In den Gärten von Monserrate - Ingeborg Bayer - E-Book
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In den Gärten von Monserrate E-Book

Ingeborg Bayer

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Beschreibung

Das Abenteuer einer mutigen Frau in einem fremden wie verzaubernden Land: »In den Gärten von Monserrate« von Ingeborg Bayer als eBook bei dotbooks. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die aufgeweckte Lena verbringt ihre Kindheit und Jugend in einem Pfarrhaus auf dem Land. Die geistige Enge und die strengen Regeln des Elternhauses drohen sie zu ersticken, denn selbst ihre zarten Gefühle für ihre große Liebe Cornelius sind verboten. Da erhält Lena einen Brief aus der Fremde: Eine geheimnisvolle Tante, über die in ihrer Familie nie gesprochen wurde, hat ihr ein kleines Haus im fernen Portugal vermacht. Mit gebrochenem Herzen, aber unbändigem Willen tritt Lena eine Reise an, die ihr Leben für immer verändern wird. Während Lena ihr Häuschen renoviert, lernt sie zum ersten Mal, was es bedeutet, sein eigenen Leben zu führen. Doch Lena weiß, dass sie erst dann glücklich sein wird, wenn die Sehnsucht nach ihrer verflossener Liebe erfüllt ist … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der bewegende Roman über den Mut, sein Leben zu leben, wie man will: »In den Gärten von Monserrate« von Ingeborg Bayer. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 778

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Über dieses Buch:

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Die aufgeweckte Lena verbringt ihre Kindheit und Jugend in einem Pfarrhaus auf dem Land. Die geistige Enge und die strengen Regeln des Elternhauses drohen sie zu ersticken, denn selbst ihre zarten Gefühle für ihre große Liebe Cornelius sind verboten. Da erhält Lena einen Brief aus der Fremde: Eine geheimnisvolle Tante, über die in ihrer Familie nie gesprochen wurde, hat ihr ein kleines Haus im fernen Portugal vermacht. Mit gebrochenem Herzen, aber unbändigem Willen tritt Lena eine Reise an, die ihr Leben für immer verändern wird. Während Lena ihr Häuschen renoviert, lernt sie zum ersten Mal, was es bedeutet, sein eigenen Leben zu führen. Doch Lena weiß, dass sie erst dann glücklich sein wird, wenn die Sehnsucht nach ihrer verflossener Liebe erfüllt ist …

Über die Autorin:

Ingeborg Bayer (1927–2017) studierte nach ihrer Ausbildung zur Bibliothekarin Medizin und Hindi. Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie in einem medizinischen Archiv. Ihre Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten wurden vielfach preisgekrönt, unter anderem mit dem Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem deutschen Jugendliteraturpreis und dem Österreichischen Staatspreis.

Ingeborg Bayer veröffentlichte bei dotbooks die folgenden historischen Romane:

»Ärztin einer neuen Zeit«

»Die Buchdruckerin von Köln«

»Der Maler von Florenz«

Weiterhin veröffentlichte sie bei dotbooks ihre Venedig-Trilogie »Die Töchter Venedigs« mit den Einzelbänden:

»Stadt der Tausend Augen«

»Stadt der blauen Paläste«

»Stadt der dunklen Masken«

***

eBook-Neuausgabe April 2021

Copyright © der Originalausgabe 1993 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/schankz, KathySG und AdobeStock/e55evn

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-584-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Ingeborg Bayer

In den Gärten von Monserrate

Roman

dotbooks.

DIE QUINTA DA MADRE DE DEUS1817

Die Haut der Schlange

Die Zikaden überfielen sie.

Ihr schnarrendes, schabendes Geräusch hing über ihr in der Luft, während sie die Postkutsche verließ, sie hatte das Gefühl, als dringe es in alle ihre Poren und als hätten sich hier Tausende dieser Tiere versammelt, um sich wie ein Heuschreckenschwarm auf jeden herabzustürzen, dessen sie habhaft werden konnten.

Sie sind spät gekommen in diesem Sommer, sagte die Frau an der Posthalterstelle, an der sie ausgestiegen war. Sonst sind sie viel früher da. Vielleicht sind sie deswegen so laut.

Lena nickte, obwohl sie nicht sicher war, ob es wirklich so geheißen hatte und nicht einfach: Der Mond geht unter, oder sonstwas. Sie wischte sich den Staub aus dem Gesicht, den ihr der Wind entgegenblies, und dieser Staub, die Hitze und das Zikadengeräusch ließen sie für einen Augenblick daran zweifeln, ob ihre Entscheidung, im Juli hierher zu kommen, eine gute Entscheidung gewesen war.

Sie könne das Gepäck hierlassen, meinte die Frau freundlich, der Sohn werde es gerne bringen, wenn sie ihnen sagen wolle, wo sie zu wohnen gedenke. Es gebe gute Gasthöfe hier.

Sie werde in keinem Gasthof wohnen, sagte Lena zögernd.

Man habe selbstverständlich auch gute und saubere Privatunterkünfte, beeilte sich die Frau zu sagen, sie halte ebenfalls ein sehr schönes Zimmer für Fremde bereit.

Lena band ihren Hut fest und verwirrte dabei die Bänder. Dann sagte sie, wieder nach einigem Zögern, sie wohne in der Quinta da madre de Deus.

Die Frau sah sie an, als erwäge sie, den Wahrheitsgehalt dieser Antwort erst einer Prüfung zu unterziehen, dann nickte sie mit dem Kopf. In der Quinta da madre de Deus, murmelte sie vor sich hin, das sei natürlich etwas anderes.

Lena hatte das Gefühl, daß sich das Gesicht der Posthalterin veränderte, daß die Miene um eine Spur kühler wurde, als die Frau ihr den Weg erklärte, aber vielleicht bildete sie sich das nur ein.

Zunächst über den Platz, links an der Kirche vorbei, den Berg hoch und dann bis zu der Stelle, an der sich der Weg gabelt. Rechts sei die pousada, in der Byron gewohnt habe, und links gehe es in einer engen Kurve weiter hinauf.

Lena bedankte sich, war sich bewußt, daß ihre neu gelernte Sprache noch keinesfalls so war, daß sie sicher sein konnte, daß man sie auch verstand. Aber sie würde Zeit haben, um zu lernen, was sie lernen wollte.

Quinta da madre de Deus. Sie sah das Schild nicht sofort, da es halb unter einem Gewirr von lila Blüten verborgen war. Sie stellte ihren Korb mit den Eßwaren und den Dingen, die sie für die Nacht brauchte, auf den Boden und schob die Zweige zur Seite. Dann bog sie, den Korb wieder am Arm, in den engen Pfad ein, der der Zugang zu dem Haus sein mußte.

Es war inzwischen dämmrig geworden – es mochte neun Uhr sein oder gar noch später –, und sie war unsicher, wie sie das Haus vorfinden würde. Es sei unbewohnt gewesen, hatte der Notar gesagt, das ganze letzte Jahr über habe niemand darin gelebt, und es sei ohnehin völlig ungewiß, was sie »da unten« vorfinden werde. »Da unten« hieß, daß alle Maßstäbe, die bei ihnen zu Hause in ihrem schwäbischen Dorf galten, dort offenbar nicht gültig waren. Und der Vater hatte hinzugefügt, er könne sich nicht vorstellen, wie sie den Winter in diesem Land überleben wolle, ewig scheine schließlich »dort unten« die Sonne auch nicht.

Sie suchte die Zypressenhecke, die angeblich das Grundstück begrenzte, aber sie fand sie ebensowenig wie das große Eingangstor. Statt dessen stand sie dann irgendwann vor einer windschiefen, halb verfallenen Gartentür, die träge in den Angeln quietschte, als sie sie behutsam aufdrückte und hinter sich wieder schloß.

Das, was vor ihr lag, mußte einst ein schöner, parkähnlicher Garten gewesen sein, nun war es dies ganz gewiß nicht mehr, und es schien, als sei jegliche Ordnung darin verlorengegangen. Die Kronen der Bäume hingen zum Teil auf den Boden, Sträucher wucherten mehrere Meter hoch, und ihre Zweige vereinigten sich mit denen der Bäume zu einem grünen Dschungeldach, das kaum noch Licht durchließ. Falls es irgendwann einmal Wege gegeben hatte, so ließen sie sich jetzt im Dämmerlicht nur noch als Reste von hellem Kies auf dem Untergrund erschließen. Wenn man diese Gärten auch nur einen Monat unbeaufsichtigt läßt, dann sehen sie aus, als habe man sie jahrelang verlassen, hatte Tante Lydia einmal gesagt, und Lena war sicher, daß dies hier zutraf.

Sie tastete sich langsam zwischen Brombeerhecken hindurch und befreite sich von Rosenkaskaden, die sich an ihrem Kleid festhakten. Brennesseln brannten auf ihren Händen wie Feuer, und eine abgestreifte Schlangenhaut schob sich plötzlich über ihren Schuh. Sie hob sie auf, die papierartige Hülle hatte eine wunderschöne Zeichnung, und Lena hätte gerne gewußt, welcher Schlange die Haut einst gehört hatte.

