gehen. Ich will keinen Ärger. Ihr wollt auch keinen. Der Crawler Süße Maid hat eine Besatzung von sechsunddreißig Personen, alle bewaffnet, und die meisten von ihnen sind wie Rita hier schlecht gelaunt und aufmerksam. Mal gucken, wie lange ihr das durchhaltet. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ihr die weite Reise angetreten habt, um hier ein Gemetzel zu veranstalten.«

»Sie wissen, warum wir hier sind«, versetzte Ryk.

Conrad lachte. Es kam von Herzen – leider.

»Ja, den Quatsch könnt ihr den Auri auftischen. Ich habe für wilde Fantastereien keine Zeit, ich muss meine Crew am Leben erhalten. Aber die Auri sind reich und gelangweilt, die widmen sich gewiss gerne euren Träumereien. So, runter mit den Anzügen. Die Waffen hier rein. Alle Waffen. Auch das Messer, junger Mann, oder glaubst du, ich hätte das nicht gesehen?«

Ryk fühlte sich nackt, als er aller Ausrüstung entblößt wurde. Uruhard ging es nicht viel besser, glaubte er zu beobachten. Die Einzigen, die noch Gelassenheit bewahrten, waren Momo und Sia. Der Defo konnte Schädel mit bloßen Händen zerquetschen – zumindest nahm Ryk das an, beobachtet hatte er dergleichen glücklicherweise noch nicht – und Sia hatte ihre Bewaffnung eingebaut. Die Hybride blieb die Gelassenheit in Person, was weitaus einschüchternder wirkte, als sie selbst möglicherweise wahrnahm.

Conrad war zufrieden. Selbst Rita machte einen um eine winzige Nuance entspannteren Eindruck, als alles eingesammelt worden war.

»Hier lang«, befahl der Anführer.

»Was ist das für ein Schiff?«, fragte Sia, während sie einen engen und dunklen Gang entlanggingen. Verkleidungen waren zum Teil gar nicht existent, dahinter gab es ein Wirrwarr an Leitungen und sanft vor sich hin blinkenden Modulen – sowie anderen, die so aussahen, als wären sie schon seit ewigen Zeiten nicht mehr mit Elektrizität versorgt worden. Die Beleuchtung flackerte auch. Irgendwo tropfte etwas.

Die Süße Maid war alt und sah von innen genauso aus wie von außen. Ryks Hoffnung, hier auf ein Zentrum irdischer Technologie und dauerhaften Widerstands zu stoßen, wurde dadurch etwas gedämpft. Andererseits waren sie hier, um ein Raumschiff zu erbeuten, das sie zur Festung des Letzten Admirals bringen würde. Die Chancen dafür waren jedenfalls größer als null. Wenn ein Schrotthaufen wie dieser flog, gab es vielleicht ein Schiff, das besser in Schuss war. Möglicherweise bei den Auri, die sich wohlhabend anhörten.

»Ein Crawler«, sagte Conrad. Er schien nun in der Stimmung für einige Erläuterungen zu sein. »Das Schiff ist ein Crawler. Wir sind Crawler. Wir gehören zur Gesellschaft der Heptarchie, ohne ihr direkt zu dienen. Wir haben zwei Einnahmequellen. Wir fangen zum einen Sporenschiffe ab, wie eben, und liefern den Auri bestimmte Stoffe, vorzugsweise Biomasse, sowie die Kapseln, darüber hinaus die Technologie, die es sich auszuschlachten lohnt. Zum anderen fliegen wir die Reste des großen Depots an, durchstöbern die Reste und holen offiziell Vorräte für die Perlenwelt und inoffiziell zum Überleben.« Conrad grinste. »Das ist kein Geheimnis, ihr könnt es ausplaudern. Die Auri dulden es, denn sie sind sich für die Drecksarbeit meistens zu schade. Kommt kaum vor, dass sich einer hierher verirrt. In Crawlertown sind wir meist unter uns.«

»Die Auri sind …?«, versuchte Sia erneut, mehr zu erfahren.

»Die Herren der Heptarchie. Die Herren über die Perlenwelt. Ihr werdet sie kennenlernen. Ich will euch den Spaß nicht verderben, sie ganz unvoreingenommen genießen zu dürfen. Beeindruckend und beängstigend zugleich.«

Conrad kicherte, er schien das für einen vortrefflichen Scherz zu halten.

»Ihr Schiff ist alt«, stellte Sia fest, nachdem sie an einem weiteren offenen Panel mit offensichtlich funktionslosen Modulen vorbeigekommen waren.

Conrad konnte man dadurch nicht beleidigen, er zuckte mit den Schultern. »Alles hier ist alt. Was nicht alt ist, ist in den Händen der Heptarchie. Der Vorteil von Macht und Reichtum, denke ich mal.«

»Was genau ist die Heptarchie?«, hakte Sia nach.

Conrad hatte jetzt genug, das sah Ryk ihm an, ehe er auch nur zu einer Antwort ansetzte. »Also wirklich. Deine Neugierde ehrt dich, aber nein, ich will nichts vorwegnehmen. Außerdem könnte mir ein falsches Wort rausrutschen.« Conrad verstummte und nickte zu sich selbst. »Ja, so was passiert manchmal. Hier. Wir sind da.«

Er öffnete eine Metalltür, die dabei ein unangenehmes Geräusch machte. Dahinter gab es einen Raum, in dem eine Art sehr verschlissenes Sofa stand, zwei halb in die Wand eingelassene, sehr schmale Betten, ein Tisch und drei Stühle. Die Wände waren fleckig, das Plastik angelaufen und in der Luft lag ein seltsamer, scharfer Geruch. Conrad sah Momo kritisch an.

»Das Sofa vielleicht«, schlug er vor. Der Defo hob eine Hand, eine Bewegung, vor der Conrad beinahe instinktiv zurückwich, obgleich Momo nicht mehr tun wollte als gelassen abwinken.

»Ich stehe«, sagte er dann nur, ging hinüber zur speckigen Wand, stellte sich hin und war ganz friedlich, sehr zu Conrads Erleichterung.

»Wir fliegen nach Mercia, zur äußeren Station«, sagte Conrad. »Dort ist die Kontaktstelle für alle Crawler. Ihr bekommt von uns einige Rationen.« Wieder wanderte sein Blick zu Momo. »Oder auch einige mehr. Wird der sehr zornig, wenn er hungrig ist?«

»Immer hungrig«, informierte Momo ihn. »Croissants?«

Conrad sah ihn mit einem undefinierbaren Blick an, ehe er sich umdrehte und die Metalltür zuzog. Dann klackte ein Riegel. Alles hier war etwas brüchig und Ryk war zuversichtlich, dass auch ein hungriger Momo die Tür würde aufbrechen können, wenn er es darauf anlegte. Aber bis auf Weiteres bestand dafür keine Notwendigkeit, vor allem weil sie jenseits der Tür nirgendwohin konnten.

Sie mussten abwarten.

