Der Maler von Florenz - Ingeborg Bayer - E-Book
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Der Maler von Florenz E-Book

Ingeborg Bayer

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Beschreibung

Eine unmöglich scheinende Liebe in finsteren Zeiten: Der historische Roman »Der Maler von Florenz« von Ingeborg Bayer jetzt als eBook bei dotbooks. Florenz im 15. Jahrhundert: Niemand hat es je für nötig befunden, dem Waisenjungen einen Namen zu geben. Im Kloster des fanatischen Mönchs Savonarola muss er sich den Gelübden des Gehorsams und der Keuschheit unterwerfen – und wächst so in einer Welt heran, die nur aus Grau zu bestehen scheint. Doch als die Medici in die Stadt am Arno zurückkehren, ändert sich auch sein Leben für immer: Mit staunenden Augen beginnt der junge Mann jenseits der Kirchenmauern eine Welt zu entdecken, die ihn in ihrer Farbenpracht und ihrem Glanz beinahe überwältigt. In der Werkstatt eines bekannten Malers findet er Anstellung, Freunde und den Sinn seines Leben … bis er die bezaubernde Ghita kennenlernt. Plötzlich verspürt er in seinem Herzen eine nie gekannte Sehnsucht. Doch die selbstbewusste Alchemistin hütet ein Geheimnis, das beide in tödliche Gefahr bringen könnte … Ein farbenprächtiger Historienepos, so prachtvoll und vielschichtig wie ein Gemälde der alten Meister! »Ingeborg Bayer macht die Menschen im Schatten der Geschichte sichtbar!« Süddeutsche Zeitung Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der historische Roman »Der Maler von Florenz« von Ingeborg Bayer. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 539

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Über dieses Buch:

Florenz im 15. Jahrhundert: Niemand hat es je für nötig befunden, dem Waisenjungen einen Namen zu geben. Im Kloster des fanatischen Mönchs Savonarola muss er sich den Gelübden des Gehorsams und der Keuschheit unterwerfen – und wächst so in einer Welt heran, die nur aus Grau zu bestehen scheint. Doch als die Medici in die Stadt am Arno zurückkehren, ändert sich auch sein Leben für immer: Mit staunenden Augen beginnt der junge Mann jenseits der Kirchenmauern eine Welt zu entdecken, die ihn in ihrer Farbenpracht und ihrem Glanz beinahe überwältigt. In der Werkstatt eines bekannten Malers findet er Anstellung, Freunde und den Sinn seines Leben … bis er die bezaubernde Ghita kennenlernt. Plötzlich verspürt er in seinem Herzen eine nie gekannte Sehnsucht. Doch die selbstbewusste Alchemistin hütet ein Geheimnis, das beide in tödliche Gefahr bringen könnte …

Über die Autorin:

Ingeborg Bayer (1927–2017) studierte nach ihrer Ausbildung zur Bibliothekarin Medizin und Hindi. Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie in einem medizinischen Archiv. Ihre Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten wurden vielfach preisgekrönt, unter anderem mit dem Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem deutschen Jugendliteraturpreis und dem Österreichischen Staatspreis.

Ingeborg Bayer veröffentlichte bei dotbooks vier historische Romane:

»Ärztin einer neuen Zeit«

»Die Buchdruckerin von Köln«

»Der Maler von Florenz«

»In den Gärten von Monserrate«

Weiterhin veröffentlichte sie bei dotbooks ihre Venedig-Trilogie »Die Töchter Venedigs« mit den Einzelbänden:

»Stadt der Tausend Augen«

»Stadt der blauen Paläste«

»Stadt der dunklen Masken«

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Aktualisierte eBook-Neuausgabe Juli 2021

Dieses Buch erschien bereits 2000 unter dem Titel »Der brennende Salamander« bei Droemer Knaur, München

Copyright © der Originalausgabe 2000 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Gemäldes von Guiseppe Zocchi

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-586-9

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Ingeborg Bayer

Der Maler von Florenz

Roman

dotbooks.

»DIES SIND HIER MEINE EINFÄLLE,

DURCH DIE ICH NICHT SACHKENNTNIS ZU GEBEN

SUCHE,

SONDERN KENNTNIS VON MIR.

NICHT NUR WAGE ICH ES,

VON MIR SELBST ZU SPRECHEN, ICH SPRECHE SOGAR

AUSSCHLIESSLICH ÜBER MICH SELBST.«

MICHEL DE MONTAIGNE: ESSAIS, 1580

TEIL EINS

DIE MACHT DER ERDE

Das Wasser schoß den Berg hinauf.

Ich spürte, wie der Satz sich mit brutaler Gewalt in meinen Kopf hineindrängte, wie er ihn trotz allem Widersinn zu zwingen versuchte, ihn anzunehmen.

Das Wasser schoß den Berg hinauf.

Es stob wie ein ungebärdiger Quell aus der Tiefe einer übersteilten Kuhle von zerbrochenem Gestein und wirrem Geäst von Olivenbäumen hervor, stieg für einen kurzen Augenblick wie ein Geysir, der noch nicht seine volle Kraft entwickelt hat, nahezu senkrecht empor, dann fiel es in einem leichten Sprühregen jenseits der Kuhle hinab und versickerte in unzähligen Rinnsalen.

Ich weiß nicht, wie lange der Vorgang dauerte. Da alles erst kurz vor Einbruch der Dämmerung geschehen war, verwischten sich inzwischen die Konturen, das Licht auf den silbrigen Blättern der Olivenbäume war bereits erloschen, und die Tramontana fegte mit mächtigen Stößen eiskalt über das verwüstete Land.

Ich stand am geöffneten Fenster des Wohnraums der Villa und schaute hinaus. Mit Furcht, mit Grauen, mit Neugier auch. Kaum anders hatten wir als Kinder den Gauklern bei ihren Zauberkunststücken zugeschaut oder jemandem zugehört, der erzählte, er wisse, wie man Gold macht, und dabei aus einem Federkiel ein Pulver in einen mit Blei gefüllten Tiegel rinnen ließ und behauptete, wenn man es jetzt erhitze, werde das Metall sich gewiß alsbald in Gold verwandeln.

Ich stand und starrte in die hereinbrechende Dunkelheit, obwohl mir klar war, daß anderes zu tun in diesem Augenblick wichtiger gewesen wäre.

Zum Beispiel einen Gang durch dieses Haus zu machen, für das ich seit heute verantwortlich war, zu überprüfen, ob es mein Pferd noch gab, das ich bei meiner Ankunft an der Rückseite des Gebäudes an einen Ring gebunden hatte. Und natürlich das Ausmaß des Erdbebens zu erkunden, bevor es vollends Nacht wurde. Vor allen Dingen aber abzuklären, ob die mir zugedachte Unterkunft neben dem Haus des Verwalters wirklich völlig verschwunden war, wie es nach den ersten Schrecksekunden des Bebens zu vermuten war. Aber ich tat nichts von alldem.

Ich stand an diesem Fenster des Wohnraums eines Hauses, das ich heute zum ersten Male betreten hatte, und starrte auf das Wasser, das den Gesetzen der Natur zuwiderhandelte. Das sich gebärdete, als wolle es diese einmalige Gelegenheit bis zur Neige auskosten, ein Wasser zu sein, das bergauf floß. Und als seien ihm die Gründe dafür völlig gleich, ja, als wolle es keine Gründe, die diese Einmaligkeit möglicherweise hätten schmälern können. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange ich so stand, die Stunde der Vesper mußte längst überschritten sein, obwohl die Glocken in dem unter mir liegenden Dorf dies hätten ankündigen müssen. Aber das Bild, das sich mir zeigte, ließ vermuten, daß diese Glokken nie mehr läuten würden. Weder zur Vesper noch zu einer anderen Tageszeit.

Das Ganze hatte kaum ein paar Minuten gedauert. Zunächst war tief in der Erde ein dumpfes Grollen zu hören gewesen, dann ein Krachen, ein Rütteln wie bei einem Schwerkranken im Schüttelfrost, danach ein Beben, das die schwarzweißen quadratischen Bodenfliesen im Flur vor der Kapelle, in dem ich kurz zuvor meine Malutensilien abgestellt hatte, so grotesk verschob, daß kein Karo mehr an das andere paßte.

Darauf war die Stille gekommen. Eine unheimliche Stille. Sie senkte sich auf mich herab, nachdem ich mich in die Kapelle gerettet hatte, krallte sich an mir fest, als sei das Ende der Welt nahe und als seien mir nur noch wenige Sekunden gegönnt, bevor die Posaunen das Jüngste Gericht ankündigten.

Es war mir klar, daß ich mich aus dieser Lähmung, die mich befallen hatte, lösen mußte, daß ich versuchen mußte, irgend etwas zu tun, egal, ob es Sinn hatte oder nicht. Ich entschied mich also dafür, die Kapelle zu verlassen und zunächst einmal nachzusehen, wieweit die Haustür gelitten hatte. Ich versuchte, sie zu öffnen, bemühte mich, den schweren Holzriegel, der verklemmt war, zu lockern, aber als er sich endlich löste, rastete er nicht mehr ein.

