Der letzte Rabbiner - Gunda Trepp - E-Book

Der letzte Rabbiner E-Book

Gunda Trepp

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Beschreibung

Leo Trepp wächst in einer orthodoxen Familie auf, in der Theater und klassische Literatur ebenso zum Alltag gehören wie Torastudium und Synagogenbesuche. Nach Philosophiepromotion und Rabbinerausbildung amtiert er als letzter Landesrabbiner in Oldenburg, unter den kritischen Blicken der Nationalsozialisten. Nach seiner Entlassung aus dem Konzentrationslager entkommt er in die USA. Doch schon bald beginnt er sein "unermüdliches Versöhnungswerk", wie es Karl Kardinal Lehmann nannte: Immer wieder kehrt er nach Deutschland zurück, um den Menschen das Judentum näher zu bringen und Vorurteile abzubauen. Er lehrt und berät, steht im engagierten Dialog mit Kirchenvertretern und Muslimen und hilft beim Aufbau neuer jüdischer Gemeinden. Seine Autobiographie blieb unvollendet - und so trägt seine Frau, die Autorin Gunda Trepp, die Erinnerungen zusammen, ergänzt, kommentiert und erzählt mit Liebe und Wärme von diesem tief religiösen und doch so un-orthodoxen deutsch-jüdischen Leben.

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Seitenzahl: 439

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Gunda Trepp

DER LETZTE RABBINER

Das unorthodoxe Leben des Leo Trepp

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.

© 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Redaktion: Sophie Dahmen, Darmstadt

Satz: Mario Moths, Marl

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-3818-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3831-0

eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3832-7

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Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Inhalt

Vorwort von Johannes Gerster

Einleitung

1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters

Ach, du wunderschöner Rhein

Kaiser, Krieg und Vaterland

Leben in zwei Kulturen

Vom Glück des Lernens

2. Kapitel: Mittendrin und außenvor

Ein klimperkleines Dorf mit Juden

Die Grenze ist geschlossen – und das Glück grenzenlos

Abschied von der Kindheit

Das Gerücht über die Juden

3. Kapitel: Studium im Sauseschritt

Orthodox? Liberal? Einheit in der Vielfalt

Wer ist schon Albert Einstein? Außen Universität – Innen NSDAP

Ein Bruder in Nöten und ein SA-Mann mit Herz

Treueversprechen gegen die Nazis

Wer denkt denn da noch an Karriere?

4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst

Mit den Augen der Anderen

Aufbauen, abwickeln und trösten – gleichzeitig

„Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“

Eine Schule für die Juden

Hoffnung ist die Hoffnung ist die Hoffnung

„Der Kapitän verlässt das Schiff zuletzt“

Das Ende

5. Kapitel: Rückkehr

„Wo warst du in jener Zeit?“

Gestohlene Heimat

Neu und verwirrt – ein Deutscher in Amerika

Weichen für die Zukunft stellen

6. Kapitel: So ist es Mühe und Arbeit gewesen

Zwei Frauen und ein emanzipierter Rabbiner

„Ohne den Älteren wäre der Jüngere nicht da“

Der Gerechtigkeit sollst du nachjagen

Über das Abschiednehmen

Glossar

Bibliographie

Vorwort von Johannes Gerster

Leo Trepp: Mainzer – Rabbiner – Wissenschaftler – Brückenbauer – Mensch

Im Alter von über 90 Jahren saß Leo Trepp mit seiner zweiten Frau Gunda auf unserer Terrasse über den Dächern der Mainzer Innenstadt. „Seinen“ geliebten Mainzer Dom voll im Blick, ließ sich Leo den berühmten rheinhessischen Spargel schmecken, dazu ein oder auch mehrere Gläser guten Rotweins und nach den Speisen eine Zigarre oder einen Villiger Kiel. Es war Hochsommer und doch wollten angesichts des hohen Alters unseres Ehrengastes Herbstgefühle aufkommen. Nicht so bei Leo: Plötzlich erklärte der greise Rabbiner, der bereits auf einen Rollstuhl angewiesen war, mit funkelnden Augen und durch energische Handbewegungen unterstrichen, voller Energie und Leidenschaft, er wolle sich mit Gunda eine Eigentumswohnung in Mainz kaufen, möglichst mit Rheinblick, um die Semesterzeit in Mainz künftig dort zu verbringen und die Stadt häufiger besuchen zu können. Zeit zum Zweifel an diesen Plänen blieb nicht, wurden doch sogleich denkbare Alternativen besprochen, durchdacht, verworfen oder als Möglichkeit registriert. Meine Frau Regina und ich waren gerührt über die Anhänglichkeit dieses auf die hundert Jahre zugehenden Altmainzers, den seine Landsleute 1938 nach der Reichspogromnacht erst inhaftiert, dann aus dem Lande verjagt hatten. Über 50 Jahre erfolgreiches Berufsleben in Kalifornien hatten seine Liebe nicht überwuchert: Einmal Mainzer, immer Mainzer!

Leo Trepp war Rabbiner, ein begnadeter Prediger und Lehrender mit einer unverbrüchlichen Bindung an das deutsche Judentum, dessen Zerstörung durch die Nationalsozialisten ihn leiden ließ. Er war über Jahrzehnte der einzige lebende deutsche Landesrabbiner aus der Zeit des NS-Terrors! Im Jahre 2000 lud ich diesen Weltbürger als Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel nach Jerusalem ein. Natürlich standen die jüdischen Stätten, Vorträge und Diskussionen in der Hebräischen Universität und im Konrad-Adenauer-Konferenzzentrum im Mittelpunkt. Aber Trepp wäre nicht Trepp, wenn er bei seinem Abschied nicht zwei Erlebnisse besonders erwähnt hätte: Er gestand mir, er habe die Gastfreundlichkeit der Araber im Ostjerusalemer Lokal Pasha besonders genossen. Es gebe eben nur einen Gott und der sei der Gott aller Menschen. Die Begegnung mit seinem ultraorthodoxen Bruder sei dagegen traurig gewesen. Dieser habe sich vor allem dafür interessiert, ob er auch immer koscher esse, und habe wenig Interesse am Schicksal seiner Familie gezeigt. Rabbiner Leo Trepp, ein Mann mit festen Grundsätzen, dachte nicht in Schablonen, wie Juden sind gut, Moslems schlecht, sondern bewertete, was er gerade als menschliche Realität erlebte.

Der Wissenschaftler Leo Trepp begann nach erfolgreichen Berufsjahren als Rabbiner und Professor für Philosophie und Geisteswissenschaften in den USA 1983 an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz zu lehren. Der Fachbereich Evangelische Theologie, und insbesondere Universitätspräsident Josef Reiter, sicherten ihm einen Dauerlehrauftrag für die Sommersemester. Als Mitglied des Hochschulkuratoriums durfte ich seine Berufung als Honorarprofessor der Mainzer Universität unterstützen. Trepps Werke Die Juden und Das Vermächtnis der deutschen Juden wurden zur Basis einer lebendigen Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur an der Mainzer Universität. Ebenso eindrucksvoll waren die von Trepp erwünschten zahlreichen Begegnungen mit Schülern der Mainzer Gymnasien. Er verstand es wie kein anderer, die Einzigartigkeit des deutschen Judentums zu vermitteln. Und ohne anzuklagen, führte er bildlich vor Augen, was der Naziterror mit der Vernichtung der Juden an deutscher Kultur unwiederbringlich zerstört hatte.

Leo Trepp war ein Brückenbauer. Bereits in den fünfziger Jahren organisierte er studentische Exkursionen in die Bundesrepublik Deutschland. Seine Verfolgung und Vertreibung durch den NS-Staat hatten bei ihm nicht Hass und Verbitterung gegen die Deutschen begründet, sondern einen unwiderstehlichen Drang zur Versöhnung und Aussöhnung ausgelöst. In den folgenden Jahren hat er in Kirchen, Schulen, Vereinigungen und Universitäten gesprochen. Neben Mainz hielt er Vorlesungen und Seminare an zahlreichen Universitäten und Hochschulen, darunter Tübingen, Münster, Reutlingen, Wuppertal, Oldenburg und Hamburg. Man fragt sich, wo nahm dieser Mann seine Kraft her, in einem Alter, in welchem andere ihren Ruhestand genießen, mehr als mancher Berufstätige zu reisen, zu lehren, zu diskutieren, zu arbeiten? Mir fallen zwei Antworten ein: Er war getrieben, die Inhumanität der NS-Zeit durch die Humanität seiner Worte unwiederholbar zu machen. Und er liebte Deutschland und sein deutsches Judentum, für dessen Wiedererstehen er sich ruh- und rastlos einsetzte.