2

Die Süße Maid ächzte und stöhnte und es klang nicht, als wären es Laute der Wonne oder Entspannung. Es hörte sich angestrengt an, ein Ringen unterschiedlicher kinetischer Energien, der Kampf schwacher gegen starke Materialien. Geräusche, die in Hohlräumen entstanden, wo Spiel in der Konstruktion war, im Widerstreit mit starren und fest verbundenen Komponenten, die sich jeder Veränderung entgegenstemmten und schlicht bleiben wollten, wo sie waren. Dazu kamen gewiss die unzähligen Reparaturen, die möglicherweise nicht mehr genug Rücksicht auf die in der Schiffshülle transportierten Kräfte nahmen und ihren Beitrag zu dem Konzert leisteten. Der Crawler war somit ein Symbol für das Leben, nicht nur in Metropole 7, sondern auch in diesem System, zumindest wenn die schwachen Andeutungen stimmten, die sie hingeworfen bekommen hatten.

Immerhin, die Geräusche bewiesen, dass sich das Raumschiff auf dem Weg befand. Es war kein problemloser Flug und mehr und mehr bekamen die Passagiere den Eindruck, dass dies ein Raumschiff war, dessen baulicher Zustand selbst mit Wohlwollen nur als bedenklich zu bezeichnen war. Hin und wieder hörten sie Schritte auf dem Gang vor der Tür, vermischt mit Flüchen und einem Gefühl der Eile, als sei wieder irgendwo etwas ausgefallen, das man besser fix reparierte, wollte man lebend ankommen. Wie lange war dieses fliegende Wrack schon im Dienst? Sein Alter musste sich auf eine beachtliche dreistellige Zahl belaufen. Das Weltall forderte auch seinen Tribut, dessen war sich Ryk sicher. Hier musste es doch ebenfalls Umwelteinflüsse geben. Von einigen hatte er theoretische Kenntnis, beispielsweise kleine Steinchen, die durchs All flogen und einem in den Weg kommen konnten. Oder Strahlung. Oder … andere Dinge. Ryks Fantasie reichte nicht aus, um sie sich vorzustellen. Er war Springer, kein Raumfahrer, und er war froh, dass er hier Wände um sich herum hatte, ein Dach und einen festen Boden. Die Geräusche irritierten ihn nicht, für ihn waren sie ein Hinweis darauf, dass die Süße Maid ihren Dienst verrichtete. Widerwillig möglicherweise und höchstwahrscheinlich weit entfernt von all den Spezifikationen, die Ingenieure der Union vor Jahrhunderten als minimal notwendig angesehen hatten. Aber sie flogen. Und es gab weder einen Alarm noch wurde ihnen geraten, die Druckanzüge wieder anzulegen.

Es war nicht beruhigend. Es machte aber auch nicht nervös.

Den anderen ging es ähnlich. Sie waren alle etwas müde und empfanden eine Art von Erschöpfung, die nicht durch Schlaf allein beseitigt werden konnte. Darüber hinaus aber waren sie aufgedreht, unruhig, wie es sich für Menschen gehörte, bei denen sich die Ungewissheit über die Zukunft mit einer massiven Einschränkung der Bewegungsfreiheit verband.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Uruhard. Er sah Sia dabei an. Nicht Ryk. Natürlich nicht. Sia hatte diese Aura von Autorität. Selbst wenn sie auch nicht weiterwusste, wirkte sie in ihrer Ratlosigkeit selbstsicher und vorausschauend. Ryk war dann einfach nur hilflos. Er war kein schlechter Schauspieler, das wollte er gar nicht sagen. Aber er hatte dieses Charisma nie besessen, das sich Sia erarbeitet oder anoperiert hatte – vielleicht war es sogar angeboren.

»Sie haben uns die Zugangskarten mit den Identcodes gelassen«, stellte Sia fest.

Ryk hatte sie in eine Innentasche seiner Montur gesteckt, die er unter dem Druckanzug getragen hatte. Er betastete die entsprechende Wölbung. Die Karten waren exakt da, wo sie sein sollten. »Die helfen uns hier nicht weiter«, sagte er.

»Tatsächlich?« Sia ließ das Wort im Raum hängen. Ryk dachte an die Implikationen. Natürlich war das alles hier Unionstechnologie. War es aber notwendigerweise auch militärische Technologie, in der irgendwo tief in einem Speicher noch alte Autorisierungsroutinen schlummerten, die nur darauf warteten, wieder zum Leben erweckt zu werden? War die Süße Maid auch zu ihren besten Zeiten nicht eher ein ziviles Schiff gewesen, ein Transporter vielleicht oder was auch immer man im Weltall so benötigte? Hatte das Militär auf so etwas Zugriff gehabt? Und war nicht ohnehin in all den Jahren so viel an diesem Schiff herumgebastelt worden, dass all diese Gedanken und Spekulationen zu absolut nichts führten?

Sie vertrieben ihnen ein wenig die Zeit. Sie füllten den Raum mit ihren Spekulationen, jeder frei von der Leber weg. Manche waren hoffnungsvoll, andere zeichneten ein düsteres Bild, doch alle waren sie bedeutungslos, denn Uruhards Frage nach dem weiteren Vorgehen wurde auf diese Weise nicht beantwortet. Irgendwann schlug Momo vor, die Tür aus den Angeln zu reißen und sich einfach mal »umzusehen«. Er schien dazu bereit, der Rest der Gruppe riet jedoch ab und der mächtige Mann blieb stehen, wo er war, und nahm die Mehrheitsentscheidung wie immer schweigend zur Kenntnis.

Sie bekamen zu essen. Ein Mann schob einen Wagen herein, als sie schon anfingen, sich gegenseitig auf die Nerven zu fallen, und unterbrach ihr zielloses Gerede. Er ließ den Wagen stehen, drehte sich um und ging. Die Fragen prallten an ihm ab. Das Essen passte zu ihrer Situation, es erfüllte sie gleichermaßen mit Widerwillen wie Misstrauen. Es war ein undefinierbarer dunkelbrauner Brei oder eine sehr zähflüssige Suppe, immerhin heiß, mit einem entfernten Aroma von Linsen, in dem dicke Brocken irgendeines Nährklumpens schwammen. Ryk glaubte nicht, dass man sie vergiften würde – zumindest nicht mit Absicht –, und er hatte Hunger. Dazu gab es einen Becher mit einem durchsichtigen, leidlich kühlen Trunk, der ebenfalls ein leichtes Aroma hatte, diesmal nach einer nicht genau zu definierenden Zitrusfrucht. Das war gewiss keine Gefängnisnahrung, der Crawler war kein Transporter für suspekte blinde Passagiere. Die Vermutung lag nahe, dass die Verpflegung der regulären Besatzung nicht viel besser sein würde. Ryk sprach das laut aus, um ein konstruktives Gespräch in Gang zu setzen, und seine Gefährten nahmen den Faden gerne auf. Über das Essen zu reden war eine seelische Wohltat, sich gemeinsam darüber aufzuregen reinigte die Atmosphäre. Alle aßen sie ohne große Lust, aber auch ohne Vorbehalte und das Ergebnis war immerhin ein angenehm warmes Gefühl im Magen. Die Laune besserte sich. Graduell, aber immerhin.