Ich trat ins Freie hinaus – das wenige, was ich erkennen konnte, war eindeutig: Der Pfad, den ich an diesem Spätnachmittag heraufgeritten war, existierte nicht mehr. Und das Haus des Fattore, in dessen benachbarter Kate wir hätten wohnen sollen, ebenfalls; dies war trotz anbrechender Dunkelheit noch deutlich zu erkennen. Von einer Minute zur anderen war ein geruhsamer Auftrag, auf den ich mich seit Wochen gefreut hatte, zu einem Alptraum geworden, und es schien mir wenig wahrscheinlich, daß ich diesen Alptraum abschütteln und auch nur irgend jemandem meine Hilfe anbieten konnte.

Als ich darüber nachzugrübeln begann, ob wirklich alles ohne Vorankündigung geschehen war, fielen mir plötzlich Dinge ein, die ich am Nachmittag, als ich durch das Dorf geritten war, zwar wahrgenommen, denen ich aber kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte: Ein auf der Wiese friedlich grasender Esel zum Beispiel, der plötzlich, als ich an ihm vorbeiritt, die Ohren spitzte, sich mit einem gewaltigen Ruck von seinem Strick losriß und im Zickzack über die Felder davongaloppierte. Die Gänseschar, die mir daraufhin laut schnatternd entgegenstob und meinem Pferd zwischen die Beine rannte, obwohl niemand hinter ihr her war. Der schwarze Hund, der sich mitten auf der Straße mit seinen Jungen balgte und plötzlich wie vom Leibhaftigen gejagt zu seiner Hütte rannte und die Jungen vor sich her trieb. Oder die Katze, die gerade noch voller Gier die Speisen geschlabbert hatte, die jetzt, vier Tage vor Petri Stuhlfeier, für die Toten gerichtet waren, und nun mit einem Male voller Panik die Schüssel umstieß und sich mit kläglichem Miauen unter einem Holzstoß verkroch. Daß bald darauf mein Pferd kurz scheute, obwohl am Boden vor ihm kein Hindernis war, fiel mir ebenfalls ein, aber auch das war kein Vorfall, dem ich irgendeine Bedeutung beigemessen hatte – mein Pferd war noch nie das mutigste gewesen.

Noch während ich solchen unnützen Grübeleien nachhing, die gewiß nichts änderten, hörte ich ein Wiehern. Es kam von der Seite des Hauses, nicht von dort, wo ich das Pferd festgebunden hatte. Ich beschirmte mit der Hand eine Kerze, da ich für den Augenblick keine Fackel finden konnte, verließ das Gebäude durch eine Seitentüre und entdeckte die Stute auf einer abschüssigen Fläche, die es zuvor nicht gegeben hatte. Das Haus stand auf Pfeilern, und da das Beben einen seitlichen Mauerteil zum Einsturz gebracht und die Stützen beschädigt hatte, sah es nun aus wie das schadhafte Gebiß eines alten Mannes.

Ich klopfte dem Pferd beruhigend auf den Hals, versprach ihm Hafer und Wasser, obwohl mir nicht klar war, wie ich mein Versprechen wahrmachen sollte. Die Stallungen, die ich gesehen hatte, lagen hinter der Kate des Verwalterhauses, und an das aufwärtsschießende Wasser konnte ich in dieser Nacht gewiß nicht mehr kommen. Ich war froh, daß das Pferd überlebt hatte. Und daß es überlebt hatte, verdankte es dem Umstand, daß ich Roccos Malsachen, die in den Satteltaschen verstaut waren, nicht im Haus des Fattore hatte lassen wollen und daher mit dem Pferd hier heraufgeritten war.

Ich blieb eine Weile bei der Stute stehen, spürte, wie ihr nervöses Nasenzucken langsam verebbte, und schaute mich genauer um. Das Beben hatte die Villa, die aus pietra serena gebaut war, einem für diese Gegend typischen Material, annähernd in einem Kreisrund ausgespart. Hinter dem Haus wuchs eine steile Felswand empor, und weil ich weder nach vorne, wo das Gelände fast unmittelbar vor der Mauer des Hofes abgebrochen war, noch nach den Seiten einen Ausbruch wagen konnte, saß ich wie auf einer Insel fest.

Da ich mir ein Leben lang ein Inseldasein gewünscht hatte – wenn auch gewiß unter anderen Bedingungen –, empfand ich zunächst kaum das Gefühl, mich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Irgendwann würde das Wasser wieder talwärts fließen, irgendwann würden Menschen kommen, die mich befreiten, irgendwann würde ich meinen Freunden von diesem Abenteuer berichten. Immerhin hatte ich die Sachen zum Malen gerettet, ich konnte also morgen wie geplant mit dem Ausmalen der Kapelle und des davorliegenden Flurs beginnen.

Ich befestigte mein Pferd von neuem an dem Ring, da die Rückwand des Hauses unbeschädigt war, und ging in den Innenhof, in dem sich, wie ich bei meiner Ankunft festgestellt hatte, die Küche befand. Zunächst allerdings hatte ich Mühe, diesen Raum zu betreten: Der Architrav des Portals war herabgestürzt, hatte sich als Steinhaufen vor dem Eingang breitgemacht. Daneben lagen zwei mächtige Ölkrüge aus Terrakotta, und das ausgelaufene Olivenöl hatte bereits eine breite fette Lache auf dem gepflasterten Hof entstehen lassen.

Die Küche war groß. Hier hätte man jeden Tag leicht für zwanzig Leute kochen können, was allerdings nie geschah. Wenn ich recht informiert war, gab es genau drei Personen, die außer den Dienstboten zum Haushalt des Messer Orelli gehörten: den Seidenhändler selbst, seine Frau Ginevra und Brigida, die Tochter seiner ersten Frau, die an der Cholera gestorben war. Daß es früher große Feste in diesem Haus gegeben hatte, wußte ich, und offenbar war die Größe dieser Küche eher diesen Festen angemessen als dem derzeitigen Leben, das schon seit geraumer Zeit vom Geiz der Hausherrin geprägt war. Wahrscheinlich hätte sie diese Villa am liebsten verkauft, da sie ohnehin nur im Sommer und zu Pestzeiten bewohnt wurde, während der jedermann, der es sich leisten konnte, die Stadt verließ.

Ich beschloß, die gründliche Besichtigung der Küche zu einem späteren Zeitpunkt durchzuführen und mich zunächst auf die Suche nach Hafer und Stroh für mein Pferd zu machen. Daß ich den Hafer sehr schnell entdeckte, verdankte ich dem schrillen Schrei eines Pfaues, der sich in einen Stall am anderen Ende des Innenhofes geflüchtet hatte. Bei meinem Näherkommen verließ er unter weiteren grell ausgestoßenen Protestrufen den Ort seiner Zuflucht und suchte das Weite. Ich besichtigte den Stall, aber da sein Boden tiefe Risse zeigte, war er wohl kaum geeignet, mein Pferd aufzunehmen. Das dort gelagerte Stroh und zahlreiche Hafersäcke waren mir jedoch sehr von Nutzen.

Auf dem Rückweg in das Haus entdeckte ich dann den Brunnen. Vermutlich wäre er zu benutzen gewesen, wenn nicht die Halterung des Eimers mitsamt der Kette und der Abdeckung so verquer in den Schacht gerutscht wäre, daß es unmöglich war, Wasser zu schöpfen.

Nach dieser wenig ermutigenden Entdeckung schwankte ich, was wichtiger war: zu überprüfen, wie lange die Eßvorräte reichen würden, oder die Überlegung, wo ich die Nacht verbringen konnte. Da ich diese Villa nie zuvor gesehen hatte, entschied ich mich zunächst für einen Rundgang durch das Gebäude.

Ich stieg eine enge Treppe empor, zögernd, weil ich das Gefühl hatte, ein Eindringling zu sein, der seine Aufgabe vergessen hatte: Ich hatte mich ursprünglich ums Malen zu kümmern, um mehr nicht. Aber um diese Aufgabe erfüllen zu können, war Schlaf nötig, ermutigte ich mich und stieg weiter. Die Treppe endete in einem Halbrund, und ich überlegte, ob ich mich nach links oder rechts wenden solle, aber vermutlich spielte das keine Rolle. Ich ging also den linken Flur entlang, blieb vor der ersten Tür stehen, weil ich nicht wußte, was mich erwartete. Und ich gestand mir ein, daß ich Angst hatte. Zwar war ich neugierig, wie Brigidas Schlafkammer aussehen würde, aber ich wollte sie nicht als erstes finden. Weshalb, war mir unklar, aber es war nun einmal so.

Das Zimmer, das ich zunächst betrat, war ein Schlafraum. An den Wänden standen kunstvoll geschnitzte Truhen, in eine der Seitenwände war ein riesiger Schrank eingelassen. An Haken hingen Perücken, seidene Perücken in nahezu allen Farben. Da ich weder Brigida noch ihre Stiefmutter je mit einer Perücke gesehen hatte, vermutete ich, daß es sich um die Räume ihrer leiblichen Mutter handelte. Das Bettgestell war mit weißen Tüchern abgedeckt, die Matratzen zum Lüften hochgestellt, Decken und Pfühle lagen auf Stühlen ausgebreitet. Und die Füße des Bettes standen in kleinen Kübeln mit einer eingetrockneten Flüssigkeit – vermutlich waren diese einst gegen Ungeziefer mit Bier gefüllt worden.