Wenn man die Summe seiner vielfältigen Aktivitäten betrachtet, müsste Leo Trepp ein Macher, ein Gestalter, ein Kopfmensch gewesen sein. Das Gegenteil von einem in sich gekehrten asketischen Denker und Theoretiker. Beides war er nicht. Oder nicht nur. Leo Trepp war in erster Linie ein Mensch. Er liebte die Geselligkeit, gutes Essen und Trinken und anregende Gespräche, aber bitte mit Tiefgang. Dabei überraschte er seine Gesprächspartner immer wieder durch seinen tiefschürfenden, trockenen Humor. Er liebte die Menschen, er liebte das Leben.

Leo Trepp verkörperte den jüdischen Bildungsbürger, der bis zur Schoah tief in der deutschen Bevölkerung verankert war. Er entstammte einer orthodoxen jüdischen Familie und verband feste Grundsätze mit dem Leben in der modernen Welt. Er war ein Versöhner und Aussöhner, für den der Mensch wichtiger war als das Beschwören inhaltsleerer Vorschriften. Er war ein großer und bedeutender Mann.

Gut, dass Gunda Trepp sein Leben aufzeichnet und für unsere und folgende Generationen festhält. Leo Trepp kennen lernen, heißt, Gläubigkeit, Menschlichkeit, Weitblick und Toleranz zu erlernen. Für mich war Leo Trepp ein väterlicher Freund und ein Vorbild.

Dr. h.c. Johannes GersterMainz, am 4. März 2018, am 105. Geburtstag von Leo Trepp

Einleitung

Die Geschichte unseres Lebens beginnt lange vor unserer Geburt. Unsere Wurzeln reichen tief in unsere Vergangenheit. Von unseren Ahnen erhalten wir unsere geistigen und körperlichen Wesensformen, unsere Intelligenz und Körperkraft. Eltern und Verwandte geben uns unser Wesen durch Vorbild und Erziehung. Die Ströme der Vergangenheit verbinden sich in uns, aus ihnen schöpfend sind wir frei in der Wahl unseres Denkens und unserer Lebensgestaltung. Bestimmung und Freiheit gestalten unser Leben in einer Umwelt, die – sich ständig ändernd – uns zu immer neuen Antworten herausfordert. Auf drei Schauplätzen gestaltete sich die Vorgeschichte meines Lebens und die prägende Geschichte meiner Kindheits- und Jugendjahre. Fulda, Oberlauringen und Mainz.

Das sind die Worte, mit denen Rabbiner Leo Trepp z’l seine Lebenserinnerungen begonnen hat. Allerdings wendete er sich dann zügig dem Erzählen zu und bemerkte: „Gute Einleitungen schreibt man am Schluss.“ Doch er selbst hat seine Autobiographie nicht mehr beendet. Am zweiten September 2010, dem 24. Tag im Monat Elul 5770 im jüdischen Kalender, ist mein Mann für immer eingeschlafen. Er hinterließ die fertig geschriebenen Seiten seiner Autobiographie, besprochene Tonträger und Hunderte von Aufzeichnungen, die er für Vorlesungen, Vorträge oder Bücher angefertigt hatte. Hinzu kommen mindestens ebenso viele Gespräche, viele von ihnen aufgenommen, in denen er aus seinem Leben erzählt, seine Philosophie erklärt und dem Hörer vor allem das Judentum in allen seinen Facetten und aller seiner Schönheit nahebringt. Wenn wir uns in den letzten Jahren unterhielten, habe ich Aussagen, die mir interessant erschienen, unmittelbar danach aufgeschrieben, und zwischendurch hat er mir immer wieder Epsioden erzählt, entweder auf Band oder mit der Bitte, sie für ihn aufzuschreiben.

Material gab es also ausreichend. Wie hätte es auch anders sein können in einem 97-jährigen Leben, das geprägt war vom Ersten Weltkrieg, den Hoffnungen der Weimarer Republik, von der Wirtschaftskrise und schließlich der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden? Er berichtet von seiner Zeit als junger Landesrabbiner in Oldenburg, einem Landkreis, in dem die Bürger schon vor der Machtergreifung der Nazis eine nationalsozialistische Regierung wählten, und von seinen Versuchen, eine Gemeinschaft zu erhalten, die spätestens in der Nacht des 9. November 1938 die letzte Hoffnung verlor. Und er spricht von seiner Zeit im Konzentrationslager, von der er später sagen wird, „danach war alles Streben, alle Hoffnung dahin.“ Und doch wollte er nicht die Erinnerungen eines Überlebenden schreiben, oder besser: Er wollte nicht nur die Erinnerungen eines Überlebenden schreiben. Er erinnert sich an seine Familie, Freunde, Nachbarn, die, einer anderen Religion als die Mehrheit angehörend, vor allem Deutsche waren. Er erzählt von unterfränkischen Viehhändlern, die am Schabbat von der Synagoge aus ins Wirtshaus gingen, ihr Bier tranken, sich auf dem Marktplatz rangelten, um sich dann die Kleider abzustauben und zum Nachmittagsgebet zurück in die Synagoge zu gehen. Von tief frommen Männern in Mainz, die nach dem Gottesdienst in die Oper eilten oder ins Konzert. Er erzählt vom Gemeindemitglied Isidor Reiling, der in Mainz begraben ist, und dessen Tochter, Anna Seghers, eine bedeutende Rolle in der Exilliteratur spielen sollte, von dem Onkel von Henry Kissinger, mit dem er begann, die Tora zu lernen, als er sechs war. Und immer wieder erzählt er von seinem Vater, der die Wurzeln für viele seiner Überzeugungen legte und wohl den bedeutendsten Einfluss darauf hatte, dass mein Mann zu dem tief religiösen, liberalen und menschenliebenden Denker und Lehrer wurde, der er war.

Als Philosoph, als Lehrer und als Autor hat sich Leo Trepp mit unterschiedlichsten Fragen auseinandergesetzt, die für das deutsche Judentum und die jüdische Religion von Bedeutung waren. Auf Papier und in Gesprächen reflektiert er, wie sich seine orthodoxe Haltung über die Jahre veränderte und was Orthodoxie im Vorkriegsdeutschland bedeutete. Er spricht von Rabbinern und Freunden, die ihn inspiriert haben und die er inspiriert hat, obgleich und weil sie aus verschiedenen Richtungen kamen. Von dem orthodoxen und dem liberalen Rabbiner in Mainz, die sich respektierten und sich in ihrer Arbeit gegenseitig befruchteten. Von Abraham Heschel, der später viele Gedanken eines offenen, pluralistischen Judentums in die Vereinigten Staaten trug und dort ein enger Freund Martin Luther Kings wurde. Oder von Mordecai Kaplan, dem Begründer des Rekonstruktionismus, einer Strömung, die wie Leo Trepp das Judentum in einer ständigen Weiterentwicklung sieht. Er beschreibt eine Welt, deren intellektuelle Fülle und Freiheit heute kaum noch vorstellbar sind.

Oft jedoch sind seine Aufzeichnungen geprägt von einer Grundtrauer, von einer Stimmung der Vergeblichkeit, in der Erinnerung an schöne Momente schon um das Ende wissend. Um den Tod der Menschen wissend, die er geliebt hat, und um den Untergang des reichen deutschen Judentums. Der Gedanke an die Auslöschung seiner Familie und so vieler anderer Juden hat ihn nie verlassen. Die hebräische Inschrift für seinen Grabstein hat er selbst geschrieben. Sie beginnt mit dem Satz: „Hier ruht unser Lehrer und Rabbiner Jehuda, Sohn von Maier und Zipora Trepp, ein gerettetes Holzscheit vom Feuer.“

Er kam mit „Klimpergeld in der Tasche“, wie er es nannte, in den Vereinigten Staaten an, begann, in Harvard noch einmal zu studieren und als Rabbiner und bald als Professor und Autor zu arbeiten und ein neues Leben aufzubauen in dem Land, dem er bis zuletzt tief dankbar war. Sein Glaube an Gott blieb unerschüttert. Wie er selbst erzählen wird, waren sein Vertrauen in Gott und die Unverbrüchlichkeit dieses Vertrauens eine Notwendigkeit für ihn. Daraus hat er die Kraft für sein Leben geschöpft. Und nach der Flucht bald die Kraft, nach Deutschland zurückzukehren, in „seine gestohlene Heimat“, wie er es nannte. Nicht, um anzuklagen, sondern um die junge Generation zu lehren, was sie dem Geschehenen und der Zukunft schulde.

