Ärztin einer neuen Zeit - Ingeborg Bayer - E-Book
SONDERANGEBOT

Ärztin einer neuen Zeit E-Book

Ingeborg Bayer

0,0
5,99 €
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine mutige Frau wehrt sich gegen die Konventionen ihrer Gesellschaft: der Roman »Ärztin einer neuen Zeit« von Ingeborg Bayer als eBook bei dotbooks. Berlin, 1895. Die junge Laura Hagemann hat einen Traum: Sie will als erste Frau in Deutschland Medizin studieren und die beste Kinderärztin des Landes werden! Doch obwohl Laura weiß, dass ihr kühner Plan auf Gegenwehr stoßen wird, rechnet sie nicht damit, wie hart sie kämpfen muss: Selbst ihre eigene Familie steht ihr plötzlich ablehnend gegenüber, nur ihre geliebte Großmutter unterstützt und fördert sie. Gegen alle Widerstände und Schicksalsschläge erstreitet Laura sich schließlich ihren Platz an der Universität Heidelberg, brilliert dort als Studentin der Medizin … und doch ist es nie genug, immer wieder soll sie sich der Männerwelt und den starren Regeln ihrer Zeit unterordnen. Erst als sie ihre Jugendliebe Viktor wiedertrifft, scheint sich das Blatt zu wenden. Aber wie hoch ist der Preis, wenn man gemeinsam träumen will? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der inspirierende historische Roman »Ärztin einer neuen Zeit« von Ingeborg Bayer – ein aufrüttelndes Frauenschicksal, eindringlich und fesselnd erzählt. Leserinnen des Bestsellers »Lehrerin einer neuen Zeit« von Laura Baldini werden begeistert sein! Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 782

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Berlin, 1895. Die junge Laura Hagemann hat einen Traum: Sie will als erste Frau in Deutschland Medizin studieren und die beste Kinderärztin des Landes werden! Doch obwohl Laura weiß, dass ihr kühner Plan auf Gegenwehr stoßen wird, rechnet sie nicht damit, wie hart sie kämpfen muss: Selbst ihre eigene Familie steht ihr plötzlich ablehnend gegenüber, nur ihre geliebte Großmutter unterstützt und fördert sie. Gegen alle Widerstände und Schicksalsschläge erstreitet Laura sich schließlich ihren Platz an der Universität Heidelberg, brilliert dort als Studentin der Medizin … und doch ist es nie genug, immer wieder soll sie sich der Männerwelt und den starren Regeln ihrer Zeit unterordnen. Erst als sie ihre Jugendliebe Viktor wiedertrifft, scheint sich das Blatt zu wenden. Aber wie hoch ist der Preis, wenn man gemeinsam träumen will?

Über die Autorin:

Ingeborg Bayer (1927–2017) studierte nach ihrer Ausbildung zur Bibliothekarin Medizin und Hindi. Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie in einem medizinischen Archiv. Ihre Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten wurden vielfach preisgekrönt, unter anderem mit dem Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem deutschen Jugendliteraturpreis und dem Österreichischen Staatspreis.

Ingeborg Bayer veröffentlichte bei dotbooks die historischen Romane:

Die Buchdruckerin von KölnDer Maler von FlorenzIn den Gärten von Monserrate

Weiterhin veröffentlichte sie bei dotbooks ihre Venedig-Trilogie »Die Töchter Venedigs« mit den Einzelbänden:Stadt der Tausend AugenStadt der blauen PalästeStadt der dunklen Masken

***

eBook-Neuausgabe November 2020

Dieses Buch erschien bereits 1995 unter dem Titel »Die Spur des Kometen« bei Knaur.

Copyright © der Originalausgabe 1995 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Everett Collection, Serge Zastavkin, Raftel

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-560-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Ärztin einer neuen Zeit« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Ingeborg Bayer

Ärztin einer neuen Zeit

Roman

dotbooks.

Feuerwerk I

Berlin, 1880–1900

Die Villa

Viktor hob Laura der Sonne entgegen und wunderte sich, daß sie nicht schrie.

Später, viel später, sagte Viktor, es sei dies ihr erstes Rendezvous gewesen, schließlich habe er sie liebevoll im Arm gehalten und ihr zu ihrem Recht verholfen. Aber es war klar, daß zu diesem Zeitpunkt von einem Rendezvous kaum die Rede sein konnte: Laura war an jenem Tag genau drei Wochen alt, und Viktor hatte seinen achten Geburtstag gerade hinter sich, sie steckte in einem Wickelkissen, und er hatte sie mehr oder weniger entführt. Auf den Feuerplatz. Dort durfte ihr Bruder Wilhelm, der ebenso alt war wie sie – oder allenfalls zwanzig Minuten jünger –, das erste Feuerwerk seines Lebens sehen, ein Akt, dem er allerdings wenig wohlgesinnt beiwohnte. Als die erste Rakete zischend den Boden verließ und der Großvater das Gesicht seines Enkels hochhielt, damit das Kind den silbernen Regen, der vom Himmel fiel, besser sehen konnte, stieß Wilhelm einen schrillen Schrei aus, der sich beim Fortgang des Feuerwerks zu einem martialischen Gebrüll steigerte, was die Familie jedoch lachend zur Kenntnis nahm.

Diesen Initiationsritus kannst du wohl kaum als geglückt bezeichnen, verspottete Onkel Heinz seinen Vetter. Dein Enkelsohn verheult seinen Ehrenakt, nachdem er bereits heute morgen in der Kirche seine Taufe durch permanentes Brüllen gestört hat. Er jedenfalls, meinte Heinz, habe von den Worten des Pfarrers kaum etwas verstanden.

Der Großvater gab Wilhelm der Amme zurück, wischte mit einer schroffen Handbewegung den Einwand zur Seite und sagte, es sei gut, wenn Kinder sich möglichst früh an die Unbilden des Lebens gewöhnten.

Die Sonne, der Laura entgegengehoben wurde, war der Abschluß des Feuerwerks, das zu Ehren Wilhelms stattfand. Es sei gut, hatte der Clan befunden, den Jungen bereits in den ersten Tagen seines Erdenlebens mit dem Familienerbe vertraut zu machen, das eines Tages in seine Hände übergehen würde. Der Fortbestand der Dynastie der Hagemanns war mit diesem Sohn gesichert. Nach übereinstimmender Meinung hätte Laura jedoch dieses Feuerwerk nicht sehen sollen. Ein zartes Mädchen im Alter von drei Wochen wollte man nicht dem Zischen von Raketen und der Detonation von Knallern aussetzen. Vermutlich bekommt sie Krämpfe, hatte Tante Minchen befürchtet, oder gar noch Schlimmeres.

Vermutlich braucht sie den Geruch verbrannter Federn oder ein Riechfläschchen, wenn sie beim ersten Knallen in Ohnmacht fällt, hatte Onkel Heinz gelästert und damit sein Konto für diesen Tag überzogen, wie der Großvater befand.

Viktor, der die Ferien in der Hagemann-Villa verbringen durfte, war anderer Meinung gewesen. Er, von dem es bereits jetzt hieß, er werde eines Tages ganz gewiß die Rechtsanwaltspraxis seines Vaters übernehmen, weil er sich stets für die Schwächeren einsetzte, sorgte für Gerechtigkeit: Er holte Laura, als draußen das Fest, an dem auch die Amme hatte teilnehmen dürfen, in vollem Gange war, aus dem Kinderzimmer, schleppte sie im Wickelkissen zunächst vorsichtig die Wendeltreppe hinunter und dann behutsam über die Veranda zur breiten steinernen Freitreppe der Terrasse, wobei er Laura gut zuredete, obwohl das Baby diesen Zuspruch ganz offensichtlich nicht nötig hatte, sondern interessiert in den Nachthimmel blickte. Dann stieg er langsam, sorgsam Schritt vor Schritt setzend, den Abhang zu der großen Wiese hinter dem Garten hinab, die sie den Feuerplatz nannten, weil hier die pyrotechnischen Experimente stattfanden. Nachdem er dies zu seiner vollen Zufriedenheit geschafft hatte, zeigte er Laura die Sonne, die ihr Vater soeben gezündet hatte. Und dann rief er voller Triumph: Sie weint überhaupt nicht!

Das Entsetzen der Familienangehörigen und ihre Schrekkensrufe brachen über ihn herein, aber es störte ihn wenig. Um Himmels willen, die steinerne Freitreppe! Das nasse Gras! Und erst die Wendeltreppe! Viel zu groß und zu schwer! Viktor ließ sich widerstrebend das Bündel, aus dem keinerlei Protest hörbar wurde, während die Sonne mit wildem Zischen ihr Rad schlug, abnehmen und wurde dann vom erzürnten Großvater ins Haus verbannt – zusammen mit Laura, nun in den Armen der Amme, die, obwohl unschuldig, sich einiges anhören mußte.

Dieser Knabe wird uns allen noch Kummer bereiten, seufzte Tante Minchen, als man aus dem Fenster den zornigen Verweis des Großvaters hören konnte, gekontert von der ebenso zornigen Widerrede Viktors, der nicht oft genug wiederholen konnte, daß es Unrecht gewesen sei, Laura vom Feuerwerk auszuschließen. Großes Unrecht. Schließlich seien Wilhelm und Laura Zwillingsgeschwister.

Die Großmutter teilte Viktors Meinung. Ja, es sei ungerecht gewesen. Nur weil es sich um ein Mädchen handle, habe man nicht das Recht gehabt, Laura Dinge vorzuenthalten, die ihr Bruder haben dürfe. Schließlich lebe man in Berlin und nicht in China.