Dann stand das Haus plötzlich vor ihr, ohne daß es sich durch eine Verbreiterung des Weges angekündigt hätte. Es wuchs inmitten einer Lichtung empor, die der Urwald noch ausgespart hatte, und in der Abenddämmerung sah es wie ein Haus ohne jegliche Farbe aus oder wie ein Haus mit unendlich vielen Farben: verwaschenes Blau, terrakottafarbenes Rot, das sich beim Abblättem in ein blasses Lila verwandelt hatte; und der hohe Sockel war wohl einstmals in einem dunklen Blau gehalten, das den Eindruck vermittelte, als stehe das Haus auf Stelzen.

Sie hatte es sich größer vorgestellt, herrschaftlicher, mit einer breiten Veranda und einer mächtigen Pforte, obwohl davon nie die Rede gewesen war. Auch einen Balkon hatte sie sich dazuphantasiert, aber zunächst mußte sie sich eingestehen, daß sie nicht einmal wußte, was bei diesem Haus hinten oder vorne war, und sie konnte sich nur vorstellen, daß Lydias Liebe zu diesem Haus zu einer verklärten Darstellung geführt hatte, die die Wirklichkeit weit übertraf.

Sie nahm den Schlüssel, den sie die ganze Reise über wie eine Kostbarkeit gehütet hatte, aus ihrem Korb, aber er paßte nicht in das Schloß. Sein Bart klemmte, und sie hatte Mühe, ihn wieder herauszuziehen. Sie ging um das Haus herum und stellte fest, daß sie auf der Rückseite gewesen sein mußte, denn nun sah sie in einiger Entfernung am Ende eines breiten Weges das Portal, das sie zuvor vermißt hatte. In der Dämmerung hatte es den Anschein, als seien seine beiden Flügel gegeneinander verschoben und mit einer Kette versperrt. Sie schob den Schlüssel in das Schloß der Haustür, die sich nach einigem Knarren öffnete.

Das erste, was sie wahrnahm, war ein Geruch, der sie an etwas erinnerte, das ziemlich weit zurücklag in ihrer Kindheit. Fast schien es ihr so weit zurückzuliegen wie jene Zeit, als sie noch nicht in diesem schwäbischen Dorf wohnten, sondern in Jena, und als sei es im Hause ihres Großvaters gewesen.

Sie hätte später nicht mehr sagen können, wie lange sie unter der offenen Eingangstür dieses Hauses gestanden hatte. Sie verspürte nicht das Bedürfnis weiterzugehen, sie blieb, wo sie war, und dachte nur immer den einen Satz: Es ist mein Haus. Sie würde zum erstenmal in ihrem Leben nicht teilen müssen, mit niemandem, und sie würde sich nicht vorstellen müssen, daß das Dorf mit Fingern auf sie zeigt, weil ein ganzes Haus für einen Menschen allein zu groß ist und weil es einer Pfarrerstochter ohnehin nicht zukommt, etwas zu besitzen, was sie aus der Menge der anderen heraushebt. Sie hatte den spontanen Wunsch, dieses Haus zu küssen, so wie der Papst die Heilige Pforte küßt, aber sie versagte sich diesen Wunsch, weil sie bereits jetzt ahnte, daß sie ihre Gefühle würde im Zaum halten müssen, um sich nicht zu verlieren. Ich werde mit dir reden, murmelte sie vor sich hin, reden, ganz gewiß.

Sie stellte ihren Korb im Patio, dessen Rund einige lebensgroße Gipsfiguren bevölkerten, ab und ging dann auf jene Tür zu, die vermutlich zur Küche führte, da der Geruch aus dieser Richtung zu kommen schien.

Aber die Küche war ordentlich aufgeräumt, war wohl kaum benutzt worden in der letzten Zeit, auch wenn sie den Geruch hier noch stärker wahrnahm als zuvor. Sie trat auf die winzige Veranda hinaus, die diese Bezeichnung eigentlich nicht verdiente, und fand auf einem Tisch eine Schale mit getrockneten Rosenblättern. Sie schob ihre Hand unter die Blätter, nahm einige heraus und hielt sie an die Nase. Es war der gleiche Geruch, den sie von der Großmutter in Jena in Erinnerung hatte, wenn diese im Sommer die Blütenblätter in Öl legte, um Rosenöl herzustellen, das sie an Weihnachten an ihre Enkel und Enkelinnen verschenkte.

Sie verließ die Küche und entschied sich als nächstes für eine Tür, die so aussah, als könne sie in den Wohnraum führen. Sie blieb an der Schwelle stehen. Ihr Blick glitt über die hohen Ledersessel, sie hatte erwartet, weiße Überzüge vorzufinden, weil sie angenommen hatte, daß hier schon lange kein Leben mehr stattgefunden habe, aber sie hatte sich getäuscht. Auf einem kleinen Tischchen am Fenster lag ein Stickrahmen, der den Eindruck erweckte, als habe soeben noch jemand an ihm gestickt, auf dem Kanapee sah sie ein aufgeschlagenes Buch und ein Lorgnon, und auf einem Klavier stand eine Garnitur aus zwei Wassergläsern und einer Karaffe. Die hohe Standuhr zeigte die zweite Stunde. Lena öffnete ihre Tür und zog die schweren Gewichte, die den Boden berührt hatten, nach oben. Dann stellte sie die Zeiger nach ihrer Uhr, die sie am Gürtel trug. Es war inzwischen fast zehn geworden, und sie überlegte, daß es gut sein würde, sich nach einer Petroleumlampe umzusehen.

Die Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte, knarrte ebenfalls und endete in einem Halbrund, von dem aus die einzelnen Zimmer abgingen. Der erste Raum, den sie betrat, ein kleines Turmzimmer, hatte offenbar als Näh- und Bügelzimmer gedient, der zweite konnte Lydias Schlafzimmer gewesen sein. Hier stand ein breites, verschnörkeltes Eisenbett mit Baldachin und Moskitonetz, die Matratzen waren hochgestellt und gegen die Wand gelehnt. Sie legte die Matratzen um und spürte plötzlich Müdigkeit in sich aufsteigen. Acht Stunden war sie unterwegs gewesen, hatte die Postkutsche gewechselt und wenig gegessen, weil sie noch immer nicht ganz sicher war, ob sie nach ihrer Krankheit wieder ungestraft alles essen durfte. Sie öffnete einen großen Schrank, der fast die ganze Zimmerbreite einnahm, suchte nach Bettzeug und konnte kaum fassen, daß es Wäsche dieser Art gab: weiches Linnen mit breiten Spitzenborten und Kopfkissen, die ganz aus Spitze zu bestehen schienen. Die Handtücher waren nicht zu vergleichen mit denen, die es bei ihnen zu Hause gegeben hatte; steif vom häufigen Waschen, konnten sie aus Sparsamkeitsgründen keinesfalls jedes Jahr erneuert werden, egal, wie hart sie waren.

Sie bezog das Bett, überlegte, wie sie es mit dem Essen halten solle, entschied aber dann, daß sie zu müde war, um irgend etwas zu tun, und nicht einmal die Vorstellung, daß sie nicht abgeschlossen hatte und ihr Gepäck inzwischen möglicherweise vor der Haustür stand, konnte sie dazu bringen, noch einmal die Treppe hinunterzusteigen. Sie legte ihre Kleider ab, goß aus einem Krug, der wunderbarerweise gefüllt war, Wasser in eine Waschschüssel und reinigte sich das Gesicht vom Staub. Dann legte sie sich unter den Baldachin und zog die dünne spitzengesäumte Decke über ihre Arme.

Kurz bevor sie einschlief, sah sie im schwindenden Licht gegenüber dem Bett ein Bild, das Feuer darstellte. Rotglühendes Feuer, das so lebendig gemalt war, daß man den Eindruck gewann, es schwappe in wenigen Augenblicken in dieses Zimmer herein. Lava, dachte sie noch, bevor sie endgültig einschlief, es wird wohl Lava sein. Lydias Lava.

Sie wurde mitten in der Nacht von einem Geräusch geweckt, das sie zunächst für das Gejaule eines Hundes hielt und einige Sekunden später für das Heulen eines Wolfes. Sie lauschte in die Nacht hinaus, dann dachte sie, daß sie sich verhört haben müsse, weil nur das Geräusch der Zikaden zu hören war, die mit der gleichen Lautstärke wie am Abend ihr Schaben in die Nacht hinausstießen. Sie setzte sich im Bett hoch, stand dann auf und ging ans Fenster, das sie geschlossen hatte, weil das Kerzenlicht Myriaden von Mücken anzog.

Sie horchte hinaus. Das Heulen des Hundes oder Wolfes war nicht mehr zu vernehmen, dagegen schien ein anderes Geräusch aus dem hinteren Teil des Gartens zu kommen, und als sie genauer lauschte, stellte sie fest, daß es wie ein Wasserfall klang oder wie irgend etwas, das auf Wasser aufschlug.