Die Schoah war für ihn die Kulmination eines stets vorhandenen Antisemitismus, der sich in Nuancen änderte, doch dessen Antrieb und Grundlage über die Jahrhunderte gleich blieben: ein irrationaler Judenhass, den zu beeinflussen die Juden selbst außerstande waren. Doch wenn er auch überzeugt war, dass die Schoah und deren Opfer nicht vergessen werden dürften, richtete sich diese Mahnung immer an die nichtjüdische Seite. Nie anklagend, sondern im Gegenteil darauf hinweisend, dass die nichtjüdischen Deutschen der neuen Generation den Worten der Tora nach keine Schuld trügen, doch sie verpflichtet seien, die Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Dazu gehörte für ihn auch, etwas über das Judentum zu lernen. Deutsche sollen wissen, wer die Juden sind und was ihre Religion und Kultur repräsentieren. Darum vor allem lehrte er in Deutschland, hielt dort Vorträge und schrieb Bücher zum Judentum auf deutsch. Wenn überhaupt, so konnte aus seiner Sicht nur Wissen vor neuen Vorurteilen schützen.

Jüdische Hörer und Leser, so war er überzeugt, würden nie aufgefordert werden müssen, das Geschehene zu erinnern. „Kein Jude wird die Schoah je vergessen“, sagte er einmal in einem Vortrag. Im Gegenteil war er besorgt, dass manche das Judentum so stark mit der Ermordung der Juden verbanden, dass die Schoah zu einem tragenden Element für ihr Jüdischsein werden könnte. Für ihn dagegen war die einzig mögliche Reaktion der Juden auf die Verbrechen, die jüdische Gemeinschaft zu festigen und zu stärken. Die Verfolgung der Juden und die Erinnerung daran wurden so für ihn in erster Linie zur Mahnung, den lebenden Juden ihr Jüdischsein bewusster zu machen, sie zu unterrichten, sie zu lehren, durch das Judentum ein volleres und erfüllteres Leben zu gestalten, für sich und für andere.

Wenngleich diese Gedanken seine tiefen religiösen Überzeugungen ausdrücken, haben sie ihm auch geholfen, das Geschehene zu verarbeiten, oder genauer: auszuhalten, es nicht verarbeiten zu können. Einmal habe ich ihn gefragt, ob er je um seine Mutter geweint habe, die, zusammen mit ihrer Schwester, im Ghetto Lublin ermordet wurde. „Ich kann es nicht“, antwortete er, „wenn ich einmal beginnen würde, könnte ich nicht mehr aufhören.“ Doch in den letzten Jahren bedrängten ihn die Erinnerungen an diese Zeit immer stärker.

Was sollte ich tun mit diesem Material? Mit der Geschichte eines deutschen Juden? Eines Rabbiners, der unter den Nationalsozialisten amtiert? Eines Amerikaners, den der Verlust der Heimat bis zuletzt schmerzt? Eines Philosophen, der in seinen Schriften und Vorlesungen ausführt, dass Judentum jeden einzelnen Juden verpflichtet? Mir war schnell klar, dass ich nicht nur die Verantwortung, sondern die Verpflichtung trug, dieses Werk zu beenden. Kann ich wirklich sagen ‚beenden’? Natürlich nicht, denn ich weiß nicht, welche Papiere mein Mann gewählt hätte, wie er seine Erzählungen angeordnet hätte. Es konnte keine Autobiographie mehr werden. Doch es konnte immer noch eine Biographie werden.

Wie aber schreibt man über jemanden, der einem nahe ist – und ich sage ‚ist’, weil der Tod Liebe nicht auslöscht und die Nähe nicht – und der doch so viele Jahre seines Lebens ohne einen verbracht hat? Lebensjahre, die Reminiszenzen geworden waren, als wir uns trafen, Erinnerungen an Menschen, die für immer mit seinem Denken verbunden blieben, an Städte und Dörfer, die ihre alte Gestalt verloren hatten, an verbrannte Synagogen, an Schulen und Universitäten, aus deren Räumen das Bewusstsein für vergangenes Unrecht längst geschwunden war, wenn sich auch die Gesichter der Ermordeten oder Vertriebenen auf Fotos hier und da direkt an die Betrachter wandten.

Und wie schreibt man über einen Menschen, mit dem man so viel Zeit verbracht hat, alle Wochen, alle Tage und fast alle Stunden, dass nicht nur die neuen Erlebnisse und Erfahrungen zu gemeinsamen Erinnerungen werden, sondern dass auch die Erinnerungen des anderen sich irgendwann transformieren zu etwas neu Gestaltetem in uns selbst? Wann fangen wir an, die Erinnerungen unserer Partner zu unseren zu machen? Bilder, Musik und Gerüche zu assoziieren mit Menschen, die wir nur von Fotos und aus Erzählungen kennen, und mit Orten, deren Straßen wir noch nie betreten haben? Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass ich am Grab seines Vaters nicht nur meinen Mann vor mir sehe, wie er still sitzt, im Gebetbuch liest, das Kaddisch und das El Male Rachamim sagt. Ich sehe auch seinen Vater vor mir, dessen leicht geschwollene Hände, seinen Schnäuzer, sein verschmitztes Lächeln. Ich höre seine Baritonstimme.

Wir sind geschaffen aus Erinnerungen, wir leben sie, wir definieren uns über sie. Sie schaffen Liebe oder Geringschätzung für uns selbst und für andere. Sie formen unsere Persönlichkeit. Sie bestimmen unseren Platz im Leben. Sie fließen ein in unser Hoffen auf Neues. Bis auch das Neue – eingeordnet und lebenserträglich interpretiert – sich in diesem Raum einfindet. Sind wir die Hüter nicht nur unserer eigenen Erinnerungen, sondern hüten wir auch die Erinnerungen der Menschen, die wir lieben und die uns verließen?

Ich glaube das. Und aus dieser Haltung heraus habe ich geschrieben. Mir war klar, dass ich nicht schreiben konnte, wie er geschrieben hat, sondern dass ich schreiben musste, wie ich es seit jeher tue. Es würde ein anderes Buch werden als dasjenige, das er geschrieben hätte, und ich musste das akzeptieren. Genauso, wie ich verstehen musste, dass ich mich selbst nicht auslassen konnte. Denn wie anders sollte ich über ihn schreiben als aus meiner Perspektive? Aus der Sicht einer deutschen Nichtjüdin, die zur Jüdin wurde, weil sie diesem Mann begegnete? Einem Rabbiner, der ihr liebevoll klarmachte, dass auch eine Deutsche Jüdin werden kann, wenn sie es denn wirklich will, wenn sie es der jüdischen Religion und Kultur wegen will und wegen nichts sonst?

Da unser Altersunterschied nicht zu übersehen war, würde dieser Elefant ohnehin im Raum stehen, also musste ich auch ihn thematisieren. Ich selbst hätte ja jede Freundin, die sich in einen doppelt so alten Mann verliebt, für verrückt erklärt. Obgleich Menschen, die uns kannten, das nie getan haben. Sie spürten wie wir selbst ein Band, das nicht zu erklären war. Andere, die uns nicht kannten, nie zusammen gesehen haben, mag die Differenz befremden. Unsere ungewöhnliche Liebesgeschichte spiegelt auch die offene und zugewandte Haltung meines Mannes wider. Wie sonst hätte er eine Beziehung mit einer Deutschen eingehen können, über deren Familie er nichts wusste? „Interessiert es dich denn nicht?“ fragte ich ihn. „Natürlich“, sagte er. „Aber du musst es mir schon von dir aus erzählen.“ Ich tat es irgendwann, und er sagte: „Selbst wenn sie sich alle schuldig gemacht hätten, wäre es nicht auf dich gefallen. Du stehst für dich selbst.“ So sah er nicht nur mich, sondern alle jüngeren Deutschen.

