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Frischer Wind im Nähcafé, spannende Herausforderungen und viel neues Glück!
Maura, eine erfolgreiche Chefredakteurin, kehrt nach einigen Monaten wieder in ihr Heimatdorf Rockenbrook zurück, um ihrem Vater beizustehen. Doch dort erwartet sie mehr als nur familiäre Aufgaben: Das geliebte Nähcafé ihrer verstorbenen Tante steht erneut vor dem Aus, und das Dorf droht, in die Hände einer skrupellosen Investorin – ausgerechnet die Ex ihrer großen Liebe Marten – zu fallen. Alte Gefühle flammen auf, neue Herausforderungen türmen sich und eine unerwartete Wendung stellt ihr Leben auf den Kopf.
Sie mögen Handarbeit und bewegende Romane über die Kraft von Liebe, Heimat und neuen Chancen? Dann lesen Sie auch den ersten Band »Das kleine Nähcafé am Fluss«!
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2025
Buch
Maura, eine erfolgreiche Chefredakteurin, kehrt nach einigen Monaten wieder in ihr Heimatdorf Rockenbrook zurück, um ihrem Vater beizustehen. Doch dort erwartet sie mehr als nur familiäre Aufgaben: Das geliebte Nähcafé ihrer verstorbenen Tante steht erneut vor dem Aus, und das Dorf droht, in die Hände einer skrupellosen Investorin – ausgerechnet die Ex ihrer großen Liebe Marten – zu fallen. Alte Gefühle flammen auf, neue Herausforderungen türmen sich und eine unerwartete Wendung stellt ihr Leben auf den Kopf.
Autorin
Sabine Schmidt ist Autorin, Bloggerin, Modemacherin und seit 2016 kreativer Kopf und Gründerin von SewSimple. Jeden Monat begeistern sich hunderttausende Näh-Fans für Sabines Anleitungen und Hacks rund um die Themen Nähen und DIY – oder durchstöbern die anfängertauglichen Schnittmuster auf ihrer hochfrequentierten Homepage. Nach »Das kleine Nähcafé am Fluss« ist »Neues Glück im kleinen Nähcafé am Fluss« ihr zweiter Roman, mit dem sie die Leser*innen gleichermaßen inspirieren wie unterhalten will.
SABINE SCHMIDT
Neues Glück im kleinen
Nähcafé
am
Fluss
Roman
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Copyright © 2025 der Originalausgabe
by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Christine Schlitt
Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32079-9V001
www.blanvalet.de
Für Lenny, Maxim und Luv.
Heimat meines Herzens.
Vorwort
Herzlich willkommen zurück im kleinen Nähcafé am Fluss – einem Ort voller Lachen, Liebe, Tränen, Festen und natürlich ganz viel Kreativität. Vielleicht hast du Maura und ihre Freunde schon im ersten Teil »Das kleine Nähcafé am Fluss« kennengelernt und bist ein Stück ihres Weges mitgegangen. Auch diesmal stürzt sich unsere Heldin mit offenen Armen und einem klopfenden Herzen in neue Abenteuer, die das Leben für sie bereithält.
Dabei wird natürlich auch wieder viel genäht, gekocht, gebacken und gewerkelt. Und damit du Rockenbrook hautnah erleben kannst, findest du viele der Projekte und Rezepte aus beiden Romanen in meinem Buch »Das kleine Nähcafé am Fluss. Nähideen für gemütliche Stunden« aus dem frechverlag – perfekt zum Nachnähen und Nachkochen.
Und jetzt komm mit, tauche ein in diese Geschichte und lass dich von den besonderen Menschen und Momenten verzaubern, die auf dich warten.
Alles Liebe
deine Sabine
1
Bist du so weit? Wir müssen los!« Der quadratische Schädel ihres Chefs erschien in der Tür des Eckbüros.
Maura musterte Tex: Seinem üblichen Büro-Outfit, bestehend aus abgetragenen Jeans, Jackett und Turnschuhen, hatte er mit einer in die Jahre gekommenen Fliege zu einem gewissen Glanz verholfen. Für die Party zum Erscheinen der ersten Ausgabe des Magazins war er eigens über den großen Teich geflogen.
»Hast du das Binderchen da nicht schon zum Verlagsjubiläum vor fünfzehn Jahren getragen?«, zog sie ihn liebevoll auf.
»Hat sich doch gut gehalten, oder?« Tex zwirbelte die schlaffen Enden seines Kragenschmucks. »Können wir dann? Gary wartet draußen.«
Durch die großzügige Fensterfront konnte Maura die untersetzte Gestalt des Investors erkennen, der sich offensichtlich die Wartezeit mit Telefonaten vertrieb. Maura lächelte, als sie sah, dass ihr Geldgeber auch an diesem feierlichen Tag nicht auf seine Basecap verzichtet hatte. Sie mochte Garys unkomplizierte Art, die Dinge anzugehen. Kürzlich hatte sie auch seine Frau kennengelernt, eine begnadete Patchworkerin mit einem Hang zu Lemon Cream Pie.
»Sofort.« Maura raffte ihre Sachen zusammen. Unschwer zu erkennen, dass sie ganz schön aufgeregt war. Ihre Wangen leuchteten rosig, ihre Augen strahlten. Die erste Ausgabe der Cool & Cozy Corners war am Start und brach alle Rekorde. Ein Grund zum Feiern, das war klar. Trotzdem: Musste das direkt alles so bombastisch sein? Eine kleine Party hätte doch auch gereicht.
Es war, als hätte Tex ihre Gedanken gelesen. »Komm schon, das ist dein Moment. Das Fernsehen, die Presse, die Social-Media-Nutten und das Radio – und alle wollen dich sehen. Den neuen Star am Zeitschriftenhimmel.« Er hielt ihr die Tür auf. »Hättest du gedacht, dass du mal hier landest, als du vor knapp zwanzig Jahren als schmächtiger kleiner Spatz in Köln durch die Verlagstür gestiefelt bist?«
»Nie im Leben. Und ganz so schmächtig war ich wirklich nicht.«
»Hast dich halt durchgebissen. Und die Sensation, die du uns letztes Jahr mit der Sonderausgabe der Halm & Nadel beschert hast, hat die ganze Sache erst so richtig ins Rollen gebracht.«
»Schade bloß, dass die Redaktion in Oregon sitzen muss. Mein Leben wäre schon ein bisschen unkomplizierter, wenn ich weiter von Köln aus arbeiten könnte«, meinte Maura vorsichtig. Immerhin könnte ich dann mit Marten wenigstens eine Wochenendbeziehung führen, dachte sie.
»Du kennst die Gründe. Es ist Gary eben wichtig, dass sein Magazin in seiner Nähe gemacht wird. Kann ich verstehen. Er steckt echt einen Haufen Kohle rein. Und im Übrigen: Wie willst du hier ein Netzwerk aufbauen, wenn du in Deutschland sitzt?«
»Ja, schon klar, ich meine ja nur!« Dieser Satz klang selbst in Mauras eigenen Ohren undankbar.
»Hey guys, let’s party!«, schmetterte ihnen Gary beim Einsteigen entgegen und lenkte seinen SUV in den abendlichen Straßenverkehr Portlands.