Aber so ungebärdig, dieser Junge, und dauernd diese Widerreden, klagte Tante Minchen. Ich habe noch nie gehört, daß einem Kind in diesem Alter Widerrede überhaupt erlaubt ist. Und ich frage mich ernsthaft, wie das sein wird, wenn er erst einmal dreizehn oder vierzehn ist.

Bei einem Kind, das in einem Boheme-Haushalt aufwachse, könne man nichts anderes erwarten, sagte eine der eingeladenen Tanten. Schließlich sei Viktors Vater fast sechzig gewesen, als er diesen Sohn gezeugt habe, und die Mutter des Jungen zwanzig Jahre jünger. Und dazu noch Sängerin! Was die Hagemanns aber nicht sonderlich zu interessieren brauche, denn Gott sei Dank sei man mit Viktors Eltern nur mäßig verwandt. Genaugenommen eigentlich gar nicht.

Lauras frühe Kindheitserinnerungen blieben spärlich.

Sie war sicher, daß man ihr das meiste, was sie später über sich wußte, erzählt hatte.

Ganz sicher hatte man ihr erzählt, daß sie und Wilhelm Bruder und Schwester waren, freilich eine besondere Art von Bruder und Schwester: Zwillinge, da sie am gleichen Tag geboren seien. Ähnlich sähen sie sich nicht, weil sie keine eineiigen Zwillinge seien. Daher dürfe auch alles so sein, wie es war, das heißt, die Geschwister konnten so verschieden sein, wie sie nur wollten. Sie mußten weder zum gleichen Zeitpunkt sprechen können oder sitzen und laufen und sauber sein.

Sie, Laura, kann alles rascher als Wilhelm. Sagt brav Aa, während Wilhelm noch die Windeln durchnäßt, macht die ersten Schritte, während Wilhelm sich gerade einmal mühsam in seinem Kinderwagen aufsetzt, und später kann sie nahezu schon wortreich Konversation machen, während Wilhelm sich noch mit Gesten durch die Welt hindurchdeutet. Das bedeutet, daß er mit gestrecktem Fingerchen auf die Gegenstände zeigt, die er jeweils haben will. Ein Umgang mit der Welt, der ihm allerdings genau den gleichen Erfolg beschert, wie wenn Laura sagt, daß sie, bitte, Butter und Marmelade haben oder spazierengehen möchte.

Die frühesten Worte, die sie hört und sofort nachplappert – so erzählt man es ihr später lachend –, sind Sonne, Sterne und Tirpitz. Tirpitz, wenn auch das schwierigste der drei, kann sie am besten, und bei Familienfesten wird sie deshalb regelrecht vorgeführt. Man läßt sie zum x-ten Male Tirpitz sagen, kann sich vor Lachen kaum fassen, besonders dann, wenn sie bei dem tz am Ende des Wortes eine feuchte Aussprache hat, weil sie sich große Mühe gibt, ihren Erfolg jedesmal zu übertreffen. Daß Wilhelm früher weiß als sie, was das Wort bedeutet, zählt nicht; sie kann es aussprechen, er nicht.

Zunächst nimmt sie an, dieser Tirpitz sei jemand, mit dem ihre Eltern oder Großeltern befreundet oder verwandt sind, oder jemand wie Onkel Erwin und Onkel Norbert, Großvaters Freunde. Wilhelm, als sie zum erstenmal diese Vermutung äußert, lacht sie aus und deutet auf die Büste auf einer Kommode im Arbeitszimmer des Großvaters.

Tirpitz scheint nicht nur durch diese Büste allgegenwärtig zu sein. Kaum ein Gespräch am Mittagstisch, wenn die beiden Freunde des Großvaters, Reichstagsabgeordnete wie er, anwesend sind, bei dem nicht gemutmaßt wird, daß dieser Tirpitz gewiß der kommende Mann in Deutschland sei, was die Flotte betreffe. Noch sei er zwar lediglich im Auftrag des Kaisers Wilhelm I. mit der Entwicklung der neuen Wunderwaffe betraut, den Torpedos, noch sei er nichts weiter als ein äußerst geschickter Waffenstratege, aber bald werde er ganz gewiß mehr sein. Deutschland müsse eine Seemacht werden, die Zukunft des Landes liege auf dem Wasser, sagen die Freunde des Großvaters, und dieser Tirpitz habe das Zeug zu einem Admiral, sagen sie. Zu einem Großadmiral, sagt der Großvater. Aber er sei sich darüber im klaren, daß dies noch warten müsse.

Vorläufig also ist dieser Alfred Tirpitz – erst später wird er für seine Verdienste geadelt werden – noch ein Geheimtip für national gesinnte Deutsche, aber es gilt, diesen Tirpitz schon jetzt zu unterstützen, seine und des Kaisers Marinebegeisterung zur Sache des ganzen Volkes werden zu lassen. Diese Begeisterung auch in die Herzen der Kinder zu pflanzen, damit sie dann, wenn es Zeit ist, abgerufen werden kann.

Wilhelm weiß so gut über Tirpitz Bescheid, weil sein Lieblingsspiel, das er mit seinen Freunden spielt, Schiffe versenken heißt. Jeder Teilnehmer bekommt zwei große hölzerne Boote zugeteilt, Schlachtschiffe, in deren hohlem Rumpf sich eine Federvorrichtung befindet, die es ermöglicht, die gesamten Aufbauten in die Luft zu schleudern: Brücke, Masten, Kanonen, Beiboote. Damit dies eintritt und das Schiff auf diese Art und Weise versenkt werden kann, muß von einem kleinen hölzernen U-Boot ein Torpedo abgeschossen werden. Trifft dieses Torpedo exakt den Auslöser der Federvorrichtung, so fliegt das Kriegsschiff in die Luft. Gewinner ist, wer möglichst viele Schiffe mit möglichst wenigen Torpedos zerstört.

Als Laura ebenfalls den Wunsch nach einem solchen Spiel äußert, um sich mit ihren Freundinnen daran erfreuen zu können, lachen sie alle aus. Kleine Mädchen spielen mit Puppen, nicht mit Kriegsschiffen! Lediglich die Großmutter hat Erbarmen und schenkt ihr für die Badewanne ein kleines hölzernes Schiffchen mit einem armseligen Segel, das zudem noch falsch angebracht ist, so daß das Boot bei der geringsten Berührung kentert. Als Laura erklärt, sie begeistere sich genauso für die Marine wie Wilhelm, heißt es, das sei schön. Selbstverständlich gebe es auch für Mädchen Möglichkeiten, ihre Marinebegeisterung kenntlich zu machen, zum Beispiel durch das Tragen eines Matrosenkleides.

Und so beginnt der Leidensweg der Zwillinge durch die Matrosenanzüge und Matrosenkleider dieser Zeit, und Alfred Tirpitz ist nun nicht nur Gegenstand der Gespräche am Mittagstisch, sondern wabert auch durch ihre Kinderkleiderschränke: Faltenröcke und eine Bluse mit Gummizug, deren breiter, gestreifter Kragen in einem Knoten auf der Brust endet, den Faltenrock gibt es mit Keller- oder Quetschfalten, es gibt ihn in Wolle oder Baumwolle. Da Kleidung aus Wolle die haltbarere ist, kauft man ihr zumindest für den Winter selbstverständlich diese. Und selbstverständlich gilt das auch für ihren Bruder. Marineblau, weiß. Matrosenanzüge, Matrosenkleider. Sie erinnert sich später kaum an andere Kleidungsstücke, obwohl es sie ganz gewiß gegeben hat. Und natürlich gibt es bei dieser Matrosenkleidung auch nicht die Aufteilung in Sonntagskleider und Werktagskleider. Man trägt sie immer. Und leidet auch immer, besonders im Winter.

Der Stoff dieser wollenen Matrosensachen nämlich kratzt. Er kratzt ungeheuer und ewig, nicht nur, solange die Kleidung neu ist, wie es heißt. Diese Kleidung ist so gut, daß man sie nicht allein auftragen kann. Erst durch die mehrmalige Weitergabe an kleinere Geschwister wird diese Kleidung voll und ganz ausgenützt, so heißt es. Aber kratzen tut sie ewig.

Laura haßt diese Wollröcke ebenso, wie Wilhelm seinen wollenen Anzug haßt. Um das Kratzen leichter zu ertragen, stellt sie sich vor, daß sie dies alles für Herrn Tirpitz tut, aber sie verbietet sich, Herrn Tirpitz dafür zu hassen. Denn schließlich will Herr Tirpitz dieses Opfer keinesfalls für sich persönlich, sondern für das Vaterland – so sagt zumindest der Großvater, als er einmal Zeuge eines Weinkrampfes wird.

Im Sommer kratzt das Matrosenkleid nicht. Da ist es hell und luftig, aus dünnem Stoff. Sie trägt einen leichten Strohhut dazu, und eigentlich könnte sie mit diesem Aufzug glücklich sein. Daß sie es dennoch selten ist, hängt damit zusammen, daß sie sich von diesem hellen luftigen Kleid keinesfalls davon abhalten läßt, wilde Spiele zu spielen, auf dem Boden herumzukugeln, auf Bäume zu klettern und selbstverständlich auch einmal hinzufallen. Daß das Matrosenkleid dann nicht mehr hell im Winde flattert, sondern, mit schwarzen und grünen Flecken übersät, der Waschfrau übergeben werden muß, ist ärgerlich, und verständlicherweise folgt die Strafe auf dem Fuß: Sie zwängen sie wieder in das kratzende, störrische Winterkleid. Zur Ermahnung, damit sie in Zukunft besser auf ihre Sachen achtgibt.