Sie stützte sich auf die Fensterbank, die ebenfalls knarrte, und Lena überlegte, ob und wie sie dieses Haus je von seinem Knarren befreien konnte, aber vermutlich wollte es gar nicht davon befreit sein, und es lag an ihr, sich diesem Knarren zu fügen.

Es war ihr klar, daß sie angesichts dieser beiden Geräusche nicht mehr weiterschlafen konnte, und so holte sie ihre Schuhe, schüttelte sie aus – wegen der Skorpione, wie es Tante Lydia empfohlen hatte – und stieg die Treppe hinunter, um durch die hintere Tür in den Garten zu gehen. Die heiße Luft kam ihr mit einem Schwall entgegen, so daß sie versucht war, das Nachthemd auszuziehen.

Der Mond war nicht ganz voll, ein dünnes Segment fehlte noch. Er tauchte den Garten in ein milchiges Licht, das jeden Baum und jeden Strauch bis zur Unwirklichkeit veränderte. Auch Lena kam sich in diesem Augenblick ganz und gar unwirklich vor. Nach monatelangen Reisestrapazen plötzlich hier zu sein, kam ihr unrealistisch vor, wobei dieses »hier« bedeutete, daß alle Brücken nach »dort« so gründlich abgebrochen waren, als hätten sie nie existiert.

Sie ging durch den Garten wie durch einen Märchenwald. Sie berührte die Pflanzen, die den schmalen Weg zu überwuchern drohten, und stellte fest, daß das schabende Geräusch der Zikaden plötzlich verstummte. Daß eine der Stimmen nach der anderen abbrach, ein kurzes Nachklappen noch, dann löste sich das Orchester auf, erstarb. Die Stille war zunächst erdrückend, dann wurde sie von einem leichten Platschen durchbrochen. Lena horchte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, aber es wiederholte sich nicht. Sie schob die Zweige zurück, die ihr entgegenschlugen und ging weiter, während das Haus langsam hinter den Bäumen verschwand. Eine Lichtung tat sich auf, ihr Blick ging nach oben und machte die Spitzen sehr hoher Bäume aus, bei denen es sich nur um jene Baumfarne handeln konnte, die in ihrem Elternhaus bei Lydias Berichten von diesem Garten stets Anlaß zu Spott gewesen waren. Als sie weiterging, hörte sie das Platschen ein zweites Mal, diesmal um einiges näher. Sie kam an eine Wegbiegung, ging um eine Gruppe von Buchsbäumen vor einem kleinen Pavillon herum und stand dann vor einem Bassin, dessen ziemlich großes Oval sich vor einer Mauer aus alten verwaschenen Wandfliesen, azulejos, erstreckte.

Sie ließ das Bild auf sich wirken, als stünde sie vor einem Gemälde, das Ruhe ausstrahlte. Sie sah das Mondlicht, das wie ein sanftes Feuerwerk auf die Bäume herabfiel, sich im Wasser brach, von dort zurückstrahlte und auf die azulejos wilde Schatten malte, die ganz gewiß mit den ursprünglichen Bildern auf den alten Kacheln nichts zu tun hatten. Sie kam sich vor wie in einem Traum, von dem sie sich wünschte, daß er eine ganze Nacht lang dauerte.

Als sie die Bewegung am Ende des Beckens auf der Mauer wahrnahm, vermutete sie zunächst, es handle sich um einen Nachtvogel, den sie aufgestöbert hatte. Aber dann sah sie, daß es eine menschliche Gestalt war, die genau in dem Augenblick, als sie hochblickte, in das Wasser sprang.

Ihre erste Reaktion war, zu fliehen. Die Gestalt gehörte, auch wenn sie sie nur vage hatte erkennen können, mit Sicherheit einem Mann. Und ein Mann, der nachts in ein Bassin sprang, das auf einem fremden Grundstück lag, konnte kaum ein Mensch sein, dem man gerne begegnete. Sie tat einen Schritt nach rückwärts und dann noch einen, weil sie sah, daß die Gestalt mit kräftigen Zügen auf sie zuschwamm. Sie glitt geschmeidig durch das Wasser, ähnlich einem Panther, der auf Nahrungssuche den Dschungel durchstreift, sie verschwand mitunter in einem grünen Teppich, der wohl aus Wasserlinsen und Algen bestand. Als sie den Rand des Beckens erreicht hatte, schwang sie sich über die Einfassung und blieb in einiger Entfernung von Lena stehen.

Sie hatte kaum erwartet oder einen Gedanken darauf verschwendet, daß diese Gestalt auch nur ein einziges Stück Kleidung tragen würde, und sie wunderte sich, als die Feststellung, daß sie wirklich nackt war, seltsamerweise nichts in ihr auslöste. Weder Schreck noch Scham, noch Tugendhaftigkeit oder sonst irgend etwas, was man ein Leben lang versucht hatte, ein Stück ihrer Persönlichkeit werden zu lassen. Und so stand sie da und starrte auf diese Gestalt, die, wie sie endgültig feststellte, zwar ein Mann war, aber ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind – und die Gestalt blieb ebenfalls stehen und schaute auf sie. Sie sah zu, wie das Wasser ganz langsam an seinem Körper herunterlief und sich auf dem unebenen Boden zu Bächen vereinte, die in ihre Richtung flossen. Sonst geschah nichts. Der Mann oder Junge stand reglos, fast wie eine der Statuen im Patio des Hauses.

Das Wasser ist warm, sagte er nach einer ganzen Weile, nachdem sie bereits angenommen hatte, sie würden nie miteinander reden.

Sie versuchte zu antworten, irgend etwas, merkte dann aber, daß ihr nichts einfallen wollte.

Es ist weicher als am Tag, sagte er, abermals nach einer ganzen Weile, ohne seinen Standort zu ändern.

Wieder versuchte sie zu antworten, aber nichts, was ihr in den Kopf kam, ergab einen Sinn. Also sah sie ihn weiterhin an und versuchte, die Augen auf seinen Kopf zu fixieren. Aber es gelang ihr nicht, und sie stellte voller Verwundern fest, daß ihr Blick ganz langsam nach unten glitt.

Wenn Sie die Wasserpflanzen nicht mögen, kann ich sie entfernen, sagte er, während sie ihn immer noch sprachlos anstarrte. Manche Menschen haben etwas gegen die Berührung unter Wasser.

Sie wollte sagen, ich nicht, aber irgend etwas hielt sie zurück, es zu sagen, überhaupt ein Wort zu sagen.

Und dann plötzlich, ohne jeden Zusammenhang, fiel ihr die Schlangenhaut ein, die sie am Abend im Garten gefunden hatte. Und sie wußte ebenso plötzlich, daß die Schlangenhaut in dieser Sekunde etwas mit ihr zu tun hatte. Daß sie im Augenblick wohl auch so etwas wie eine Häutung durchlief, daß ihr die alte Haut zu eng zu werden schien, an allen Nähten riß, brüchig wurde, und daß es wohl an der Zeit war, Hefezöpfe und Metzelsuppen, die Pfarrhausschwätzer und die Censores, die Rute auf dem Tisch und die gefürchteten Kanzelabkündigungen für immer und alle Zeit hinter sich zu lassen.

Ist es das erste Mal? fragte der Junge, nachdem sie immer noch schweigend vor ihm stand, und sie nahm an, daß er dabei lächelte, obwohl der Schatten der Bäume sein Gesicht weitgehend in Dunkel hüllte. Was? stieß sie hervor, als habe sie bisher alle Kraft für dieses eine Wort gesammelt.

Das hier, sagte er und deutete mit einer weitausholenden Gebärde an seinem Körper hinab. »Und sie waren beide nacket, der Mensch und sein Weib, und sie schämeten sich nicht.«

Für einen kurzen Augenblick blieb sie erstarrt stehen, dann drehte sie sich abrupt um und lief zum Haus.

Als sie wieder unter ihre Decke schlüpfte, mußte sie lachen. Wahrscheinlich hatte sie alles falsch verstanden, und es hatte sich gar nicht um den Satz aus der Bibel gehandelt, sondern auch nur wieder geheißen, »Die Zikaden sind spät gekommen in diesem Sommer«, oder »Der Mond geht unter«.

Sie löschte die Kerze, schloß die Augen, aber kurz bevor sie endgültig in den Schlaf glitt, hatte sie nochmals das Gefühl, entfernt das Heulen eines Wolfes zu hören.

Nächtliches Zusammenschlüpfen

»Nächtliches Zusammenschlüpfen« – ein Begriff, der über ihrer Kindheit im Pfarrhaus gehangen hatte wie ein Schwert an einem seidenen Faden.

Sie hatte diesen Begriff in unterschiedlichen Zeiträumen erlebt, aber ganz gleich, wann sie ihn erlebt hatte, er war stets etwas gewesen, das ihr, der Jüngsten, mit Gefahr verbunden schien.