»Dieses Schiff hat schon bessere Tage gesehen. Das Essen ist einfach und zeugt nicht von besonderem Reichtum. Conrad sprach von diesen Auri mit Respekt in der Stimme – aber auch mit Abneigung, einem stillen Hass geradezu.« Sia tupfte sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Das sind Leute, die sich so durchschlagen. Sie tun offenbar legale wie auch halbseidene Dinge und sie bekommen dafür so etwas wie Schutz von einer Macht, dieser Heptarchie, die sie duldet und ohne die sie nicht auskommen. Aber sie operieren am Rande der Gesellschaft und haben sich dort einigermaßen eingerichtet. So wie diese Rita geredet hat, ist es ein Leben, das von Grausamkeit und Gewalt geprägt ist.«

Uruhard nickte. Er hatte sein Mahl ebenfalls beendet und schaute beinahe sehnsüchtig auf den leeren Teller. Für Sias Hypothese sprach, dass die Portion nicht besonders groß gewesen war.

»Also im Grunde wie das Leben in den irdischen Metropolen, nur mit Raumschiffen.« Er sah sich um und wies auf die fleckigen Wände. »Das macht es nicht besser.«

»Es macht es anders«, betonte Ryk. »Es ergeben sich dadurch beispielsweise neue Möglichkeiten. Halten wir doch mal folgende Tatsache fest: Dieser Conrad und seine Leute haben ein Geschäft. Dazu gehört offenbar, regelmäßig die Sporenschiffe abzufangen, aufzuschneiden und auszuplündern, ob nun im Auftrag dieser Auri oder auf eigene Rechnung, sei mal dahingestellt. Fakt ist: Sie werden dafür nicht bestraft. Die Hivestöcke in diesem System, wie viele es auch sein mögen, reagieren darauf nicht.«

»Der Weltraum gehört den Menschen«, schloss Sia.

»Entweder das … oder etwas anderes«, sagte Uruhard nachdenklich. Mit einer unbewussten Geste strich er sich über den Backenbart. »Ryk weist da auf etwas sehr Wichtiges hin. Diese Leute hier leben gewiss kein einfaches Leben. Am Rande der Gesellschaft, wie schon gesagt. Aber ich hatte zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, dass sie vor dem Sporenschiff selbst oder den Konsequenzen, die sich aus der Kaperung ergeben, irgendwelche Furcht hätten. Es ist ihr Job. Er ist Routine. Conrad saß im Laderaum vor uns, als sei er schon immer in Sporenschiffen gereist. Sie betreten das Sporenschiff in einer Großmaulmaske und lenken dadurch eine eventuelle Besatzung ab, um sie zu überwältigen. Das ist die einzige Gefahr. Als man uns entdeckt hat, waren alle ganz locker. Conrad war völlig entspannt, nur unsere Anwesenheit hat ihn etwas beschäftigt.«

»Und selbst das war kaum der Rede wert. Er ist ja fast eingeschlafen«, knurrte Ryk.

»Er hat uns was vorgespielt«, meinte Sia. »Er ist ein Offizier dieses Schiffes, offenbar sogar der Kommandant. Wenn er nicht die Ruhe bewahrt, werden die Ritas seiner Crew schnell für Unruhe sorgen. Er muss wahrscheinlich einen ziemlich wilden Haufen unter Kontrolle halten. Ich glaube nicht, dass unser Auftauchen ihn so kalt gelassen hat, wie er wirkte. Er wollte nur, dass nichts aus dem Ruder läuft.«

»Aber er liefert uns aus. Anders sind seine Worte nicht zu deuten«, beharrte Ryk.

Sia zuckte mit den Schultern. Sie sagte darauf nichts.

»Vielleicht kann er nicht anders. Wir wissen nicht, wie die realen Machtverhältnisse sind, die Regeln, nach denen diese Leute leben.« Uruhard beugte sich nach vorne. »Wir dürfen nicht den Fehler machen, unsere Lebenserfahrung in den Metropolen einfach so auf die Zustände hier zu übertragen. Das könnte sich als fatale Fehleinschätzung erweisen.«

»Was werden diese Auri mit uns machen? Haben wir eines dieser Gesetze, eine dieser Regeln bereits verletzt und werden entsprechend sanktioniert?«, fragte Ryk sich, obgleich er bereits ahnte, dass ihm hier niemand eine Antwort geben konnte. Es lud einmal mehr zu Spekulationen ein. Das war, wie sie mittlerweile wussten, gleichermaßen müßig wie anregend, denn nichts war interessanter, als sich die eigene Zukunft in den düstersten Farben auszumalen, in der Hoffnung, danach angenehm überrascht zu werden.

»Wir sind erst mal interessant. Wir sind durchaus spannende Neuigkeiten. Wenn wir nicht als Bedrohung wahrgenommen werden, bin ich zuversichtlich, dass wir bis auf Weiteres nicht feindselig aufgenommen werden«, sagte Uruhard mit fester Stimme. Er wollte zuversichtlich sein. Er zwang sich dazu, vorbildlich zu handeln. Ryk war ihm dafür dankbar.

»Wir müssen mit jemandem reden, der sich auskennt«, erwiderte Sia. »Wir müssen an ein Raumschiff kommen. Eines, das sich selbst steuert – oder jemanden finden, der es für uns tut. Wir haben nur die erste Etappe unserer Reise erreicht. Ein Zwischenstopp. Wir müssen weiter!«

»Ohne Bezahlung«, ergänzte Ryk. »Ich glaube, VE werden hier nur als Kuriosum angesehen.«

»Vielleicht können wir unsere Anzüge verkaufen«, meinte Uruhard.

»Falls wir sie zurückerhalten. Conrad könnte sie als Bezahlung für unsere ›Rettung‹ ansehen. Möglicherweise wäre das nach hiesigen Gesetzen sogar sein Recht. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn uns alles genommen wird«, spekulierte Sia düster.

Momo nickte. Er war offensichtlich auch eher pessimistisch. Ihm machte es nur wenig, denn damit geschah nichts, was seinem bisherigen Lebensweg grundsätzlich widersprach. Ryk war beinahe ein wenig neidisch auf seine stoische Grundhaltung.

Leider war jedes negative Gefühl so viel stärker und verheißungsvoller als Uruhards etwas gewollte Zuversicht. Die kurze Aufhellung der Stimmung, hervorgerufen durch seine Erwartungen, verflog sehr schnell. Ryk ermahnte sich. Er wusste doch gar nicht, was passieren würde. Vielleicht waren die Auri ja total nett.

Als er das dachte, klang dieser Gedanke so absurd, dass er beinahe darüber lachen musste.