Daß die Familie, in der die Geschwister aufwachsen, eine besondere Familie ist, lernen sie früh. Du bist auch eine Hagemann, pflegt der Großvater zu Laura zu sagen, wenn er besonders gut gelaunt ist, und streicht ihr dann dabei flüchtig übers Haar – eine Zärtlichkeit, die er sofort bereut: In einer preußischen Familie zeigt man seine Gefühle nicht. »Auch«, das heißt, sie ist zwar ein Mädchen und daher entschieden weniger wichtig als Wilhelm, aber da das Schicksal es nun mal so gewollt hat, daß sie zusammen mit Wilhelm auf die Welt kam, darf sie ohne weiteres auch darauf stolz sein, eine Hagemann zu sein, auch wenn sie Plossen heißt.

Die Hagemanns seien eine Dynastie, hat Tante Minchen ihnen voller Stolz erklärt, obwohl sie selbst, genaugenommen, nicht zu dieser Dynastie gehöre. Ihre Mutter habe sich wiederverheiratet, so sei sie eine Halbschwester der Großmutter geworden. Aber der Abglanz, im Umkreis dieser Dynastie leben zu dürfen, genüge ihr.

Dynastie, so erklärt es ihnen die Großmutter ausführlicher, als sie etwas älter sind, Dynastie, das heiße, daß man ihre Familie bis zum Dreißigjährigen Krieg zurückverfolgen könne und daß die Firma zwar nicht ganz so weit zurückgehe, aber doch sehr alt und immer in den gleichen Händen gewesen sei.

Wenn Laura dann weiterfragt, mehr wissen will von dieser Familie, dann lacht die Großmutter und wehrt ab. Diese Geschichte sei so kompliziert, daß man Tage brauche, um sie zu erzählen. Und wichtig zu wissen sei nur, daß Lauras Mutter die letzte geborene Hagemann gewesen sei und einen Walter Plossen geheiratet habe, einen Ballettmeister, einen Mann, dessen Choreographenkarriere im Deutsch-Französischen Krieg durch einen Schuß ins Bein jäh beendet worden sei. Und natürlich habe sich zunächst niemand vorstellen können, wie ein ehemaliger Ballettmeister eine Feuerwerksfirma leiten wolle. Aber Tanz sei Tanz, habe damals Walter Plossen gesagt, und ob es Raketen seien oder Ballettänzer, in jedem Fall brauche man Phantasie, um sie zueinander in Beziehung zu setzen. Und diese Phantasie habe er. Vermutlich in übergroßem Maße, hatte der Großvater damals mißbilligend gemeint. Wird wohl ein Künstler sein wollen, der Herr Schwiegersohn, und kein Handwerker. Ein Urteil, das Walter Plossen lächelnd zur Kenntnis nahm und das seine Position innerhalb der Familie aus seiner Sicht gewiß nicht tangierte.

In ihre eigenen Erinnerungen, ihre Wünsche, ihre Ängste steigt Laura erst mit etwa drei Jahren ein.

Der Tod der Mutter ist ein Ereignis, das sich ihr eingeprägt hat, auch wenn sie nicht mehr weiß, was eigentlich wann genau geschehen war. Fest stand eines Tages nur – es mußte der Tag der Beerdigung gewesen sein, zu der man sie und Wilhelm nicht mitnahm –, daß die Mutter nun endgültig nicht mehr im Haus war. Sie sei gestorben, sagte man ihnen, und nun sei sie im Himmel. Beide plapperten das Wort »gestorben« nach, ohne es zu verstehen, sie haben nicht gesehen, wie die Mutter gestorben ist. Was sie irgendwann begreifen, ist, daß die Mutter nun endgültig weg war. Und daß sich dieses Wegsein von dem früheren Wegsein unterschied, daß es ein Ganz-Wegsein war. Zuvor war die Mutter zwar auch weg gewesen, im Krankenhaus, aber sie durften sie dort von Zeit zu Zeit besuchen, zwar nicht berühren, aber anschauen durch eine Glasscheibe, winken auch. Ein Kuß genügt, und schon kann es passiert sein, hat es geheißen. Aber sie hatten mit dieser Erklärung kaum etwas anfangen können.

Auch der Himmel war für sie kein Ort, wo sie sich die Mutter vorstellen konnten. Einmal sagte Wilhelm, er habe die Mutter auf einer Wolke sitzen sehen, und fragte Tante Minchen, ob das sein könne. Tante Minchen, nicht ganz wohl in ihrer Haut, sagte, ja, das sei schon möglich. Als aber Wilhelm in der darauffolgenden Nacht schreiend aufwachte und der Kinderfrau weinend erzählte, daß seine Mama von ihrer Wolke heruntergepurzelt sei, machte Tante Minchen ihre Aussage rückgängig und sagte, nicht jeder, der im Himmel sei, sitze auf einer Wolke. Selbstverständlich könne man sich auch im Himmel irgendwo drinnen aufhalten, völlig normal auf einem Stuhl sitzen oder sonstwo, es gebe dort Platz genug. Aber Laura und Wilhelm kamen überein, daß auf die Erwachsenen kein Verlaß sei in diesen Dingen, und so beschlossen sie, daß sie sich die Mutter an keinem Ort mehr vorstellen wollten, allenfalls im Wäscheschrank, der noch immer nach Lavendel duftete wie ihr Parfum, das noch Jahre nach ihrem Tod auf dem Frisiertisch im Schlafzimmer stand.

Danach dann die Zeit der Angst. Der Angst vor einer neuen Mutter, die diese beiden Kinder brauchen, wie es heißt. Eine Stiefmutter. Was das ist, wissen sie inzwischen beide aus dem Märchen. Stiefmütter sind grundsätzlich häßlich, bösartig, laut. Und sie lieben in jedem Fall nur ihre eigenen Kinder, die sie mit in die Ehe bringen. Stiefmütter verfüttern ihre Stiefkinder an den Walfisch, flüstert ihnen Tine, das Hausmädchen, eines Tages zu, als in der Stadt ein gestrandeter Walfisch ausgestellt wird, dem der Präparator das Maul weit geöffnet hat. Zunächst ist diese Stiefmutter ein ständiger Gesprächsstoff, eine ständige Bedrohung. Sie liegt über ihnen wie Mehltau, ist in der Küche, im Salon, im Wohnzimmer, ist allgegenwärtig. Man macht sich nicht einmal die Mühe, diese imaginäre Stiefmutter, die da kommt und ihre Kinder mitbringt, vor den Zwillingen zu verschweigen. Als Grete, die Kinderfrau, einmal sagt, es gebe auch Stiefmütter, die keine Kinder mitbringen, glauben sie es nicht und vermuten, daß man sie damit nur beruhigen möchte.

Einige Male tauchen zwar irgendwelche Frauen auf, werden durchs Haus geführt und schauen sich alles gründlich an. Laura flüstert Wilhelm zu, daß dies wohl die Stiefmutter sein könne, aber Wilhelm lacht sie aus und sagt, es sei nur ein neues Mädchen, das die Großmutter eingestellt habe.

Irgendwann, es sind inzwischen Monate vergangen seit dem Tod der Mutter, wird die Angst der beiden geringer. Sie haben das Gefühl, der Vater, der sich ohnehin stets aus all diesen Gesprächen heraushält, habe aus irgendeinem Grunde vergessen, diese Stiefmutter ins Haus zu holen. Und irgendwann, noch später, scheint denn auch klar zu sein, daß dieses Haus keine Stiefmutter braucht. Es sind genug andere Frauen vorhanden, die Kinder erziehen können, sagt Tante Minchen mit Würde.

Und wenn auch dieses »genug« etwas übertrieben klingt – außer der Großmutter, ihr und den Dienstboten gibt es keine Frauen in der Villa –, so scheint sich doch die Idee durchzusetzen, daß die Kinder schon irgendwie nebenher mitlaufen werden.

Dieses Haus ist ein Hort für uns alle, behauptet die Großmutter. Es sei ein Schutzwall gegen die Welt. Und den Kindern würde es gewiß an nichts mangeln, solange sie lebe. Ein Versprechen, das, wie sich später zeigen sollte, ein sehr kühnes Versprechen war.

Feuerplätze

Der Feuerplatz, Ort der Kindergeheimnisse.

Der Feuerplatz, eine Stelle, an der Kinder völlig ungestört ihre »Orgien« feiern dürfen.

Der Feuerplatz, eine Höhle, in der Kinder aufwachsen, um die sich niemand kümmert.

Der Feuerplatz, ein Ort, der gefährlicher ist als der Löwenkäfig im Zoologischen Garten.

Sätze, die immer wieder fielen, wenn irgend etwas geschah, was die Familie bewegte.

Ein Kind, das ohne Mutter aufwächst, muß verwahrlosen, sagte Tante Minchen empört. Sie sei der Meinung, daß man nun – so spät es auch sei – entweder eine richtige Gouvernante ins Haus nehmen oder dieses Kind von irgend jemand in der Familie rund um die Uhr beaufsichtigen lassen solle. Und der, der das tue, müsse dann auch wirklich dafür verantwortlich sein. Aus welchem Grund schon einmal in jedem Fall der Vater ausscheide, der nicht einmal merke, was außerhalb seines Laboratoriums geschieht, und der nichts als seine Raketenchoreographien im Kopf habe.