In ihrer frühen Kindheit waren es die vier Schwestern – die Erstgeborene, Hilda, fast zwanzig Jahre älter als Lena –, die diesen Begriff voll und ganz für sich beanspruchten. Sie gebrauchten ihn nur flüsternd und erstarrten im Gespräch, wenn sie auch nur den Raum betrat.

Während ihrer Schulzeit hatte ihr die Freundin Bertha, deren Eltern ein kleines Geschäft im Dorf besaßen, in dem man von der Kerze bis zum Ofenschirm alles bekommen konnte, Dinge zugetragen, die sie im Laden gehört hatte. Sie, Lena, hatte nicht immer alles ganz verstanden, was Bertha ihr berichtete, aber sie gab es so weiter, wie es ihr richtig schien. Ebenfalls flüsternd und zugleich voller Triumph, weil nun auch sie über Wissen verfügte, das ihr, dem Pfarrerskind, dessen Ansehen im allgemeinen nicht sehr groß war, einen Vorsprung unter ihren Altersgenossen einbrachte.

Noch später dann, als sie zwar schon älter, aber noch keinesfalls in die Runde ihrer flüsternden Schwestern aufgenommen war, gab es eine Zeit, in der sie mit der Pfarrmagd Selma paktierte, um hier bisweilen zu erfahren, was sie offenbar nicht erfahren sollte, weil es »schädlich« für sie war, wie es hieß. Aber immerhin erfuhr sie hier zum erstenmal, wann, wo und zwischen wem dieses »nächtliche Zusammenschlüpfen« stattfand, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was es bedeutete. Verstehst du, die Klara mit dem Schuster Karl, sagte Selma dann und hielt die Hand vor den Mund, auch wenn niemand in der Nähe war, so daß Lena bisweilen das Gefühl beschlich, daß sich selbst die Wände für diese allem Anschein nach hochaufregende Sache interessierten.

Es gab einen zweiten Begriff, der von Geheimnis umwoben war, im Rang aber eindeutig hinter den ersten zurückfiel. Er hieß »Zusammenwandel lediger Personen«. Beide Begriffe erhielten einmal im Monat, an einem bestimmten Sonntag anläßlich der sogenannten Konvente, eine Bedeutung, die entschieden in die Richtung von Hochverrat wies: Dann nämlich traf sich in der Studierstube des Vaters hinter verschlossener Tür eine Runde von Männern, denen es zukam, über beide Begriffe zu diskutieren. Der Schultheiß gehörte dazu nebst zwei weiteren Bürgern aus dem Dorf, die jedoch wechselten. Das seien die heimlichen Censores, die der Herr Pfarrer bestimme, sagte Selma, und es sei von höchster Wichtigkeit für das ganze Dorf zu wissen, wer diese Männer waren. Denn nicht einmal die Pfarrhausschwätzer – allen voran die alte Luis, die mindestens einmal am Tag irgendwo am Gartenzaun stand, um »brühwarm« zu berichten, was wo geschehen war oder geschehen würde, wenn man da nicht rechtzeitig einen Riegel vorschob – hatten dasselbe Ansehen wie diese Männer.

An diesen Sonntagen wurde dann vor allem darüber diskutiert, ob und wann der »Zusammenwandel lediger Personen« in »Nächtliches Zusammenschlüpfen« übergegangen war und welche Maßnahmen gegen diese Sünde unternommen werden mußte. Selbstverständlich ging es bei diesen Konventen auch um andere Dinge, wer zum Beispiel fluchte, falsch spielte, Meineide schwor, den Gottesdienst versäumte und was es sonst noch an Verfehlungen gab innerhalb eines Monats, und Selma hatte jedesmal ihren großen Tag, weil sie die Hauptstütze war, wenn es darum ging zu erfahren, was sich hinter der verschlossenen Tür des Studierzimmers abspielte. Selma hatte nämlich den Mut zu horchen, einen Mut, den niemand sonst aufbrachte.

Selma fiel es nicht besonders schwer, dies zu tun, weil es tausend Gründe gab, an der Studierstube vorbeizugehen, die genau auf dem Weg zu ihrer Dachkammer lag. In der Küche warteten indessen alle anderen gierig darauf, was Selma ihnen an Neuigkeiten herunterbringen würde.

Nun sag schon! Wer war es diesmal? wollten sie ungeduldig wissen, kaum daß Selma die Küchentür hinter sich geschlossen hatte. Und sie erzählte es ihnen flüsternd, während sie mit roten Backen zuhörten und jedesmal beschlossen, gleich am nächsten Tag die Betroffenen ins Bild zu setzen. Aber Selma hielt auf ihre Horcherehre und ließ sie stets schwören, daß alles innerhalb des Hauses bleiben müsse, sonst würde sie nie wieder auch nur ein einziges Wort weitererzählen.

Von Selma wußten sie auch, wie der Körper des schielenden Vikars beschaffen war. Sie wußten es freilich nicht mit letzter Genauigkeit, denn natürlich hatte Selma den Körper des Vikars nie gesehen, so wie sie alle nie einen Mann ohne Bekleidung gesehen hatten, und alles, worüber sie mit rotem Kopf diskutieren konnten, waren daher nichts weiter als Mutmaßungen.

Es waren vor allem die Haare, die ein nie enden wollendes Gesprächsthema abgaben, und Lena hatte hierbei den Vorteil, daß sie auch noch Berthas Erfahrungen miteinbringen konnte. Ihre Freundin hatte einen Bruder, der offenbar keine Haare aufweisen konnte, zumindest nicht dort, wo sie beim Vikar zutage traten. Auf seinen Handrücken zum Beispiel oder, wenn er keinen Talar trug, am Ansatz seines Halses. Diese Brusthaare hatten eine Kräuselung, die sie sonst nur von Bildern von Schwarzen her kannten, und sie waren blond bis dunkelblond, während die Haare auf dem Handrücken nahezu schwarz waren.

Wie der Vikar jenseits des Talars aussah, also weiter unten, wo er ihren neugierigen Blicken verborgen blieb, bot jahrelang Anlaß zu Vermutungen, die sie gemeinsam mit Bertha und Selma anstellte, weil sie ganz sicher zu sein glaubte, daß ihre Schwestern nie auch nur einen einzigen Gedanken an diesen Vikarkörper verschwendeten.

Die Phantasien verstiegen sich dabei bis in die höchsten Höhen, und das Grübeln über den Farbunterschied wurde nur noch von der Frage übertroffen, ob es stimmte, was irgendwer behauptet hatte, daß Männer mit so vielen Haaren wie der Vikar – auch sein Bart nahm mächtige Ausmaße an und verdeckte schon nahezu sein Gesicht – sehr »starke« Männer waren, wobei wiederum völlig offen blieb, was damit gemeint war.

Selbstverständlich hatte sie nie versucht, sich den Körper des Vaters bildhaft vorzustellen. Bereits als kleines Kind wußte sie, daß der Vater Gott war. Sobald er seinen schwarzen Talar anzog, gemessenen Schrittes aus seiner Schlafkammer trat und die Treppe herunterstieg, gehörte er nicht mehr zu ihnen, und selbst die Mutter wagte nur noch in Ausnahmefällen, ihren Mann mit banalen Dingen zu belästigen. Er gehörte nun zu einer anderen Welt, einer Welt, zu der gewöhnliche Sterbliche keinen Zutritt hatten, Kinder schon gar nicht. Wenn er dann anschließend in der Kirche seine Predigt hielt, von der Kanzel herab als Sittenrichter auftrat und die Sünder an den Pranger stellte, so daß sie kaum mehr zu atmen wagten, dann konnte er nichts anderes sein als Gott. Trug er keinen Talar, sondern ganz normale Kleidung wie die anderen Männer des Dorfes auch, so war er für sie trotzdem Gott, weil er schließlich die gleiche tiefe Stimme hatte, die gleichen Bewegungen, den gleichen Gang wie im Amtskleid. Und so blieb er während ihrer ganzen frühen Kindheit immer Gott für sie, egal ob mit oder ohne Talar.

Seine Gottgleichheit wurde erst angekratzt, ja sogar in Frage gestellt, als sie eines Tages mit Bertha Streit hatte und die Freundin, nachdem beide alle ihre Munition verschossen hatten und ihnen die Argumente ausgegangen waren, entrüstet sagte: der Herr Pfarrer mache doch das, was bei den anderen verdammt werde, mit seiner Frau auch.

Sie waren nahe daran, sich zu verprügeln, was sie bisher noch nie getan hatten, als Selma zufällig vorbeikam, eingriff und nach dem Grund des Streites fragte.

Lena brauchte eine Weile, um die Ursache ihres Streites zu erklären – Bertha war inzwischen davongerannt –, und sie war sicher, daß Selma nicht minder entrüstet reagieren würde wie sie. Aber die Pfarrmagd entrüstete sich nicht, noch wurde sie verlegen. Selma lachte lediglich und strich ihr übers Haar, das war alles. Und so lag der erschreckende Schluß nahe, daß dieses »nächtliche Zusammenschlüpfen« offenbar doch nicht nur draußen im Dorf stattfand, sondern auch bei ihnen daheim, in der Schlafkammer der Eltern.