Der nächste Raum, den ich betrat, war eine kleine Bibliothek. Sie lag drei Stufen tiefer als die übrigen Räume. Die Regale waren voller Bücher, sowohl Handschriften wie gedruckte Bände. Brigidas Vater mußte ein belesener Mann sein, falls er dies alles gelesen und nicht nur von einem Vorbesitzer übernommen hatte. Durch eine schmale Öffnung gelangte man, wieder einige Stufen tiefer, in einen Raum mit einer Harfe. Auf Truhen lagen Noten und weitere Instrumente: eine Laute, ein Krummholz, eine Trompete und eine Posaune. Die Familie Orelli hatte offensichtlich nicht sehr darunter gelitten, daß sie einst jenem Mönch Savonarola, der die Stadt vier Jahre lang regiert hatte, und seinem »Feuer der Eitelkeiten« viel opfern mußte – sie hatte alles geradeso wieder angeschafft, wie man es ihr weggenommen hatte.

Ich ging weiter und fand drei andere Schlafkammern hintereinander, von denen jede deutlich kundtat, wer hier genächtigt hatte: In der ersten waren Fechtmasken und Degen, die vermutlich einem der beiden verstorbenen Brüder Brigidas gehört hatten, in der zweiten waren auf verschiedenen Tischen Seidenstoffe in allen Farben und Mustern ausgebreitet, und in der dritten entdeckte ich Puppen und ein geräumiges Puppenhaus. Ich nahm eine der Puppen aus einer Weidenwiege in die Hand. Sie trug ein kostbares blaues Damastgewand und einen Umhang aus rotem Samt, ihre kleinen Füße steckten in winzigen Seidentaftschuhen.

Als ich die Puppe in ihre Wiege zurücklegte, nahm ich das Bett wahr. Es unterschied sich von den übrigen Betten, die ich hier bisher gesehen hatte, und wies ihnen gegenüber vor allem einen Vorteil auf: Es war bezogen, mit kostbarem, spitzenbesetztem Linnen, und ein seidenes kleines Schlafkissen in Hellblau lag auf einem anderen großen Seidenkissen.

Die nächsten Minuten vergingen damit, daß ich – ich war ohne zu überlegen ein paar Schritte zurückgewichen, vermutlich um einen gebührenden Abstand zwischen mich und das Bett zu bringen – auf diese seltsame Schlafstätte starrte: Das Bett war aus Eisen. Es hatte am Kopfteil überladene Bildmotive, die vermutlich ein Kunstschmied gefertigt hatte. Es gab eine Vorrichtung für einen Baldachin, der aber nicht aufgesteckt war. Das Bett wirkte zierlich trotz des ungewöhnlichen Materials. Und als ich genauer hinsah, stellte ich fest, daß man es auseinandernehmen konnte, also mußte es wohl einst ein Reisebett gewesen sein. An seinem Fußende hing ein seidenes, blaues Band unter dem Pfühl hervor, das vermutlich zu einem Nachtgewand gehörte.

Ich stand da und starrte auf dieses Bett, so wie ich zuvor von einem der Fenster des Wohnraums auf das zerstörte Dorf geschaut hatte. Zumindest bildete ich mir das ein. Aber wenn ich ehrlich war, hatte es mit jenem Starren nicht das geringste gemein. Dieses Bett war ein Bett, kein Dorf. Es war ein Bett, das mit großer Wahrscheinlichkeit der Tochter des Hauses gehörte. Und dieses Starren, mein Starren, gab mir das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, obwohl mir nicht klar war, was dieses Verbotene sein sollte. Ich befand mich auf der Suche nach einem Bett. Und ich hatte eines gefunden. Hier in diesem Zimmer. Und es gehörte – da war ich mir jetzt sicher – Brigida.

Was ich mit diesem Bett zu tun beabsichtigte, war mir unklar, und ich verwarf einen Gedanken nach dem anderen, wie damit umzugehen war. Selbstverständlich konnte ich mich hier in diesem Zimmer niederlassen, niemand würde davon wissen, aber es erschien mir, solange ich auch darüber nachdachte, nahezu unmöglich. Ich konnte dieses Bett natürlich auch ausweiden und mich mit dem Bettzeug in einen anderen Raum begeben, zum Beispiel in die Bibliothek, die besser zu mir zu passen schien. Ich konnte dort im Kamin ein Feuer anzünden und dort übernachten. Oder ich konnte mich mit dem Inhalt des Bettes in die Kammer mit den Fechtmasken legen. Oder zu den Instrumenten.

Nachdem mein Magen hörbar knurrte und mir klar wurde, daß ich seit dem frühen Morgen kaum etwas gegessen hatte, entschied ich mich schließlich, dieses metallene Bett auseinanderzunehmen und es in die Küche zu transportieren, da es dort am wärmsten war. Außerdem würde ich auf diese Weise nicht unnötig Holz vergeuden, auch wenn ich bei meiner Ankunft hinter dem Haus unter dem Dach eines Schuppens beachtliche Vorräte gesehen hatte. Zwar befriedigte mich auch diese Entscheidung nicht restlos, da in der Küche möglicherweise Gerüche in das Bettzeug eindringen würden, aber ich beschloß, mich darüber hinwegzusetzen – jedermann würde gewiß Verständnis haben für diese ungewöhnliche Situation.

Ich zerlegte also das Bett und trug die einzelnen Teile in die Küche, wo ich sie wieder zusammensetzte. Ich stellte das Eisenbett in einer Ecke auf, in der zuvor eine Reihe von unterschiedlichen Körben gestanden hatte, und machte dann Feuer im Herd.

Und ich war stolz auf mich.

Ich hatte das Bett ohne große Gefühlsaufwallungen abgebaut und wieder aufgebaut, als wäre ich ein Händler, der soeben seine Ware an einen Käufer geliefert hat. Es ist ein Neutrum, dieses Bett, sagte ich mir, und es ziemt sich nicht, mehr Gedanken zu verschwenden, als dies auch ein Händler tun würde.

Als mein Magen ein zweites Mal sein Recht forderte, setzte ich mich an den großen Küchentisch, nahm meinen Schnappsack zur Hand und begann, meine Wegzehrung auszupacken. Vermutlich war es auch gut, mich gleich daran zu gewöhnen, daß ich mich selbst zu versorgen hatte, denn obgleich auf dem Zettel, auf dem ich meine Anweisungen bekommen hatte, stand, daß die Frau des Fattore für uns kochen würde, war doch kaum anzunehmen, daß dies in der nächsten Zeit der Fall sein würde.

Ich setzte mich bewußt so, daß ich das Bett im Rücken hatte, weil ich nicht ständig daran erinnert werden wollte. Ich schnitt also meine Speckseite auf, trank Wein, den ich aus einem kleinen Fäßchen in der Küche gezapft hatte, und säbelte eine dicke Scheibe von meinem Brotlaib. Die Kerzen, die ich angezündet hatte, waren billige Talgware, nicht aus Wachs, sie flackerten, und ich stellte sie nach einer Weile an eine andere Stelle. Aber nun warfen sie den Schatten des Bettes riesengroß an die gegenüberliegende Wand, und es sah aus, als erwartete das Bett einen Riesen als Schlafgast.

Ich fand mich albern und drehte den Stuhl wieder in die frühere Richtung. Weshalb sollte ich dieses Bett nicht betrachten, nachdem ich es doch in Kürze besteigen würde. Und ich befahl mir, mich nicht wie ein kleiner Junge zu benehmen, der soeben sein Sündenbekenntnis vorbereitet.

Irgendwann stellte ich dann fest, daß das Linnen nicht glattgezogen war, was mir zuvor nicht aufgefallen war, und es schien mir, als ströme ein sanfter Duft von Lavendel zu mir herüber. Es konnte also erst kurze Zeit vergangen sein, seit Brigida hier geschlafen hatte. Bringt Zink und Fideln mit, hatte sie gesagt, und eure Flöten, wenn ihr kommt, dann können wir die Nächte durchmusizieren und tanzen, da wir allein im Haus sind. Und es hatte geklungen, als sei alles wie immer – und nie eine Hochzeit geplant. Eine Hochzeit mit einem Menschen, den keiner von uns bisher kannte. So saß ich bei Kerzenlicht an diesem großen Holztisch und hatte dabei ein mehr als seltsames Gefühl. Wie gesagt, wir – Rocco, Daniele, Lazzaro und ich – hätten eigentlich in der kleinen Kate neben dem Haus des Fattore wohnen sollen. Wir wären dann jeden Morgen zu unserer Arbeit heraufgestiegen und am Abend wieder hinunter. Unser Auftrag war exakt umrissen, die Wände der Kapelle und des Flurs waren bereits grundiert, und Rocco hatte die Miniaturskizzen schon mit Hilfe vergrößerter Schablonen und Rötel auf den Wänden vorgezeichnet. Lazzaro und ich sollten – nachdem Rocco als unser Meister wie üblich die »fleischlichen« Teile der Figuren gestaltet hatte – den Rest der Gemälde übernehmen, wie es Brauch war, wenn man in einer compagnia zusammenarbeitete. Aber Rocco hatte auch entschieden, daß ich diesmal den Arm der Madonna und vor allem ihre Hand malen durfte. Eine große Auszeichnung für einen Maler, der noch Geselle war und die vorgeschriebene Zeit als lavorante noch nicht abgeleistet hatte. Bis jetzt hatte ich meistens Landschaften in ein Bild einzufügen, hier ein Stückchen Wiese, dort einen Wasserfall, einen Baum oder eine Baumgruppe. Daniele, der früher als Matratzenmacher gearbeitet hatte, war im übrigen unser garzone. Er mußte den Leim kochen, Gips mahlen und Farben anrühren. Und er band unsere Pinsel.