Das Gespräch fand im Nähzimmer statt, und Tante Minchen schaute vorwurfsvoll ihre Halbschwester an, die jedoch nicht sonderlich an diesem Gespräch interessiert schien und ab und zu einen Blick auf einen Brief warf, den sie in der Hand hielt.

Grete genüge, sagte die Großmutter schließlich und wandte sich zur Tür. Das Ganze sei nichts weiter als ein dummes Spiel gewesen, und solche Zwischenfälle passierten auch in Familien, in denen eine Mutter nach dem Rechten sehe.

Zwischenfälle, empörte sich Tante Minchen, Zwischenfälle! Einem achtjährigen Mädchen den Zopf abschneiden, nur weil dies zum Spiel passe, das sei kein Zwischenfall, das sei eine Ungeheuerlichkeit. Und dann noch diese Argumentation: Als »Liebesbeweis« läßt sich dieses Kind den Zopf abschneiden!

Die Großmutter lachte. Sie habe gehört, es hätte eine Mutprobe sein sollen.

Ob Liebesbeweis oder Mutprobe, ist völlig egal, der Zopf ist ab. Und nun muß jemand ins Haus.

Grete genügt, wiederholte die Großmutter mit Nachdruck. Und sie habe nicht schon wieder Lust, sich stundenlang in der Jägerstraße aufzuhalten, um nach Dienstboten Ausschau zu halten. Und sie habe ebenfalls keine Lust, sich mit anderen Damen der Gesellschaft quasi darum zu prügeln, wen man bekomme oder auch nicht.

Grete habe gesagt, sie kündige, wenn man ihr nochmals die Verantwortung für diese wilden Kinder zuschiebe. In ihrem Gesindedienstbuch und in ihrem Arbeitskontrakt sei damals nicht vermerkt worden, daß sie Kinder zu beaufsichtigen habe. Und am wildesten sei von diesen beiden Kindern nicht der Knabe, sondern das Mädchen.

Gut, Laura wird eine Zeitlang dem Feuerplatz fernbleiben, entschied die Großmutter. Sie wird wie andere Mädchen im Hause mit Puppen spielen – und sich dabei zu Tode langweilen. Und dann wird sie heimlich auf den Feuerplatz gehen, und das ist noch schlimmer.

Wilhelm langweile sich im Hause auch nicht zu Tode, sagte Tante Minchen gereizt, er sei ein lieber netter, freundlicher ... ... und langweiliger kleiner Junge, unterbrach sie die Großmutter, der ganz gewiß eines Tages Buchhalter werde im Betrieb, aber gewiß kein Feuerwerker. Nicht eine einzige brauchbare Idee habe er bisher gehabt, nicht eine einzige.

Aber deine Enkelin hat brauchbare Ideen, ereiferte sich Tante Minchen, absolut brauchbare Ideen! Verstößt gegen das oberste Gesetz der Feuerwerkerei: probiert eine Sonne aus, die die Arbeiter weggeworfen haben, weil sie nicht funktioniert hat, und steckt dabei den halben Wald in Brand!

Die Großmutter lachte. Gut, gut, sie macht verrückte Sachen, aber sie hat wenigstens Einfälle. Ohne Ideen tauge die ganze Feuerwerkerei nicht. Wenn man nicht ständig etwas Neues auf den Markt bringe, könne man den Beruf vergessen.

Dein Enkel ist acht! sagte Tante Minchen vorwurfsvoll.

Na und? Mit acht habe ich bereits Knallfrösche gewollt, die anders funktionierten als die der Konkurrenz. Sie habe in den Geschäften welche gekauft, weil man sie nicht kannte, und habe die Dinger untersucht und ...

... und fast einen Finger dabei verloren, ereiferte sich Tante Minchen. Vater steckte dich zur Strafe acht Tage ...

Die Großmutter lachte und umarmte die Halbschwester. Aber immerhin war es nicht zuletzt meine Idee, daß Vater die alten Feuerwerkspläne unserer Vorfahren vom Speicher herunterholte und nach ihnen ein riesiges Gestell baute. Das Publikum amüsierte sich köstlich über den Hund, der den Hasen verfolgt und ihn nicht bekommt. Erinnerst du dich? Jaja, und dein erster Verehrer rümpfte dann die Nase, weil dein Haar nach Zündstoff roch. So etwas hatte er zuvor noch nie erlebt bei Damen.

Ich versprech’ dir’s, ich werde von jetzt ab regelmäßig mit ihr spazierengehen, in den Palmengarten ...

Spazierengehen! Du? Regelmäßig? Minchen verzog das Gesicht.

Na schön, dann eben unregelmäßig.

Und Viktor kommt uns nicht mehr ins Haus! sagte Minchen mit Nachdruck. Er ist ein genauso verwahrloster Junge, genauso mutterlos aufgewachsen wie Laura, da diese Sängerin fast nie daheim sei.

Kann er etwa dafür?

Natürlich nicht. Aber man brauche zu diesem wilden Mädchen nicht auch noch einen wilden Vetter, der nicht einmal ein richtiger Vetter sei, nur irgendwie angeheiratet oder sonstwie.

Sie werde nachdenken, beschloß die Großmutter.

Sie brachten Laura zum Friseur und ließen ihr einen Pagenkopf schneiden, der irgendwie zu kurz geriet, so daß sich Grete weigerte, Laura zum Einkaufen mitzunehmen, weil sich jedermann nach ihr umdrehe. Wie mit der Sense geschnitten, sagte sie vorwurfsvoll.

Der nächste Vorfall war gravierender – zumindest nach Meinung der gesamten Familie.

Weit hinter dem großen Feuerplatz, halb im Wald verborgen, lag eine Lichtung mit einem kleinen See. Ein Tümpel, mit Seerosen bedeckt und voller Schlingpflanzen, die bis ans Ufer waberten. Wilhelm und Laura kamen bisweilen mit ihren Freunden hierher, und die Jungen versuchten, ihre Modellschiffe zwischen Seerosen und Schlingpflanzen hindurchzusteuern. Da die Schiffe sich jedoch meist schnell im zähen Schlamm und zwischen den Pflanzen verhedderten, geschah dies nicht allzu oft. Aber dennoch hatte dieser See eine Anziehungskraft, die besonders auf Laura wirkte.

Als Viktor sie in den Ferien eines Tages fragte, ob sie Lust habe, in diesem Tümpel das Schwimmen zu lernen, stimmte sie zu. Begeistert. Vor allem deswegen, weil sie dann ihrem Bruder etwas voraushatte, der eine geradezu panische Angst vor Wasser zeigte.

Sie schluckte also mutig Wasserlinsen und Algen, einmal wurde ihr sogar übel, aber sie gab nicht auf. So unangenehm auch die Schlingpflanzen an ihren Beinen waren, sie schwamm zielstrebig hinter dem Stecken drein, den Viktor vor ihrer Nase her zog, nachdem er ihr zunächst am Ufer die Schwimmbewegungen beigebracht hatte.

Als sie endlich soweit war und Viktor ihr bestätigte, sie könne sich nun ohne weiteres auch in tiefere Gewässer wagen, hatte sie das Gefühl, als habe sie einen Sack voll Diamanten geschenkt bekommen. Selbstverständlich beabsichtigte sie nicht, ihrer Familie mitzuteilen, welchen Schatz sie besaß. Sie hatte Viktor sogar geschworen, es niemandem zu sagen, damit es ihrer beider Geheimnis blieb. Und sie hatte bei diesem Schwur nicht auf ihrem Rücken den Zeigefinger mit dem Ringfinger der linken Hand überkreuzt, um den Schwur nichtig zu machen. Sie hatte es ehrlich gemeint.

Aber dann kam der Tag, an dem die ganze Familie zum Picknick an die Havel fuhr, und es fand zunächst die übliche Quälerei statt, bei der der Großvater Wilhelm einige Male unter Wasser tauchte, weil dieser nicht bereit war, die sichere Uferzone zu verlassen. Die Prozedur fand unter den gutgemeinten Aufmunterungsrufen der Familie statt: Sei kein Feigling, Wilhelm! Ein tapferer Junge weint nicht! Zurufe, die es Wilhelm allerdings keinesfalls erleichterten, diese Initiationsriten des Großvaters zu ertragen.

Als schließlich allen klar wurde, daß auch dieser Tag nicht der Tag der preußischen Tugenden sein würde, flüchtete Wilhelm ermattet in den Schatten der Kutsche, und erst nachdem sich der Vater und Heinz auf Pilzsuche begaben, war er bereit, mit Laura Verstecken zu spielen.

Später hätte niemand mehr sagen können, wie es zu dem Unglück kam. Ob Laura die Stabilität des Astes, auf den sie geklettert war, überschätzt hatte oder ob Wilhelm, der in wildem Lauf auf den Baum zuschoß und an ihren Füßen zog, das Gleichgewicht verlor – fest stand nur, daß die beiden als Knäuel ineinanderverkrallt die Böschung hinunterkollerten und Laura ins Wasser fiel. Daß sie dabei nicht schrie, ließ die Schrecksekunde für Wilhelm größer werden, als gut war. Bis er wahrnahm, was geschehen war, trieb seine Schwester auf dem Rücken bereits gemächlich den Fluß hinunter.

Da die Frauen inzwischen lesend unter den Bäumen saßen und der Vater und Onkel Heinz noch unterwegs waren, vernahm lediglich der Großvater den entsetzten Hilfeschrei Wilhelms: Laura ertrinkt!