Die Erkenntnis hinterließ in dem kindlichen Vertrauen, das sie bis dahin ihrem Vater und ihrer Mutter entgegengebracht hatte, einen empfindlichen Riß. Und sie brauchte Wochen, ja Monate, um sich damit abzufinden, daß das Podest, auf das sie ihren Vater gestellt hatte, nicht so hoch sein konnte, wie sie sich dies immer gewünscht hatte. Daß ein Pfarrer, der mit solch irdischem Makel behaftet war, nicht mehr Gott sein konnte, ergab sich nahezu zwangsläufig.

Adriana

Sie erwachte am anderen Morgen von Geräuschen und Gerüchen, die ihr fremd erschienen.

Sie kletterte aus dem Bett, ging zum Fenster hinüber und sah, wie in einem Garten schräg gegenüber ein Mann mit einem Stecken auf irgendwelche Bäume einschlug. Zunächst hielt sie die zu Boden fallenden Früchte für Zwetschgen, dann sah sie, daß sie dafür zu klein waren, und so nahm sie an, daß es sich um Oliven handelte.

Die Gerüche, die zur ihr heraufstiegen, waren der Geruch von Herdfeuer und der Duft von etwas Gebackenem, das sie an Pfannkuchen erinnerte. Sie drangen durch den Spalt unter ihrer Tür ins Zimmer, konnten also nur aus ihrem Hause sein, so unwahrscheinlich dies auch erscheinen mochte.

Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel und stieg die knarrende Treppe hinunter. In der Küche stand eine Frau mit dem Rücken zur offenen Tür und ließ etwas in einen Topf fallen, in dem sich siedendes Fett befinden mußte. Lena blieb unschlüssig stehen, bis sich die Frau umdrehte und bei ihrem Anblick fast den Schöpflöffel aus der Hand fallen ließ. Der Wortschwall, der nun über sie hinwegging, in Portugiesisch, war gewaltig, aber irgendwie glaubte sie ihm entnehmen zu können, daß diese Frau, die offenbar Adriana hieß, schon für Tante Lydia stets das Frühstück gerichtet hatte, wenn diese von ihren Reisen zurückkam und noch keine Lebensmittel im Haus hatte.

Ob es ihr recht sei, fragte die Frau freundlich, daß dies so bleibe. Die Posthalterin habe ihr gesagt, daß sie da sei.

Lena nickte, fügte aber hinzu, daß sie ganz gewiß vorerst nicht auf Reisen gehen werde, sie sei vielmehr froh, gut angekommen zu sein nach dieser langen Strapaze. Sie sprach langsam, wiederholte bisweilen die Worte, da sie keinesfalls sicher sein konnte, daß das, was sie sagte, für andere verständlich war. Aber offenbar mußte es ihr gelungen sein, denn die Frau stellte rasch einen Teller auf den Tisch, auf dem sie bereits eine Tischdecke ausgebreitet hatte, und füllte in heißem Fett gebackene Apfelkringel in eine Schüssel. Es war das Lieblingsgericht Ihrer Tante, sagte sie und ging zum Herd zurück.

Lena setzte sich und bat Adriana, sich zu ihr zu setzen, aber Adriana lehnte ab. Es zieme sich nicht, sagte sie entschieden, und sie habe auch bei der Tante nie mitgegessen. So unterhielten sie sich von Tisch zu Herd. Adriana erklärte, sie wolle sich nachher um das Haus kümmern, da das Fräulein doch sicher in die Stadt hinunterwolle. Als sie sah, daß Lena zu überlegen schien, fügte sie rasch hinzu: Wissen Sie, es war immer so. Ich bekomme – sie verbesserte sich –, ich bekam im Winter immer Brennholz, und von den Oliven durfte ich mir abschlagen, soviel ich haben wollte. Lena könne also diese kleinen Dienste ruhig annehmen, fuhr sie fort, falls sie nicht alles ändern wolle, wofür sie Verständnis hätte.

Nein, nein, wehrte Lena ab, es soll alles so bleiben, wie es auch zu den Zeiten meiner Tante war.

Draußen vor dem Haus war das Knirschen eines Karrens zu hören, der über den Kies fuhr. Adriana ging zum Fenster und sagte, es sei der Sohn der Posthalterin, der das Gepäck bringe, gestern abend sei es wohl zu spät dafür gewesen.

Lena nickte, wollte aufstehen, um ein Trinkgeld zu holen, aber Adriana winkte ab und ging zu dem Küchenschrank, aus dem sie eine alte, verbeulte Dose nahm. Hierin habe ihre Tante immer das Kleingeld aufbewahrt für solche Zwecke.

Lena aß die Apfelkringel, schmierte Marmelade auf das frischgebackene Brot, das Adriana mitgebracht hatte, und wehrte sich dann lachend dagegen, noch mehr zu essen, da sie sonst in den Ort hinunterrollen könne.

Adriana lachte mit und holte dann aus ihrer Tasche einen Zettel, den sie auf den Tisch legte. Sie habe bereits aufgeschrieben, was alles fehle im Haus. Drunten sei in jener schmalen Gasse, die zu dem Hauptplatz hinunterführe, ein Geschäft, das alles habe, was nötig sei. Lena brauche den Zettel nur abzugeben, die Sachen würden dann gebracht.

Lena stand auf, bedankte sich für das gute Morgenessen, nahm den Zettel an sich und ging zur Küchentür. Sie hatte die Klinke bereits in der Hand, als Adriana sie zurückhielt. Wenn Theodor Sie stört, müssen Sie es mir sagen, meinte sie leise. Er kann sich schlecht damit abfinden, daß Ihre Tante nicht mehr lebt.

Lena schaute Adriana fragend an. Ich kenne hier niemand, der Theodor heißt, sagte sie. Genaugenommen habe sie bis jetzt außer Adriana einen einzigen Menschen kennengelernt, und das sei die Frau des Posthalters.

Sie kennen ihn schon, sagte Adriana verdrießlich. Sie habe schließlich gesehen, von ihrem eigenen Fenster aus habe sie es gesehen, wie Theodor in das Becken gesprungen sei. Heute nacht. Ja, heute nacht, wiederholte sie zornig, als Lena sie verblüfft anschaute. Und er sei gesprungen ohne ..., sie zögerte einen Augenblick, dann stieß sie es hervor: ohne Beinkleider. Sie starrte Lena abwartend an, und als keine Reaktion kam, fügte sie hinzu, und sie tat es beinahe flüsternd: nackt. Er war ganz und gar nackt. So, wie ihn Gott geschaffen hat.

Sintra

Sie fand das Geschäft, das ihr Adriana beschrieben hatte, nicht sofort, da es schmal und engbrüstig zwischen den Häusern einer steilen Gasse eingezwängt war. Der Laden war zu dieser Stunde gut besucht, so daß die junge Frau, die bediente, alle Hände voll zu tun hatte, um die Kunden zufriedenzustellen.

Lena wartete, bis sie an der Reihe war, und gab dann Adrianas Bestellzettel ab. Die junge Frau sah sie prüfend, jedoch freundlich an.

Lena erklärte, wer sie sei, da die Frau nach einiger Zeit den Zettel immer noch las. Adriana hat gesagt, fuhr Lena fort, Sie würden die Waren zusenden.

Die Frau nickte und sagte, bis zum Nachmittag werde sie alles beisammen haben, am Abend seien die Sachen bei ihr oben. Ob sie sonst noch etwas brauche.

Ja, sagte sie, sie hätte gerne eine Beschreibung der Stadt und der Umgebung, sie sei erst gestern angekommen und kenne sich noch nicht gut aus.

Die Frau suchte nach einem Buch und gab es ihr in die Hand. Als Lena ihren Geldbeutel aus der Tasche ziehen wollte, sah sie eine alte Frau, die den Kopf aus dem Hinterstübchen steckte. Sie wollen die Farben abholen? fragte sie erwartungsvoll. Nicht wahr? Sie wollen doch ganz gewiß Senhora Lydias Farben abholen, die sie gestern bestellt hat. Ich hole sie sofort.

Die junge Frau zuckte zusammen, ging hastig zu der Tür und schob die Alte behutsam zurück. Sie bringt die Dinge durcheinander, sagte sie dann und deutete mit einer entschuldigenden Gebärde an ihren Kopf.

Lena schaute irritiert zu der Tür, unter der die Alte soeben ein zweites Mal erschien, diesmal mit einem kleinen Korb, in dem Farbtuben lagen.

Sie hat sie doch bestellt, sagte sie und schaute ängstlich zu der jungen Frau, die vermutlich ihre Tochter war. Wir haben sie extra aus Lisboa kommen lassen, nicht wahr?

Die junge Frau seufzte und versuchte, die Alte abermals in das Zimmer zurückzuschieben. Es ist schon gut, Mutter, sagte sie dann beruhigend, es kauft sie gewiß jemand anderes.