3

Ryk war einen Moment eingenickt, denn die Warterei hatte sich arg in die Länge gezogen.

Zwischendurch war Conrad einmal aufgetaucht, um weitere Rationen vorbeizubringen und »nach dem Rechten« zu sehen. Seine Antworten auf ihre – sich zugegebenermaßen wiederholenden – Fragen waren immer noch von kryptischem Amüsement gewesen. Auch wollte oder konnte er keine genauen Angaben zur verbleibenden Reisezeit machen. »Dauert nicht mehr lange«, klang aus dem Mund dieses Mannes nicht sehr tröstlich. Es hatte einfach zu viel von »Lasst mich in Ruhe!«

Dann aber fuhr ein Zittern durch die Hülle der Süße Maid und das Schiff knirschte und ächzte besonders laut. Es war, als sei es mit einer anderen Masse zusammengestoßen, nur sehr langsam. Sirenen erklangen, nicht alarmierend, sondern hinweisend. Das konnte bedeuten, dass sie an ihrem Ziel angekommen waren. Es konnte auch bedeuten, dass das Schiff einen lausigen Piloten hatte. In jedem Fall tat sich etwas und nur wenige Minuten später stand Conrad in der Tür, begleitet von Rita, die eine Waffe auf die Gefangenen richtete. Ihr war anzusehen, dass sie absolut keine Probleme mit einem Ausbruchsversuch hätte, denn dann würde ihr niemand vorwerfen, alle vier einfach niederzumähen.

Sie taten ihr den Gefallen nicht. Sia sah Rita sehr missfallend an. Ihre Blicke konnten zwar nicht töten, viel fehlte aber nicht. Ritas Waffe senkte sich um einige Zentimeter.

»Was passiert jetzt?«, fragte Uruhard.

»Ihr kennt den Weg«, erwiderte Conrad lächelnd. »Einfach wieder zurück.«

»Wo sind wir?«, fragte Ryk.

»Mercia-Pylon III. Anlaufstation für Crawler. Ihr wurdet angekündigt. Und ihr werdet erwartet.«

»Von den Auri?«

»Von einem. Immerhin. Das ist eine Ehre. Er schickt keinen Unterling, er kommt selbst. Ihr seid irgendwie wichtig für ihn. Er hat sehr interessiert auf meine Schilderung reagiert, wie wir euch gefunden haben. Gut, dass wir euch alle abliefern, lebend und in einem Stück.«

Conrad warf einen Seitenblick auf Rita, die ihn mit einem Grunzen quittierte. Sie war immer noch nicht überzeugt. Ihr Chef lächelte verständnisvoll.

Sie begegneten niemandem und als sie in die Schleusenkammer traten, bewahrheitete sich, was Ryk befürchtet hatte: Conrad hatte nicht die geringste Absicht, ihnen ihre Habseligkeiten zurückzugeben.

Uruhard fragte trotzdem danach, allein schon, um die Form zu wahren.

Er bekam nur ein Grinsen und ein Kopfschütteln zur Antwort. Dann öffnete sich die Schleusentür und sie konnten einen Blick nach draußen werfen.

Dort war eine Halle.

Ryk starrte einen Moment und blieb stehen. Er war ein klein wenig überwältigt. Eine Halle mit schrägen Wänden, die den Raum endlos wirken ließen und einen Ausblick auf noch viel mehr von … allem boten.

Es war alles voller Menschen, geschäftigem Lärm, Stimmengewirr und sich vermischenden Gerüchen. Metallisch. Organisch. Schweiß. Parfum. Unidentifizierbar, aber ein olfaktorischer Ausdruck steter Betriebsamkeit. Reisende. Arbeiter. Wachen. Männer, Frauen, sogar vereinzelte Kinder. Viele Schiffe waren hier angedockt, eine Hälfte ihrer Hüllen ragte in den saalförmigen Bau, die andere Hälfte erstreckte sich wohl ins Weltall. Schleusen öffneten und schlossen sich. Große Maschinen verluden Kisten und Container. Es gab Flüche und Rufe und Befehle, die irgendwer befolgte oder auch nicht. Durcheinander? Vielleicht. Aber das Chaos schien System zu haben, denn es wurden Dinge vollbracht.

Ein Umschlagsplatz, ein Treffpunkt, ein Raumhafen.

Raumhafen.

Ryk ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. Es erfüllte ihn mit einer großen Faszination, die für einen Moment selbst die Ungewissheit ihrer Situation überlagerte. Raumhafen. Darin lag ein wunderbares Versprechen von Weite, Spannung, Abenteuer, Vielfalt, endlosen Möglichkeiten. All das, was einem Springer normalerweise im Blut lag.

Ryk jedenfalls, aufgeregt, gespannt und ein wenig ängstlich, fand es vor allem ganz wunderbar. Er sog die Atmosphäre, die auf ihn einströmte, in sich auf. Hier war Leben. Hier lag das Versprechen eines weiten Horizonts, sichtbar durch große, gewölbte Fenster, die den Blick ins Weltall freigaben.

Wunderbar.

So viele Menschen. Eine Metropole im Raum. Was für ein Ort!

Und direkt vor der Rampe der Süße Maid stand ein ganz besonderes Exemplar von Mensch, abwartend, sanft lächelnd, das sie beobachtete wie sie ihre überwältigende Umgebung.

Es musste sich um einen Auri handeln. Denn der hochgewachsene, feingliedrige Mann mit dem schmalen Kopf war ganz in Gold gekleidet. Er schimmerte und glänzte bei jeder Bewegung, ein Sinnbild permanenter Reflexion und Lichtbrechung. Er trug eine lange Tunika, die ihm bis zu den Knien reichte, darunter eine Hose, die in Schnürstiefeln steckte. Die Stiefel waren schwarz lackiert mit goldenen Verzierungen, wie zwei antike Schmuckkästchen aus Andhmergens Museum. Um seine Schultern war eine Art Cape drapiert, das keine andere Funktion als die eines modischen Accessoires zu erfüllen schien. Ein goldenes Band umschloss seinen Kopf auf Augenhöhe, einmal um den ganzen Schädel herum. Eine Art Brille? Auch nur Mode? Ryk konnte es nicht ermessen. An der Schläfe trug er ein kunstvolles Tattoo, eine herausragende Handwerkskunst, und darin eingebettet war ein funkelnder Edelstein.

Begleitet wurde der Auri – und bis er etwas anderes hörte, würde Ryk ihn so bezeichnen – von vier Menschen in Uniformen, die ebenfalls mehr herausgeputzt als zweckmäßig gekleidet erschienen. Sie hatten kurze Schwerter an den Gürteln, ganz andere Waffen als die der Wolkensamurai, und trugen Handfeuerwaffen in Holstern. Ihre Uniformjacken waren mit Epauletten geschmückt und jeder trug eine Art Halsband mit einer Metallplatte vor der Brust, auf der ein Symbol eingraviert war. Alles absolut makellos. Einer hatte ebenfalls so ein Tattoo, nicht ganz so prächtig, aber mit demselben, wunderschönen Edelstein. Möglicherweise ein Statussymbol.