Ich spürte, wie die Müdigkeit ganz langsam in meine Glieder zog. Das Feuer war fast heruntergebrannt, ich legte noch ein paar Scheite auf und sah zu, wie die Funken sprühten. Ich sehnte mich nach einem Bett, aber ich konnte nicht über die Hürde springen: über meine eigene Hürde.

Ich war im Gegensatz zu Rocco nie ein Mensch der raschen Entschlüsse gewesen. Ich war stets das geblieben, was ich bereits als Kind war – ein Zauderer. Ein Mensch, der eine Sache so lange hin und her bewegte, bis es oft keiner Entscheidung mehr bedurfte und Rocco nur noch spottend sagen konnte: Wie gut, daß du es wieder einmal verpaßt hast.

Nun also Brigidas Bett, das mich jetzt, nachdem ich den Mut besessen hatte, es hierherunterzutragen, in tausend Gewissensbisse stürzte, obwohl ich vorsichtshalber das seidene Nachtgewand mit den blauen Bändern gleich gar nicht mitgenommen hatte.

Allein mir vorzustellen, daß sie hier gelegen hatte, in der gleichen Bettwäsche, auf dem gleichen Kopfkissen, nahm mir nahezu den Atem. Ich sehnte mich nach Träumen – ich fürchtete mich vor Träumen. Ich wollte Brigida in diesem Bett spüren – ich verbot mir derlei Anwandlungen. Die Aufgabe, die wir in diesem Haus zu erfüllen hatten, war, das Haus für die Hochzeit vorzubereiten und nicht, Träumen nachzuhängen, die ganz gewiß nicht wahr werden konnten. Nicht mehr jetzt. Und auch wenn ich nicht der große Zauderer gewesen wäre, hätte ich diese Träume vermutlich nie leben können.

Ich schob also den Zeitpunkt des Schlafengehens immer weiter hinaus. Ich füllte aus einer abgedeckten Regentonne, die ich hinter dem Haus entdeckt hatte, einen Eimer Wasser für mein Pferd, gab ihm ein paar Möhren aus einem der Körbe in der Küche, säuberte den großen Tisch mit einem Tuch, obwohl es nach meiner kargen Mahlzeit kaum etwas zu wischen gab. Ich suchte mir über die aufgeworfenen Fliesen im Flur hinweg den Weg zur Kapelle und verrichtete in dem leeren Raum mein Abendgebet. Dann ging ich in den Wohnraum zurück und öffnete nochmals das Fenster, aus dem man einen wunderschönen Blick über das Tal haben mußte. Aber selbstverständlich gab es zu dieser Stunde der Nacht nichts mehr zu sehen, und es drang lediglich die Nachtkälte in das ohnedies schon erstarrte Haus.

Ich ging wieder in die Küche und überlegte mir, wie ich schlafen sollte, da ich normalerweise unbekleidet schlief. Aber ich scheute mich, mich nackt in dieses Bett zu legen – aus mir völlig unverständlichem Grund. Daß ich mich schließlich – Mitternacht mußte längst vorüber sein – mit Strümpfen und meinem Kamisol niederlegte, um der Schicklichkeit Genüge zu tun, fand ich mehr als grotesk. Wenn ich es Rocco erzählen würde, bekäme er nur wieder einen seiner unbändigen Lachanfälle, für die er bekannt war. Aber immerhin war ich nunmehr so müde, daß ich nicht einmal mehr einen Traum zuwege brachte, und schlief, bis ich am anderen Morgen halb erfroren erwachte.

Ich hatte mich ganz offensichtlich die ganze Zeit bemüht, die seidene Bettwäsche nicht allzusehr zu verknäulen, und nahezu starr vor Ehrfurcht verkrampft auf einer Seite gelegen, jener, die ohnehin schon verknittert gewesen war.

Nachdem ich aufgestanden war, ging ich als erstes in den Wohnraum, um aus dem Fenster zu schauen. Nebel, der nach aufgebrochener Erde roch, war aus dem Tal emporgestiegen. Er schien aus der Ebene emporzuwachsen wie ein tropisches wildes Gewächs, das in dieser Landschaft nur den Bruchteil der Zeit benötigte wie anderswo, um zu seiner vollen Größe heranzuwachsen. Er krallte sich wie ein urweltliches Tier in einer raschen Drehung um den Olivenbaum, der seitlich des Hauses gestanden hatte und nun wie ein auf den Rücken gefallener Käfer seine Wurzeln hilflos in die Luft streckte. Er umhüllte den Verlorenen mit seinen Tentakeln, öffnete sein gefräßiges Maul und ließ den Baum darin ganz langsam verschwinden – wie ein Riesenkrake, der sein Opfer verschlingt. Und er versagte mir – worüber ich fast froh war – festzustellen, ob das Wasser noch immer den Berg hinauffloß.

Auf dem Fenstersims lag zwischen den Gitterstäben, die vor Einbrechern schützen sollten, ein abgebrochener, seltsam geformter, fast verkrüppelter Ölbaumzweig mit einigen Oliven, den ich am Abend nicht gesehen hatte. Ich hielt ihn zögernd an meinen Kopf, tauchte für einen winzigen Augenblick ab in eine andere Welt, in eine andere Zeit, dann stellte ich ihn in einen Becher mit Wasser, da seine Blätter noch saftig grün waren. Und ich beschloß, nachdem ich mein übliches Morgenmahl, einen Becher Wein, einen Kanten Brot, zu mir genommen hatte, mich endlich meiner Arbeit zuzuwenden.

Zum Auftakt einer Arbeit, wenn sie mir allein übertragen ist, verrichte ich ein Gebet, damit sie gelingen möge. Dann male ich die Konturen des Gemäldes auf die grundierte Wand, korrigiere, trete vor, zurück, korrigiere nochmals, was meist geraume Zeit in Anspruch nimmt. Normalerweise obliegen diese Arbeiten, wie ich bereits sagte, Rocco, auch wenn ich mir einbilde, daß ich nicht schlecht bin beim Skizzenmachen, und ich nach Roccos Meinung bei Entwürfen auf Leinwand, Seide oder Pergament schon jetzt ein beachtliches Talent aufzuweisen habe. Das Anrühren der Farben ist mir – leider – als Geselle nicht mehr erlaubt, dazu haben wir Daniele. Aber manchmal, wenn er aus irgendwelchen Gründen nicht in unserem Atelier in der Stadt ist, tue ich es dennoch selber. Ich zerkleinere zunächst die Tonerde für den Ocker, zerreibe die Pigmente dann mit dem Spachtel auf dem Reibstein, füge Spuren von Leinöl hinzu, prüfe die Farbe, die nicht verlaufen darf, und lasse nicht zu, daß auch nur ein einziges grobes Korn zurückbleibt. Ich mache diese Arbeit mit großer Freude, kann dabei meinen Gedanken nachhängen und denke auch manchmal an die zurückliegende Zeit, in der ich als Färber tätig war und den Umgang mit Farben erlernt hatte.

Führe ich endlich den ersten Pinselstrich aus, bin ich voller Glück. Und ich vergesse Zeit und Raum. Ob meine Füße vor Kälte erstarren, mein Magen rebelliert, meine erstarrten Hände den Pinsel kaum mehr halten können, ich nehme es nicht mehr wahr. Und wenn ich es schließlich wahrnehme, befehle ich Füßen, Händen, Magen stillzuhalten, ich sage ihnen, daß es sie nicht gibt, jetzt nicht gibt. Später. Vielleicht. Aber sie wissen inzwischen längst, daß es sehr wohl sein kann, daß ich sämtliche Mahlzeiten auf einen Haufen werfe und keinerlei Lust empfinde, sie zu entwirren, und daß ich bisweilen mitten in der Nacht aufwache und mich dann wie ein Wolf auf irgend etwas stürze, was gerade an Eßbarem herumliegt, ohne jedoch zu wissen, was ich da in mich hineinschlinge. Wäre das Erdbeben während dieses Zustands der Versunkenheit losgebrochen, ich bin nicht einmal sicher, ob ich es überhaupt wahrgenommen hätte.

Dieses chaotische Dahinleben ist natürlich nur möglich, wenn ich irgendwo unterwegs bin, allein. In Messer Orellis Haus in Florenz sind wir alle dem exakten Tageslauf unterworfen, der von Mona Orelli vorgegeben wird. Verspätet sich einer von uns zum Mittagsmahl, würde sie ihn vermutlich am liebsten aus dem Raum weisen. Bin ich allein, auf mich selbst gestellt in irgendeiner fremden Stadt, in der wir vielleicht eine Kapelle auszumalen, ein Tafelbild fertigzustellen haben, stört es mich, wenn ich morgens bei diesem ganz und gar heiligen Zustand der ersten Pinselstriche unterbrochen werde.

Und genau dies trat an diesem Morgen ein.