Aber Lydia hat sie bestellt, sagte die Alte hartnäckig und kippte die Tuben mit einer raschen Bewegung auf den Tisch. Ich habe sogar ein neues Rot für sie entdeckt, sagte sie dann geheimnisvoll. Zinnoberrot. Das gab es bisher noch nicht, und es ist auch nicht teurer als die übrigen Rots, obwohl Rot doch immer teurer ist als die anderen Farben.

Lena starrte auf die Tuben, die alle Rottöne der unterschiedlichsten Schattierung enthielten; sie hätte nie geglaubt, daß es so viele davon gab.

Das Feuer, sagte die Alte mit glänzenden Augen, wissen Sie, sie malt nur das Feuer. Dann schüttelte sie sich, als bereite ihr dieses Feuer Qual, und schlurfte langsam zurück in das Hinterzimmer.

Die junge Frau seufzte, wollte die Farben in den Korb zurücklegen, aber Lena sagte rasch, sie nehme sie, da sie doch offenbar bestellt worden seien.

Die Alte blickte sich noch einmal um, nickte dann befriedigt und schaute ihre Tochter triumphierend an: Da siehst du, nie glaubst du mir. Und morgen gehe sie zum Jakobsgrab, fuhr sie dann mit lauter Stimme fort, ja, und zwar zusammen mit Lydia, sie habe es ihr erst vor einigen Tagen versprochen.

Lena bezahlte. Dann verließ sie fluchtartig das Geschäft, ohne sich die Entschuldigungen der jungen Frau anzuhören.

Zu Hause legte sie die Farbtuben auf die Kommode, weil sie nicht wußte, wo Lydia ihre Malutensilien aufbewahrt hatte. Anschließend stieg sie hinauf in die Schlafkammer und betrachtete das Bild, das sie beim Einschlafen am Abend zuvor nur ungenau wahrgenommen hatte. Die Lebendigkeit der Farben erschien ihr nun bei Tageslicht noch intensiver, als sie sie in Erinnerung hatte, und das Rot strahlte eine Aggressivität aus, die sie fast erschreckte. Es war kein anregendes Rot, sondern ein zerstörerisches, ein Rot, das Lydia bis an den unteren Bildrand geführt hatte, der etwas verwischt schien. Lena trat näher, weil sie plötzlich das Gefühl hatte, dieser verwischte Rand verberge etwas, wolle etwas verhüllen, was nicht für das Auge des Betrachters bestimmt war. Als sie sich vorneigte, stellte sie fest, daß in der rechten unteren Bildecke die Signatur zu sehen war, ein verschnörkeltes L mit einem C darüber. Das C stand etwas schräg, und erst bei längerem Hinsehen konnte sie entdecken, daß es ein Gesicht umschloß. Ein Gesicht mit sehr schemenhaften Zügen, aber immerhin so deutlich, daß sie Lydias Gesicht erkannte.

Die Lava, die aus der Bildmitte ungebremst nach unten floß – sie sah so dünnflüssig aus, daß sie nicht nur floß, sondern eher stürzte –, schien sich genau auf diese rechte Ecke zu zu bewegen. Und man konnte sich sehr wohl vorstellen, daß die glühende Gesteinsmasse in Sekundenschnelle über Lydias Gesicht hinwegschwappen würde.

Das Testament

Sie hatten ihr den Brief erst gar nicht ausgehändigt. Und als sie es schließlich taten, waren acht Tage vergangen, und es ließ sich nicht länger vertuschen, daß der Schaden die ganze Familie treffen würde, wenn man Lena nicht in Kenntnis setzte.

Hermine kann nun endlich heiraten, sagte der Vater an diesem Tag mit fröhlicher Stimme, als sie alle miteinander beim Mittagessen saßen. Endlich können wir ihr die Aussteuer geben, die sie braucht, um in den Ehestand treten zu können.

Ist meine Aussteuer auch gesichert? hakte Ida sofort nach. Du hast gesagt, ich bekomme genauso viel wie Hermine.

Alle bekommen das gleiche, sagte die Mutter beschwichtigend. Es reiche für alle, und letztendlich habe sich Lydia nun doch noch an die Familie erinnert, auch wenn es jahrelang so ausgesehen habe, als existiere diese für sie nicht.

Woher wißt ihr das alles? fragte Lena verwundert. Ihr Name war bisher im Zusammenhang mit einer Aussteuer, aus der sie sich keinesfalls etwas machte, nicht genannt worden.

Auch du bekommst eine, sagte der Vater friedfertig. Es reicht doch für alle. Und an seine Studierstube könne er nun endlich anbauen, fügte er hinzu, und eine dicke Wand einziehen, damit er nicht immer die Sägegeräusche des Schreiners hören müsse, wenn er seine Predigt vorbereite.

Und den Schwamm in der Kammer des Vikars könntest du ebenfalls wegmachen lassen, mahnte die Mutter. Es sei unwürdig, wie er dort hause.

Auch er habe als Vikar unwürdig gehaust, sagte der Vater rasch, kein Vikar könne erwarten, in einem Schloß zu wohnen, bevor er eine feste Stelle habe.

Lena fragte noch einmal nach, woher all diese Nachrichten stammten und was sie vor allem mit Tante Lydia zu tun hätten. Aber der Vater winkte ab und sagte, sie solle nach dem Essen zu den Rosen kommen.

Ich allein? fragte Lena verblüfft.

Ja, du allein, sagte der Vater mit Nachdruck, was ihr den Verdacht nahelegte, daß es vor dieser Aussteuer für alle Schwestern wohl doch noch eine Hürde zu überwinden gab, die ganz offensichtlich mit ihr zu tun haben mußte.

Wir fahren morgen in die Stadt, sagte der Vater später, als sie zu ihm in den Rosengarten kam.

Wer?

Nun, wir beide. Ich sagte es ja gerade. Du und ich.

In die Stadt, das war Stuttgart, und diese Stadtfahrten fanden nur höchst selten statt, und im allgemeinen fuhr die Mutter mit, da es immer etwas zu besorgen gab. Lena versuchte, sich zu erinnern, wann jüngst von einem Stadtbesuch die Rede gewesen war, aber es fiel ihr nichts dazu ein.

Ich nehme an, daß es um eine Unterschrift geht, sagte der Vater freundlich. Die wolle er gerne leisten, da Lena ja noch einen Vormund brauche, solange sie nicht verheiratet sei. Aber vermutlich werde sich alles nur als eine Lappalie herausstellen, und sie brauchten nicht einmal zu Mittag essen in der Stadt.

Lena schaute ihren Vater verunsichert an, aber bevor sie eine Frage stellen konnte, sagte er bereits gutgelaunt, daß man, falls es sich um das Haus handle – und eigentlich könne es sich nur darum handeln, denn er glaube kaum, daß seine Schwester große Reichtümer angehäuft habe bei diesem Lebenswandel –, sofort jemand beauftragen müsse, dieses Anwesen so rasch wie möglich zu verkaufen. Vielleicht gebe es dann sogar eine Doppelhochzeit, wenn sich noch ein Bräutigam für Hilda finden lasse, denn eigentlich gebühre ohnehin ihr der Vortritt, und die Leute brauchten sich nicht mehr das Maul zu zerreißen, wieso der Pfarrer es zuließ, daß die jüngere Tochter vor der älteren heirate.

Welches Haus willst du verkaufen? fragte Lena verwundert.

Nun, welches Haus wohl? wiederholte der Vater leicht ungeduldig. Tante Lydias Haus. Und weshalb sie so begriffsstutzig sei, schließlich sei doch jahrelang von nichts anderem die Rede gewesen, als davon, wer dieses Haus eines Tages bekomme.

Du meinst doch nicht etwa die quinta? fragte sie nach einer Weile leise.

Natürlich, diese Kwinta oder wie sich das Wort ausspreche.

Es heißt Kinta, verbesserte sie ihn fast automatisch, nicht Kwinta.

Ob Kwinta oder Kinta sei schließlich egal, sagte der Vater mit leicht erhobener Stimme, wichtig sei nur, daß sie bald verkauft werde und das Geld zur Verfügung stehe. Für sie alle. Und jetzt müsse er seine Predigt vorbereiten für den Sonntag, damit sie morgen in aller Ruhe fahren könnten.

Er drückte Lena die Schere in die Hand und sagte: Aber nur das dürre Holz, sonst nichts!

Sie nickte, noch immer völlig benommen von dieser Nachricht, schnitt mechanisch das schwarze Holz aus den Sträuchern, dann lief sie ihm nach.

Weshalb gehen wir denn nicht alle? fragte sie ratlos. Wenn Lydia ihnen das Haus vermacht habe, gehe es doch alle an und nicht bloß sie allein.

Der Vater atmete durch: Es gibt nur einen Brief, und der ist an dich gerichtet.

Von wem?

Nun, vom Notar, sagte der Vater ungeduldig. Es gehe um die Testamentseröffnung, um Lydias Testament.

Sie starrte ihn verständnislos an. Und woher wisse er dann, was in dem Testament steht, wenn er es noch gar nicht kenne.