Ryk fand keinen Hinweis darauf, dass die vier – zwei Männer und zwei Frauen – nicht auch mit den Waffen umgehen konnten, die sie hier zur Schau trugen. Er musste annehmen, dass diese Präsentation durchaus mit der Option verbunden war, sich auch die Uniform dreckig zu machen.

»Genug gestarrt. Folgt mir!« Conrad ging voran. Es folgten seine Gefangenen und die grimmige Rita.

Der Kommandant der Süße Maid verbeugte sich vor dem Auri. Eine so formvollendete Bewegung hätte Ryk ihm gar nicht zugetraut. Conrad, das begriff er in diesem Moment der Klarheit, hatte nicht einfach nur Respekt vor dem Goldenen. Er hatte Angst.

Ryk wusste, dass er deswegen keine Genugtuung empfinden sollte. Conrads Schaden war nicht notwendigerweise sein Nutzen, vielleicht sollte er auch besser Angst vor dem Auri haben. Höchstwahrscheinlich sogar.

Der Prächtige nahm die Verbeugung zur Kenntnis. Sie erschien ihm zweifellos gleichermaßen selbstverständlich wie angemessen.

»Conrad Atman, Crawler 73. Du hast etwas für mich?«

Die Stimme des Goldbekleideten war sanftmütig und neugierig, nein: interessiert. Auf eine etwas gelangweilte Art und Weise, das musste Ryk einräumen, aber bar jeder Aggressivität und, bemerkenswert irgendwie, ohne Arroganz. Er sah Conrad wohlgefällig an, wie ein Kind, das etwas Gutes getan hatte, den Erwartungen entsprach oder sehr folgsam gewesen war. Vielleicht war es gerade diese Haltung, die den Herrn der Süße Maid so erzürnte, denn Ryk beobachtete, wie dieser sich innerlich anspannte.

»Herr, eher jemanden. Diese vier hier, wie berichtet. Wohlbehalten und genährt, entsprechend Ihren Anweisungen.«

Natürlich hatte es einen Kommunikationswechsel gegeben. Ihre Geschichte war bekannt, soweit sie sie erzählt hatten. Der Auri war jetzt ernsthaft interessiert. »Tretet vor.«

Das taten sie, schweigend. Dies war weder der Ort noch die Zeit, um voreilig das Wort zu ergreifen. Der Goldene musterte sie intensiv, einen nach dem anderen, und die fein geschwungenen, wie aufgemalt wirkenden Augenbrauen über seinem Brillenband waren dabei das Aktivste in seinem Gesicht. Mal zogen sie sich fragend zusammen, mal tanzten sie überrascht hoch. Momo schien so etwas wie Erstaunen in ihm hervorzurufen, vielleicht gab es hier keine Defos. Auf Sia ruhte der Blick des Mannes ein wenig länger, als würde er in ihr eine seltsam vertraute Gestalt erkennen. Was den äußeren Reiz anging, so kam sie seinen Idealvorstellungen sicher am nächsten.

»Interessant. In einem Sporenschiff hast du sie aufgesammelt?«

»Ja, Herr. Es waren blinde Passagiere. Die ersten, seit ich zurückdenken kann.«

»Gut, dass du sie nicht gleich umgebracht hast. Das Sporenschiff und seine Ladung sind sicher?«

Conrad wies auf den Crawler hinter sich. »Die Entladung ist bereits im Gange. Alles vollständig und unbeschädigt, bis auf das Großmaul.«

Der Goldene zeigte auf die vier. »Es waren blinde Passagiere an Bord, wer weiß, wie lange. Sie haben nichts beschädigt?«

»Sie wollten weg von der Erde. Es war logisch für sie, achtsam zu sein.«

»Ja. Ich zahle dir für die Ladung die üblichen Fünfhundert. Und für die vier hier noch einmal achthundert.«

»Für jeden?« In Conrads Frage schwang eine gehörige Portion Gier mit. Der Goldene lachte auf, ein perlendes Geräusch. Es klang so, wie der Wein geschmeckt hatte, den Ryk vor scheinbar ewiger Zeit in der Bar der Hybriden zu sich genommen hatte. Er wünschte sich ein wenig dorthin zurück. Es war aufregend gewesen, aber vermischt mit deutlich weniger Ungewissheit.

»Du siehst deine Chance und greifst zu, Conrad«, bemerkte der Mann anerkennend. »Ich mag das an Leuten. Es macht sie ehrlich. Keine falsche Zurückhaltung, wenn es um genug Fleisch am Knochen geht. Das respektiere ich. Und ich bin in großzügiger Stimmung. Meine älteste Tochter hatte erst gestern ihren Segenritus. Und ich wurde zum Zeremonienmeister der Inauguration ernannt, eine große Ehre.«

»Meine Glückwünsche an die verehrte Tochter«, sagte Conrad ungewöhnlich devot und mit der Andeutung einer Verbeugung.

»Wirst du zur Amtseinführung des Obersten Heptarchen kommen?«

»Ich bin leider verhindert«, erwiderte Conrad unterwürfig genug, aber in seinen Worten lag kein Bedauern.

»Wie bedauerlich. Es wird eine außergewöhnliche Zeremonie, jetzt erst recht. Ich gebe dir tausend für alle vier. Das ist ein gutes Geschäft.«

Der Goldene sagte den letzten Satz mit freundlichem, sanftem Nachdruck und die Botschaft kam bei Conrad an. Eine zweite Verbeugung, diesmal etwas deutlicher, und dann reichte er dem Mann ein kleines Gerät, das dieser kurz manipulierte. Conrad bekam es zurück, warf einen Blick darauf, nickte zufrieden und winkte seinen Gefangenen.

»Ich übergebe euch jetzt an Solos hier. Er ist Prätendent der Heptarchie und als solcher solltet ihr ihm Respekt erweisen, denn er entscheidet ab jetzt über euer Schicksal.«

Solos sah die vier an und nickte gefällig. »Sie wissen wirklich nicht, wie hier die Gepflogenheiten sind, oder?«

»Wir wissen nicht mal, wo genau wir uns befinden«, gab Sia zurück.

Solos schaute sie plötzlich interessiert an.