»Hab keine Kosten und Mühen gescheut!«, nuschelte Gary in breitestem Amerikanisch und hielt an. »Look! Isn’t that cool?« Er deutete auf eine festlich beleuchtete Halle, vor deren Eingang sich ein roter Teppich ausbreitete.
Galant hielt Tex Maura seine riesige Pranke hin. »Darf ich bitten?«
Sie schritten durch einen weiten, mit Lichterketten geschmückten Hof. Alles in Maura sträubte sich beim Gedanken an die erwartungsvollen Gesichter, die sich ihnen bei ihrem Eintreten entgegenrecken würden. Sie liebte ihren Job wirklich. Aber das hier war ihr eine Nummer zu groß. Sie holte tief Luft und räusperte sich. Ihr Mund war staubtrocken.
Beim Eintreten brandete Maura ein donnernder Applaus entgegen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Alle waren da: die gesamte Redaktion, Vertreter der Presse, ein paar bekannte Podcaster und Influencer, das Fernsehen und jede Menge Künstlertypen. Der Raum war bis an die Decke mit riesigen Luftballons in allen Farben des Regenbogens geschmückt. Bombastische Blumengestecke zierten die Tische und wirkten in dem luftigen Raum wie verrückte Explosionszeichnungen. In ihr eigenes Magazin hätten es die absurd opulenten Dekorationen niemals geschafft, alles sehr amerikanisch halt. Aber Maura erkannte die Wertschätzung dahinter und erlaubte sich jetzt ein breites Lächeln. Hinten im Raum erklangen coole Indie-Jazz-Klänge. Maura reckte den Hals. Sogar eine Liveband war da. Platten mit bizarren Horsd’œuvres wurden gereicht, Champagner in glitzernden Flöten ausgeschenkt. Im Rauschen klatschender Hände ging Maura langsam durch den Saal. Bekannte Gesichter lächelten ihr entgegen. Sie hatten ganz schön was geschafft in den letzten Monaten. Ein Glücksschauer rieselte über ihren Rücken, als Gary sagte: »Das ist dein Applaus, Maura.« Sie senkte den Blick und hätte sich am liebsten unsichtbar gemacht. Ihre dunklen Haare glänzten, als sie lächelnd den Kopf schüttelte.
»Speech!«, erschallte es. »A speech, Maura!«
Im ersten Moment war sie nicht sicher, wer hier gemeint war. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie selbst die Rede halten sollte. Warum klingt mein Name auf Amerikanisch so, als würde jeder Vokal an einem extragroßen Kaugummi vorbeigequetscht werden, fragte sie sich und musste plötzlich kichern. Sie sah sich um, wurde rot und hob abwehrend die Hand. Nicht auch noch das! Keine Rede, herrje!
»Come on, girl!« Gary lotste sie in Richtung Mikro.
Widerstrebend gab Maura nach. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre schnurstracks zur Tür hinausmarschiert. Puh, so viel Aufmerksamkeit. Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Zum Teufel, sie hatte wirklich gut gearbeitet, das stand fest. Also los, Mädchen, sprach sie sich selbst Mut zu. »Du machst das schon, mein Schatz«, hörte sie im Geiste die Stimme ihrer Mutter. Maura gab sich einen Ruck. Ihre Hände verkrallten sich unwillkürlich ineinander, als sie vors Mikro trat.
»Thank you so much, guys! And thanks for coming here tonight!« Maura räusperte sich verlegen. Noch immer fiel es ihr schwer, den richtigen Ton zu treffen, wenn sie Englisch sprach.
»Es freut mich unglaublich, dass ihr alle gekommen seid, um die erste Ausgabe unseres Magazins Cool & Cozy Corners zu feiern. Danke für euren Applaus, aber es ist natürlich klar, dass der überwältigende Erfolg, mit dem wir gestartet sind, nicht nur mir allein zu verdanken ist.« Sie sah in die Runde, nickte ihrem Redaktionsteam zu und winkte einen nach dem anderen zu sich nach vorn.
»Wenn diese erste Ausgabe so gut funktioniert hat, liegt das vor allem an meinem großartigen Team, das sich die größte Mühe gegeben hat, dieser Zeitschrift zum besten Start überhaupt zu verhelfen. Kommt doch mal nach vorne, Leute!«
Sie lächelte stolz und stellte einen nach dem anderen vor. Dabei vergaß sie auch nicht, die Aufgaben und Leistungen jedes einzelnen Teammitglieds zu erwähnen. Als Luke nach vorne kam, wurde der Applaus für ein paar Sekunden noch etwas lauter. Allen war klar, dass Luke mit seinen wunderschönen Fotos der Zeitschrift eine Ästhetik verlieh, von der die Konkurrenz nur träumen konnte. Während Maura ein wenig über seine Arbeit erzählte und Lukes besonderes Gespür für Menschen und Momente hervorhob, fühlte sie plötzlich Lukes warme Hand federleicht zwischen ihren Schulterblättern. Tat er das wirklich? Ein Blick in sein Gesicht – er lächelte unbefangen. Ah, sicher dachte er sich nichts dabei. Sie selbst bekam allerdings gerade weiche Knie. Schnell trat sie einen kleinen Schritt beiseite und die Hand verschwand so unvermittelt, wie sie gekommen war. Vielleicht hatte sie sich das Ganze auch nur eingebildet.
Plötzlich musste Maura über sich selber lächeln. Sie hatte so viel gelernt in den letzten Monaten. Noch vor einem halben Jahr war ihr Führungsstil kühl und rigide gewesen. Es fiel ihr nicht leicht, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu vertrauen, was sicher mit ihrer persönlichen Geschichte zu tun gehabt hatte. Und so hatte sie alles und jeden kontrolliert. Ihre Ansagen waren für ihre Knappheit bekannt gewesen, in ihren Einschätzungen hatte sie sich nicht von Gefühlen leiten lassen. Ein Diamant auf zwei Beinen, das war die einhellige Meinung aller im Verlag gewesen. Denn Maura war auf ihre Art tatsächlich brillant, sie hatte eine enorme Auffassungsgabe und keine Angst vor großen Entscheidungen. So war sie gewesen, bis im letzten Jahr ihre geliebte Tante Hettie gestorben war.
Obwohl Maura damals bewusst gewesen war, dass es ihrer Tante gesundheitlich nicht wirklich gut ging, war sie nicht über ihren Schatten gesprungen, um ihr beizustehen. Sie und ihr Sohn Quist waren die einzigen Verwandten. Trotzdem hatte Maura es nicht fertiggebracht, ihre Tante im kleinen schleswig-holsteinischen Rockenbrook zu besuchen. Insgeheim hatte sie wohl Sorge gehabt, Rockenbrook könnte alte Wunden wieder aufreißen. Und was dann? Im Nachhinein war Maura klar: All die Jahre hatte die Angst vor der Rückkehr in ihre ehemalige Heimat sie zur Gefangenen ihrer selbst gemacht. Als sie dann wirklich nach Rockenbrook zurückgekommen war, hatten sich die Dinge vollkommen anders entwickelt, als sie gedacht hatte.
Während im Hintergrund der Partylärm rauschte, hatte Maura plötzlich die Stimme ihrer Mutter im Ohr »Du musst es alleine schaffen, mein Schatz.« Daran hatte sie sich immer gehalten. Wie ein Mantra hatte sie die Worte ihrer Mutter auch in den härtesten und einsamsten Momenten vor sich her gesagt. Nur um im letzten Jahr festzustellen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Mutter im Irrtum gewesen war.