Woher! Woher! wiederholte der Vater nahezu zornig. Da sei eben ein Brief gekommen an sie, und er habe ihn geöffnet.

Weshalb hast du ihn geöffnet?

Weil er sich das Recht herausnehme, die Briefe seiner Töchter zu öffnen, und wenn sie verheiratet wäre, dürfte sie auch nichts allein entscheiden, weil nämlich dann der Mann Vormund der Frau sei und darüber bestimme, was mit einem Erbe geschehe. Und schließlich sei doch wohl anzunehmen, daß seine Schwester allen etwas vermacht habe und nicht nur ihr. Jetzt aber müsse er seine Predigt vorbereiten, und er habe keine Zeit, über unnütze Dinge zu diskutieren. Morgen wisse man mehr.

Sie sagte: Es tut mir leid.

Der Vater trieb die Pferde an, so daß sie in Galopp fielen und die Chaise wie ein Ball von links nach rechts schleuderte.

Was? fragte er dann mit unterdrückter Stimme.

Daß ... Nun, daß nur ich geerbt habe, sagte sie stockend.

Sie waren auf dem Heimweg vom Notar, und in ihrer Tasche befand sich ein Schlüssel, den sie von Zeit zu Zeit abtastete, um sich zu vergewissem, daß er da wirklich in ihrer Handtasche steckte. Die erste halbe Stunde hatten sie geschwiegen, und dieses Schweigen hatte ihr das Gefühl vermittelt, daß sie mit der Annahme des Erbes eine große Sünde auf sich geladen habe.

Ich nehme an, daß du wenigstens mit deinen Schwestern teilen wirst. Ja, ja, sagte sie rasch, natürlich werde sie teilen. Und selbstverständlich sei diese Dachkammer in dem Haus der Großtante in Jena, die ihr ebenfalls zugesprochen worden war, auch für ihre Schwestern da. Wieviel? fragte der Vater mit lauter Stimme in ihre Gedanken hinein, die sich nicht hier in dieser Chaise befanden, sondern irgendwo in diesem Haus weit in der Ferne, das sie soeben geschenkt bekommen hatte.

Sie zuckte zusammen: Was, wieviel?

Wieviel du ihnen gibst?

Ich weiß es nicht, sagte sie hilflos. In dem Testament stehe doch, daß das Geld für das Haus sei. Es sei baufällig, müsse repariert werden. Ein Haus braucht kein Geld, sagte der Vater brüsk, Menschen brauchen Geld. Ihre Schwestern zum Beispiel, um heiraten zu können. Ob sie das einsehe?

Sie nickte, spürte, daß ihr die Tränen in den Augen standen. Ja, sie sehe es ein.

Also, wieviel? forderte der Vater unnachgiebig und trieb die Pferde mit der Peitsche zu einer noch rascheren Gangart an, ob aus Zorn oder weil es dunkel wurde, wußte sie nicht.

Ich werde mich erkundigen, sagte sie leise.

Erkundigen? Der Vater riß an den Zügeln, worauf die Pferde beinahe ausbrachen. Bei wem sie sich erkundigen wolle?

Sie schwieg vor sich hin, der Vater faßte sie am Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich herum, so daß sie ihn anschauen mußte. Wen mußt du fragen, sagte er dann zornig, etwa deine vielen »Brüder« vom Nachbarhaus?

Ich muß nicht, ich will, sagte sie und spürte plötzlich Trotz in sich aufsteigen. Und sie brauche Zeit.

Zeit! preßte der Vater zwischen den Zähnen hervor. Na schön, dann nimm dir Zeit! Er hielt die Pferde zu einer gemächlicheren Gangart an, dann streckte er ihr die Hand entgegen. Bis dahin sei der Schlüssel wohl besser bei ihm aufgehoben.

Sie starrte ihren Vater an und sah eine Spur von Unsicherheit in seinem Gesicht, aber er gab nicht nach. Sie öffnete schweigend ihre Handtasche, konnte nicht verhindern, daß ihr Tränen auf die Hand tropften, als sie den Schlüssel herausnahm und ihrem Vater in die Hand legte. Ihr war, als seien alle Träume, die zu haben sie nie gewagt hatte, mit dieser Schlüsselübergabe für immer und für alle Zeiten ausgeträumt.

Der Rest der Fahrt verlief so, als habe eine böse Fee sie soeben in einen Eispalast gesteckt. Als sie das Pfarrhaus erreichten und Ida, Hilda und Hermine bereits an der Tür standen, um sie zu empfangen, hatte sie das Gefühl, bereits jetzt so schlecht zu sein, wie es Tante Lydia in den Augen ihrer Familie im Laufe der Zeit geworden war. Sie sprang aus der Kutsche, verstauchte sich fast den Fuß dabei, rannte ins Haus und stürzte in die Kammer, die sie mit Hedda teilte. Um nicht zum Abendessen kommen zu müssen, schützte sie Kopfschmerzen vor.

Die Mutter brachte ihr ein Tablett mit Milch und Brot ans Bett und drückte ihr lächelnd die Serviette in die Hand. Das Tuch schien etwas Hartes zu enthalten, und als Lena es öffnete, fiel ihr der Schlüssel entgegen. Sie umarmte die Mutter weinend, ließ sich trösten und hatte das Gefühl, daß die böse Fee von einer guten vertrieben worden war. Später erzählte ihr Selma, sie habe gehört, wie die Mutter den Vater bedrängt hat. Es ist Sünde, ihr den Schlüssel nicht zu geben, habe sie gesagt, und wenn er ihn seiner Tochter nicht aushändige, mißachte er den Willen einer Toten.

Der nächste Tag begann, als würde draußen ein Meter Schnee liegen, der ihnen allen aufs Gemüt schlage. Ihre drei älteren Schwestern behandelten sie beim Melken, als habe sie eine ansteckende Krankheit und als lohne es nicht, das Wort an sie zu richten. Lediglich Hedda nahm sie in den Arm und sagte: Mach dir nichts draus! Für die Aussteuer seien die Eltern zuständig, und ein Mann, der nur nach einer fetten Aussteuer schiele, sei ohnehin kein rechter Mann.

Nach einem schweigenden Morgenessen beschloß Lena vor dem Mittagsmahl, ohne irgendwen um Rat zu fragen, ihren Standpunkt zu verteidigen, ganz gleich was geschehen würde. Bei Tisch nannte sie für jede ihrer Schwestern eine Summe, die für eine bescheidene Aussteuer ausreichte. Sie hoffe, sagte sie, der Familie damit Genüge getan zu haben. Lieber hätte sie zwar für ihre Mutter eine Waschfrau genommen oder eine zweite Hilfe für die Feldarbeit, aber sie war ziemlich sicher, daß der Vater alles wieder rückgängig machen würde, weil er dergleichen für überflüssig hielt.

Der Friede im Haus schien wieder hergestellt, soweit dies unter den Gegebenheiten, daß sie diese quinta behalten und nun nach Portugal, nach Sintra, fahren würde, möglich war. Zwar versuchten alle, ihr dieses Abenteuer auszureden, aber sie gab nicht nach.

Skorpione soll es dort haufenweise geben, sagte Hermine und schleppte ein Buch mit Abbildungen von Tieren herbei. Sie seien schwarz, und ihr Stich sei tödlich.

Das auf dem Bild sei eine Tarantel, verbesserte Lena sie geduldig, und wenn man die Schuhe ausschüttle, bevor man sie anziehe, sei man schon mal sicher, daß zumindest dort keine Skorpione drin steckten. Schlangen, sagte der Vikar eifrig, aber auf Schlangen sei gewiß zu achten.

Sie werde auch auf Schlangen achten, versprach sie lächelnd, sie lerne bereits, welche Arten es gebe, denn von den vielen Schlangen dort unten seien nur ein paar giftig.

Der Vater vergrößerte die Schrecken dieser Landschaft mit Hilfe eines Buches, in dem das Klima von Portugal beschrieben war. Zweiundvierzig Grad, sagte er triumphierend, zweiundvierzig Grad. Ob sie sich vorstellen könne, was es bedeute, bei zweiundvierzig Grad leben zu müssen?

Nein, sagte sie freundlich, das könne sie sich selbstverständlich nicht vorstellen, aber sie werde es ja wohl lernen. Und schließlich lebten auch andere Menschen bei diesen zweiundvierzig Grad.

Hedda war die einzige, die Anteil nahm an Lena und ihren Träumen, und sie schleppte aus dem Lesekabinett des nächsten größeren Ortes Bücher heran, die sich mit diesem Land und seinen Bewohnern beschäftigten.

Und Hedda war es auch, die eines Tages in einer Buchhandlung ein Werk fand, das Lena von da an wie einen Goldschatz hütete. Das Buch nannte sich »Reisebegleiter«, war seltsamerweise von einer Frau verfaßt, und man konnte aus ihm in vier Sprachen erfahren, was ein Reisender unterwegs alles benötigte.