»Eine schöne Stimme haben Sie, mein Kind.«

»Ich bin Sängerin.«

»Gesang wird hier hochgeschätzt. Wer Talent hat, bekommt Kredit. Sie werden die Gelegenheit bekommen, das Ihre unter Beweis zu stellen. Jetzt folgen Sie mir aber erst einmal. Ich habe viele Fragen … und Sie wahrscheinlich auch. Ich bin bereit, Sie alle bis auf Weiteres nicht als Bedrohung einzustufen.« Er sah prüfend von einem zum anderen. »Bis auf Weiteres bedeutet, dass ich annehmen möchte, dass Sie sich ordentlich verhalten und keinen Ärger machen werden. Dann sollen Sie auch gut behandelt werden. Ich versichere Ihnen aber, dass meine Toleranz für Ärger nicht allzu hoch ist. Halten Sie sich an meine Anweisungen und Sie sind auf der sicheren Seite.« Solos machte eine einladende Handbewegung. »Wenn Sie mir folgen wollen.«

Conrad verabschiedete sich. Rita hatte ihre Waffe bereits eingesteckt, als sie sich Solos genähert hatten. Beide warfen den vieren einen letzten Blick zu. Conrad wirkte teilnahmslos. Rita aber sah an Ryk und seinen Freunden vorbei auf Solos, und wenn ihn nicht alles täuschte, waren ihre Augen voller Hass.

Solos merkte es nicht oder es war ihm völlig egal.

Er blieb höflich, lächelnd, nicht aggressiv. Aber die Wachen behielten die vier genau im Auge. Ryk spürte keine unmittelbare Bedrohung, eher ein Unwohlsein und er nutzte ihren Fußmarsch, um sich weiter mit der Umgebung vertraut zu machen. Dies war ein belebter Ort, ein Platz des Handels, ein Verkehrsknotenpunkt, das war klar. Aber die Menschen, die er beobachten konnte, stellten offenbar auch einen Querschnitt der Gesellschaft dar. Manchen sah man Armut und Vernachlässigung an, die Kleidung war in einem schlechten Zustand, die Gesichter schmal und die Körper ausgemergelt. Der Schritt dieser Menschen war schleppend, sie standen in kleinen Gruppen oder einzeln an bestimmten Orten, als ob sie darauf warteten, dass etwas mit ihnen geschehen würde. Vielleicht boten sie ihre Arbeitskraft an. Jedenfalls waren sie nicht unaufmerksam und schauten immer wieder in die Richtung der Andockbuchten, hoffnungsvoll und resigniert zugleich. Andere, besser gekleidet, eilten geschäftig umher, mit einem Ziel vor Augen oder mehreren, mit Dokumenten befasst, manchmal in Begleitung eines dienstbaren Geistes. Keine Müßiggänger, kein Flanieren, sondern gespannte Konzentration. Ryk kannte diesen Ausdruck in Gesicht und Körperhaltung, hier jagten Leute nach dem, wovon man nie genug haben konnte: nach Reichtum, Profit, nach Geld, nach dem, wovon Conrad einen Bonus erhalten hatte, der ihn für einen Moment sehr zufrieden hatte aussehen lassen. Womit verdiente man in der Heptarchie sein Geld? Was war, wenn sie hierbleiben mussten und am Ende ihrer Reise angelangt waren? Ryk konnte nicht singen. Er sah sich bereits in der Gruppe der abgerissenen Gestalten stehen, hungrigen Blickes nach einer Arbeit Ausschau haltend. Falls Solos ihnen die Freiheit geben würde, Geld zu verdienen oder bei dem Versuch zu scheitern. Dass sie aber jetzt, in diesem Moment, Gefangene waren, Menschen, für die der Goldene sogar eine offenbar beachtliche Summe bezahlt hatte, daran bestand wohl kein Zweifel.

Ihnen wurden teils verstohlene, teils offene Blicke voller Neugierde zugeworfen. Es war keine Feindseligkeit darin, soweit Ryk das beurteilen konnte. Sie sahen nicht völlig fremdartig aus. Ihre Overalls waren von einem Schnitt, der vielen hier ähnelte, einfach praktisch und nicht auffällig. Doch vor allem Momo wurde immer wieder angestarrt. Gab es hier tatsächlich keine Defos? Er war jedenfalls derjenige, der die größte Aufmerksamkeit, das meiste Fingerzeigen und Getuschel auf sich zog. Momo selbst ertrug dies mit seiner üblichen, stoischen Gelassenheit. Er schien sich sicher zu fühlen.

Ihr Fußmarsch endete an einem Portal, vor dem Wachen standen. Es öffnete sich, als Solos näher kam, und die Wachsoldaten beäugten die Besucher misstrauisch. Die Anwesenheit des Goldenen allein aber schien Legimitation genug zu sein. Als sie hindurchtraten, ebbte die Betriebsamkeit um sie herum sofort ab. Es wurde ruhig. Nahezu kontemplativ. Das lag gewiss auch an der plötzlich veränderten Umgebung.

Sie standen in einer weiteren Halle. Auch Solos hatte in seinen weiten, raumgreifenden Schritten innegehalten und beobachtete ihre Reaktion. Er schien mit den weit aufgerissenen Augen und dem stillen Staunen seiner Schutzbefohlenen sehr zufrieden zu sein, wenn man das leichte Lächeln auf seinen Lippen so deuten wollte.

»Beeindruckend, nicht wahr?«

Das war es ohne Zweifel. Eine Halle, gefüllt mit einer künstlichen Parklandschaft, unter einer Kuppel, die einen direkten Blick in das umgebende Weltall ermöglichte. Wege führten durch geschmackvoll angelegte Bepflanzungen, ein künstlicher Bach flüsterte von einer Wand zur anderen, überspannt von sehr grazil aussehenden Brücken – Brückchen, wenn man es genau beschreiben wollte – und versehen mit kleinen, sanft sprudelnden Wasserfällen. Ryk sah Bäume, nicht viele, aber mit weit ausladendem Blätterdach, die in der Halle verteilt standen und Schatten spendeten. Weiße Holzbänke waren überall verteilt. Leute saßen darauf, alle in farbige Gewänder gekleidet, die von goldenen Schärpen und Gürteln gehalten wurden. Die Geräuschkulisse war wie die Umgebung: sanft, anheimelnd, unaufdringlich, angenehm. Niemand war laut, niemand rannte, man flanierte in Respekt vor der Kunst, die dieser Anlage zugrunde lag und die offenbar niemand durch unbotmäßiges Verhalten beleidigen wollte. Über allem lag eine heitere, entspannte Atmosphäre. Ryk spürte in sich das plötzliche Verlangen, sich auf eine der Bänke zu setzen, die Beine auszustrecken und vielleicht ein kleines Picknick zu machen. Darin war er nicht alleine. Auf in der Halle verteilten Rasenflächen saßen manche, die ein Tuch ausgebreitet hatten und hier ihre Pause verbrachten. Ryk nahm zumindest an, dass es sich um eine Pause handelte. Schloss man von der Betriebsamkeit der Andockhalle auf die Uhrzeit, dann war dies die Zeit für Arbeit und Handel. Recht betrachtet wirkten hier aber alle sehr entspannt und niemand hatte es eilig. Vielleicht doch keine Pause. Vielleicht die Lebensweise von Menschen, die auf Kosten der Arbeit anderer lebten.