Ein paar Minuten später schlängelte sich Maura mit einem Glas in der Hand durch die Menschenmenge. Eine bekannte Youtuberin lächelte ihr entgegen: »You damn crazy Germans! And always so trendy! Such a cute magazine!« Sie fasste Maura bei den Schultern und küsste sie links und rechts. Maura versank in einer Wolke Vanilleduft und Zuckerwattehaar und dachte: Ach komm. Wenn du wüsstest, Mädchen, ich bin vom Dorf. Nach einem höflichen Small Talk sah sie sich um und nutzte einen ruhigen Moment, um sich kurz in eine Ecke zurückzuziehen und durchzuatmen.
Wer hat eigentlich Partys erfunden, dachte sie, schloss die Augen, atmete tief durch und warf einen Blick auf ihr Handy. Drei verpasste Anrufe von Hilkka.
* * *
Entnervt gab Hilkka auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Verkaufsraum, in dem sie jetzt mit einem triefenden Lappen in der Hand stand, gehörte zum Rockenbrooker Nähcafé. Und eigentlich sollte das Rauschen des nahen Flusses das einzige Fließgeräusch sein, das hier zu hören war. Ein paar Tropfen platschten auf ihren Scheitel. Hilkka warf einen vorsichtigen Blick Richtung Zimmerdecke. Das heftige Plätschern hatte aufgehört, aber noch immer stand das Wasser in riesigen Lachen im Verkaufsraum. Dutzende Stoffballen hatten sich mit Wasser vollgesaugt und ruhten jetzt zentnerschwer auf den sich unter ihrem Gewicht biegenden Regalbrettern. Herrje, so ein Schlamassel!, dachte Hilkka. Über ihr zeigte sich ein großer nasser Fleck, an dessen Rändern sich der Putz aufgeweicht hatte und in feuchten Brocken auf das darunter stehende Stoffregal fiel.
Hilkka wrang den Putzlumpen aus und ging auf die nächste Pfütze los. Und Maura nicht erreichbar, na toll! Was sollte bloß mit den Stoffballen passieren? Hilkka musterte die wunderschönen Textilien in sanften Naturtönen, Golddruck und dezenten schwarzen Mustern. Eine Katastrophe, wenn diese Schätze verderben würden. Hier musste schnell eine Entscheidung her, sonst würde garantiert der ganze Spaß schimmeln.
* * *
Fast war Maura erleichtert, dass sie sich mit einem Rückruf ein wenig Zeit für sich allein erschleichen konnte. Hilkkas Stimme klang so nah, als stünde sie direkt neben ihr.
»Hi, was gibt’s?«
»Na, wie läuft es so in Portland?«
»Ach, alles okay. Und bei dir?«
Mauras alte Kindheitsfreundin arbeitete jetzt stundenweise im Nähcafé am Fluss, damit Tante Hetties Laden nicht schließen musste. Mit Mauras Rückkehr im letzten Jahr hatten die beiden Frauen wieder zusammengefunden, nachdem sie ein Missverständnis fast zwei Jahrzehnte lang getrennt hatte. Hilkkas Zögern ließ Maura jetzt aufhorchen.
»Naja, deswegen ruf ich an. Ich weiß ja, dass du viel zu tun hast. Aber hier in Rockenbrook gibt’s Probleme.«
»Was für Probleme?«
»Letzte Nacht hat es wohl einen Wasserrohrbruch in der Wohnung über dem Nähcafé gegeben.«
Die Wohnung in Hetties Haus am Fluss war in keinem guten Zustand, Maura war sich dessen bewusst. Kattz, Mauras Vater, der die meiste Zeit des Jahres in einem Schäferwagen neben der Rockenbrooker Fähre lebte, hatte sich im Winter bei Tante Hettie eingemietet. Verständlich, denn in der kalten Jahreszeit war der nur mit einem Gasbrenner beheizte Schäferwagen klamm und ungemütlich. Die ungenutzte Wohnung in Hetties Haus war da die perfekte Lösung. Nahe an der Fähre gelegen hörte Kattz auch dort das Läuten der Glocke, wenn jemand übersetzen wollte. Allerdings war in der Wohnung in den letzten Jahren nichts erneuert worden. Eine Renovierung war dringend angesagt. Aber in den wenigen Monaten, die Maura zwischen Rockenbrook und der Redaktion in Köln gependelt war, hatte sie sich nicht auch noch darum kümmern können.
»Oh nein, das musste ja so kommen! Und wie sieht’s aus?«
»Glücklicherweise hab ich’s direkt heute früh gemerkt. Kattz hat mitgeholfen, die Stoffe in Sicherheit zu bringen. Aber einige Ballen sind hinüber.«
Seit Maura sich im letzten Jahr mit Hetties Büchern beschäftigt hatte, war ihr klar geworden, welche Werte in diesem Stofftempel schlummerten.
»Verstehe.«
»Leider sind die Einnahmen im Moment ziemlich mau. Und der Verlust geht in die Tausende. Das kann uns echt das Genick brechen.«
»Herrje, das hat mir gerade noch gefehlt.«
»Tut mir auch total leid, dich damit behelligen zu müssen.« Hilkkas schlechtes Gewissen war auch über den Atlantik hinweg nicht zu überhören. »Sag mal, was machst du eigentlich gerade?« Hilkka lauschte. »Bist du auf einer Party? Soll ich später noch mal anrufen?«
Maura zögerte kurz. Eigentlich wäre das wirklich gut. Hier mischten sich wieder ihre unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten. Sie gab sich einen Ruck.
»Ist schon gut. Wie viele Stoffballen hat’s denn erwischt?«
»Ein ganzes Regal, das Wasser kommt aus dem Bad.«
»Mist!« In Gedanken überschlug Maura die Summe. »Ich melde es der Versicherung und bitte Quist, dir zu helfen.«
»Ja, das ist auch so eine Sache. Ich fürchte, Hettie hat es mit der Inventarversicherung wohl nicht mehr auf die Kette bekommen. Dort habe ich schon angerufen, die Nummer war ja im Büro. Hettie hat seit Jahren nicht mehr eingezahlt.«
»Das kann doch nicht …« Maura biss sich auf die Lippen. Kein Wunder, dass nirgends eine Rechnung aufzufinden gewesen war. Diese ständige Pendelei zwischen Schleswig-Holstein und Köln hatte Mauras Konzentration ganz schön zugesetzt. Immer wenn sie an einem Ort war, wäre sie am anderen genauso dringend gebraucht worden. Und nie war sie irgendwo ganz, das war zumindest in diesem Moment ihr Gefühl. Das rächt sich jetzt, und zwar gewaltig, dachte Maura.