Minchen sprang auf und beteuerte händeringend, sie könne nicht schwimmen. Tine schlug die Hände vors Gesicht, weil sie gleich gar nicht sehen wollte, was geschah. Die Großmutter jedoch hatte sich in ziemlicher Entfernung in der Hängematte niedergelassen und nahm den Vorfall nicht wahr.

Dort vorne ist eine Treppe, schrie Wilhelm Laura zu und deutete am Ufer entlang. Dort kann man rausklettern.

Der Großvater, der soeben hinter der Kutsche die Badehose aus- und die Unterhose wieder angezogen hatte, rannte zum Ufer und rief, die Treppe nütze gar nichts, wenn man nicht schwimmen könne.

Oh, sagte Minchen verblüfft und schaute auf den Fluß hinaus, aber sie schwimmt doch.

Sie schwimmt? Der Großvater blieb ungläubig stehen, schaute zu der Enkelin hinüber, die in ruhigen Schwimmstößen, wenn auch nicht immer über Wasser, am Ufer entlang zu der Treppe schwamm. Das ist ja unglaublich! sagte er dann mit zusammengekniffenen Augen und vergaß seine Rettungsaktion. Sie schwimmt, bei Gott!

Tante Minchens Blick, zwischen Laura und dem Großvater hin- und herpendelnd, blieb plötzlich am Großvater hängen, dann schaute sie verschämt in eine andere Richtung und sagte vorwurfsvoll: Aber Albert, wie kannst du nur!

Der Großvater schaute an sich hinab, dann auf Minchen. Wenn es jemanden zu retten gebe, dann wechsle er nicht erst die Hosen, sagte er brüsk und warf sich ein Handtuch um die Schulter. Dann ging er mit raschen Schritten auf Laura zu, die soeben die Treppe erreicht hatte, und half ihr beim Heraufklettern.

Laura schüttelte das Wasser aus den Haaren, griff nach dem Handtuch, das er ihr reichte, und beschloß, sich möglichst rasch aus der Reichweite ihres Helfers zu entfernen und zu ihren Kleidern zu laufen.

Der Großvater hielt sie abrupt am Arm fest. Woher kannst du schwimmen? Wer hat dir das beigebracht?

Laura sagte ausweichend, sie friere und wolle sich erst abtrocknen.

Ich will wissen, woher du das kannst, was dein Bruder nicht kann.

Viktor hat es ihr beigebracht, sagte Wilhelm mit einer Spur von Schadenfreude im Gesicht.

O nein, nicht schon wieder Viktor! stöhnte Tante Minchen und störte sich plötzlich nicht mehr an des Großvaters unkorrektem Aufzug. Jetzt ist wohl endgültig der Punkt erreicht, an dem man etwas unternehmen muß. Er verdirbt dieses Kind. Onkel Heinz, der soeben vom Pilzesuchen zurückkehrte, fragte, was schwimmen denn mit verderben zu tun habe?

Tante Minchen reckte den Kopf und suchte offensichtlich nach passenden Worten: Wie hat er es dir beigebracht?

Was? Wie? fragte Laura verständnislos.

Wo hat er dich ... gehalten. Ich meine, er muß es doch irgendwie mit dir geübt haben. Hat er dich, ich meine ... Tante Minchen verhedderte sich in ihren Sätzen, von denen offenbar nur sie selber wußte, was sie bedeuten sollten. Und dann endlich die Frage, um die es eigentlich ging: Hattest du überhaupt einen Badeanzug an?

Laura starrte die Tante nahezu fassungslos an, schluckte, nickte dann mehrere Male, bevor sie endlich ein Ja aus sich herausquetschen konnte.

Als auch der Vater zurückkam, hatte Tante Minchen sich etwas beruhigt. Nun wurde die Großmutter aus ihrer Hängematte aufgescheucht, und statt des Picknicks gab es einen Familienrat.

Das mit dem Schwimmen könne man ja wohl kaum rückgängig machen, sagte der Vater, auch wenn man Viktor endgültig das Haus verbiete. Übrigens sei er froh, wenn wenigstens eines seiner Kinder schwimmen könne.

Es sei aber das falsche Kind, sagte der Großvater. Wozu brauche ein Mädchen schwimmen zu können. Und überhaupt, er habe keine Lust, ständig Geschichten hören zu müssen, die ihn ärgerten. Zuerst den Zopf abgeschnitten, jetzt das mit dem Schwimmen. Er frage sich, was als nächstes kommt.

Als nächstes kam in Viktors Strafregister eine chinesische Schmerzpuppe, die verschwand.

Viktor war für das Verschwinden dieser Puppe nicht verantwortlich, aber die Familie löste die Sache auf ihre Art, noch ehe der Sachverhalt geklärt wurde. Es interessierte niemand mehr, wie alles vor sich gegangen war, man wollte endlich klaren Tisch machen.

Woher hast du das Ding?

Wilhelm stellte die Frage Theo, seinem Freund, mit dem er auf dem Feuerplatz zum Messerwerfen war.

Laura kam dazu, als Theo »das Ding« gerade wieder in die Hosentasche stecken wollte. Was ist das?

Theo grinste sie an. Eine Puppe.

Na schön, eine Puppe, dachte Laura und schaute zum Haus hinüber. Man hatte ihr gesagt, sie solle nun endlich mit Puppen spielen wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter auch. Da es sich hier um eine Puppe handelte, würde man wohl kaum etwas dagegen haben können. Auch wenn sie seltsam aussah, diese Puppe – sie war nackt. Und sie sah auch keinesfalls aus, wie andere Puppen auszusehen pflegten.

Woher hast du sie?

Theos Vater hatte sie aus fernen Ländern mitgebracht, die er bereiste. Theos Vater war bei der Bagdad-Bahn beschäftigt, und Theo, zwei Jahre älter als die Zwillinge, erzählte ihnen jedesmal, wie stolz der Vater, seine Firma, Deutschland darauf seien, daß sie den Zuschlag für diesen Auftrag bekommen haben, so als wäre dies alles das persönliche Verdienst seines Vaters gewesen.

Und weshalb ist die nackt?

Theo wurde verlegen, bereute bereits, die Puppe hierhergebracht zu haben, schließlich gehörte sie nicht ihm, und überhaupt war sie sehr kostbar. Aus Elfenbein, hatte die Mutter gesagt, eine Antiquität, und die Puppe in eine Vitrine gelegt. Also, das ist so, fing Theo umständlich an. Also, ihr wißt ja, daß Frauen, nun ich meine, also sie ziehen sich nicht gern aus, beim Doktor. In China.

Nur in China? will Laura wissen. Oder auch in Deutschland? Das wisse er nicht, sagte Theo unwirsch, weil er ohnehin Schwierigkeiten hatte zu erklären, was er selber nicht recht kapierte. Also, die Frauen deuten dann da auf die Puppe drauf und zeigen, wo’s ihnen weh tut ...

Wieso deuten sie nicht bei sich selber drauf? wollte Laura wissen und unterbrach Theos holprigen Vortrag. Das wäre doch entschieden einfacher.

Weil Frauen sich nicht ausziehen vor Männern, sagte Theo böse.

Aber ein Arzt sei doch etwas anderes, wagte sie einzuwenden, und ihre Mutter habe sich im Krankenhaus doch auch ausziehen ...

Laß das! sagte Wilhelm abrupt.

Warum? wollte Theo wissen. Was hat sie denn gehabt? Nichts hat sie gehabt, sagte Wilhelm und warf Laura einen raschen Blick zu.

Es war doch nicht etwa die Schwindsucht, sagte Theo mißtrauisch und ging einen Schritt zurück.

Es war, begann Laura, obwohl sie plötzlich das Gefühl hatte, daß es besser wäre zu schweigen, es war ...

Wilhelm faßte seine Schwester an den Schultern, drehte sie um und befahl ihr, nach Hause zu gehen.

Ob sie die Puppe einmal mitnehmen dürfe, fragte sie. Schwindsucht sei ansteckend, sagte Theo und steckte die Puppe in seine Hosentasche.

Am Abend wird sie in die Bibliothek des Großvaters zitiert. Sie erschrickt zutiefst, weil sie die Rangfolge der Rügen genau kennt: Kleine Straftaten werden im Nähzimmer von Tante Minchen geahndet, größere von der Großmutter im Wintergarten. Nur die ganz großen kommen in der Bibliothek zur Verhandlung, in der sich dann meistens – wie auch heute – die ganze Familie einfindet. Onkel Heinz fehlt, aber auch ohne ihn ist der Raum mehr als voll.

Wo diese Puppe sei, beginnt der Großvater das Verhör. Welche Puppe?

Theos Vater habe angerufen und gefragt, was mit der elfenbeinernen Puppe geschehen sei, sie stelle eine Kostbarkeit dar. Sein Sohn behaupte, man habe sie ihm gestohlen. Im Garten der Hagemanns. Eine nackte Puppe. Und Laura habe, als sie diese Puppe sah, Fragen gestellt. Unzüchtige Fragen, die sich für ein kleines Mädchen nicht gehörten.

Was denn an dieser Puppe besonders gewesen sei, will Minchen wissen.

Nichts, sagt Laura und fragt sich, wo wohl Wilhelm steckt.

Was Theo denn mit Laura gemacht habe?

Theo?

Ob er sie angefaßt habe, will diesmal die Großmutter wissen.

Angefaßt? Laura ist froh, daß es diesmal nicht Viktor ist, der sie angefaßt haben soll.