Ich fühlte mich hinausgeworfen aus meiner Versunkenheit, brutal, so als schlage mir jemand mit einem Brett auf den Kopf. Ich fuhr aus meiner Arbeit hoch, benommen, unwillig und quälend zugleich, weil es etwas gab, das ich klären mußte, etwas, das keinen Aufschub duldete. Es mußte jetzt sein. Ich wischte mir in aller Eile die Hände an einem Tuch sauber, sprang auf und rannte in die Küche. Zu Brigidas Bett. Ich griff langsam unter das Kopfkissen, tastete die Matratze ab und zog dann einen Gegenstand hervor: einen kleinen runden Handspiegel, mit Perlen und Rubinen eingefaßt. Ein kostbarer Spiegel, der bereits die ersten Spuren des Erblindens zeigte.

Brigidas Spiegel.

Mein Spiegel.

Brigidas Spiegel.

Es stimmte also, ich hatte es nicht geträumt, als ich in der Nacht wach wurde und plötzlich etwas Hartes unter meinem Kopf zu spüren glaubte. Ich hatte danach gegriffen, mehr im Schlaf als im Wachen. Und mußte danach sofort wieder eingeschlafen sein.

Ich wiege den Spiegel in meiner Hand, betaste behutsam die Perlen, von denen eine beschädigt ist, was man vermutlich mir anlasten würde. Ich schaue in diesen Spiegel. Ich sehe einen nicht mehr ganz jungen Mann von unbestimmbarem Alter, die Haare exakt gekämmt – auch dies ein Relikt aus meiner nicht normalen Kindheit –, die Augen stets leicht verkniffen, weil meine Sehschärfe bereits nachzulassen beginnt und ich zum Lesen bei schlechtem Licht ein Augenglas benötige. Meine Haut ist nicht eben rein, sie hat Pickel. An manchen Tagen mehr, an manchen weniger; je nachdem, wie ich mich fühle.

Ich sehe mich. Ambrogio Innocente. Einen, der zu den gettatelli gehört. Zu den »weggeworfenen« Kindern.

Und obwohl mir klar ist, daß in diesem Augenblick keinesfalls der rechte Zeitpunkt ist, alten Geschichten nachzuhängen, kann ich es nicht verhindern, daß diese alten Geschichten in diesem Augenblick ungewollt über mich hereinbrechen. Mit Gewalt. Nicht anders als dieses Wasser, das gestern ungefragt den Berg hinaufschoß.

Ich erinnere mich.

Ich sehe ein rundes Gesicht über mich gebeugt, darüber eine weiße Haube. Das Gesicht gehört einer Frau, ich vermute, daß es Haare sind, die sie unter der Haube versteckt. Aber vielleicht besitzt diese Frau auch gar keine Haare, und sie trägt diese Haube, um zu vertuschen, daß ihr Kopf kahl ist. Die Frau sitzt in einer Reihe mit anderen Frauen, die ebenfalls ihre Haare unter Hauben versteckt haben, auf einer langen Bank. Eine neben der anderen wie Hühner auf einer Stange, wenn die Nacht hereinbricht.

Die Frauen, die auf der Bank sitzen, haben außer der weißen Haube ein anderes hervorstechendes Merkmal: halbrunde Gebilde, die wie Gewächse auf ihren Rippen sitzen, Gebilde, die die Männer nicht haben. Es sind Brüste, und sie haben unterschiedliche Formen: Sie sind zitronenförmig, apfelprall, manche sehen wie Birnen aus. Bei einigen scheint es, als seien sie bereits seit Jahrzehnten benutzt worden. Zumindest behauptet das Sebastiano, von dem wir dies alles wissen und den wir dafür auf unsere kindliche Art und Weise bezahlen, damit er uns sein Wissen preisgibt.

Die Brüste sind nackt, was heißt, daß jeweils eine von ihrer Hülle befreit wird. Die Frauen nehmen sie in die Hand, pressen sie sanft, jedoch nicht so heftig wie das Euter einer Kuh, die gemolken wird. Die Brüste sind verschlossen, eine Art Stöpsel verhindert, daß sie sich ungewollt entleeren. Aber während die Frauen auf der Bank sitzen und auf unsere Köpfe herabschauen, öffnen sich die Brüste, und es fließt ein weißer warmer Strom in unsere Münder, die sich gierig um die Stöpsel schließen. Der Strom, der sich in uns ergießt, heißt Milch.

Die Frauen reden nicht, während sie auf dieser Bank sitzen. Sie lassen die Milch in uns hineinfließen, als seien sie stumme Wesen von einem anderen Stern, die herabgestiegen sind, um sich unser anzunehmen.

Das heißt, daß wir eigentlich an den falschen Brüsten saugen – die Brüste sind nicht die unserer Mütter. Es sind fremde Brüste, die uns nähren. Es sind auch fremde Stimmen, die mit uns reden, wenn wir, gesättigt und müde irgendwann vom Schlaf übermannt an diesen Brüsten hängend, einschlafen. Manchmal flüstern sie uns Namen ins Ohr. Aber es sind nicht die Namen, die uns unsere Mütter gegeben haben, falls sie es überhaupt getan haben. Es sind die Namen von irgendwelchen Heiligen, die wir bei unserer Ankunft im Ospedale degli innocenti, in dem zu leben wir gezwungen sind, bekommen haben: Agata, Antonio, Simone, Tomaso, Rinaldo, Lorenzo.

Mir hat man den Namen Ambrogio gegeben, weil ich am Tag des heiligen Ambrosius diese Erde »betreten« habe. Das heißt, es ist nicht ganz sicher, ob es wirklich an diesem Tag war, es mag auch in der Nacht zuvor gewesen sein. Sicher ist nur, daß ich am Ambrosius-Tag des Jahres 1482 in die pila gelegt worden bin, jene Marmorschale, wie sie in Kirchen ansonsten mit geweihtem Wasser für die Taufe bereitsteht. Und sicher ist auch, daß ich aus diesem Anlaß eine Nummer bekommen habe: die Nummer 329.

Meine Geschichte beginnt also mit dieser pila, die im Ospedale degli innocenti an der Piazza della SS. Annunziata in Florenz steht. Mein zweiter Name ist daher Innocente – nach den Unschuldigen, wie man uns nennt. Man hätte uns selbstverständlich auch gettatelli nennen können, die Weggeworfenen, aber sicher hätte das manchen Leuten nicht gefallen. Wir können also froh sein, daß unser Leben nicht in irgendeiner Latrine geendet hat oder unser erdrosselter Säuglingskörper vom Arno fortgeschwemmt wurde, wie üblicherweise die Ungeliebten zu enden pflegen. Froh und dankbar – zumindest sagt man uns das sofort, wenn wir einmal wegen irgendeiner Sache aufbegehren.

Meine Erinnerungen, meine ricordanze, die ich hier niederschreibe, sind aber nicht nur meine Geschichte, sie sind zugleich die Geschichte der Brigida Lucrezia Maria Orelli, die allerdings bei ihrer Geburt nicht in eine pila, sondern in eine bequeme Wiege gelegt wurde und, da sie in einem Palazzo zur Welt kam, auch gleich drei Namen bekommen hat. Ich vermute auch, daß man Brigida bei ihrer Geburt wohl kaum in ein altes Hemd gewikkelt, sondern in seidene Gewänder gehüllt hat. Als wir beide später einmal darüber sprachen, lachte sie und sagte, was das denn schon für eine Bedeutung habe – ob pila oder Wiege mache für das spätere Leben wenig aus. Aber ich greife vor, es dauerte eine ganze Weile, bis sich unsere Wege berührten. Ich sage berührten, weil es zunächst nur eine sehr einseitige Begegnung war, die von Brigida in der ersten Zeit nicht einmal wahrgenommen wurde. Und wenn ich hinzufüge, daß unser allererster Berührungspunkt der war, daß wir an den gleichen Brüsten genährt wurden, so muß ich natürlich erklären, daß dies nicht zur gleichen Zeit war – Brigida ist einige Jahre jünger als ich, aber wir hatten die gleiche Amme.

Die gleiche Amme hatten wir deswegen, weil wir beide aufs Land, in die Toskana, gegeben worden waren. Hier überlappen sich unsere Geschichten für einen winzigen Augenblick. Danach jedoch gehen sie wie eine Schere weit auseinander: Brigidas Vater galt als einer der reichsten Seidenhändler der Stadt, und es war üblich, daß die wohlhabenden Florentiner Bürger ihre Kinder in den ersten beiden Jahren einer Amme anvertrauten, bei der sie blieben, bis ihre Eltern sie nach Ablauf dieser Zeit wieder zurück nach Florenz holten. Und auch wenn es selbstverständlich war, daß die reichen Stadtkinder eine eigene Amme hatten, so verhinderte doch oft irgendeine Widrigkeit, daß das Kind diese zwei Jahre bei der gleichen Amme bleiben konnte: Die Frau konnte fortziehen, sich neu verheiraten, in Armut geraten, erkranken, sterben. In diesem Fall wurden die Kinder an eine andere gerade verfügbare Amme weitergereicht und dies auch manchmal ohne Benachrichtigung der Eltern; eine Botschaft brauchte Zeit, und Boten kosteten Geld.