»Okay, ich kümmere mich darum, dass wir schnellstmöglich eine Versicherung für das Inventar des Ladens bekommen. Aber jetzt ist das Kind ja schon in den Brunnen gefallen.«
»Im wahrsten Sinne des Wortes«, meinte Hilkka. »Weißt du was? Ich versuche mal, die Stoffe zu waschen und zu trocken. Es sind diese schönen Japan-Stoffe, die Hettie besonders geliebt hat. Das macht es umso bitterer, finde ich. Vielleicht fällt uns ja noch irgendwas dazu ein.«
»Gute Idee.«
»Alles klar.«
»Hast du einen Handwerker gerufen?«
»Kein Problem. Das mach ich. Ich denke, Ole übernimmt das. Wollte mir nur dein Okay abholen, Chefin. Wann bist du eigentlich das nächste Mal zu Hause?«
Zu Hause? Wo ist das?, dachte Maura, wusste es aber sofort. »Das wird auf absehbare Zeit wohl erstmal nichts werden, fürchte ich. Aber ich werde Tex mal drauf anhauen.«
»Schade. Ich hab dich so gerne als Nachbarin«, meinte Hilkka. »Ich vermisse dich richtig. Viel Spaß noch!«
Maura schluckte und legte auf. Hilkka konnte mit einem einzigen knappen Satz so viel Wärme und Zuneigung ausdrücken. Es fiel Maura schwer, sich daran zu gewöhnen. Bis auf die innige Liebe zu ihrem Sohn Quist war ihr Leben in den letzten Jahren ziemlich unterkühlt gewesen.
Um sie herum war die Party in vollem Gange und Maura wollte sich gerade wieder dazugesellen, als sie ein Klicken hörte.
»Bleib so«, hörte sie eine sanfte Männerstimme hinter sich.
Sie blickte auf. Luke ließ die Kamera sinken. Ein entspanntes Lächeln umspielte seine Lippen.
»Sorry, ich dachte, du kriegst das nicht mit. Du warst so in Gedanken«, meinte er und stellte sich neben sie. »Genießt du deinen Erfolg?«
Interessiert sah Maura ihn an. »Das ist unser Erfolg, würde ich sagen. Und du hast da ganz ordentlich dran mitgewirkt, meinst du nicht?«
Statt einer Antwort sah er sie unverwandt an und hob die Kamera vors Gesicht. Plötzlich fühlte sich Maura trotz des sorgfältig aufgetragenen Make-ups merkwürdig nackt. Sie rückte ein wenig von ihm ab.
»Du magst nicht so gerne fotografiert werden, oder? Warum nicht?«
Maura überlegte kurz. Solange sie sich erinnern konnte, waren alle Fotos, die es von ihr gab, entweder beruflicher Natur, also stocksteife Passfotos oder Porträts für die Online-Präsenz der Halm & Nadel, oder sie stammten aus Quists Kindergarten- oder Schulzeit. Private Fotos oder Fotos, auf denen nur sie zu sehen war, existierten so gut wie gar nicht. Komisch, dass ich da noch nie drüber nachgedacht habe, sinnierte sie, wurde aber von einem weiteren Klicken unterbrochen.
»Dein Gesicht ist wirklich ganz außergewöhnlich«, meinte Luke. Er hatte nicht »schön« gesagt, das fiel Maura auf.
»Ach, hör auf!« Maura spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Unbewusst strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Flirte ich etwa?, dachte sie perplex.
»Sorry, ich muss leider …« Sie machte eine vage Handbewegung und trat unter Lukes fragendem Blick den taktischen Rückzug an.
»Tex, kann ich dich kurz sprechen?« Sie zupfte ihren Verleger am Ärmel.
»Was ist los?«
»In Rockenbrook gibt’s Probleme. Wir hatten einen Wasserrohrbruch im Laden. Eigentlich müsste ich hin und schauen, dass wir das behoben kriegen.«
»Ist das dein Ernst? Du hast hier eine Redaktion zu leiten!«
»Ja, ja, ich weiß. Ich weiß ja. Ist mir auch total peinlich. Aber Hilkka braucht echt Unterstützung, glaube ich.« Selbst für ihre eigenen Ohren klang das unausgegoren.
»Und was stellst du dir vor, wie es hier weitergehen soll, wenn du nicht da bist?«
»Ich wäre ja schnellstmöglich wieder zurück. Praktisch wie ein Urlaub. Und ich könnte auch von Rockenbrook aus …«
»Nee, nee, Maura, das läuft nicht. Du hast unglaublich Gas gegeben, um das alles hier auf die Beine zu stellen. Du kannst jetzt nicht die Segel streichen und nach Deutschland fliegen. So etabliert ist das Ganze hier nicht, dass wir jetzt auf die Chefredakteurin verzichten können – mitten in der Vorbereitung für die nächsten Ausgaben.«
»Aber ich könnte doch remote …«
Tex fiel ihr ins Wort: »Verdammt, Maura, du musst dich entscheiden. Rockenbrook oder Portland.« Er sah sich um. Es war sicher nicht gut, in diesem knallvoll mit inzwischen angeschickerten Partygästen gefüllten Raum einen offenen Streit zu riskieren. Er zog Maura ein wenig außer Sichtweite hinter einen Pfeiler. »Ich will hier echt keinen Larry machen, aber dir muss doch klar sein, dass die gesamte externe Kommunikation an dir hängt. Du musst Klinken putzen und dich ums Marketing kümmern. Gerade jetzt, wo wir dabei sind, uns zu etablieren, müssen wir uns breit aufstellen und vernetzen.«
Maura sah ihn trotzig an. »Geht heute sowieso alles per Videocall.«
»Eben nicht! Du bist hier vor Ort, weil du die Leute kennenlernen sollst, die an den Schaltstellen sitzen. Unter uns: Denkst du, Gary gibt sich nur mit einem Magazin zufrieden? Der will mehr. Ich habe läuten hören, dass er als Nächstes einen Podcast plant.«
»Aber dabei denkt er sicher nicht an m…«, begann Maura.
»Ganz egal, woran er denkt, du musst hier Fußarbeit leisten«, fuhr Tex sie an.
Maura beobachtete, wie sein Gesicht eine ungesunde Röte annahm. So hat er sich meinetwegen noch nie aufgeregt, dachte sie schuldbewusst. Sie kam sich wahnsinnig undankbar vor. Natürlich war ihr klar, wie viel Tex für sie und ihr berufliches Fortkommen getan hatte. Sie riss sich zusammen.
»Verstehe. Klar. Du hast recht. Tut mir leid.«
»Geschenkt! Beauftragt doch einfach ein paar Handwerker. Und deine Freundinnen sind ja wohl auch vor Ort und können mal einen Schlag reinhauen, oder?«
»Na klar, hast recht. Das machen wir so.« Maura schlug die Augen nieder und wandte sich ab. Tex sollte nicht sehen, wie sehr seine Abfuhr sie verletzte.
Tex’ Stimme hielt sie zurück. »Komm schon, Maura, du weißt, dass ich immer hinter dir stehe. Aber hier muss ich eine Entscheidung treffen, die dir nicht in den Kram passt. Du wirst sehen, alles wird gut.«
»Ich versteh dich wirklich.« Maura schluckte.
»Und im Übrigen: Fällt eigentlich niemandem außer mir auf, dass sich die verdammte Band anhört wie’n Sack Schrauben?!«, brummte Tex.
Maura lächelte schwach. Verflixt, dann musste sie eben von Portland aus tun, was sie konnte. Sie dachte an Marten. Ihr wurde plötzlich heiß und ihre Knie begannen zu zittern. Höchste Zeit, dass wir uns wiedersehen, dachte sie.