Theo zufolge habe er die Puppe deswegen auf den Feuerplatz mitgebracht, weil Viktor neulich gesagt habe, mit Hilfe dieser Puppe werde er Laura zeigen, wo die kleinen Kinder herkommen, und dann wolle er ihr alles erklären, ohne Puppe. Aber Viktor kennt diese Puppe doch gar nicht! sagt Laura erschreckt.

Offenbar doch, sonst könnte Theo das doch nicht sagen. Laura hat das Gefühl, die Erwachsenen seien im Kopf nicht in Ordnung. Puppe, nackt, angefaßt – und so vergißt sie, nach Wilhelm zu fragen, der ja schließlich dabeigewesen war.

Das Verhör endet irgendwann blind, das heißt, Laura weiß nicht, ob Viktor vielleicht doch in die Sache verwickelt ist oder ob Theo lügt, weil er die Puppe verloren oder verschachert hat; schließlich hat Theo auch früher schon gelogen. Sie weiß gar nichts. Nur, daß sie Viktor nun nicht mehr sehen wird.

Nie mehr? fragt sie am nächsten Tag.

Nicht, solange sie so klein sei und nicht wisse, was sich schicke, heißt es.

Ohne Sitten

ist kein Mädchen wohlgelitten.

Still und tugendhaft zu sein

macht die kleinen Mädchen fein!

Artig leben,

bei dem kleinsten Fehltritt beben,

dies kommt frommen Mädchen zu:

Himmel hilf, daß ich es tu!

Laß mich immer

als ein sittsam Frauenzimmer

an der Hand der Tugend gehn

und auf ihre Augen sehn!

Sie haben sie diese Verse auswendig lernen lassen. Dann mußte sie sie auf Stramin sticken. Nicht nur aufschreiben, das sei eine zu geringe Strafe, sagte Tante Minchen. Sticken, damit dauert die Strafe länger. Und anschließend sollte dieser Spruch über ihrem Bett prangen, damit sie jeden Tag an ihn erinnert würde.

Strafe wofür?

Für alles. Sie habe unzüchtige Fragen gestellt.

Unzüchtige Fragen, was das sei.

Fragen, die ein kleines Mädchen nicht stellt.

Und wer sagt, daß sie solche Fragen gestellt hat?

Theo.

Nun denn, sie gab es auf, wußte bald nicht mehr, was sie gesagt hatte oder zu wissen glaubte, daß sie es gesagt hatte, oder ob sie es auch nur gedacht hatte. Vielleicht hatte sie ja auch wirklich gewollt, daß sie jemand berührte, da sie so gut wie niemand anfaßte. Die Mutter hatte es getan. Die anderen taten es nicht. Auch der Vater nicht. Kein Kuß. Nicht einmal beim Zubettgehen: In einer preußischen Familie genügt es, das Vaterland zu lieben, andere Gefühle zeigt man nicht, sie sind ein Zeichen von Schwäche.

Sie haben sie in ihr Zimmer gesperrt und ihr verboten, außer zur Schule das Haus zu verlassen, was Grete gerade recht ist wegen dieser haarsträubenden Frisur. Sie bekommt kein Wursträdchen mehr beim Metzger und kein Bonbon beim Bäcker, ein Verlust, der sie weinen läßt, heimlich.

Viktor darf also nicht mehr in dieses Haus kommen. Die Familie atmet auf. Man ist sich sicher, eine gute Entscheidung getroffen zu haben.

Aber dann geschehen Dinge, die man, nachdem Viktor verbannt ist, nicht für möglich hält: Laura hat ihr Kleid verbrannt, ihr schönes neues Matrosenkleid. Aus reiner Wolle. Dieses Kleid kratzt mehr als die anderen, hat sie gesagt. Aber man hat ihr nicht geglaubt. Also hat sie es verbrannt. Auf dem Feuerplatz. Es hat sie niemand angestiftet zu dieser Untat, niemand ist schuld, nur sie selbst. Wenn sie sich fragt, weshalb sie es getan hat, so weiß sie, sie hat es getan, um Viktor zu rächen, den sie wegen jener chinesischen Schmerzpuppe nicht mehr sehen darf. Und natürlich hat sie es auch getan, um sich an Herrn Tirpitz zu rächen, für all die kratzenden Matrosenkleider und Anzüge, die die Kinder diesem Mann verdankten.

Klar ist, daß sie nun richtig bestraft werden muß. Hier ist sich die Familie einig.

Richtig heißt, daß sie Hiebe bekommen muß.

Das Problem bleibt, welche Art von Hieben sie bekommen soll, wie viele, und wer sie verabreichen soll.

Welche Art? begehrt der Großvater auf. Als ob das eine Frage sei. Hiebe der gleichen Art, mit denen sie als Kinder auch erzogen worden seien. Kräftige Schläge auf den Hintern.

Mit der Hand?

Was, mit der Hand?

Nun, womit diese Schläge verabreicht werden sollen, will die Großmutter wissen. Es gebe schließlich alle möglichen Gegenstände für so etwas: Kehrwische, Kochlöffel, Wellhölzer, Dachlatten.

Ob sie sich über ihn lustig machen wolle?

Er könne gerne einen Rohrstock in der Schule ausleihen, bietet Heinz, der Lehrer ist, voller Ernst an, was aber Minchen und der Großmutter ganz offensichtlich grenzenlos zuwider ist.

Ob er die Züchtigung vornehmen wolle, fragt die Großmutter.

Ich? Der Großvater schaut seine Frau entrüstet an. Wieso denn um alles in der Welt ich? Und noch sei ja nicht entschieden, womit.

Ihr gehe es um die Klärung dieser Angelegenheit, sagt die Großmutter freundlich. Auch wenn man sich im Augenblick noch nicht über das Züchtigungswerkzeug einigen könne. Also, ob er es tun wolle?

Er, weshalb denn er. Dieses Kind habe einen Vater, der dafür zuständig sei.

Dieser Vater ist im Augenblick verreist, sagt die Großmutter. Also wer?

Der Großvater starrt seine Frau zornig an. Ich nicht, sagt er dann kurz. Ich ganz gewiß nicht. Und überhaupt habe er Gicht in den Fingern.

Da Heinz keinesfalls dafür in Frage kommt, auch wenn er schließlich eine gewisse Übung in diesen Dingen hat, bleibt Minchen, die die Züchtigung jedoch weit von sich weist und sagt, sie könne nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun.

Die Großmutter macht geltend, nachdem sie so vehement gegen Kinderarbeit sei, sei sie selbstverständlich auch gegen Kinderzüchtigung. Sie komme daher keinesfalls in Frage.

Laura darf aber nicht so davonkommen, sagt Tante Minchen energisch. Ohne Strafe geht es nicht. Und die Sache könne schließlich nicht ausgehen wie das Hornberger Schießen.

Wir werden das gleiche Kleid neu besorgen, das sie verbrannt hat, entscheidet die Großmutter schließlich nach einigem Nachdenken. Und Laura muß es bezahlen. Aus ihrer Sparbüchse. Alle betrachten dies als eine salomonische Lösung.

Von da an ist Laura ein Thema für die Herrenabende des Großvaters. Er und seine Freunde sitzen dann im Salon, weil es auf der Terrasse meist zu kühl ist, qualmen, daß die Vorhänge stinken und man zwei Tage lüften muß, bis man in diesem Raum wieder atmen kann, wie Grete angewidert in der Küche erzählt.

Das Matrosenkleid verbrannt? Den Zopf abgeschnitten? Als Liebesbeweis?

Als Liebesbeweis! bestätigt der Großvater, der die Geschichte mit der chinesischen Schmerzpuppe bewußt unter den Tisch fallen läßt, weil sie ihm zu prekär erscheint.

Die Freunde des Großvaters klopfen sich vor Lachen auf die Schenkel und wiederholen die Geschichten für jeden Späterkommenden, als handle es sich um Anekdoten aus dem Siebziger Krieg, die noch nicht allen geläufig sind. Als Liebesbeweis läßt sich das wilde Fräulein seinen Zopf abschneiden! Kolossal!

Da werdet ihr einmal eure Mühen haben mit diesem wilden Kind, wenn sie eine Frau wird, prophezeien sie dem Großvater.

Er habe bereits jetzt seine Mühen, auch wenn sie noch keine Frau sei. Jeden Tag gebe es irgend etwas anderes.

Wie wir hören, hast du mit all deinen Frauen Mühe, sagt der Freund Norbert augenzwinkernd.

Der Großvater stopft umständlich seine Pfeife und tut so, als habe er den Satz nicht gehört. Aber die anderen lassen nicht locker, erzählen, was sie in der Zeitung gelesen haben. Also, letzte Woche ...

Er lese die Zeitung ebenfalls, sagt der Großvater steif, er wisse, was dort stehe.

War diese Clara Zetkin denn am Ende auch schon einmal hier, will einer wissen.

Die Ader auf der Stirn des Großvaters schwillt an. Falls diese Clara Zetkin ins Haus komme oder gar diese Rosa Luxemburg, dann ziehe er aus.

Hoho, sagen sie, dieses Haus würde niemand verlassen, der bei Sinnen sei. Es sei ja wohl weit und breit das schönste Haus in dieser Straße. Und wer da alles zu den Teegesellschaften komme, das sei doch auch beachtlich.

Das sei ihm egal, sagt der Großvater grob. Dieses ganze Weibervolk, das zu seiner Frau komme, sei ihm zutiefst zuwider.