Was Brigida anbetraf, so war sie nach dem Tod ihrer ersten Amme zu meiner Amme gegeben worden, die neben der Verstorbenen wohnte, und da die Eltern Orelli sich zu jener Zeit gerade auf einer langen Reise befanden, erfuhren sie von dem Wechsel erst nach ihrer Rückkehr. Nachdem meine Amme neben zwei innocenti – Rocco und mir – noch fünf eigene Kinder zu versorgen hatte, wuchsen Brigida und ich wie Geschwister auf, wobei ich zur »Kindsmagd« der Jüngeren ernannt wurde, da sie mich am meisten liebte. Als die Eltern von ihrer Reise zurückkehrten, waren sie von der neuen Situation nicht eben angetan, zumal sich bei ihrer Ankunft in unserem Dorf die Pflege ihrer Tochter nicht gerade im günstigsten Licht darstellte: Unsere Amme hatte gerade ihren großen Waschtag, und so waren wir Kinder uns selbst überlassen. Rocco hatte eines seiner stets lustigen Spiele angeordnet: Wir sollten alle Schweine sein und er der Schweinehirt, der uns zu füttern hatte. Brigidas Eltern entdeckten also ihre zweijährige Tochter in wenig sauberen Gewändern im Schweinestall, mit den Händen voller Gier im Schweinetrog wühlend und sich dabei die Reste des Fressens in den Mund schiebend, obwohl das Spiel keinesfalls so wirklichkeitsnah hätte sein brauchen.

Der Abschied war dann mehr als dramatisch. Da Brigida ihre Eltern während dieser beiden Jahre kaum gesehen hatte, verspürte sie auch keinerlei Lust, mit diesem fremden Mann und seiner fremden Frau in einer Kutsche wegzufahren. Und sie tat dies mit lautem Weinen kund. Als sie der Kutscher dann – es war klar, daß die Eltern ihre Tochter in dieser Situation nicht berühren wollten – aus meinen Armen riß, ging das Weinen in ein ohrenbetäubendes Gebrüll über, und Brigida umklammerte mich wie ein Äffchen mit Händen und Füßen. Als dies alles nichts nutzte, biß sie den Kutscher in die Hand, so daß der nun auch brüllte. Das zweifache Gebrüll verfolgte mich nächtelang, und da es verständlicherweise keinerlei Nachricht mehr von Brigida gab, bedrückte meine Trauer die ganze Familie. So lange, bis Rocco mich zu trösten versuchte und sagte, daß Brigida später gewiß meine Braut würde, da sie mich ja bereits als Kind geliebt habe, und ich mich im übrigen nun wieder voll und ganz dem Füttern meiner Seidenraupen mit Maulbeerblättern widmen könne. Was ich in Ermangelung anderer Menschen, die ich hätte lieben können, auch glaubte.

Als ich Brigida Jahre später zum erstenmal wiedersah, war sie neun und wollte gerade eines der vier Pferde des Neptunbrunnens auf der Piazza della Signoria heiraten. Ein Wunsch, der mein ohnehin recht schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl nicht eben stärkte, da es sich um das zweite Pferd von rechts handelte, ein wildes ungebärdiges Tier, und nicht das zweite von links, das aussieht, als komme es soeben vom Kindersonntagsgottesdienst und falte die Vorderhufe zum Beten.

Der Nebel hat sich inzwischen gelichtet. Er wirkt nicht mehr wie ein dickes, undurchdringliches Wattepolster, sondern er läßt wieder spärliches Licht auf die Bäume fallen, von denen es auf dieser Anhöhe eine Menge gibt. Es sind Maulbeerbäume, sie sind das Gold der Familie Orelli. Und Mona Orelli hat dafür gesorgt, daß sie überall sind. Da, wo es früher einmal einen wunderbaren Park gegeben haben soll, wachsen sie inzwischen ebenso wie rings um die Villa, und selbst das Rosarium vor der Auffahrt des Hauses mußte der Geldgier dieser Frau weichen.

Ich sehe vom Fenster des Wohnraums Teile des Dorfs nun etwas deutlicher als am Abend zuvor. Ich sehe eine Turmspitze im Gras liegen, die zum Kirchturm gehört haben dürfte. Ich sehe den Teil eines Rades, eines vermutlich gewaltigen Rades, aber ich kann dieses Fragment nicht zuordnen. Ich sehe auch, daß die einzige Brücke über den Fluß, der durch das Dorf fließt, geborsten ist. Ich sehe, daß die Pfirsichplantage, die sich am Hang entlangzog, verwüstet ist, verwüstet wie die neugepflanzten Olivenbäume, von denen mir Rocco, der hier schon öfter gearbeitet hat, berichtete. Das Dach der colombaia, die einst Brigidas Bruder gehörte und unterhalb der Villa stand, liegt zusammengequetscht auf der Erde; die Tauben müssen davongeflogen sein bis auf zwei, die offensichtlich nicht rasch genug waren und nun tot in einem eisernen Netz hängen. Im Fischteich liegen die Fische mit weitgeöffneten Mäulern auf dem schlammigen Grund, da der Weiher geborsten und das Wasser abgelaufen ist.

Vom Tal herauf höre ich das Brüllen von Kühen, die vermutlich nicht gemolken wurden, ihr jämmerliches Muhen fräst sich in meinen friedlichen Tag wie der Lärm einer Säge. Aber ich weiß genau, daß ich den Kühen nicht helfen kann, ich kann sie nicht einmal orten. Noch verdeckt der Nebel den Teil des Abhangs, an dem gestern das Wasser den Berg hinaufschoß, aber ich hoffe, daß es inzwischen wieder seinen normalen Weg gefunden hat.

Ich schließe das Fenster, in dessen klemmenden Rahmen ich, damit die Flügel nicht aufgehen, zwei Nägel gehauen habe, und gehe zu dem Tisch, auf den ich den Becher mit dem seltsam verkrüppelten Ölbaumzweig gestellt habe. Die Oliven, die an ihm hängen, sind schwarz, sie sind voll ausgereift und vermutlich bei der späten Ernte vergessen worden. Ich schiebe eine von ihnen in den Mund – sie schmeckt wie alle rohen Oliven gallebitter.

Ich gehe wieder an meine Arbeit. Und ich stelle fest, daß ich Rocco vermisse, den einzig wirklichen Freund, den ich habe. Früher haben wir oft mit der Idee gespielt, daß wir möglicherweise Zwillingsbrüder sein könnten, da eine ganze Reihe der innocenti im Ospedale Zwillinge waren.

Vielleicht hat sie dich am ersten Tag abgeliefert und mich einen Tag später, mutmaßte Rocco.

Und weshalb sollte sie das getan haben? fragte ich, leicht verärgert darüber, daß ausgerechnet ich zuerst abgeschoben worden sein sollte.

Rocco zuckte mit den Achseln. Vielleicht hat sie festgestellt, daß ein Kind fast genausoviel Arbeit macht wie zwei.

Die Vorstellung, Zwillinge zu sein, hat damit zu tun, daß wir – um nur ein Beispiel zu nennen – ohne Schwierigkeit einen Gegenstand gemeinsam malen können, wie dies bei unserer Arbeit des öfteren notwendig wird: Der eine kann genau dort fortfahren, wo der andere aufhört. Einen grünen Überwurf mit Falten würde er ganz gewiß nicht in einen roten umwandeln oder gar den Faltenwurf verändern. Eine Tatsache, die uns außerordentlich zustatten kommt: Rocco, der bereits Meister ist, macht die Skizzen und führt dann die Gesichter, die Arme und Beine aus, falls sie nackt sind, ich male den Rest. Wenn manche Käufer später herumrätseln, wer was gemalt hat, erfüllt uns das stets mit leichter Bosheit, da sie nicht nur bei uns rätseln, sondern auch bei anderen Malern wie etwa Raffael.

Daß unsere Haarfarbe fast identisch ist, wir die gleiche Augenfarbe haben und unser Wuchs so ähnlich ist, daß man uns von hinten ohne weiteres verwechseln könnte, darf ebenfalls nicht übersehen werden. Aber während ich dies schreibe, muß ich zugeben, daß Rocco, dürfte er je lesen, was hier steht (was aus ganz bestimmten Gründen, die später zu erörtern sind, gewiß nie der Fall sein wird), protestieren würde. Er würde gewiß sagen, daß es kaum unterschiedlichere Wesen gibt als uns. Er würde als Beispiel anführen, wie er am Vorabend mit diesem Bett, Brigidas Bett, umgegangen wäre. Er hätte sich auf dieses Bett geworfen, Laken, Decken und Pfühle zu einem großen Knäuel geballt und unter sich begraben, um dieses Gebilde dann zu beschlafen. Dabei hätte er wollüstige Laute ausgestoßen wie ein Hirsch in der Brunft.

Und so bin ich wieder bei Brigida, der Tochter eines der reichsten Seidenhändler der Stadt, Brigida, die wir alle bewundern und begehren. Brigida, die ganz gewiß nicht unschuldig daran ist, daß wir – Rocco, Lazzaro, Leonello, der die bottega leitet, Daniele und ich – dank des Mäzenatentums ihres Vaters in dem großen Haus am Arno wohnen dürfen und dort unser Atelier, unsere Unterkunft und unsere Mahlzeiten haben.