* * *
»Hi, na, hast du die Party gestern gut überstanden?«
»Das war keine richtige Party. Nur so ein kleines Get-together anlässlich der ersten Ausgabe.« Mit mulmigem Gefühl im Bauch dachte Maura an Lukes Hand auf ihrem Rücken. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn diese Hand an anderen Stellen ihres Körpers tätig werden würde? Oh Gott, hab ich das wirklich gerade gedacht?, schalt sich Maura.
»Jedenfalls hat es sich nach einer Menge Spaß angehört«, meinte Hilkka. »Ich hatte hier übrigens keinen.«
»Tut mir echt leid, dass du das jetzt an der Backe hast, Hilkka. Ich hab gestern versucht, mit meinem Chef zu sprechen …«
»Und? Wenn du sagst ›versucht‹, dann bedeutet das …«
»Ich kann wirklich nicht zurückfliegen, unmöglich. Tex ist gestern fast ausgeflippt, als ich ihn gefragt habe.«
»Kann ich verstehen. Aber irgendwie müssen wir ja die Kuh jetzt vom Eis kriegen.«
»Ja, ja, natürlich. Vielleicht kann Ole ja helfen? Ich komme für alles auf!«
»Weißt du was? Ich schau mal, was sich machen lässt. Und ich frage den Nähclub, ob da vielleicht jemand Lust hat, mir zu helfen …«
Maura wollte sich bedanken, aber da hatte Hilkka schon aufgelegt.
Oh, oh!, dachte Maura. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war, dass jetzt auch noch Hilkka sauer auf sie war.
2
Mauras gerötete Augäpfel spielten zwischen ihren beiden Bildschirmen Pingpong. Sechzehn Stunden am Schreibtisch und noch immer nur knapp die Hälfte fertig. Sie warf dem stylischen Designersofa, das die Besprechungsecke zierte, einen sehnsüchtigen Blick zu. Der Gedanke, sich ein paar Minuten langzumachen und die Augen zu schließen, erschien ihr äußerst verlockend. Schnell rief sie sich zur Ordnung: Wenn sie jetzt einnickte, würde sie niemals mit den Vorbereitungen für die nächste Ausgabe fertig werden, an der sie seit mehreren Wochen nonstop arbeitete. Es gab Deadlines einzuhalten, die Druckerei war gebucht, die Auslieferung organisiert und die zweite Ausgabe des Lifestyle-Magazins Cool & Cozy Corners wurde im gesamten englischsprachigen Raum sehnsüchtig erwartet. Den Erscheinungstermin zu verschieben, stand also gar nicht zur Diskussion. Und in dieser Hinsicht verstand ihr Chef Tex de Hoog keinen Spaß. Er hatte ordentlich Arbeit und Manpower investiert, um den amerikanischen Ableger der deutschen Halm & Nadel aus der Taufe zu heben.
Erst ein Jahr zuvor hatte es für die Zeitschrift mit Verlagssitz in Köln keineswegs rosig ausgesehen. Immer war es zu thematischen Überschneidungen mit der Konkurrenz gekommen. Bis schließlich ein eigens von Tex eingeschalteter Privatdetektiv herausgefunden hatte, dass die undichte Stelle direkt in Mauras Redaktion zu finden war. Schwierige Zeiten für Chefredakteurin Maura: Nicht nur musste sie die Zeitschrift aus dem Tief führen – mitten in der Krise starb ihre geliebte Tante Hettie in ihrem verhassten Heimatort. Und hinterließ ihr nicht nur das idyllische Haus am Fluss, sondern auch ein Nähcafé.
Lukes Kopf erschien in der Tür. »Hast du eine Minute?«
Maura blickte auf. Wann immer der Fotograf den Kontakt zu ihr suchte, schlug ihr Herz ein kleines bisschen schneller. Okay, er war wirklich ein ausgesprochen attraktiver Mann. Maura mochte sogar seinen hippen Haarknoten. »Was kann ich für dich tun?«
»Oh, ich dachte, heute tu ich mal was für dich«, meinte Luke und legte eine himmelblaue Mappe vor sie auf den Schreibtisch.
»Was ist das? Die Aufnahmen aus der Spinnerei?«
»Die hast du in der Cloud. Nein, das hier ist nur für dich.«
Maura öffnete die Mappe und hatte im ersten Moment Probleme, ihr eigenes Gesicht zu erkennen. Sehe ich wirklich so aus?, fragte sie sich. Luke hatte den Auftrag gehabt, Fotos der Party vor einigen Wochen für ihren Social-Media-Auftritt zu machen.
»Ich wusste nicht, ob ich sie dir zeigen soll. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es ist dir gar nicht so recht, dass ich die Bilder gemacht hab. Deshalb hab ich mich nicht getraut, sie dir zu zeigen. Aber sie sind so gut geworden. Und ich dachte …«
»Schon okay. Danke, sie sind toll.« Maura musste sich bemühen, die Tränen zurückzuhalten. So war sie noch nie fotografiert worden. Und zwar ganz ohne zu merken, dass sie im Fokus stand. Im Hintergrund verschwamm das Partygetümmel, im Vordergrund, ein wenig körnig, ihr ernstes Gesicht, während sie mit Hilkka telefonierte. Maura nahm das nächste Bild zur Hand. Es zeigte ihre schmale Gestalt, mit geschlossenen Augen, an eine Wand gelehnt. Ein großer Blumenstrauß ragte ins Bild, als würde er sie zum Tanz auffordern wollen.
»Magst du sie? Wirklich?« Lukes Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Weitere Bilder zeigten ihr fein gezeichnetes Gesicht aus allernächster Nähe. Mauras Finger strichen über die leicht körnige Oberfläche der Fotos, als wollten sie die Linien nachziehen. Luke hatte nichts geschönt. Um ihre Augen waren feine Fältchen zu erkennen. Die klaren Linien ihrer Wangenknochen hoben sich deutlich hervor. Und um den Mund herum machte sich ein markanter Zug bemerkbar, der Maura vorher noch nie aufgefallen war. Trotz allem fand sie sich wunderschön.
Ein erleichtertes Lachen entfuhr Luke. »Ich würde dich niemals mit Komplimenten langweilen. Aber ich finde, die Bilder sprechen für sich.«
»Darf ich sie behalten?«, fragte Maura.
»Natürlich, das sind deine. Weiter hinten sind übrigens noch ein paar, die ich zufällig gemacht hab, als wir neulich in der Kaffeerösterei waren.«
Die Aufnahmen zeigten Maura, die sich mit verschränkten Armen an eine schwarze Röstmaschine lehnte. Maura erinnerte sich noch gut, wie wohl sie sich in diesem Moment gefühlt hatte. Luke hatte das Talent, die unterschiedlichen Texturen mit Licht hervorzulocken. Und genau das hatte er auch hier getan. Die matte Oberfläche des Kessels, aus dem leichter Dampf strömte, blitzende Armaturen, die weiche Struktur von Mauras offenem Haar und der Glanz ihrer dunklen Augen, die das Zentrum des Fotos bildeten.
So hat mich noch nie jemand gesehen, dachte sie. Sie schluckte und sah Luke verlegen an. »Danke, Luke, das bedeutet mir viel.«
Er lächelte wortlos und verschwand.