Worum es da eigentlich gehe, bei diesen Treffen im Wintergarten, fragt Norbert, wobei klar ist, daß dies keine Frage ist, sondern lediglich Ausdruck des Wunsches, bei diesem Thema zu verharren, von dem jeder der Anwesenden weiß, daß es genügend Zündstoff bietet, um einen an sich langweiligen Abend mit Würze zu versehen.

Ob denn er keine Zeitung lese? fragt der Großvater grimmig zurück.

Doch doch, aber er habe gehört, daß jede dieser Damen, die da aus und ein gingen in diesem Wintergarten, ein ganz bestimmtes Ressort habe, sagt Norbert, Frauenbildung, Mädchenbildung, Kinderarbeit, und da interessiere ihn eben, welches Ressort Auguste habe.

Auguste habe gar keines, sagt der Großvater brüsk, jedoch mit leichtem Schuldgefühl, da er seine Frau nie danach gefragt hat. Seine Frau mische sich glattweg in alles ein.

Wieder klopfen sie sich auf die Schenkel, wieder sagen sie: Ein beachtliches Haus mit beachtlichen Frauen. Donnerwetter!

Beim Abendessen am nächsten Tag läßt der Großvater beiläufig die Frage fallen, was das eigentlich sei, um das Auguste sich im besonderen kümmere.

Nun, um das Wahlrecht, sagt die Großmutter mit aller Selbstverständlichkeit. Ob er das nicht längst wisse?

Um das Wahlrecht, soso. Der Großvater hat das Gefühl, als beginne der Boden unter seinen Füßen zu schwanken. Frauenbildung, Mädchenbildung, Kinderarbeit, das alles hatte er noch verstehen können. Aber keinesfalls hatte er angenommen, daß seine Frau versuchte, in solche Höhen vorzudringen.

Eine Denkerin also, sagt er sarkastisch, eine Denkerin habe er in seinem Haus. Nicht eine Frau, die sich sozial betätigen wolle, wofür er gerade noch Verständnis habe, sondern eine, die ganz hoch hinaus, gar Politik machen wolle. Ob es das sei, was sie wolle, Politik machen.

Die Großmutter schneidet mit Bedacht ein Stück Käse ab und sagt dann, sie wolle Frauen helfen, das sei alles. Und falls ihn ihre Arbeit wirklich interessiere, wovon sie bisher nicht eben überzeugt gewesen sei, so könne er gerne zu ihrem nächsten Vortrag kommen.

Sie hält Vorträge über Wahlrecht, sagt er am anderen Tag auf der Börse zu Norbert, sie versteht nichts von Wahlrecht, aber Vorträge hält sie.

Woher weißt du, daß sie nichts davon versteht? will Erwin wissen.

Wie bitte? fragt er irritiert.

Norbert lacht. Nun, er könne sich vorstellen, daß Auguste ziemlich genau wisse, was sie wolle. Und daß sie von einer Menge mehr verstehe, als sie, die Männer, sich vorstellen können.

Du hast dieses Kind ausgeschlossen, hast es vor die Tür gestellt. Ein Satz, den die Großmutter in einer der Debatten über Lauras Ungebärdigkeit und ihre Untaten vorwurfsvoll zu ihrem Mann gesagt hat.

Der Großvater weiß, daß das stimmt. Er hat sich um seinen Enkel bemüht, nicht um seine Enkelin. Er hat gesagt, sie sei ein Mädchen und brauche daher von vielen Dingen nichts zu wissen, weil sie sie später doch nicht gebrauchen könne.

Daß Laura begierig war auf alles Wissen, viel mehr als Wilhelm, hat ihn nicht berührt. Männersachen für Männer, Frauensachen für Frauen: Alles in der Welt muß seine Ordnung haben.

Nun also hat er nachgedacht, hat sich überlegt, daß er dieser übergroßen Gefühlswelt, die Laura zeigt, etwas entgegensetzen muß. Er muß sie zurechtbiegen, ihren Kopf frei machen für anderes, sie soll teilhaben an den großen Dingen der Welt, an Dingen, die er ihr bisher vorenthalten hat.

Vorenthalten hat der Großvater Laura etwas, was von der übrigen Familie weitgehend als unbedeutend betrachtet wird, für ihn jedoch an höchster Stelle steht: eine vaterländische Erziehung. Bei Wilhelm hat er damit angefangen, als der Enkelsohn gerade laufen konnte. Er schleppte ihn jeden Sonntag morgens nach dem Kirchgang mit, um ihm die Größe des Vaterlandes näherzubringen. Führte ihm die steinernen Zeugnisse des Preußentums vor Augen, ließ ihn an den Standbildern vorbei die Siegesallee entlang trippeln bis zur Siegessäule, im Volksmund Siegesspargel genannt. War Wilhelm müde, so durfte er erst kurz vor der völligen Erschöpfung auf des Großvaters Schultern sitzen. Du überstrapazierst dieses Kind, sagte die Großmutter manchmal, denn nur sie wagte es, sich zu diesen mehr als herben Erziehungsmethoden zu äußern. Die Eltern schwiegen, beide. Einmal, als sie einen vagen Einspruch erhoben, weil Wilhelm am Nachmittag nach diesem Gewaltmarsch kaum mehr zum Aufstehen zu bewegen war, fragte sie der Großvater lediglich, ob sie etwa einen Waschlappen großziehen wollten.

Wilhelm war also inzwischen gefeit gegen Wetter und Wind, er war eingeweiht in die Größe dieses Preußentums, in die Kraft und die Macht des deutschen Staates. Mit vier Jahren bereits war Wilhelm so etwas wie ein Heeresexperte gewesen, der die Stärke der Armee herunterbeten konnte. Für die Kavallerie interessierte er sich am meisten. Er wußte die Zahl der Regimenter, der Offiziere, Unteroffiziere und Zahlmeister, der Spielleute, Gefreiten und Gemeinen, Lazarettgehilfen, Ökonomiehandwerker, Militärärzte, Roßärzte, Büchsenmacher und Sattler. Und was das alles kostete im Jahr, wußte er ebenfalls.

Dieses ungewöhnliche Wissen verdankte Wilhelm den sonntäglichen Spaziergängen, die stets auf dem Kreuzberg endeten. Zwischen dieser Anhöhe und Tempelhof war das Aufmarschgebiet der Berliner Garnison. Hier wurde vor Zuschauern demonstriert, daß Deutschland groß und stark war. »Überblick über die deutsche Kriegsmacht« hieß das in den Ankündigungen.

Die Fläche gehörte zu den größten Übungsplätzen Europas. Hier hatte bereits der Alte Fritz seine Armee zur Schau gestellt und von den Berichterstattern der ganzen Welt besichtigen lassen. Hier draußen war alles groß: groß der Platz, groß die Armee, groß die Zuschauerzahl bei den Aufmärschen. Das simple Adjektiv groß erfuhr hier eine Steigerung wie kaum sonstwo: groß, größer, am größten. Die Leute kamen zu Zehntausenden und mußten von Schutzmannschaften zurückgehalten werden, wenn die Soldaten bei den großen Truppenparaden am Herrscher vorbeidefilierten.

Die erste Kaiserparade wird für Laura ein einschneidendes Erlebnis. Daß sie dabeisein darf, ist eine Ehre, die Mädchen normalerweise nicht zuteil wird. Es ist also selbstverständlich, daß sie sich dieser Ehre würdig zu erweisen hat. Sie hat auszuhalten, ganz gleich, ob es regnet und stürmt oder die Sonne gnadenlos herunterbrennt. Sie soll soldatische Tugenden kennenlernen, Preußentugenden. Marketender sorgen zwar dafür, daß der Durst nicht allzu groß wird, aber auch in diesem Punkt werden erzieherische Maßnahmen ergriffen: Im Krieg gibt es auch nicht immer zu trinken, wenn man Durst hat. Überdies seien die Zwillinge ja dank ihrer Matrosenhüte vor übermächtiger Hitze geschützt, erklärt der Großvater.

Und so stehen sie, beobachten, wie der Kaiser den Vorbeimarsch seiner Truppen abnimmt: zuerst das Lichtenfelder Kadettencorps, die Infanterie in Kompaniefronten, die Kavallerie in halben Escadrones, die Artillerie in Batterien, der Train in Zügen. Ist der Train vorbei, wird gewendet, der Aufmarsch geschieht ein zweites Mal, diesmal allerdings in einer anderen Formation und Kavallerie, Artillerie und der Train im Trab, damit sich die Zuschauer nicht langweilen.

Wie mit dem Lineal! sagt ein Mann neben Laura bewundernd. Schaut euch das nur an! Dieser preußische Paradeschritt, ein Kunstwerk, das man erst einmal nachmachen sollte, bevor man sich darüber lustig macht.

Am Abend ist die Matrosenkleidung dann voller Staub. Wilhelm ist ungeschickt gewesen, hat Limonade über seinen Anzug gegossen. Laura hat versucht, ihr Kleid sauberzuhalten, wie sie überhaupt versucht hat, sich dieser Ehre entsprechend zu verhalten. Keine Unmutsäußerung wegen des Dursts, keine wegen des Hungers. Ihre Blase hat sie so lange im Zaum gehalten, bis der Großvater sie mit einer netten Dame in den Wald geschickt hat. Kurzum: Sie hat gelernt, Soldatentum zu praktizieren, preußisches Soldatentum.