Mit diesem Gedanken legte sich ein Schleier des Zweifels über Ryks Wahrnehmung. Er wollte es so nicht sehen. Es war alles so schön, so friedlich, so wohlgeordnet. Ein Ort, der seiner Vorstellung eines Paradieses nahekam. Ryk wehrte sich gegen die Gefahr plötzlicher Ernüchterung. Dennoch, sein bisheriges Leben hatte ihn gelehrt, dass diese meist unausweichlich war.

Und so dämpften Misstrauen und die Voreingenommenheit eines Lebens in Metropole 7 die anfängliche Begeisterung. Ryk sah diesem vergehenden Moment beinahe kindlicher Faszination mit Bedauern nach. Es war ein köstlicher Augenblick gewesen, den er sich selbst verdorben hatte. Ryk fühlte sich ein wenig verraten. Er führte wirklich kein sehr schönes Leben. Und es legte einen steten Schatten auf alles, was er sah.

»Folgen Sie mir. Hier entlang.« Solos ging voraus. Bemerkenswerterweise waren seine Wachen verschwunden. War dies ein Vertrauensbeweis oder standen den Bewohnern dieser Kuppel andere Methoden zur Verfügung, Unbotmäßigkeit zu ahnden? Ryk hatte nicht die Absicht, Probleme zu bereiten. Er traute sich kaum, den Rasen zu betreten, an dem sie jetzt gemeinsam vorbeispazierten.

»Es ist sehr schön hier«, sagte Sia und es klang aufrichtig. Auch sie konnte sich der Faszination dieses Ortes nicht entziehen.

»Und es ist nicht einmal Pax«, erwiderte Solos. »Unsere Hauptstadt stellt das hier weit in den Schatten. Dies ist Provinz.« Er lächelte. »Auf der Erde muss es nicht mehr besonders schön sein. Wir haben gar keine Vorstellung davon, wie es dort aussieht. Viele werden sehr begierig sein, mehr darüber zu erfahren. Ist Terra noch stark vom Krieg gegen den Hive gezeichnet?«

»Das kann man so sagen.«

»Es gibt noch Städte?«

»Ja, aber es geht allen immer schlechter.«

Solos runzelte die Stirn. »Das wird vielen von uns nicht gefallen. Wir haben ja alle tief in unserem Herzen die Hoffnung, dass die Erneuerung der Menschheit von der alten Heimat ausgeht. Da wird sich so manche Illusion in Wohlgefallen auflösen. Illusionen sind aber manchmal sehr wichtig. Wir werden die Wahrheit vorsichtig kommunizieren müssen. Terra ist noch sehr lebendig in unserer Kultur.«

»Sie haben nie versucht, die Heimatwelt zu erreichen?«, wollte nun Uruhard wissen, offenbar ermutigt durch die umgängliche Art ihres Gastgebers.

Solos schüttelte traurig den Kopf.

»Die Sporenschiffe des hiesigen Hives fliegen in eine ganz andere Richtung und wir haben nie versucht, das gleiche Experiment zu wagen wie Sie. Sehr bewundernswert übrigens. Meinen Respekt haben Sie sich damit verdient. Ansonsten gibt es keine überlichtschnelle Raumfahrt mehr. Was wir haben, sind die alten Crawler sowie die Systemschiffe der Heptarchie. Dafür schlachten wir das Flottendepot aus, dessen Vorräte langsam zur Neige gehen. Viele alte Truppenboote und Kleinfrachter. Die Überlichtschiffe sind alle bei Terra vernichtet worden, im letzten großen Kampf gegen den Hive. Es gibt ein Museumsstück, das werde ich Ihnen zeigen. Aber ansonsten … nein, wir sind seit langer Zeit von Terra abgeschnitten. Hier, durch diese Tür.«

Sie betraten einen schön eingerichteten Raum mit mehreren Sesselgruppen und einem weichen Teppich, der ihre Schritte fast schon federn ließ. An den Wänden hing abstrakte Kunst in einer angenehmen Farbauswahl, ohne jede wirklich gegenständliche Darstellung. Aber die geografischen Formen wirkten beruhigend, zumindest auf Ryk, der nie zuvor eine Affinität zu Gemälden verspürt hatte – wahrscheinlich, weil man ihnen in Metropole 7 so gut wie nie begegnete. Selbst Andhmergens Museum enthielt mehr Korkenzieher als Bilderrahmen, von deren Inhalt einmal ganz zu schweigen.

Auf Einladung von Solos setzten sie sich. Ryk versank beinahe in dem tiefen Sessel. Kaum hatte sein Körper die weichen Polster berührt, empfand er eine tiefe Müdigkeit. Die Strapazen der Reise machten sich nun bemerkbar.

»Ich habe viele Fragen«, sagte der Mann. »Und Sie haben sicher Hunger und Durst. Erlauben Sie mir, Sie alle zu einem Imbiss einzuladen.«

Irgendwer hatte das gehört, denn Türen öffneten sich und Bedienstete trugen Tabletts herein, deren Last von Ryk mit einer plötzlich aufwallenden Gier betrachtet wurde. Uruhard, Theosius und Meister Dahn hatten ihn ein wenig verdorben, was die Pflichten und Freuden der Nahrungsaufnahme anging. Es sah so aus, als sei Solos gewillt, dieses Niveau zu halten. Die kleinen Speisen waren mundgerecht angerichtet und sahen sehr vielversprechend aus. Ryk konnte nicht alles aus dem Angebot sofort einwandfrei identifizieren, aber er ging von der festen Annahme aus, dass man sie – jedenfalls bis auf Weiteres – nicht vergiften wollte.

Sie schwiegen für einige Minuten, drängende Fragen und bohrende Nachfragen hin oder her, denn die Einladung war ausgesprochen worden und wurde akzeptiert. Als Getränke wurden diverse Säfte angeboten, kein Alkohol, was erst einmal darauf schließen ließ, dass Solos an einer nüchternen Diskussion interessiert war. Wenn es hier entspannende Drogen gab, dann hoffte Ryk, dass man ihnen diese zu einem späteren Zeitpunkt anbieten würde. Er war durchaus geneigt, ein solches Angebot ebenfalls anzunehmen.

Es war alles ganz köstlich. So viele Geschmacksvarianten, so viele Konsistenzen, so viele Kombinationen. Eine Explosion der Gaumenfreuden. Für einige Zeit konnte sich Ryk auf nichts anderes konzentrieren.

»Sie sind also von der Erde geflohen? Sind die Lebensumstände dort so unerträglich geworden?«, nahm Solos schließlich nach einer Phase der Geduld den Faden wieder auf.

»Man kann noch dort leben, aber es ist schwer«, sagte Sia nun zögerlich und sah ihre Gefährten fragend an. Uruhard und Ryk nickten ihr zu. Es ergab keinen Sinn, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. Solos schien zumindest bereit, ihnen zuzuhören, und im Zweifel würde er sie nur auslachen, wenn ihm etwas zu absurd erschien. Das war zu verschmerzen. »Aber es gibt einen anderen Grund, warum wir die Reise gewagt haben. Conrad wird es Ihnen möglicherweise bereits geschildert haben: Unser Ziel ist es, den Letzten Admiral zu suchen.«

Solos schaute sie an. Erst schien er gar nicht zu verstehen, wovon sie sprach, dann aber nickte er sehr langsam und gemessen. Er wirkte nicht amüsiert. Er wirkte nicht verärgert. Er machte plötzlich den Eindruck eines Vaters, dessen Kinder einen berechtigten, aber leider unerfüllbaren Wunsch geäußert hatten.