* * *
Mit vor Müdigkeit tränenden Augen schob Maura die letzten Bilder für den Artikel über die regionale Kaffeerösterei hin und her. Das Shooting war traumhaft gewesen. Das luftige, aus dunklem Holz gezimmerte Gebäude, dessen große Fenster und Terrassentüren nach allen Seiten Licht und Luft hereinließen, verströmte einen satten, schokoladigen Duft nach frisch geröstetem Bio-Kaffee, köstlich-klebrigen Cinnamon Rolls und butterigem Apple Pie. Das Haus schien von oben bis unten mit fröhlichen Menschen jeden Alters und jeder Hautfarbe gefüllt. Auf den Fotos entdeckte Maura eine Gruppe junger Frauen, die sich lebhaft unterhielten. Eine davon schaukelte ein Baby auf den Knien, das mit beiden Fäustchen den Zeigefinger seiner Mutter umklammerte. Die Fotos waren einfach perfekt, die offene, einladende Atmosphäre war praktisch in jeder Einstellung mit Händen zu greifen. Hier stimmte wirklich alles. Und sie zeigten, was ein junges, engagiertes Team auf die Beine stellen konnte.
Er und ich sind auch ein gutes Team, dachte Maura, während sie nach draußen auf die dunkle Straße schaute. Die faszinierenden Bilder, die Luke bei diesem Shooting auch von ihr gemacht hatte, lagen in Mauras Schreibtischschublade. Vielleicht sollte ich sie … Sie holte die Mappe hervor und schob sie in ihre Tasche. Sie hob den Kopf und gewahrte ihr Spiegelbild im Fenster. Ihr Blick stellte sich scharf und sie sah in ihr eigenes, erschöpftes Gesicht. Um den Mund nahm sie einen traurigen Zug wahr, der ihr nicht gefiel. Nach all den einsamen Karrierejahren ohne Partner hatte sie im vergangenen Sommer ihr Herz an den Flensburger Bootsbauer Marten verloren. Seine dunklen Locken, die von der Arbeit mit Holz verschrammten Hände und sein schiefes Lächeln waren ihr vom ersten Moment an nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Seine Klarheit, sein Witz und seine Bodenständigkeit erweckten so viel Vertrauen in Maura, dass sie ihre Vorsicht über Bord geworfen und sich Hals über Kopf in eine stürmische Liebesgeschichte mit ihm gestürzt hatte. Und das auf dem platten Land, im schleswig-holsteinischen Rockenbrook, in das sie doch eigentlich nie wieder einen Fuß setzen wollte. Als dann klar wurde, dass sie nicht nur wieder in die Kölner Redaktion zurück, sondern ihren künftigen Wirkungsradius auf den Nordwesten der USA ausdehnen musste, war guter Rat teuer gewesen. Insgeheim hatte sich Maura immer nach Liebe gesehnt, von der sie mit achtzehn so herb enttäuscht worden war. Aber niemals hatte sie es sich selbst eingestanden. Nun war die Liebe da. Und sie tat weh.
Nachdenklich fuhr sich Maura mit dem Finger über die Lippen. Ganze zwei Wochen war es her, dass Marten bei ihr in Portland gewesen war. Maura staunte noch immer, wie mühelos sie im Alltag zueinander fanden. Obwohl sie den ganzen Tag in der Redaktion oder in Shootings und Terminen steckte, gelang es Marten, sie zwischendurch mit kleinen Dates oder einem späten Mittagessen zu überraschen und dafür zu sorgen, dass sie Pausen machte. Sie trafen sich zum Lunch in versteckten Cafés, schlenderten durch die belebten Straßen, besuchten Galerien und urige Bars. Er selbst hatte die Einladung einer Katamaran-Werft in Portland angenommen und lernte jeden Tag etwas Neues über die Reparatur und Konstruktion dieser speziellen Boote. Maura mochte die berufliche Neugier, die ihn antrieb. In diesem Punkt haben wir einiges gemeinsam, überlegte sie. Die Abende gehörten dann ganz ihnen. Maura seufzte, als sie daran dachte, wie sehr sie Martens physische Anwesenheit genoss. Seinen warmen, holzigen Duft, die Sanftheit seiner Haut und den schweren Klang seiner Gürtelschnalle, wenn sie auf den Boden schlug.
Automatisch hielt Maura die Luft an, als sie jetzt daran dachte. Wenn sie mit ihm zusammen war, kam es ihr so vor, als wäre Sex nur für sie beide erfunden worden. Als hätte sie immer nur gelebt, um irgendwann diese Momente genießen zu können. Für Maura hätte das Leben immer so weitergehen können. Sie, Marten und ihr Job, der ihr plötzlich, während er bei ihr war, gleich doppelt so viel Spaß machte. Nie hatte sie so viel geschafft und trotzdem so pünktlich Feierabend gemacht wie in den Wochen, in denen die Aussicht, Marten zu sehen, seinen Körper zu spüren und seine samtig-körnige Stimme zu hören, ihr wohlige Schauer durch den Körper trieb. Für ein verlängertes Wochenende waren sie an den Pazifik gefahren und hatten paradiesische Tage mit Salz in den Haaren und Sand auf der Haut verbracht. Wenn es nach Maura gegangen wäre, hätte das immer so weitergehen können. Aber konnte sie ihm das auch so offen sagen?
3
Zwei Wochen zuvor
Am Vorabend von Martens Rückreise gab Maura sich einen Ruck.
»Warum bleibst du nicht länger?«
»Was meinst du mit ›länger‹?«
»Naja, für immer vielleicht?« Maura konnte ihm nicht in die Augen sehen.
Marten zögerte und hielt die Luft an. Sein linker Mundwinkel zuckte. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durchs Haar.
»Ist das dein Ernst?«
»Würde ich es sonst sagen?«, lächelte Maura und streichelte zart seine Hand, die auf ihrer Brust ruhte.
»Du weißt, dass ich übermorgen wieder in der Werft sein muss.«
»Ja, schon. Aber du könntest erledigen, was du zu erledigen hast, und dann zurückkommen. Und bleiben.«
»Es gibt nichts, was ich lieber tun möchte. Aber – du weißt, dass ich das nicht kann.« Marten zog seine Hand vorsichtig weg und setzte sich auf.
»Klar kannst du, du willst nur nicht.« Maura sprang aus dem Bett und begann sich anzuziehen. Ihre Haut fühlte sich warm und rosig an. Innerlich aber wurde sie eiskalt.
»Maura.« Marten fasste sie sanft bei den Schultern. »Ich will lieber bei dir sein als sonst irgendwo.«
»Dann tu’s doch. Bleib bei mir. Geh nicht zurück.« Sie hörte selbst den verzweifelten Unterton in ihrer Stimme. Ihr war, als würde sie eine Maske fallen lassen.
»Du weißt, dass das nicht geht. Ich dachte, du verstehst das.«
»Es ist doch nur ein Job.«
»Das sagst ausgerechnet du?«
»Ich verstehe ja, dass dir das wichtig ist. Aber …«
»Es ist nicht nur der Job. Es geht vor allem um meine …«
»Deine Eltern, ja. Aber sie wollen dich doch gar nicht sehen.«
»Das stimmt. Danke, dass du es so unbarmherzig aussprichst. Ich weiß das. Und sie wollen auch jetzt immer noch nicht einsehen, dass mich keine Schuld an Eriks Tod trifft.« Martens Stimme klang verletzt.