Wenn ich an meinen Mann denke, fallen mir zunächst zwei Worte ein: Liebe und Disziplin. Beide Haltungen sind elementar in der jüdischen Lehre und waren es für ihn. Liebe hat seinen Umgang mit Menschen geprägt. Mit Wissen. Und mit Texten. Mit allem, was Leben ist. Und vor allem mit Gott. Und Disziplin hat ihn in allen Beziehungen getragen und ihn schwierige Situationen bestehen lassen. Sie hat ihm innere Freiheit verliehen und eine gelassene Haltung. Ein Thema, das ihn selbst nie losgelassen hat, ist die Notwendigkeit für Juden, sich in zwei Kulturen zu Hause zu fühlen, um ein gutes, erfülltes Leben zu führen. In seinem Fall hieß das: Im Sinne der Orthodoxie von Samson Raphael Hirsch vollkommen Jude zu sein – und vollkommen Deutscher. Nach dem Krieg bestärkte er muslimische Gelehrte in Deutschland, dem Modell zu folgen und nach Wegen für einen Islam in Deutschland zu suchen, und damit die Striktheit ihrer Lehren in den jeweiligen Heimatländern kritischer zu sehen und zu verändern.

Bis zuletzt hat Leo Trepp seine Vorlesungen und Vorträge gehalten, hat Prüfungen abgenommen und Gespräche geführt. Ein großer Teil der Biographie widmet sich diesem Leben im Nachkriegsdeutschland, seinen Begegnungen mit Christen, Juden und Muslimen, mit geschichtsbewussten Aufklärern und mit Antisemiten. Die Deutschen, so machte er immer wieder klar, gedachten der Schoah nicht für die Juden. Sich zu erinnern war für sie selbst als Gemeinschaft unerlässlich, sofern sie in einer vitalen, einem ethischen Ziel zugewandten Gesellschaft leben wollten. Dass Nationalismus und Antisemitismus in seinen letzten Lebensjahren wieder zunahmen, ließ ihn, den immer Optimistischen, beinahe resignieren. Was bedeuteten Ehrungen und Auszeichnungen, wenn er befürchten musste, dass trotz seiner und der Bemühungen anderer Gutwilliger „vielleicht nichts erreicht“ worden sei, wie er einem Redakteur sagte?

Ich wollte vor allem sein Werden verstehen und sein Denken. Wie lernt jemand die Liebe zum Lernen? Wie entscheidet sich jemand bewusst für die Liebe und gegen den Hass? Wie kann jemand das, was Judentum lehrt, nämlich, dass alle gerechten Menschen ein Anrecht auf den Himmel haben, egal, welcher Religion sie angehören, wie kann jemand diese Akzeptanz so in sein Leben integrieren, dass andere sie in jeder Begegnung spüren? Und wie bleibt jemand stets offen für Veränderungen? Fokussiert habe ich mich dabei auf sein Leben in Deutschland. Vor der Schoah, und danach. Unser gemeinsames Leben in den Staaten war, wie das vieler Menschen, vor allem der Arbeit und der Familie gewidmet. Mein Mann hat zwei seiner heute fünf Urenkel noch kennengelernt. Diese Kontinuität zu sehen, hat er als tiefes Glück empfunden. Wie er auch gute Freundschaften als Segen empfand. Einige enge Freunde, sowohl in Amerika wie in Deutschland, nannte er unsere „gewählte Familie“.

Er hatte nur einen Teil seiner Autobiographie druckfertig beendet, das heißt, er hatte ihn geschrieben, ich hatte wie immer redigiert, und er meine Einwände und Korrekturen abgesegnet. Seinem geliebten unterfränkischen Dorf Oberlauringen, in dem er als Kind die Sommerferien verbrachte, hat er viele Seiten gewidmet, die ich nicht noch einmal wesentlich kürzen wollte. Ich hätte riskiert, dass seine Botschaft verloren geht. Es ist eine einfache und zugleich, wie alles, was mit der Auslöschung des jüdischen Lebens in Europa zu tun hat, komplexe Botschaft: Diese Landjuden waren da. Sie lebten überall in Deutschland.

Andere Perioden oder Themen hatte er angefangen und liegen gelassen, um Unterlagen einzusehen, die er gerade nicht zur Hand hatte. Einige Passagen, die Leo Trepp schon geschrieben oder in denen er sich in anderen Werken zu einem in dieser Biographie relevanten Thema geäußert hat, habe ich gekürzt, aber vollständig, andere teilweise übernommen, wenn es sinnvoll schien. Die Seiten seines Manuskripts, die unredigiert waren und die ich benutzen wollte, habe ich vorsichtig bearbeitet. Zudem habe ich Passagen aus Büchern zitiert, die er geschrieben hat. Die von ihm geschriebenen Ausschnitte, die ich nicht in wörtliche Rede setze, sind kursiv gedruckt. Die Erklärungen sämtlicher hebräischer Begriffe finden sich im Glossar. Leo Trepp hat in einigen anderen Werken Begebenheiten aus seinem Leben erzählt. Auch davon habe ich einige teilweise übernommen und danke insbesondere den Verlegern Florian Isensee in Oldenburg und Michael Bonewitz in Bodenheim für ihre freundliche Zustimmung. Zu besonderem Dank bin ich auch Frau Dr. Hedwig Brüchert, Frau Rabbiner Bea Wyler, Herrn Prof. Michael Daxner, Herrn Prof. Josef Reiter und Herrn Dr. Ekkehard Seeber verpflichtet, die sicherstellten, dass meine Berichte über Zeiten, in denen ich selbst Leo Trepp noch nicht kannte, korrekt waren. Ebenfalls danke ich Herrn Dr. h.c. Johannes Gerster, der ohne zu zögern bereit war, ein Vorwort beizusteuern, sowie Herrn Hergen Wöbken fürs Gegenlesen des Textes. Nicht zuletzt danke ich meinen beiden Lektorinnen, Frau Sophie Dahmen und Frau Susanne Fischer, die stets für mich da waren, wenn ich sie brauchte.

Ich habe dieses Buch geschrieben in tiefer Liebe und Achtung vor dem Menschen, der mein Fühlen und Denken beeinflusst hat wie kein zweiter, und den in seinen letzten zehn Jahren begleitet haben zu dürfen, etwas ist, das ich als Glück bezeichnen möchte. Es ist dem Andenken seiner Eltern, Maier Trepp z’l und Selma Zipora Trepp z’l, gewidmet.

Gunda Trepp

ERSTES KAPITEL

Die Liebe eines Vaters

Ach, du wunderschöner Rhein

Im Sommer 1954 reist Leo Trepp zum ersten Mal seit der Schoah wieder in seine Geburtsstadt. Seine Familienangehörigen sind ermordet worden. Nur sein Bruder, den er aus Deutschland hat retten können, und ein Cousin, der in das damalige Palästina flüchtete, haben überlebt. Trepp läuft durch die Straßen und erkennt die alten Wege seiner Kindheit nicht mehr. Mainz liegt immer noch in Trümmern. Die Vernichtung der orthodoxen Synagoge am Flachsmarkt, abgebrannt in der Pogromnacht 1938, und die Lücke, die sie hinterlassen hat, erschüttern ihn. Er geht weiter Richtung Hindenburgplatz. Vom amerikanischen Militärrabbiner hat er bereits erfahren, dass das Familienhaus nicht mehr steht, und er hat sich vorgestellt, dass auch viele der Nachbargebäude zerbombt sein würden. Dennoch, die einstmals prachtvolle Straße nun zu sehen, als habe man Teile ihres Randes herausgerissen, wühlt ihn auf. Auch, weil sich ein Gefühl einschleicht, das ihn schon nach wenigen Minuten belastet. Das Ausmaß der Zerstörungen stimmt ihn fast zufrieden. Er denkt: „Mit uns habt ihr angefangen, und nun habt ihr es selbst auch abbekommen.“

Leo Trepp hat diesen ersten Schritt der Wiederannäherung immer offen erzählt. Und warum auch nicht? „Aber das ist doch ganz natürlich“, rufe ich aus, als wir zum ersten Mal darüber sprechen. Sollte man nicht eher fragen, wie er überhaupt nach Deutschland zurückkommen konnte? Warum er nicht fühlte wie sein Bruder, der in Manchester und bald Jerusalem lebte und nie wieder in das Land der Täter gehen wollte? Nicht einmal als Gast?

Wie also konnte er diesen Schritt tun? Und dann noch einen? Und noch einen? Bis er zum Versöhner wurde. Zum Rabbiner, der den jungen Deutschen klarmachte, dass sie keine Schuld, aber Verantwortung für die Zukunft trügen. Zum Autor des erfolgreichsten deutschsprachigen Buches über das Judentum, weil er überzeugt war, dass nur Wissen vor neuem Antisemitismus schützen werde. Zum Professor, der seinen Studenten, viele von ihnen zukünftige Pfarrer und Religionslehrer, sagte: „Ihr seid die wichtigsten Botschafter. Ihr müsst euer Wissen teilen in einer Weise, die zum Frieden zwischen den Konfessionen führt.“ Zu einem geachteten Humanisten, der seinen Glauben stolz vertrat und Angehörige anderer Religionen gern hatte und respektierte, die das gleiche taten.