»Ja, Conrad deutete an, dass Sie eine … seltsame Geschichte auf Lager hätten. Diese Legende ist uns natürlich auch bekannt, sie ist ebenfalls ein wichtiger Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Ich bringe Sie gerne mit einigen unserer Historiker zusammen, die dazu eine informiertere Meinung abgeben können als ich. Aber es ist in der Tat nur das: ein Mythos, der spannend ist, vielleicht sogar inspirierend – aber ohne jede Grundlage. Ich sage nicht, dass er kein Körnchen Wahrheit enthalten könnte, aber es ist alles so lange her … und im Laufe dieser Zeit wurde aus der realen Geschichte eines realen Menschen ein schönes Märchen.«

Solos schüttelte fast traurig den Kopf.

»Ich würde mir wünschen, es wäre anders. Sie haben eine alte Geschichte aus den Ruinen Terras mitgebracht. Ich will Ihnen weder den Glauben noch die Hoffnung nehmen. Aber ich befürchte, dass Sie hier am Ende Ihres Weges angekommen sind.« Er lächelte wieder und breitete die Arme aus. »Das muss ja keine schlechte Nachricht sein. Wir heißen Sie als besondere Gäste in der Heptarchie willkommen. Wir respektieren Terra und unsere gemeinsame Geschichte. Ich verspreche Ihnen, es soll Ihnen an nichts fehlen. Sie können nicht mehr zurück und Sie können nicht mehr weiter. Vielleicht ist es an der Zeit, dass Sie darüber nachdenken, hier Ihre neue Heimat zu finden. Es gibt wahrlich schlimmere Orte, um zu leben. Wahrlich.«

Erneut Blicke stummer Übereinkunft. Sia schwieg und nickte. Sie würden die Details ihrer Mission und die Informationen, die sie im verschütteten Hauptquartier auf der Erde erfahren hatten, bis auf Weiteres für sich behalten. Vielleicht waren die von Solos erwähnten Historiker in der Lage, ihr Anliegen etwas ernster zu nehmen. Auch Ryk spürte nur etwas Trotz in sich, keine Enttäuschung. Mit so einer Reaktion war wohl zu rechnen gewesen.

»Was wird nun mit uns geschehen? Uns ist nicht entgangen, dass Sie Conrad für uns bezahlt haben«, fragte Ryk.

»Nein, das haben Sie missverstanden – und ich hätte es sogleich erklären sollen, glaube ich.« Solos lächelte um Entschuldigung bittend. »Ich habe Conrad bezahlt, weil er einen Vertrag mit der Heptarchie hat. Er räumt Sporenschiffe aus und liefert uns alles an interessanten Artefakten, das er am Rande des Systems findet, vor allem im Raumschifffriedhof. Es gibt feste Raten und Zuschläge für besonders interessante Funde. Nun sind Sie alle keine Artefakte, aber auf jeden Fall besonders interessant. Sie fallen nicht hundertprozentig in den Gebührenkatalog, deswegen haben wir etwas verhandelt.« Solos grinste aufmunternd. »Sie sind nicht mein Besitz. Ich sorge nur dafür, dass das Interesse an Ihnen sich für alle lohnt. Was hätten Sie in Crawlertown anfangen sollen? Das ist ein ungemütlicher Ort, der keine Freuden bietet.«

Ehe Ryk die logische Frage anschließen konnte, fuhr der Mann fort: »Ich lade Sie alle in die Hauptstadt der Heptarchie ein. Wir nennen sie Pax, weil sie uns den Frieden bringt und die Quelle unserer Einheit ist.«

Er sah sich um, registrierte die Verständnislosigkeit und nickte, mehr zu sich selbst.

»Latein. Eine schon lange ausgestorbene Sprache. Es war ein Hobby unserer Vorfahren, sich aus den alten Aufzeichnungen zu bedienen. Sie stellt eine Verbindung zur Vergangenheit her und hilft uns dabei, nicht völlig abgetrennt zu sein, uns zu erinnern. Sie haben ja schon gehört, dass das für uns durchaus von Bedeutung ist. In Pax findet in einigen Standardtagen eine wichtige Zeremonie statt. Der Oberste Heptarch wird in sein Amt eingeführt. Seine Vorgängerin starb vor einigen Wochen und ein Nachfolger ist gefunden. So etwas passiert nicht oft, in diesem Amt pflegt man sehr alt zu werden. Jetzt aber stehen uns Tage voller Feierlichkeiten und Freude bevor. Mit einem begleitenden Kulturprogramm. Für das ich unter anderem die Verantwortung trage. Ich bin so etwas wie der Zeremonienmeister der ganzen Festlichkeiten.«

Solos breitete die Arme aus. »Ich sage es Ihnen ganz offen: Sie sind meine Attraktion. Die Arbeit ist einfach. Sie erzählen Ihre Geschichte. Sie besuchen einige Partys und Empfänge. Sie sind Ehrengäste der Inauguration. Ich reiche Sie ein wenig herum, so kann man das wohl sagen.« Er hob eine Hand. »Sie werden dafür entlohnt. Schaffen Sie sich eine Basis für Ihr Leben. Knüpfen Sie Kontakte zu wichtigen Leuten, die Ihnen helfen können, hier weich zu landen. Ein Gewinn für uns alle.«

»Und ein Angebot, das wir nicht ablehnen können«, murmelte Sia.

»Warum sollten Sie auch?«, erwiderte Solos leichthin. »Sie werden niemals mehr ein besseres bekommen. Und wenn Sie tatsächlich diesem alten Traum nachjagen wollen, so werden Sie in Pax am ehesten auf jene treffen, die Ihnen weiterhelfen können … oder die Sie davon überzeugen werden, es aufzugeben und sich eher hier häuslich einzurichten.« Er beugte sich nach vorne, die Stimme nun intensiv, beinahe hypnotisch. »Sie können sich ein neues Leben aufbauen, nachdem Sie der darniederliegenden Erde entflohen sind. Eine echte Chance, keine wilde Spinnerei. Nehmen Sie das ernst, zumindest als Option. Es wäre unklug, wenn Sie auf Ihrem Weg nicht auch nach links und rechts schauen würden, oder?«

Unklug, ja. Ryk erkannte die Logik in den Worten des Mannes. Er fühlte sich dennoch manipuliert. Vielleicht auch benutzt, eine Jahrmarktattraktion, am Nasenring durch die Arena geführt. Niemand empfand gerne so. Er schaute auf das Tablett mit den Speisen. Er war satt.