»Willst du etwa darauf warten, dass sie’s irgendwann begreifen?«
»Sie brauchen mich, Maura. Und das in nicht allzu ferner Zukunft.«
Maura ordnete ihr Haar und warf ihm dabei einen verzweifelten Blick zu. Sie machte einen letzten Versuch: »Du könntest sie hierherholen.«
»Merkst du eigentlich, was du da sagst? Maura, meine Eltern sind alt. Ihr Herz ist gebrochen. Sie trauern um Erik. Und sie werden damit noch schlechter fertig als ich. Ein Umzug in die USA wäre absolut utopisch. Zumal unsere Beziehung das auch gar nicht hergeben würde. Und dann gibt’s ja auch noch die Werft. Es kann ja sein, dass die Beziehung von ihrer Seite im Moment nicht funktioniert. Aber von meiner Seite kann ich die Verbindung nicht einfach kappen. Ich will für sie da sein. Wenn ich jetzt zu dir nach Portland ziehen würde, wäre ich unerreichbar für sie, falls sie irgendwann so weit sind, sich mir wieder anzunähern.«
Martens jüngerer Bruder Erik war ein paar Jahre zuvor bei einem tragischen Absturz im Grand Canyon ums Leben gekommen. Marten hatte ihn auf dieser Reise begleitet, die eigentlich ein Abenteuer hätte sein sollen – und als er mit dem Sarg zurück nach Deutschland kam, hatten seine Eltern ihm die Schuld gegeben. Schließlich hatte er sein Leben lang auf seinen jüngeren Bruder aufgepasst. Sie machten Marten heftige Vorwürfe – sein Vater Wessel mit harten Worten, seine Mutter Torvid mit schweigenden Blicken. Marten hatte nach dem Zerwürfnis mit seinen Eltern seinen Job in der Geschäftsführung der elterlichen Werft in Flensburg aufgegeben und arbeitete jetzt als Bootsbauer in der Nähe von Rockenbrook.
»Aber sie wollen sich doch gar nicht annähern, Marten. Im Gegenteil: Sie meiden dich, wo es nur geht.«
»Ja, das stimmt. Und ich verstehe ihre Trauer. Ich bin ja selbst oft traurig und denke an Erik. Ich war dabei. Ich habe ihn abstürzen sehen. Denkst du, das hat nichts mit mir gemacht? Aber ich werde anders fertig damit als sie. Ich glaube, sie haben es immer noch nicht so richtig begriffen, dass er nie mehr wiederkommt. Dass jetzt alles anders ist.«
Bei mir ist auch alles anders, wollte Maura sagen, hielt aber den Mund. Angesichts dieser Tragödie fühlte sie sich furchtbar egoistisch. Sie wollte Marten nicht auch noch mit ihren Bedürfnissen das Leben schwer machen.
»Ich verstehe dich«, sagte sie leise und ließ ihre Finger zu seiner Schulter hinaufwandern.
»Danke. Ich weiß, dass du mich verstehst. Aber ich weiß auch, dass wir eine Lösung brauchen. Warum kommst du nicht zurück nach Rockenbrook?«
»Die Lösung brauchen wir wirklich. Aber ich kann hier nicht weg. Ich hab so lange darauf hingearbeitet, diesen Job zu bekommen. Jahrelang hab ich wirklich alles gegeben, um das zu erreichen, was ich jetzt habe.« Das klang erbärmlich. Sie drehte sich um, damit er nicht sah, wie sich ihr Gesicht in einem hilflosen Weinkrampf verzerrte.
Marten stand auf und streichelte ihr behutsam über den Rücken. »Weiß ich doch. Du musst hier vor Ort sein. Aber ich kann eben auch nicht aus meiner Haut. Ich bin einfach noch nicht fertig.«
Maura ließ sich in einen Sessel sinken und fuhr sich verstört durchs Haar.
Marten packte ein paar Sachen zusammen und griff nach einer Decke.
»Hey, komm, wir machen ein Feuer am Strand. Unseren letzten Abend wollen wir genießen.«
»Ach, lass das jetzt.« Maura drehte sich weg und wischte sich mit der flachen Hand übers Gesicht.
Marten kniete vor ihr nieder und nahm sie liebevoll in die Arme. Er legte ihr einen Finger unters Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Maura. Bitte.«
Sein Kuss bat gleichzeitig um Verzeihung und legte ein Feuer in ihr. Von Traurigkeit und Begehren überwältigt, ließ sie sich in seine Umarmung sinken. Sein Finger wanderte ihren Hals hinab und zeichnete ihr Schlüsselbein nach. Sie schloss die Augen und stöhnte entzückt. Marten lächelte. »Komm, zieh dir was an. Die Sonne geht gleich unter.«
Maura schlüpfte schnell in Jeans und T-Shirt, schlang den Arm um seine Taille und folgte ihm nach draußen.
Am nächsten Morgen fuhr sie ihn zum Flughafen. Die meiste Zeit saßen sie schweigend im Wagen, während die wunderschöne Landschaft an ihnen vorbeizog. Von Zeit zu Zeit strich ihr Marten sanft durchs Haar und seufzte.
Bevor Marten durch die Sicherheitskontrolle ging, wagte Maura einen letzten Versuch: »Marten. Oh Gott, bleib doch!«
Er sah ihr traurig in die Augen. »Wir haben uns ganz schön schachmatt gesetzt, oder?«
Mauras Augen loderten wie zwei schwarze Flammen in ihrem blassen Gesicht. Sie presste sich mit ihrem gesamten Körper an ihn, als wollte sie einen Stempelabdruck darauf hinterlassen, küsste ihn, wandte sich wortlos ab und ging.
Nachdenklich stieg Marten in den Flieger. Sie hatten kein neues Treffen verabredet und er hatte keine Ahnung, wann er sie wiedersehen würde. War das ein Abschied für immer? Niedergeschlagen starrte er durch die kleine Scheibe aufs Rollfeld. Was sollte er überhaupt noch in Rockenbrook, wenn Maura nicht da war?
4
Maura wanderte ziellos durch ihre leere Wohnung. Seit Marten abgereist war, hatte sie das Gefühl, ein klaffendes Loch im Herzen zu haben. Sie hatten nach seiner Abreise kaum Kontakt mehr gehabt und wenn, waren die Textnachrichten nur sehr oberflächlich. Keiner von beiden traute sich, das heikle Thema Zukunft anzusprechen. Sollte sie ihm jetzt eine Nachricht schicken? Aber was hätte sie ihm schon zu sagen, das etwas an der Situation ändern könnte?
Plötzlich hielt sie inne. Martens geflickter und mit Holzstaub garnierter Pulli lag auf der Sessellehne. Sie griff danach, schmiegte ihr Gesicht hinein und schnüffelte daran. Fast augenblicklich schossen ihr die Tränen in die Augen. Wie sollte es bloß weitergehen? Die Verzweiflung über die schreckliche, alles verschlingende Leere packte Maura mit aller Härte. Sie rief sich zur Vernunft. Hatte sie nicht alles, was sie immer wollte? Herrgott, ja. Aber: Was nützte es, verliebt zu sein und sich nach ihm zu sehnen, wenn die Liebe so weh tat, weil Marten so weit weg war?