Hat das alles seinen Anfang genommen in jenem Moment, in dem er auf dem Hindenburgplatz in Mainz verharrt? In dem kurzen Augenblick, in dem er nach seinem ersten impulsiven Gefühl der Genugtuung denkt: „Nun muss alles neu aufgebaut werden, und auch die Menschen müssen sich wiederfinden, müssen sich erneuern, sie müssen neu zu denken lernen.“? Als er hofft, dass „nun die Deutschen vielleicht an einem Punkt angelangt sind, an dem sie offen sind für demokratische Gedanken, für Ideen des liberalen Miteinanders und für die Achtung aller Menschen als Geschöpfe Gottes“? Und sinniert, ob er dabei helfen kann?

Ich denke, es muss viel früher begonnen haben. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass eine solche Haltung, offen und aus einer tiefen Menschlichkeit heraus, einer Laune der Umstände zu verdanken ist. Erst heute, während ich mich mit den Gedanken meines Mannes auseinandersetze und ihn nicht mehr zu Einzelheiten befragen kann, sondern sorgfältig die Aufzeichnungen durchgehen muss, um Antworten zu finden, erst heute wird mir klar, dass er in diesem Augenblick auf dem Hindenburgplatz in Mainz an eine rote Linie anknüpft, die sich durch die Geschichte seiner Familie und durch die vieler deutscher Juden zieht. An einen Patriotismus, der so leidenschaftlich ist, dass er darauf drängt, seinem Land etwas zu geben. An eine Liebe zu Deutschland, die in ihm wachbleibt, auch wenn sie nun nur noch in der Erinnerung lebt. „Ich bin so traurig, dass dies nicht mehr meine Heimat sein kann“, sagt er einmal, als wir in einem Zug in Frankfurt sitzen und auf die Abfahrt nach Berlin warten. Er nimmt dabei meine Hand und seine Worte kommen nicht mit der autoritätsgebietenden, kräftigen Stimme, die jeden mucksmäuschenstill werden lässt. Dies ist die Stimme, in der er manchmal, ganz selten, über Sachsenhausen spricht, und was die Wochen dort mit ihm gemacht haben. Nicht, was er dort erlebt hat, denn keiner, sagt er, keiner kann das verstehen oder nachempfinden. „Auch du nicht, mein Engel“, sagt er. Was er teilt, ist das Danach. Und ich kann verstehen, dass er danach weiterlebt, aber ganz anders. Dass danach „alles Hoffen, alles Streben“ nicht mehr wirklich eine Rolle spielen. Mit dieser Stimme beklagt er nun den Verlust seiner Heimat, und ich kann nur seine Hand streicheln, dann seine Wangen. Und ich weiß, dass ich damals gedacht habe: „Vielleicht schmerzt es ihn genauso sehr, dass sie den Deutschen Leo Trepp vertrieben haben, wie er darum trauert, dass sie den Juden loswerden wollten.“

Es ist der Jude und der Deutsche Leo Trepp, der in dem Augenblick des Sommers 1954 nicht anders kann, als zu hoffen, dass die Bürger seiner „gestohlenen Heimat“, wie er sein Geburtsland nun nennt, sich eines Besseren besinnen und dass eine gemeinsame Zukunft irgendwann möglich sein wird.

Das war die Hoffnung der Familie für über ein halbes Jahrtausend. Ihre Heimatstadt ist Fulda, die prächtige Barockstadt im Herzen Deutschlands. Leo Trepp, selbst bereits in Mainz geboren, wohin sein Vater als junger Mann gezogen war, sah Fulda, eine Wiege des Christentums und bis zum Ende ein Bollwerk der jüdischen Neo-Orthodoxie, vor dem Zweiten Weltkrieg nur einmal, als er im Mai 1933 seinen Vater Maier Trepp dorthin begleitete. Die beiden waren mit dem Zug gekommen, Leo Trepp aus Berlin, wo er studierte, und sein Vater aus Mainz.

Vom Bahnhof liefen wir die breite Straße zur Stadt hinunter, um zum jüdischen Friedhof zu gelangen. Etwa Mitte des 17. Jahrhunderts war er am Rand der Stadt errichtet worden, nun lag er im Zentrum. Fünf Jahre vor unserem Besuch hatten Vandalen Grabsteine umgeworfen und Gräber zerstört, in dieser Zeit war das nicht ungewöhnlich. Seit den zwanziger Jahren waren Dutzende jüdischer Friedhöfe geschändet worden. Von den Nazis wurde der Friedhof vollkommen vernichtet. Heute erinnert ein Gedenkstein an ihn. Durch ein schmales Tor in der Umfassungsmauer traten wir ein. Es war ein kleiner Flecken Land, mehr hatte man den Juden nicht gegeben. „Wie konnte man die Toten alle unterbringen?“, fragte ich meinen Vater. Sie mußten übereinander gelegt beerdigt werden. Aus mehr als einem Achtel des Friedhofs,in der linken hinteren Ecke gelegen, ragten Steine mit dem Namen Trepp empor, der ältesten und führenden jüdischen Familie Fuldas. Im fünfzehnten Jahrhundert hatte der Fürstabt Fuldas einen ihrer Vorfahren zu seinem Hofarzt berufen, ein Amt, das Mitglieder meiner Familie viele Generationen hindurch betreuten. Zugleich überließ ihnen der Fürstabt das „Haus uff der Treppen“ als Amtswohnung. Warum hieß das Haus so? War es ein Haus, zu dem, weil es auf einem Hügel mit einer steilen Steigung lag, Stufen führten, oder hatte es einst selbst eine große TreppenfIucht, wie mein Vater meinte, als er mir den Platz zeigte? So bekam die Familie ihren Namen, man sprach von ihnen als den „Juden uffer Treppen“.

Die Hofärzte wurden bald auch zu den Hofjuden Fuldas, Vertreter und Fürsprecher der jüdischen Gemeinschaft. Sie durften geschäftlich tätig sein, mußten allerdings auch für die hohen Steuern, welche den Juden auferlegt waren, einstehen, wenn nötig aus eigenem Vermögen. Ich habe mich oft gefragt, wo meine Vorfahren ihre medizinische Ausbildung erhielten. Konnten sie in Universitäten wie Salerno oder Bologna studieren, welche Juden aufnahmen, oder erlernte der Sohn die Kunst vom Vater? Wir wissen es nicht. Ihre heilenden Künste, die sich bis nach Mainz herumgesprochen hatten und auf die die Kirchenherren nicht verzichten wollten, schützten die Familie, als Mitte des 16. Jahrhunderts beinahe alle Juden aus der Stadt vertrieben wurden. Doch als einige Jahre später Söldner, mit Hilfe der christlichen Nachbarn, die jüdischen Häuser plünderten, konnten auch die Trepps nur in sicherer Ferne abwarten, bis der Mob weitergezogen war. lm Jahre 1671 vertrieb der Fürstabt Gustav Bernhard die Juden aus der Stadt, diesmal durften nur sechs Familien bleiben, darunter die Familie Trepp. Diese paar Juden hatten nun allesamt in die schmale Gasse zu ziehen, in der das Urhaus der Familie bereits stand. An deren beiden Enden wurden anschließend große, schwere Eichentore gebaut, die man nachts abschloß, und die die Juden bezahlen mußten. Mit anderen Worten: Von da an lebten die Juden in einem von ihnen selbst finanzierten Ghetto.

Vom Friedhof gingen wir in die Stadt hinein. Auf dem Weg kam uns ein Zug von Nazi Sturmtruppern mit Musik und Hakenkreuzfahne entgegen. Wir flüchteten in einen Hauseingang, um ihnen zu entgehen. Wieder mußten sich alteingesessene und verdiente Bürger aus Fulda, allein weil sie Juden waren, vor Rohlingen verbergen.