Sie sei gut gewesen, diese Enkelin, sagt der Großvater am Abend zu Hause. Nein, sie habe keine Schande gemacht, sei weder ohnmächtig umgefallen, noch habe sie gejammert. Gestanden bis zum Schluß. Ein unsichtbarer Orden, der an ihre Brust geheftet wird, so wie dies der Alte Fritz zu tun pflegte, wenn seine Soldaten besondere Leistungen beim Exerzieren oder im Manöver gezeigt haben. Und er sei ganz sicher, daß mit diesem ersten Versuch einer vaterländischen Erziehung der Feuerplatz zum unbedeutenden Versatzstück im bisherigen Leben der Kinder degradiert sei, alles Weichliche aus ihnen herausmanipuliert, die Köpfe frei für Höheres, Wertvolleres, Größeres.

Zumindest stellte er sich dies so vor. Daß die Wertmaßstäbe seiner Enkel anders sein könnten als seine eigenen, war kein Gedanke, der ihn belastete.

Mein Vater macht Sterne, sagt Laura voller Stolz, nachdem der Lehrer in der Klasse nach den Berufen der Väter gefragt hat. Er macht Sterne, Monde und Sonnen. Sonnen vor allen Dingen. Und sie weiß, daß sie damit allen anderen Kindern, deren Väter Bücher, Mützen, Schuhe, Brote oder Häuser machen, überlegen ist und daß sie sie in den Schatten stellt. Und so baut sie ihre Geschichte aus, erzählt von den großen Geheimnissen dieser Feuerwerkerei, über die sie und Wilhelm jedoch eine ganze Menge wissen: Sie dürfen nämlich zuschauen bei diesem Sternemachen. Sogar mithelfen. Der alte Emil, der schon seit Jahren in den Diensten der Hagemanns steht, zeigt ihnen, wie man die Sterne macht. Zunächst werden die Ingredienzen wie beim Kuchenbacken bereitgestellt, dann in großen Schüsseln miteinander vermischt, so daß eine dicke Paste entsteht. Diese wird auf ein Brett gestrichen und dann in Würfelchen geschnitten. Und diese Würfelchen dürfen sie manchmal schneiden. Einmal längs, einmal quer. Der alte Emil und der Vater schauen belustigt zu, wie die Kinder sich bemühen, die Schneide des Messers senkrecht zu halten, damit die Würfelchen, die dann in Bombenhülsen gefüllt werden, auch gleichmäßig sind.

Noch größer ist ihre Freude, wenn sie in das Laboratorium des Vaters dürfen, zu dem sonst niemand Zutritt hat. Er gibt ihnen dann oft ein kleines Stäbchen in die Hand, zündet es für sie an, und sie dürfen es halten und zuschauen, wie das flüssige Silber in sternenförmigen Funken auf den Stein fällt. Das sind ihre Sterne, die sie machen. Goldene Sterne, silberne, rote, grüne, gelbe. Und der Vater fragt sie, welche Farben ihnen besonders gefallen, wie diese Farben zusammenpassen, welche zuerst aufleuchten sollen und welche nachher.

Die Welt, in die sie eintauchen dürfen, ist eine magische Welt. Das Geheimnis der Rezeptur bleibt stets Geheimnis, niemand gibt es preis, auch kein Feuerwerker dem anderen. Eigentlich seien sie Verschwendung, solche Feuerwerke, sagen manche Leute. Kaum gesehen, schon vorbei. Aber die Kinder wissen, daß es nicht so ist. Sie fühlen sich, wenn sie in diesem Laboratorium sein dürfen, mächtig, haben das Gefühl, daß sie zu den Wissenden gehören.

Mein Vater kann das Firmament röten. Er kann Blitze und Donner auf die Erde schicken, sagt Laura voller Stolz.

Dein Vater ist wohl der liebe Gott, wird sie einmal von einem kleinen Mädchen voller Staunen gefragt.

Fast, sagt Laura, ohne etwas dabei zu finden. Und wenn er will, kann er vermutlich noch mehr. Zum Beispiel – und auch da ist sie ganz sicher – kann er, falls er wirklich will, sicher auch richtiges Gold machen, da er doch die Sterne an den Himmel zaubert und machen kann, daß dieses Gold vom Himmel auf die Erde fällt.

Die Kinder leben also ihr eigenes Leben in diesem Haus, in dem es wie in einem Ameisenhaufen zugeht, so sagt wenigstens der Großvater. Sie kümmern sich nicht um diesen Ameisenhaufen, schlängeln sich zwischen den Ameisen hindurch, haben ihre eigenen Sachen im Kopf, sogar eine eigene Sprache.

Hast du den blauen Vulkan?

Denkst du an die Schmetterlinge?

Vergiß nicht den Silbermond!

Die große Sonne ist schon auf dem Feuerplatz.

Dergleichen Dialoge laufen zwischen ihnen ab an manchen Tagen.

Sätze, die ihnen gehören, die niemand zu entschlüsseln vermag. Fast ein Geheimcode.

Der Wintergarten

Die in der vordersten Reihe, die zweite von links, sagt der Großvater, hochrot im Gesicht, und streckt seinem Freund Erwin die Zeitung entgegen. Die neben der mit dem Schafsgesicht.

Die Herren sitzen im Börsencafé, in dem sie sich manchmal treffen, wenn Erwin seine Börsengeschäfte beendet hat. Welche? fragt Erwin und hält die Zeitung dicht an die Augen, dann legt er sie auf den Tisch, um seinen Zwicker aus der Tasche zu holen.

Mein Gott, du wirst sie doch auch ohne Brille erkennen, sagt der Großvater sarkastisch, sie überragt doch alle anderen! Meinst du etwa die mit dem großen Hut?

Ich meine die ohne Hut. Den Hut hatte sie bereits vorher verloren. Bei einer Demonstration verliert meine Frau ihren Hut! Kannst du mir sagen, wie eine Dame ihren Hut verliert?

Erwin lacht. Er habe keine Erfahrung mit Ehefrauen, geschweige denn mit solchen, die bei einer Demonstration ihren Hut verlieren.

Wenn du mich fragst, dann tust du gut daran, Junggeselle zu bleiben und in deiner Freizeit Schäferhunde zu züchten, sagt der Großvater zornig und stellt seine Tasse so heftig auf den Tisch, daß der Kaffee überschwappt.

Und worum ging es diesmal? Oder weißt du es noch immer nicht? Neulich hast du uns erzählt, daß sie den lieben langen Tag in diesem verflixten Wintergarten herumsitzt und den Haushalt verkommen läßt.

Nicht eben verkommen, schwächt der Großvater ab, schließlich sei da auch noch Minchen. Aber dieser Wintergarten sei schon lange kein Ort mehr, an dem Pflanzen gedeihen. Er sei ein Hort der Revolution. Jaja, ein Hort der Revolution. Dann hätte sie doch lieber Cellistin werden sollen, was er ihr ausgeredet hat, als sie heirateten, lieber dies als das, was sie heute mache.

Bau ihr doch im Garten Barrikaden auf, spottet Erwin, dann kann sie üben für den Ernstfall. So wie die Weiber anno achtundvierzig.

Barrikaden! Der Großvater bläst die Luft aus dem Mund. Barrikaden! Diese Frauen aus der ganzen Welt, die da ständig mit Auguste zusammenkämen, brauchten keine Barrikaden. Sie bringen die Welt auch ohne so etwas in Unordnung. Verstehst du? Der Großvater zerknüllt die Zeitung, die er Erwin gegeben hat, in der Hand. Sie rütteln am Weltgefüge! Es gibt kaum mehr etwas, woran sie nicht rütteln. Stimmrecht, bessere Bildung für Mädchen, freie Liebe, wilde Ehe, Paragraph zweihundertachtzehn Reichsstrafgesetzbuch – es ist wie in einer Gemischtwarenhandlung. Das ganze Haus voller Flugblätter. Und Petitionen. Petitionen! Sie sind geradezu wild auf diese Petitionen, die sie überall hinschicken. Und wir als Abgeordnete müssen uns im Reichstag dann tagelang damit beschäftigen. Und in dieser ganzen Suppe von Petitionen rührt dann seit letztem Jahr auch noch diese Friedensfurie, diese Bertha von Suttner, mit herum, stachelt alle auf, die noch nicht schon genug aufgestachelt sind. Reist durch die Lande und hält Vorträge. Und dieser Schnickschnack bleibt nicht etwa auf unseren Wintergarten beschränkt, o nein, er wuchert langsam wie ein bösartiges Geschwür durch das ganze Haus. Kein Zimmer, in dem nicht irgend etwas herumliegt, Aufrufe, Schriften, wilde Broschüren. Und Unterschriftensammlungen.

Weißt du, sagt Erwin bedächtig, ich an deiner Stelle wäre froh, daß sich das alles in bürgerlichen Kreisen abspielt. Stell dir vor, sie läuft dieser Luxemburg nach oder dieser Zetkin, die ja eine gottbegnadete Rednerin sein soll, wie man sagt. Der Großvater verschluckt sich am Rauch seiner Zigarre. Dann gebe es nur eines: Scheidung. Das dürfte klar sein.

Erwin lacht. Das glaube er nicht. Und das Ganze sei doch nur ein Spuk. Die laufen doch ins eigene Messer. Wenn da mehr als zehn aus unterschiedlichen Vereinen zusammen sind, kratzen die sich doch die Augen aus!

Der Großvater teilt diese Meinung nicht und sagt, auch blind würden die weitermachen, die seien ganz einfach durch nichts zu bremsen. Aber solange Auguste nichts mit dieser Zetkin und der Luxemburg zu tun habe, könne sie ja seinetwegen ihr Spielzeug behalten.