Schnell zog sie sich an und verließ im Laufschritt die Wohnung. Erst zwei Blocks weiter beruhigte sich ihr Atem. Maura holte sich einen Kaffee und schlenderte die Alberta Street entlang. Sie liebte das lebhafte Künstlerviertel und auch ihr schönes Loft, das nur wenige Minuten von der Redaktion entfernt war. Die Arbeit mit dem bunt gemischten Team machte ihr Spaß. Aber warum fühlte sich alles so komplett verkehrt an? Als hätte sie alles falsch gemacht, obwohl es doch von außen so richtig ausgesehen hatte.
Niedergeschlagen ließ sich Maura auf eine Bank sinken. Sie schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. In einer Stunde startete die Redaktionssitzung und sie hatte vorher noch jede Menge zu tun.
* * *
»Das sieht ja hier aus wie in der Persil-Werbung.« Mit der Würde einer gekrönten Königin beim Trooping the Colour schritt Jettchen in ihren Glitzersandalen die schier endlos gespannten Wäscheleinen in Hetties altem Garten ab. In langen Bahnen flatterten die frisch gewaschenen Stoffe im Wind. Hilkkas hübsche Tochter Erla hängte gerade die letzten Stoffe auf. Ihr langes blondes Haar fächerte sich jetzt anmutig auf, als sie sich lachend zu Jettchen umdrehte.
»Quatsch, das ist Kunst, pure Kunst!«, meinte Wilma tadelnd. Gefühlvoll griff sie nach einem besonders schönen Stoff und drückte ihn an ihre ausladende Brust, während sie ihre Freundin Doris beobachtete, die mit hektischen Kopfbewegungen zwischen dem Textilgewimmel herumlief.
»Alles falsch sortiert. Lila gehört neben Rot. Und nicht neben Grün. Und das Blau dicht an dicht mit Orange – sowas gehört sich einfach nicht.«
»Nun sei mal nicht so streng mit uns«, lächelte Erla und nahm Doris im Vorbeigehen kurz in den Arm.
Jettchen rückte ihren aus bunten Federn bestehenden Faszinator ein bisschen schiefer und sah Wilma resigniert an. Doris’ Farbfimmel war hier allen bestens vertraut.
»Wichtig ist ja nur, dass wir die Stoffe gerettet haben«, meinte Hilkka und seufzte. »Hoffentlich passiert sowas nicht wieder!«
»Ist das der letzte?« Schnaufend schleppte Kattz den schweren Wäschekorb mit gewaschenen Stoffen herbei.
»Ja, wir haben’s geschafft. Danke, dass du geholfen hast«, meinte Hilkka. »Setz dich erstmal, du bist ganz rot im Gesicht!«
»Alles gut!«, meinte Kattz und hustete hohl. Eigentlich war er doch ganz gut im Training. Die Arbeit auf der Fähre hielt ihn fit und dass er den Großteil seiner Zeit an der frischen Luft verbrachte, war sicher auch kein Schaden.
»Wie weit ist denn die Reparatur da oben?« Er deutete Richtung Wasserschaden.
»Tja, glücklicherweise hat Ole gerade in der Werkstatt nicht allzu viel zu tun. Er hat sich drum gekümmert und war sogar richtig froh über den Auftrag.« Sie lauschte. »Irgendwo brummt’s hier doch.«
»Ah. Ist mein Telefon.« Kattz zog es aus der Hosentasche und winkte ihr im Hinausgehen zu. »Bis später mal, Mädchen!« Bevor er die Tür schloss, hörte Hilkka ihn »Ach, du bist’s!« sagen.
* * *
Der Sitzungsraum war gut gefüllt, als Maura die Redaktionssitzung der Cool & Cozy Corners eröffnete. Gefühlt wurden es immer mehr, die gerne dabei sein wollten. Neuerdings kamen jede Menge Anfragen von jungen Kreativen, die, von der Erstausgabe beeindruckt, Teil dieses Wunders sein wollten. Und Maura stellte sie ein. Glücklicherweise ließ ihr Gary in dieser Hinsicht jede Menge Spielraum, sodass sie ohne Einschränkungen handeln und ein unschlagbar gutes, leistungsfähiges Team auf die Beine hatte stellen können. Und wie immer in den letzten Monaten waren auch heute ihre Sekretärin Lucie und Kreativ-Redakteurin Tessie an ihrer Seite. Seit sie mit Tessie und Lucie in Portland zusammenarbeitete, hatte Maura die beiden Frauen viel besser und von einer ganz anderen Seite kennengelernt. Toll, wie sie sich entwickelt haben, dachte Maura.
»Tessie, könntest du deine Ideen für den Vintage-Teil erzählen?«
»Na klar!« Tessie ging selbstbewusst nach vorn und präsentierte ihre Pläne für die nächste Ausgabe sicher und gekonnt.
Ob ihre Wandlung auch was mit meinem Verhalten ihr gegenüber zu tun hat?, fragte sich Maura beklommen. Ich war damals wirklich ganz schön fies zu ihr. Gedankenverloren angelte Maura nach der großen Packung Donuts und zog sie zu sich rüber. Die Gebäckstücke waren in allen Farben des Regenbogens glasiert und bunt gesprenkelt. Vorsichtig stupste Maura die Glasur mit dem Finger an und beobachtete fasziniert, wie die glänzende Zuckerhülle zerbrach wie eine eingeschlagene Fensterscheibe.
Ihre Sekretärin Lucie warf ihr einen irritierten Blick zu. Sie registrierte, dass Maura die Packung liebevoll in den Arm nahm, und fragte sich kurz, ob hier »Versteckte Kamera« lief. Dieselbe Maura, die sich sonst von zwei Proteinriegeln und einem Apfel ernähren konnte. Fasziniert schaute Lucie dabei zu, wie Maura zuerst einen, dann einen zweiten und vier weitere Donuts verputzte. Unwillkürlich führte Lucie dabei im Kopf eine Strichliste.
Tessie stockte kurz und folgte Lucies Blick. Maura machte doch sonst immer einen weiten Bogen um jede Art von Zucker, dachte sie. Plötzlich fiel ihr auf, dass Maura in einem übergroßen Männerpulli mit Flicken an den Ellbogen steckte. Eine Maura ohne schicke Businessklamotten hatte sie in all den Jahren auch noch nicht gesehen. Was ist mit ihr los?, dachte Tessie verblüfft.
»Ist alles in Ordnung, Maura?«, fragte Tessie nach der Sitzung im Hinausgehen vorsichtig.
»Ja, alles okay, ich bin nur irgendwie in Gedanken …«
»Ist was mit Quist?«
»Nein, das nicht. Aber im Nähcafé ist gerade buchstäblich Land unter.« Maura erzählte Tessie kurz von dem Wasserschaden.
»Das ist ja furchtbar! Und jetzt?«
»Hilkka kümmert sich darum. Der Rest muss warten, bis ich das nächste Mal Urlaub habe. Apropos, ich muss Quist mal anrufen.«
Mehrere Versuche später gab sie auf. Vielleicht war er ja bei Kattz? Doch auch bei dem alten Mann ertönte nur das Besetztzeichen.
* * *