Lena stürzte sich geradezu besessen auf dieses Buch, wollte sofort auf Seite eins mit dem Lernen beginnen, aber Hedda schlug nüchtern vor, erst einmal die Spreu von dem Weizen zu trennen.

Eine halbe Nacht verbrachten sie also damit, die wichtigen von den weniger wichtigen Kapiteln zu unterscheiden, wobei sie durchaus nicht immer einer Meinung darüber waren, was denn nun wirklich notwendig war und was nicht.

Sie gehe nicht zum Frisör, entschied Lena rasch, weil sie dafür gar kein Geld habe, und da sie keine Reise auf dem Wasser mache, brauche sie auch nicht zu wissen, was man bei einer solchen zu reden habe. Dagegen sei natürlich wichtig, was es auf einem Postwagen zu reden gebe, und in einem Gasthaus, wie sie dort unten Möbel kaufen und sich bei der Schneiderin verständigen könne.

Eine Schneiderin brauchst du doch unterwegs nicht! widersprach Hedda, nach deren Meinung sie erst einmal Kapitel wie »Mit einem Zahnarzte« oder »Zwischen einem Arzte, einer Wärterin und einem Kranken in einem Wirtshause« vornehmen sollte. Aber Lena lehnte diese Themen strikt ab. Mit so etwas wolle sie sich am besten gar nicht befassen, sagte sie, sonst trete es am Ende noch ein.

Hedda seufzte. Dann könne man gewiß auch »Von einem Kranken, der sich auf dem Totenbett mit seinem Arzte unterhält« weglassen, meinte sie, aber Lena schlug das Buch an dieser Stelle neugierig auf und erwiderte, das wolle sie wissen, was man dann sage.

Du sagst gar nichts mehr, weil nämlich irgend jemand just dieses Blatt herausgerissen hat, hielt Hedda ihr lachend entgegen. Aber sie könne statt dessen bieten, was zwischen der Wöchnerin, dem Arzte und der Kindeswärterin gesprochen werde. Lena lachte auf und sagte, dieses Buch sei ein seltsames Buch, auch diese Stelle sei herausgerissen. Dann blätterten sie gemeinsam, sagten sich die einzelnen Sätze laut vor, und als Hilda eines Tages an der offenen Tür vorbeiging, meinte sie kopfschüttelnd, es müsse sich hier wohl um ein Witzbuch handeln, so oft sei das Lachen der Schwestern zu hören: »Man muß sich hüten, wenn der Tag abnimmt oder während der Nacht durch die Wälder zu reiten« – »Riechen Sie vinaigre des quatre voleurs oder Cöllner Wasser, und zünden Sie Wacholderkörner an. Gesuchtere und angenehmere Gerüche taugen auf einem Schiffe nichts« – »Anstatt dieser Gabeln mit zwei Zähnen, haben Sie nicht welche mit drei Zähnen?« – »Sagen Sie dem Speisewirth, daß die Suppe immer zu fett und zu gesalzen ist, und daß er, ungeachtet aller meiner Erinnerungen, immer Butter an den Braten gibt. Ich will durchaus keine.«

Lena lernte Tag für Tag, sie lernte mit äußerster Disziplin, und sie lachten viel dabei. Auf dem Feld, wenn die anderen sich zum Ausruhen in den Schatten eines Baumes setzten, abends beim Monogrammsticken in der Stube, und Bertha brachte ihr aus dem Laden ihrer Eltern verbogene Kerzen zum halben Preis, so daß sie auch noch nachts in der Kammer lernen konnte. Hedda meinte, daß es nicht schaden könne, wenn sie beim Abhören gleich mitlernte, dann dürfe sie vielleicht auch einmal zu Besuch kommen.

Lena nickte halbherzig, schämte sich aber gleich ihres Eigennutzes, konnte jedoch trotz der Scham nicht verhindern, daß sie die Vorstellung, irgendwer von der Familie könne eines Tages dort unten auftauchen, mit Schrecken erfüllte. Und es gelang ihr erst, den Schrecken abzuschütteln, als sie an ihre Truhe ging, die kleine Tasche herausnahm und den Schlüssel in ihre Hand gleiten ließ. Sie kannte inzwischen jede Zacke an ihm, sie hätte ihn malen können, den leicht verrosteten runden Ring und den Schaft daran, der in einem mächtigen Bart endete. Sie drückte den Schlüssel jedesmal an ihre Wange, flüsterte ihm Dinge zu, die sie albern fand, da sie aber niemand hörte, ließ sie sich stets von neuem hinreißen. Und sie wiederholte das Wort Quinta da madre de Deus so lange, bis sie sich seiner Zauberwirkung wieder sicher war.

Und sie hatte auch kein schlechtes Gewissen, wenn sie abends nach ihrem Nachtgebet nicht sofort zu schlafen versuchte, sondern mit offenen Augen an die Decke starrte und bestimmte Sätze dreimal wiederholte, um sie bestimmt nicht zu vergessen: Quando nós encontraremos outra vez? Vamos dancar mais uma vez? Amo-te! Daß diese Sätze keinesfalls etwas mit dem praktischen Leben zu tun hatten, weshalb sie sie selbst vor Hedda geheimhielt, erfüllte sie mit einer Erregung, über die sie unfähig war zu reden.

Luiz

Das Heulen des Wolfes brach mitten in ihren Schlaf. Diesmal war sie ganz sicher, daß es nicht das Jaulen eines Hundes war, und sie war ebenso sicher, daß dieses Heulen auch nicht zu einem Traum gehört hatte.

Sie setzte sich in ihrem Bett auf und blinzelte durch das Moskitonetz hindurch Richtung Fenster: Es mußte kurz nach Tagesanbruch sein.

Sie wusch sich in aller Eile, zog sich an und verließ das Haus durch die hintere Tür. Als sie einige Schritte gegangen war, kehrte sie um und nahm einen Stock, der an der Verandawand lehnte, wohl wissend, daß sie mit einem Stock kaum etwas gegenüber einem Wolf ausrichten würde können.

Sie ging in den hinteren Teil des Gartens, den sie seit jener ersten Nacht nicht wieder betreten hatte, und stand plötzlich vor einem Zwinger, in dem ein junger Mann vor einem Wolf auf dem Boden hockte und ihn von Mund zu Mund fütterte.

Zunächst blieb sie atemlos stehen und wartete jeden Augenblick darauf, daß der Wolf zubeißen würde. Aber das Tier nahm die Fleischstücke fast behutsam von den Lippen des jungen Mannes entgegen, würgte sie hastig hinunter und holte sich den nächsten Happen.

Sie war nicht sicher, ob es sich um den Jungen handelte, den sie in der ersten Nacht schwimmen gesehen hatte, aber dann warf er den Kopf mit einer raschen Bewegung zurück, und sie erkannte ihn wieder – genauso hatte er sich auf dem Mauervorsprung bewegt, ehe er in das Bassin gesprungen war.

Ich habe ihn aufgezogen, sagte er nach einer Weile, als habe er die ganze Zeit gewußt, daß er bei dieser seltsam intimen Geste des Fütterns beobachtet wurde. Sie haben mir Rosso gebracht, als sie seine Mutter erschossen hatten, erklärte er und wischte sich Gesicht und Hände mit einem Taschentuch ab. Er schaute zu, wie der Wolf das letzte Fleischstück hinunterwürgte, dann verließ er den Zwinger und verschloß die Tür sorgfältig mit einer Kette.

Und – was hat Ihnen meine Mutter über mich erzählt? fragte er dann lächelnd und ging zu einer alten, windschiefen Hütte, die nur ein paar Schritte von dem Zwinger entfernt stand.

Falls du Theodor bist, könntest du mir einfach erzählen, was du neulich nachts auf meinem Grundstück gemacht hast.

Der Junge schüttelte den Kopf und sagte, er sei nicht Theodor, er sei Luiz. Und wenn seine Mutter seinen Namen nicht akzeptiere, sei es ihre Sache. Er lächelte vor sich hin und zog leicht die linke Augenbraue empor. Auf Ihrem Grundstück? wiederholte er dann in einwandfreiem Deutsch ohne jeden Akzent.

Ist es etwa nicht meines? fragte sie leicht irritiert, da sie nicht wußte, wie weit Lydias Besitz überhaupt reichte.

Er zuckte mit den Achseln und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Es gehört ebensowenig Ihnen wie es mir gehört, sagte er dann mit einer Spur von Störrigkeit, es gehört allen Menschen. All das hier – er machte eine vage Bewegung, die die Bäume, die Sträucher und den Himmel mit einschloß –, das wächst doch wohl für alle, oder etwa nicht?

Sie war unsicher, was sie auf diese seltsame Feststellung antworten sollte, und ging näher an die Hütte heran. Von dieser Hütte, sagte sie dann, hat meine Tante erzählt, also wird sie ihr wohl gehört haben, nehme ich an.

Der Junge machte eine freundlich einladende Bewegung zur Tür. Natürlich. Wollen Sie sie sehen? Es ist noch alles so, wie es Ihre Tante verlassen hat. Sie hat hier gemalt.