Daß uns ihr Vater allerdings den Auftrag erteilt hat, diese Villa hier für ihre Hochzeit, die in Kürze stattfinden soll, herzurichten, weiß sie vermutlich nicht. Ich habe sogar den starken Verdacht, daß sie nicht einmal den Tag der Hochzeit weiß, weil er sie nicht interessiert. Und daß wir diesen Auftrag mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zur rechten Zeit erfüllen können, dürfte klar sein – auch ohne Erdbeben hätten wir damit Schwierigkeiten gehabt. Lazzaro hatte nämlich außerdem bereits den Auftrag, drei Pferdeschabracken zu bemalen, Rocco sollte zusätzlich eine Statue für die Loggia ausbessern und Leonello den Kamin im Wohnraum in Ordnung bringen, da er etwas davon verstand.

Und bei der Aufzählung dieser Arbeiten fällt mir ein, daß ich noch immer nicht im Keller gewesen bin. Ich säubere also meine Hände und gehe in die Küche, wo mich das Bett nun plötzlich sehr stört. Es erscheint mir ein Sakrileg, daß es hier steht und benutzt wird. Und außerdem frage ich mich gereizt, ob ich nicht ebenso wie Rocco in der Lage wäre, Pfühle, Decken und Laken unter mich zu knäulen und wild zu beschlafen.

Die Vorratskammer im Keller, zu dem ich auf einer steilen Steintreppe hinunterstieg, war üppiger, als ich mir hätte vorstellen können, auch wenn es mir in dieser Beziehung an Erfahrung mangelte: Im Institut waren wir dort nicht geduldet und im Haus am Arno noch viel weniger. Diese hier schien mir den Inbegriff der Völlerei zu verkörpern. Hier hatte jemand, vermutlich die Frau des Fattore, mit einer Sorgfalt ohnegleichen die Regale mit Dingen gefüllt, deren Zubereitung Wochen und Monate gekostet haben mußte. Da gab es die unterschiedlichsten Fleisch- und Fischsorten in getrocknetem Zustand, von der Decke herab hingen geräucherte Würste und Speckseiten, eingesalzene Fische, die man als Fastenspeise verwendete, waren in kleinen Holzkistchen aufbewahrt, gebeizte Fleischstücke in Essig eingelegt, die Töpfchen mit Rindsblasen zugebunden. Daneben standen Amphoren mit Maulbeersaft, Wacholdersaft, in Ingwersirup eingelegten Früchten und diversen Latwergen, alle mit kleinen Schildchen versehen. Ein ganzes Regal enthielt die unterschiedlichsten Liköre wie Quittenlikör, Schlehenlikör, Nußlikör, Zitronenlikör sowie Dinge, von denen ich nie zuvor gehört oder gelesen hatte; so kündete eine Aufschrift von »Pfirsich-Ratafia«, und ein Wandbrett beherbergte Töpfe mit unterschiedlich dick eingekochten Zuckerlösungen, was ich den Zetteln, die an den Gefäßen hingen und mich an Alchimie erinnerten, entnehmen konnte: »1. Grad: Breitlauf«, »2. Grad: der kleine Faden«, »3. Grad: die große Perle«, »4. Grad: der leichte Flug«, »5. Grad: die große Blase«. Das Brot, das auf hohen, an Seilen aufgehängten Gestellen lag, um es vor den Mäusen zu schützen, schien mir frisch gebacken; offensichtlich hatte die Frau des Fattore oder wer auch immer mit unserem Kommen gerechnet. Es gab also alles bis auf Molke und Milch, auf die ich wohl würde verzichten müssen. Und die eingelegten Eier wollte ich weitgehend für meine Malerei aufsparen.

Wir hätten riesige Feste feiern können mit all diesen Vorräten, aber es war bekannt, daß solche Feste nur zu Lebzeiten der ersten Ehefrau des Messer Orelli stattgefunden hatten. Ich nahm Brot und eine Speckseite mit nach oben und setzte mich an den großen Küchentisch, aber so, daß ich nicht das Bett im Blickfeld hatte.

Im April, an Ostern, würde also die Hochzeit stattfinden, hatte Brigidas Mutter gesagt. Bis dahin mußte die Kapelle fertig sein, hatte sie befohlen, obwohl klar war, daß es besser gewesen wäre, die Arbeiten in der warmen Jahreszeit vorzunehmen, so daß wir nicht der strengen Februarkälte ausgesetzt gewesen wären. Aber Brigidas Mutter hatte sich nie sonderlich um das Wohlergehen von Menschen gekümmert. Sie äußerte ihre Wünsche klar und deutlich, und sie wäre auch über Leichen gegangen, ihre Wünsche durchzusetzen. Das Mäzenatentum ihres Mannes störte sie ohnehin, wäre es nach ihr gegangen, wäre das Atelier vermietet und nicht kostenlos fünf jungen Männern überlassen worden, von denen man kaum erwarten durfte, daß sie jemals an Michelangelo oder Leonardo da Vinci heranreichten. Solche Meister hätte sie gern in ihrem Haus gesehen und es selbstverständlich als große Ehre betrachtet, wenn hier Kunstwerke entstanden wären, die alle Welt bewunderte. Und vermutlich hätte sie es nicht gestört, wenn diese großen Männer ihre Tochter verehrt hätten und nicht fünf junge Männer, die ihr lediglich den Kopf verdrehten und sie in all ihren – aus der Sicht der Mutter – unnatürlichen Neigungen auch noch unterstützten: Zu wissen, wer Dante, Petrarca, Boccaccio waren, war schlimm genug, sie gemeinsam mit jungen Männern zu lesen, schien Mona Orelli schon ein Werk der Vorhölle zu sein – sie hätte in ihrer Jugend nicht einmal gewagt, diese Bücher in die Hand zu nehmen.

Und ich bin mir heute sicher, daß sie Brigida vermutlich noch länger bei der Amme in der Toskana gelassen hätte, wenn dies möglich gewesen wäre. Diese Tochter aus zweiter Ehe hatte ihrem Herzen nie nahegestanden, und daß sie klüger war als ihre älteren Söhne, hatte sie ihr nie verziehen. Sie kann ja schon lesen! hatte sie eines Tages voller Entsetzen gesagt, als Brigida ihr voller Stolz von einer Tafel die ersten Sätze vorlas. Sie ließ daraufhin ihre älteren Söhne in das Zimmer rufen, legte ihnen ein Buch vor und forderte sie auf, den Text zu lesen. Garcia fing bei dem strengen Tonfall der Mutter sofort zu weinen an, und Michele bekam einen seiner Hustenanfälle, die er stets dann hatte, wenn ihm etwas nicht behagte.

Wir liebten sie also alle nicht, diese Mona Orelli, und wenn sie gar gewußt hätte, welchen jungen Künstlern ihr Mann seine Gunst schenkte, so wäre sie gewiß fähig gewesen, uns noch am gleichen Tag aus dem Haus zu werfen, zumindest Rocco und mich. Aber sie wußte es – Gott sei gelobt – nun einmal nicht. Was in Florenz während jener denkwürdigen Tage vor dem »Feuer der Eitelkeiten« geschah, hatte sie nicht erlebt, weil sie auf Reisen gewesen war. Und das war gut so. Denn wenn sie gesehen hätte, wie wir beide damals in ihr Haus einbrachen und den Tand, den Savonarola für sein großes Autodafé gefordert hatte, in großen Säcken zu dem talamo schleppten, wären wir ganz gewiß nicht der Gnade teilhaftig geworden, später einmal im Haus des Messer Orelli zu wohnen. Aber dies alles lag weit zurück, auch wenn wir Jungen, die Savonarola einst mit Haut und Haaren gehörten, es nicht vergessen hatten und – ich bin sicher – es nie vergessen werden, weil wir nie wieder in unserem ganzen Leben diese wilden Gefühle, die zum Himmel stürmten, haben würden. Nie wieder würde es jemanden geben, der stark genug war, uns ähnliches zu vermitteln. Wir waren damals nicht mehr wir selbst, wir waren andere, von Kopf bis Fuß. Ich hatte auch eine andere Frisur, die Haare kurz bis zu den Ohren, wie der Mönch es von seinen Jungen forderte, und über Roccos Stirn lief bereits jene Narbe, die – aus seiner Sicht – eine Opfergabe an Savonarola war. Sie verleiht heute seinem Gesicht diesen dämonischen Ausdruck, der sämtliche Frauen in seinen Bann zieht.

Heute früh der Morgen der Nebelfetzen.

Sie hängen über dem Tal, berühren an einer Stelle den Himmel, schneiden Streifen aus der Landschaft, man kann sehen, wie es oben aussieht, wie unten, die Mitte bleibt schemenhaft verhüllt. Ich sehe nun, daß das rätselhafte Radfragment der Teil eines riesigen Mühlrades ist. Es ragt mit seinen zerborstenen Schaufeln wie ein Mahnmal aus dem Geröll heraus, als wäre es der Ankläger wider dieses Naturereignis.

Aber heute berührt mich dies alles nicht. Heute ist, als hätte es kein Beben gegeben, als lebte ich im luftleeren Raum. Irgendwo und überall, aber nicht in diesem zerstörten Tal.

Heute gehe ich nach Jerusalem.