Die elegante Hauptstraße führte zum weiten Domplatz mit seinem prächtigen, die Reliquien des Heiligen Bonifatius bergenden Barockdom und dem fürstäbtlichen Barockschloß. Die Hauptstraße war von Kirchen eingerahmt und stand unter ihrem Schutz und Segen. Zur Linken, den Hügel hinauf, ergoß sich ein Gewirr schmaler, winkeliger Gäßchen. Das war das Judenviertel. Es stand nicht unter dem Schutz der Kirchen. Wir liefen in diese Richtung. Auf dem Weg erzählte mein Vater, wie er einst auf dem Weg zur Schule am Domplatz vorbeikam, gerade als die Menge der Pilger auf die Knie fiel. Nur er stand, und von allen Seiten kam der ärgerliche Ruf zu ihm: „Gehste runner, du Jud.“ Er tat es nicht und ging unbehelligt weiter. Einen gewissen Einfluß der christlichen Umgebung konnte man auch bei ihm bemerken. Am Eingang zum Domplatz steht das Denkmal des Bonifatius. Er hält das Kreuz hoch in die Luft, und auf dem Sockel steht die Inschrift: „Verbum Domini manet in Eternam“ – „Das Wort des Herrn bleibt ewig“. Es wurde zu einem Motto meines Vaters, das er oft auf lateinisch wiederholte. Ihm bedeutete es die Tora, und dennoch gab er mir ein Verständnis dafür, daß die Christen dem Worte Gottes folgten genau wie wir. Im Judenviertel zeigte mir mein Vater das elterliche Haus, wir besuchten die neurenovierte Synagoge, für deren Erneuerung er gespendet hatte. Ihr Inneres war im maurischen Stil errichtet.

Von diesem Haus aus hatte zu seiner Jugendzeit Rabbiner Michael Cahn amtiert, man sollte wohl sagen „regiert“. Er vertrat die Neo-Orthodoxie. Seine Gottesdienste waren voller Würde und ästhetisch anziehend. Als Kronprinz Friedrich nach Fulda kam, erschien der Rabbiner zum Empfang im Talar. Gleichzeitig war Cahn jedoch unerbittlich orthodox und erzwang seine Verordnungen, wenn nötig, mit Hilfe der Stadt und Kirche. lm streng katholischen Fulda waren die Juden eben auch „katholisch“. Die Männer mußten täglich zur Synagoge kommen, und ihre Anwesenheit sowie die Zeit ihres Erscheinens wurden am Eingang registriert. Die Namen der Jungen, die ohne gültige Entschuldigung beim wochentäglichen Frühgottesdienst fehlten, wurden der Schulbehörde mitgeteilt, die sie dann bestrafte. Die jüdischen Lehrer des dem Rabbiner unterstellten Bezirkes mußten wöchentlich bei ihm erscheinen, um über ihre Amtsführung im einzelnen Rechenschaft abzulegen und dann mit ihm den Talmud zu studieren. In Paraphrase des Friedrich dem Großen zugeschriebenen Wortes erklärte Cahn: „Bei mir kann jeder nach meiner Façon selig werden.“ Und er meinte es ernst.

In dieser Atmosphäre wuchs mein Vater, 1873 geboren, auf. Aus ihr entwickelte er eine tiefe Frömmigkeit. Wenn er betete, sprach er jedes Wort mit solcher Inbrunst aus, daß sein Gebet längst nicht zum Ende kam, wenn die Gemeinde es bereits beendet hatte. Er ging niemals zu Bett, ohne eine Zeitlang Tora und Talmud ‘gelernt‘ zu haben. Zugleich aber formte ihn die Tradition der eigenen Familie, die weltlich hochkultiviert war, eine leidenschaftliche Liebe für die Musik besaß und zugleich, wie wir aus Dokumenten wissen, demokratisch und liberal war und neuen gesellschaftlichen Entwicklungen aufgeschlossen. Er besuchte das Realgymnasium, lernte Latein und Französisch und begann früh, nicht nur Tora und Talmud zu lesen, sondern weltliche Literatur. Er war sowohl in den deutschen Klassikern wie in den Werken Shakespeares zu Hause, liebte die bildende Kunst, besuchte Museen, selbst die Sternwarte in Straßburg, und erwarb sich ein von Liebe getragenes Wissen über Malerei und Skulptur. Er verehrte Michelangelo, Raphael Santi und Rembrandt, die Kunst des Biedermeier machte ihm Freude. Vor allem aber begeisterte ihn die Musik, besonders die Oper. Da Frauen in ihr sangen, hätte Rabbiner Cahn diese Leidenschaft keineswegs gebilligt. Aber hier kam die Tradition der Familie in Konflikt mit Cahns unerbittlicher Orthodoxie, und die Familie gewann.

Auch mein Großvater, Judah Salomon, teilte die Leidenschaft für Kunst und Musik, zeigte für die Geschäfte der Familie aber kein sonderliches Interesse. Was sich für seinen Sohn, wie wir bald sehen werden, als tragisch erweisen sollte. Nachdem seit Beginn des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Beschränkungen für Juden nach und nach aufgehoben wurden, florierten die Geschäfte der Familie. Sie handelten vorwiegend mit Textilien und Leder und trugen maßgeblich zum allgemeinen Wohlstand der Stadt bei, die das ihrerseits in den gegebenen Grenzen anerkannte. Einigen Trepps war wahrscheinlich schon vor der Verleihung der Bürgerrechte an Juden im Jahr 1833 ein bürgerähnlicher Status gewährt worden, ein Mitglied der Familie wurde ins Stadtparlament gewählt. Mein Urgroßvater, Salomon Juda Trepp, war als Kaufmann zu einem wohlhabenden Mann mit respektablem Grundbesitz geworden. Sein Sohn, mein Großvater, besagter Judah Salomon, besuchte Oper und Symphonie, schrieb Poesie und war ein offener und gutherziger Mensch, dem nicht nur das Interesse, sondern jeglicher Sinn fürs Geschäftliche fehlte. Als ihn ein Freund in wirtschaftlichen Schwierigkeiten um Hilfe bat, bürgteer für ihn mit seinem gesamten Vermögen – und verlor alles. Das einzige, was ihm in der Verarmung blieb, war ein Zuhause, denn das Haus gehörte seiner Mutter, und die Ehre, weiterhin als Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu wirken, wie es sein Vater vor ihm getan hatte.

Seine Ehefrau, Caroline Adler aus Urspringen, war jung gestorben, nachdem sie ihm dreizehn Kinder geboren hatte. Einige von ihnen lebten nur einige Monate. Judah Salomon selbst starb jung an Urämie. Mein Vater wurde in jeder Weise zum Haupt der Familie und zum Versorger. Er betreute seinen Vater bis zu dessen Tod und unterhielt eine Schwester, die aus dem Fenster gefallen und schwerst behindert war. Eine andere Schwester soll so schön gewesen sein, daß Künstler kamen, um sie zu malen. Sie ging mit einem Mann, den sie liebte, nach Rußland. Mein Vater wollte Rabbiner werden, doch an Studium oder Weiterbildung war unter diesen Umständen nicht zu denken. Er mußte Geld verdienen. Nach der mittleren Reife besorgte ihm Rabbiner Cahn eine Anstellung in dem kleinen Papiergeschäft und der Kartonagenfabrik seines Bruders Julius Cahn. Es standen nicht viele Arbeitsplätze zur Auswahl, denn das Unternehmen mußte bereit sein, auf seine orthodoxe Lebensweise Rücksicht zu nehmen. So fiel die Wahl auf das Papier- und Kartonagenwerk Cahn und damit auf Mainz, zusammen mit Worms und Speyer einstmals das Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland. Die Stadt, in der ich zur Welt kam und in deren Dialekt ich noch Jahrzehnte später verfalle, ohne es zu merken, kaum daß ich deutschen Boden betrete.

Es ist nicht nur die Sprache, die Trepp bis zu seinem Lebensende als Rheinländer ausweist. Wenn es stimmt, dass Landschaften die Menschen prägen – und dass es nicht von der Hand zu weisen ist, lassen Dichter und Philosophen erahnen, die über diesen Zusammenhang sinnieren, und darüber, wie stark ihr Denken von Aufenthalten an bestimmten Orten beeinflusst worden ist, an erster Stelle wohl Goethe, der ohne Italien ja ein anderer wäre – wenn es also wahr ist, dann sollte Mainz, ja, diese ganze Region, ein wenig genauer in den Blick genommen werden. Vor allem der Rhein. Leo Trepp hatte eine emotionale Bindung an ihn, die ich nie bis ins Letzte habe ergründen können. Noch in hohem Alter saßen wir an lauen Sommerabenden am Fluss und schwiegen einfach. Mein Mann paffte seine Zigarre, schaute den tiefgehenden Schleppern und den Vergnügungsdampfern hinterher: „Die Linie gab es schon, als ich noch ein Kind war“, sagte er dann oder: „Dahinten, man sieht es von hier nicht, lag die Badeanstalt, da hat mein Vater mir das Schwimmen beigebracht. Da war ich sieben oder acht. Du weißt doch, dass Eltern ihren Kindern das Schwimmen beibringen müssen, oder? So sagt es der Talmud.“ Oft schwieg er einfach. Oder erzählte. Von Spaziergängen. Von Ausflügen nach Wiesbaden. Und von Menschen, die seit jeher am Rhein gelebt hatten. Ich dachte damals und denke heute noch viel mehr, dass es vor allem diese Menschen waren, denen Leo sich seelenverwandt oder zumindest tief verbunden fühlte.