Ich schreite in mein Bild hinein, das ich gestern begonnen habe. Ich lasse die Mauern der Stadt vor mir emporwachsen, einen schmalen sandigen Pfad zwischen das saftige, helle Grün schlängeln, ich ahne die Regenwürmer unter der aufgeworfenen Grasnarbe. Ich spüre die Erregung, die mich ergreift, je tiefer ich mich in das Bild versenke. Ich atme die klare Luft der Höhe, schmecke sie auf meiner Zunge, rieche den Frühling. Ich bewege mich in dieser fremden Landschaft, die ich im Geiste schon hundertmal durchschritten habe, lasse mich in sie hineinfallen, mache sie zu meiner Umgebung, als sei ich nicht weit entfernt im Norden, sondern höre hier in diesem Augenblick die Vögel singen.

Ich bin in der Heiligen Stadt. Ich sehe vor mir ihre blauen und goldenen Kuppeln, ein Bild, das ich schon seit Jahrzehnten in mir trage. Oder seit Anbeginn aller Zeiten. Die Sonne wirft lange Schatten. Es ist früh am Morgen.

Ich lasse die Mauer nun schrumpfen; je weiter sie sich vom Betrachter entfernt, desto kleiner wird sie. Dagegen sind die Felsen im Vordergrund, an der Bildkante, wuchtig; ich kann sie berühren, wenn es mich danach verlangt. Ich spüre ihre runde Wölbung unter meiner Hand, es fühlt sich an wie ein samtiges Tier, das die erste Sonne genießt. Die Mauer dagegen bleibt weit entfernt, sie verläuft irgendwo im Unendlichen. Ich lasse die Linien sich treffen nach ihrem Gesetz. Schon lange denkt mein Kopf nicht mehr an bestimmte Worte, sie haben sich losgelöst, als gehörten sie schon immer zu uns. Es gelingt uns, all das sichtbar zu machen, das sichtbar werden soll, und dies gelingt uns ohne eine Übungstafel, die wir im Geist abhaken. Diese prospettiva gehört uns, ist ein Teil von uns geworden.

Und wenn ich ehrlich sein soll, ich brauche die Bilder, die eines Tages die Kapelle schmücken werden, schon jetzt nicht mehr. Die Kreuzigung, die Kreuzabnahme, die Pieta, die Grablegung – für den Augenblick habe ich genug an diesem winzigen Bildausschnitt, in dem ich versinke, einem unbedeutenden Fleckchen Erde, das für heute mein Tagewerk sein wird.

Ich mische die Farben auf meiner Palette, grüble über die verschiedenen Grüntöne, mache Proben auf der Rückseite von alten Kontobüchern. Das macht noch keinen Michelangelo, spottete Lazzaro eines Tages, als er mich mit einem Packen dieser alten Bücher aus dem Keller auftauchen sah. Ich frage mich ohnehin, fuhr er fort, weshalb gerade er alte Kontobücher für seine Versuche benutzt hat.

Wir fragen uns natürlich ständig irgend etwas, was wir nicht wissen, obwohl wir Zeitgenossen und Landsleute der Großen sind, um die uns so viele beneiden. Kommen die Meister von weit her wie zum Beispiel Dürer, so erweisen wir ihnen unseren Respekt, aber das ist auch alles. Sie gehören nicht zu uns. Und wie wir unsere prospettiva gestalten, verraten wir ihnen schon gar nicht. Es heißt, Dürer habe sich darüber in einem Brief mißmutig geäußert, weil die Maler in Italien nicht bereit waren, ihre Geheimnisse preiszugeben.

Über dem Eingang zur Kapelle sollen später eine Reihe von Heiligen stehen, angeführt von einer Marienfigur. Diese soll durch Ornamente von einem großen Bild von Gottvater getrennt werden, darüber dann ein blauer Himmel, im Hintergrund Luzifer und die Hölle.

Vor zwei Tagen malte ich den Arm der Jungfrau, die das Jesuskind hält. Ich malte ihn mit einer Andacht, daß mir die Tränen kamen, und stellte mir vor, wie es sein muß, so gehalten zu werden. Ich schäme mich der Tränen nicht, heißt es doch, daß Fra Angelico nie ein Kruzifix gemalt habe, ohne Tränen dabei zu vergießen. Das Kreuz in dieser Kapelle wird mir mehr als Mühe bereiten: Sie wollen die Nagelung exakt, zwei Leitern aufgestellt, darunter die Schergen mit ihren groben Gesichtern, mit Händen, die voller Wollust die Nägel durch das Fleisch hauen. Der Schmerz wird nicht nur im Gesicht des Gekreuzigten sichtbar sein, sondern auch im Gesicht des Malers, auch wenn ihn dort niemand sieht. Ich weiß, daß ich nie sonderlich gut war für diese Art von Bildern, daß ich stets das Gefühl hatte, ich nagle Jesus persönlich ans Kreuz. Aber ich habe Rocco ganz bewußt nie von diesen Schwierigkeiten erzählt, da ich weiß, daß er es nicht schätzt, wenn einer Schwäche zeigt, schon gar nicht einer, der die gleiche Herkunft hat, denn bei Rocco scheint diese Herkunft in den Urschlamm hinabgesunken zu sein, ins Vergessen. Ihn störte bereits, als ich einmal ein Jesuskind zeichnete, das mir angeblich ähnlich sah, obwohl ich nichts weiter tat, als eines der Findelkinder abzuzeichnen, die der Maler und Bildhauer Andrea della Robbia in den Medaillons unseres Ospedale gestaltet hatte. Sachlichkeit also ist gefragt, keine Sentimentalität. Wenn wir neben einem fremden Bild stehen und es analysieren, dann gebärdet sich Rocco, als löse er eine Dreisatzaufgabe oder ein geometrisches Problem – seine Gefühle hält er versteckt. Er ist, wenn er skizziert, ein Rötelstift, nichts weiter als dies, ein Stift, der zu funktionieren hat, nichts anderes sonst.

Am späten Nachmittag stellte ich fest, daß es außer den aufgeworfenen Fliesen im Flur noch weitere Zerstörungen im Haus gab. In einer großen Vitrine im Wohnraum lagen die Scherben kostbarer Gläser, die bei dem Beben zu Bruch gegangen waren, daneben eine Weinkaraffe, die ihr Schnäuzchen verloren hatte. In der Bildergalerie war eine ganze Reihe von Bildern zu Boden gestürzt, bei einem war die Farbe an einer Ecke abgeplatzt.

Ich verbrachte den Abend damit, die Bilder, die im Flur hingen, zu überprüfen, und ging dann in die Küche, um mit Genuß ein Mahl einzunehmen, für das ich mir besondere Mühe gemacht hatte, da Sonntag war: Ich hatte mir aus den Vorräten im Keller ein Ochsenschwanzragout zusammengestellt und dazu heiße Fladen gebacken, die ich mit Schmalz bestrich. Zum Nachtisch genehmigte ich mir ein kleines Töpfchen mit Latwerge.

Ich hatte mich auch entschlossen, die Kleider zu wechseln, obwohl ich mir dabei lächerlich vorkam. Ich holte mir eine Schüssel voll Wasser aus der Regentonne, wärmte es auf dem Herd und wusch mich dann gründlich, als erwarte ich Besuch. Ich kämmte mir sorgfältig die Haare und zog ein sauberes weißes Hemd an. Das Buch, das ich mir dann aus der Bibliothek holte, die »Ars amatoria« von Ovid, stand allerdings im krassen Widerspruch zu diesem symbolischen Akt der Reinheit, über deren Verlust ich auch heute noch grüble, ohne recht zu wissen, weshalb.

Ich gehe durch die Stadt, meine Heimatstadt Florenz. Es ist Palmsonntag. Wir sind viele, die an diesem Sonntag durch die Stadt ziehen, es heißt, wir seien achttausend. Eine Zahl, die niemand begreift, schon gar nicht die jüngsten von uns, die soeben sechs Jahre alt sind. Manche haben sich auch unter uns geschmuggelt, die erst fünf sind, damit sie teilhaben dürfen an diesem Fest, das wir nie vergessen werden.

Wir sind weiß gekleidet, allesamt. Auf dem Kopf tragen wir Kränze aus Olivenzweigen, unsere Haare sind abgeschnitten bis an die Ohren, in der Hand schwenken wir ein rotes Kreuz. Die Banner der Stadtviertel, aus denen wir kommen, werden vorangetragen. Wir, die innocenti, sind mehr als die aus den übrigen Stadtvierteln, allein in diesem Jahr sollen mehr als fünfhundert in die pila gelegt worden sein, wobei man nie weiß, ob es auch stimmt.

Wir führen den Zug an, marschieren gleich hinter dem Tabernakel, auf dem Jesus Christus zu sehen ist. Die Jungen als erste, dahinter die Mädchen, von denen die jüngsten ebenfalls erst sechs Jahre alt sind. Dann kommen die Priester und die priore, die Zunftvorsteher von Florenz. Mit Abstand dann die Eltern derer, die das Glück haben, welche zu besitzen.

Wir rufen: Lang lebe Christus, unser König! Wir schwingen das rote Kreuz, obwohl unsere schwachen Arme bald erlahmen, aber wir halten durch. Wir sind die Jugend, die, auf die es ankommt in dieser Stadt, die von Savonarola, dem frate, regiert wird. Auf uns werden eines Tages alle Lasten ruhen, wir werden sie tragen mit Stolz. Wir gehören Savonarola, er hat es uns gesagt.