Er liebte das heitere Element des Rheinländischen, die Leichtigkeit, die Herzlichkeit und den Wortwitz. Wir haben oft gescherzt, dass die größte Ehrung, die ihm zuteil wurde, der Mainzer Karnevalsorden gewesen sei, den er mit 92 Jahren verliehen bekam, nach einer Nacht, in der ich zwischenzeitlich eingenickt war, weil all dies Schunkeln und Trinken dann doch sehr anstrengend ist, wieder aufschrak und meinen Mann neben mir sitzen sah, strahlend, Arm in Arm mit seinem Nachbarn zur Rechten und mit irgendeiner Kappe mit Glöckchen auf dem Kopf. Dazu muss man schon als Rheinländer geboren sein. Und ob er über die Wichtigkeit der Ehrung nur im Scherz gesprochen hat, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Der Schalk saß ihm im Nacken. Einem Journalisten sagte er einmal: „Sie wissen doch, es gibt die Meenzer, und dann gibt es den Rest der Menschheit.“

Seit Jahrhunderten hatte es Juden gegeben, die Mainzer waren und Rheinländer in anderen Orten. Einige von ihnen, allen voran die Kölner Gemeinde, waren bereits mit den Römern ins Land gekommen. Trepp sprach oft von ihnen, und er schrieb darüber, dass nur ein Jude, Heinrich Heine – und für meinen Mann war er trotz der Konversion zum Christentum immer der Jude geblieben, der trauerte, dass ihm der Übertritt keineswegs den Eintritt in die Mehrheitsgesellschaft geebnet habe und dass nun nicht nur Christen, sondern auch die Juden auf ihn herunterschauten –, dass also nur dieser Jude die Loreley habe dichten können. In der sich ihrer selbst sicheren, blonden Jungfrau sah Trepp Deutschland und in dem kleinen, sehnsuchtsvollen Schiffer auf seinem Kahn den Juden. Und er muss daran gedacht haben, wie zerstörend es immer wieder endete, tödlich oft. Mitten in unser Schweigen hinein sagte er dann: „Während der Kreuzzüge war der Rhein rot von dem Blut der Juden.“ Über die Beziehung der Juden zum Rheinland und zur jüdischen Bedeutung der Stadt Mainz erzählt er selbst:

Erinnere ich mich an meine Jahre in Mainz, sehe ich den Rhein vor mir. Mit ihm verbinden sich Kindheitserinnerungen, aber auch Erinnerungen, die auf Gedanken und Erzählungen beruhen, die mir überliefert worden sind. Ich fühle mich mit Mainz verbunden, weil ich den Rhein liebe, der die Stadt durchzieht und auf alles ausstrahlt. Er gibt der Stadt, zusammen mit den umgebenden Weinhängen, etwas Warmes und Beständiges und gleichzeitig Leichtes und prägt so die Atmosphäre und die Menschen. Und ich bin stolz, ein Mainzer Jude zu sein, denn die Stadt hat eine jüdische Geschichte, auf die man stolz sein kann. Die jüdische Gemeinde war reich an heiliger Tradition, an schöpferischen Gestalten und geistigen Werten. Nicht nur einmal wurde die Gemeinde zu ihren Blütezeiten zerstört. Es begann mit den Verfolgungen während der Kreuzzüge und der Pest und endete mit der Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Wenn ich heute am Rhein sitze, denke ich an Spaziergänge mit meinem Vater und erste Schwimmversuche. Und ich denke an die Liebe der Juden zu dem Fluß.

Sie siedelten im frühen Mittelalter überall entlang des Rheins, oft angeworben von den Fürsten, die ihre Handels- und Geschäftsfähigkeiten schätzten. Viele von ihnen bauten Wein an. Die Beziehungen zwischen ihnen und den Christen waren meist anständig, wenn es auch immer wieder Spannungen gab. Doch das veränderte sich mit dem ersten Kreuzzug. Vor ihm waren die Juden zwar gewarnt worden, doch hatten sie die alarmierenden Nachrichten ignoriert, die aus Frankreich zu ihnen kamen. Sie konnten nicht glauben, daß sie – einige seit Hunderten von Jahren Rheinländer – getötet werden würden, allein wegen ihrer Religion. Doch genau das passierte. „Unsere Freunde von gestern tun heute, als kennten sie uns nicht mehr und hätten uns nie gekannt“, beklagt einer der Kalonymus Brüder, die der hochangesehenen Gründerfamilie der Mainzer Gemeinde angehörten. Zu Tausenden metzelte die christliche Meute, unter ihnen Frauen und junge Menschen, die jüdischen Bürger hin, wenn sie die Taufe verweigerten. Viele Juden wählten den Freitod, um der Taufe zu entgehen, Väter und Mütter töteten ihre Kinder,bevor sie selbst in den Tod gingen. In Mainz hatte der Bischof die Juden während des ersten Kreuzzuges im Frühsommer 1096 in seinem Palast zu schützen versucht, auch manche Geschäftsfreunde jüdischer Mainzer nahmen die Verfolgten auf und versteckten sie vor den sich nähernden Horden. Und andere Mainzer Bürger traten – zusammen mit den Soldaten des Bischofs und des Burggrafen – den Kampf gegen die Kreuzfahrer an. Doch die meisten Mainzer widerstanden der Versuchung nicht, die Juden zu töten und ihre Besitztümer zu plündern. In wenigen Tagen töteten die Vandalen über tausend Mainzer Juden. Es gibt eine Kina – einen Trauergesang – des Rabbi Kalonymus ben Judah für die Opfer des ersten Kreuzzuges in Mainz, Worms und Speyer. In ihr schildert Kalonymus das Schicksal der Juden in Worms, die sich zu Schawuot, dem Fest der Übergabe der Tora, zum Gottesdienst versammelt hatten, als die Kreuzfahrer in die Synagoge eindrangen. Die Juden hielten nicht inne und sangen das Hallel, den Lobgesang Gottes, während die Kreuzzügler einen nach dem anderen abschlachteten. Das einzige Vergehen der Juden war ihre Treue zu dem einen und einzigen Gott, für ihn starben sie den Märtyrertod. Die Juden weltweit gedenken auch dieser Massaker an Tischa b’Aw, einem Fasten- und Trauertag, an dem wir uns an die Zerstörung der beiden Tempel erinnern. Und egal, in welcher Synagoge ich an Tischa b’Aw bin, ich bitte stets darum, diese Kina lesen zu dürfen, und sie erschüttert mich jedes Mal auf ’s Neue.

In den Jahren des ersten Kreuzzuges war Mainz, zusammen mit Speyer und Worms, ein Zentrum blühenden jüdischen Lebens. Hier lebten Gelehrte wie Rabbenu Gerschom, 960 geboren, der das „Licht der Diaspora“ genannt wurde und dessen Verordnungen im gesamten Judentum Anerkennung fanden. Er änderte die Religionsgesetze für die europäischen Juden, was einer Revolution gleichkam. „Nicht länger sollt ihr nach Babylonien schauen, wenn ihr Fragen habt oder eine religionsgesetzliche Entscheidung wollt“, trug er den Juden auf. „Wir haben unsere eigene Gemeinschaft hier. Kommt zu uns und fragt.“ Die Juden sollten nicht mehr maßgeblich von einer Gemeinschaft beeinflußt sein, die mit ihren Lebensumständen wenig zu tun hatte. Rabbenu Gerschom erließ Verordnungen für das nördliche Europa und die hier lebenden aschkenasischen Juden, die ihrer aufgeschlosseneren Kultur entsprach: Den Frauen sprach er mehr Rechte bei Scheidungen zu, er führte das Briefgeheimnis ein, und den Geschäftsleuten gab er eine Ethik an die Hand, die siein der Wirtschaftswelt leben konnten. Rabbenu Gerschoms Denken und Haltung waren offen in einer Weise, die prägend für das deutsche Judentum werden sollte. In Mainz wirkte später sein Schüler, Rabbi Yaakov ben Yakar, der wiederum der Lehrer Raschis wurde, des größten Kommentators der Tora, ohne den es den Talmud, so wie er ist, nicht gäbe. Raschi kam aus Frankreich, um in Mainz und dann in Worms zu studieren, und man sagte über ihn: „Alles, was er geworden ist, verdankt er dem Einfluss seines Lehrers.“

Schon Gerschom hatte nicht nur gelehrt, sondern religiöse Poesie geschrieben, nach ihm kamen andere Poeten nach Mainz, deren liturgische Gesänge noch immer in der ganzen Welt im Gottesdienst vorgetragen werden. So ist hier das Gebet „Unetane tokef “ im Mittelalter in die poetische Form gebracht worden, in der es heute in jeder Synagoge auf der Welt zum Neujahrsfest gesprochen wird. In Mainz bildeten große Jeshivot – Talmudhochschulen – weltberühmte Rabbiner aus. Auf dem alten jüdischen Friedhof in der Stadt, dem „Judensand“, finden sich noch immer tausendjährige Grabsteine bedeutender Talmudlehrer.

Als Leo Trepp am 4. März 1913 geboren wird, leben rund dreitausend Juden in Mainz, und allein die Zahl der Synagogen bezeugt das rege jüdische Leben, das in seiner Vitalität eine weit größere Gemeinschaft vermuten lässt. Das Buchgeschäft „Magenza“ verfügt über eine solide Auswahl an Literatur, und das jüdische Krankenhaus zieht auch Nichtjuden an. In ihm praktiziert ein Arzt, der Prostataoperationen nur in diesem Krankenhaus durchführt und der so gut ist, dass alle auf Terminen bei ihm bestehen. Der koschere Bäcker und Matzefabrikant Adler und die koschere Konditorei Steiermann zaubern Köstlichkeiten aus jeder Art von Teig. Es gibt ein koscheres Restaurant und zwei koschere Metzger, in deren Auslagen sich von Braten und Schwartenmagen bis hin zu Leberwürsten alles findet, was das Herz begehrt.

Viele Juden hatten sich in der Mainzer Neustadt niedergelassen. Im Jahr 1912 weihte die liberale Hauptgemeinde in der Hindenburgstraße die mächtige, im Jugendstil erbaute Neue Synagoge ein, „ein Symbol der jüdischen Gleichberechtigung und des jüdischen Bürgerstolzes“, wie Trepp Jahrzehnte später schreiben wird. Sie hatte eine Orgel, was den orthodoxen Juden dem Religionsgesetz gemäß verbot, dort zu beten. An den Zentralbau waren ein Vortragssaal und Schul-, Konferenz- und Versammlungsräume sowie Gemeindebüros und das jüdische Museum angegliedert. Diese Einrichtungen nutzten sämtliche Mitglieder der Gemeinde, nicht nur die Liberalen. Bis auf einige Mauerteile brannte alles in der Pogromnacht nieder. Ein aus Resten der Eingangshalle bestehendes Denkmal hat lange an sie erinnert. An diesem Platz steht heute die neue Synagoge für die kleine Mainzer Nachkriegsgemeinde.

An der Ecke Flachsmarktstraße und Margaretengasse stand die im maurischen Stil errichtete große Synagoge der „Israelitischen Religionsgesellschaft“, der traditionellen Juden, die keine Orgel hatte. Das ist die Synagoge, in die Leo Trepps Eltern gehen, und mit der er aufwachsen wird. Eine kleine Tafel erinnert heute an sie und ihre Zerstörung.

lm Bezirk der Flachsmarktstraße und Schusterstraße, heute die Stadtmitte, lag einstmals das jüdische Ghetto. In der Gasse, die sich an die Synagoge anschließt, fanden sich zu Trepps Zeiten die jüdische Volksschule, nach dem Rabbiner Jonas Bondi im Volksmund ‚Bondischule’ genannt, die kleine Synagoge der osteuropäischen Juden, die hauptsächlich aus Polen kamen und ihr eigenes religiöses Leben führten, und ein großer Bau, in dem die Synagoge der „Bretzenheimer Kippe“, einer Vereinigung von Juden aus der Vorstadt Bretzenheim, und die Wohnung des ‚Sofer’, des Toraschreibers Zeitin, untergebracht waren. Im Keller des Gebäudes lag die Mikwe, das rituelle Reinigungsbad.

Kaiser, Krieg und Vaterland

Leo Trepp wächst in der Hindenburgstraße in der Neustadt auf, nicht weit von der liberalen Synagoge entfernt. Die Eltern haben lange vergeblich auf ein Kind gehofft, 1907 hatte seine Mutter eine Fehlgeburt. Erst sechs Jahre später kommt Leo Trepp zur Welt. So ist sein Vater bei seiner Geburt bereits Ende dreißig, seine Mutter dreiunddreißig Jahre alt – in dieser Zeit gilt sie als Spätgebärende. Maier Trepp hat seine Frau, Selma Zipora Hirschberger, im Haus seines Arbeitgebers kennengelernt, sie ist eine entfernte Angehörige der Cahns. Aufgewachsen in Oberlauringen, in einem Milieu ländlicher Frömmigkeit, sind ihr die Weltläufigkeit und Offenheit fremd, in der ihr Mann groß geworden ist. Bei den Cahns führt sie den Haushalt der Familie, wahrscheinlich, wie ihr Sohn Leo später mutmaßen wird, „als besseres Dienstmädchen“. Maier Trepp sah im Dienstmädchen den Menschen. In den Ehejahren muss Maier Trepp weiterhin auf vieles verzichten, um für andere da zu sein. Eine seiner Schwestern hat ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und stirbt bald darauf. Den Neffen, Otto Trepp, lässt er im Frankfurter Waisenhaus aufnehmen. Bei Familienfeiern ist Otto dabei, doch Leo Trepp wird sich später fragen, warum seine Eltern, die so lange keine eigenen Kinder bekommen konnten, den Neffen nicht adoptierten. Er wundert sich, dass seine Tante, obgleich bereits Mutter, immer noch ihren Mädchennamen trägt, merkt aber schnell, dass dies ein heikles Thema ist. Als er seine Mutter fragt: „Ottos Mutter hieß doch Trepp, ja, warum heißt der denn auch Trepp?“ antwortet die: „Na ja, das ist eben so.“ Das Konzept der Patchworkfamilie gab es noch nicht.

Synagoge der neo-orthodoxen Gemeinschaft in Mainz

Jahrzehnte später werden mein Mann und ich für seinen Cousin Kaddisch sagen, nachdem wir an einem brütendheißen Sommertag im Jahr 2008 den Fries des alten Jüdischen Friedhofs am Börneplatz in Frankfurt mit allen Namen der Frankfurter Opfer abgelaufen sind und schließlich auf die Inschrift ‚Otto Trepp’ stoßen.

Eine weitere Schwester von Maier Trepp ist bei der Geburt des letzten Kindes gestorben, und Neffen und Nichten bekommen eine Stiefmutter, über die sie sich bei ihm ausweinen. Sein einziger Bruder, Abraham, besucht das Lehrerseminar in Hannover, und auch ihm bezahlt Maier Trepp die Ausbildung. Stets hinter ihm wachend stärkt ihm seine Frau den Rücken und tritt mit unbeugsamem Willen, von dem noch zu reden sein wird, für ihn und später ihre Kinder ein. Aufgewachsen mit Menschen, die körperlich schwer arbeiteten und für die das Erworbene oft gerade reichte, hat sie die Mühen des Daseins früh erfahren und besitzt den kämpferischen Geist, der Maier Trepp fehlt.

Schon im kommenden Jahr wird das Paar, wie alle Familien im deutschen Reich, in die Pflicht genommen. Anfang August 1914 ruft Wilhelm der Zweite seine Soldaten gegen Frankreich und Russland zu den Waffen, und die Männer strotzen vor Kriegsbegeisterung. Jeder will dabei sein, will es dem Feind zeigen, besonders die Franzosen sollen sich nur vorsehen. Schon bald werden sie dem glorreichen deutschen Heer gegenüberstehen. Und in kürzester Zeit, so die Überzeugung, werden die Truppen siegreich ins Land zurückkehren.