Die Töchter Venedigs - Band 3: Stadt der dunklen Masken - Ingeborg Bayer - E-Book
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Die Töchter Venedigs - Band 3: Stadt der dunklen Masken E-Book

Ingeborg Bayer

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Beschreibung

Die Kraft der Freundschaft überwindet alle Grenzen: »Die Töchter Venedigs: Stadt der dunklen Masken« von Ingeborg Bayer jetzt als eBook bei dotbooks. Venedig im 18. Jahrhundert. Am Rialto sind neue Zeiten angebrochen: Der Glanz von La Serenissima droht zu verblassen, und der Stolz ihrer Bewohner ist endgültig gebrochen, als Napoleons Truppen die Stadt besetzen. Inmitten dieser Zeit der politischen Unruhen besucht die junge Ursul Helmbrecht aus Nürnberg die Stadt an der Lagune. Als sie im Haus eines Familienfreundes einen geheimnisvollen Kupferstich mit dem Bildnis dreier Frauen entdeckt, ist die junge Deutsche sofort fasziniert. Sie spürt, dass eine sonderbare Beziehung sie selbst mit dem Schicksal der drei Veneziannerinnen verbindet. Ursul beginnt, Nachforschungen anzustellen – und diese führen sie nicht nur immer weiter in die verwinkelten Gassen Venedigs, sondern auch in die Tiefen der Vergangenheit ihrer eigenen Familie … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde historische Roman »Stadt der dunklen Masken« von Ingeborg Bayer – das epische Finale der Trilogie »Die Töchter Venedigs«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 408

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Über dieses Buch:

Venedig im 18. Jahrhundert. Am Rialto sind neue Zeiten angebrochen: Der Glanz von La Serenissima droht zu verblassen, und der Stolz ihrer Bewohner ist endgültig gebrochen, als Napoleons Truppen die Stadt besetzen. Inmitten dieser Zeit der politischen Unruhen besucht die junge Ursul Helmbrecht aus Nürnberg die Stadt an der Lagune. Als sie im Haus eines Familienfreundes einen geheimnisvollen Kupferstich mit dem Bildnis dreier Frauen entdeckt, ist die junge Deutsche sofort fasziniert. Sie spürt, dass eine sonderbare Beziehung sie selbst mit dem Schicksal der drei Venezianerinnen verbindet. Ursul beginnt, Nachforschungen anzustellen – und diese führen sie nicht nur immer weiter in die verwinkelten Gassen Venedigs, sondern auch in die Tiefen der Vergangenheit ihrer eigenen Familie …

Über die Autorin:

Ingeborg Bayer (1927–2017) studierte nach ihrer Ausbildung zur Bibliothekarin Medizin und Hindi. Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete sie in einem medizinischen Archiv. Ihre Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten wurden vielfach preisgekrönt, unter anderem mit dem Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem deutschen Jugendliteraturpreis und dem Österreichischen Staatspreis.

Ingeborg Bayer veröffentlichte bei dotbooks vier historische Romane:

»Ärztin einer neuen Zeit«

»Die Buchdruckerin von Köln«

»Der Maler von Florenz«

»In den Gärten von Monserrate«

Weiterhin veröffentlichte sie bei dotbooks ihre Venedig-Trilogie »Die Töchter Venedigs« mit den Einzelbänden:

»Stadt der tausend Augen«

»Stadt der blauen Paläste«

»Stadt der dunklen Masken«

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eBook-Neuausgabe August 2021

Dieses Buch erschien bereits 2005 unter dem Titel »Stadt der dunklen Masken« bei Heyne.

Copyright © der Originalausgabe 2005 by Ingeborg Bayer, © 2007 by Wilhelm Heyne Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Digiselector, Everett Collection (Venedig von Antonio Juli)

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-583-8

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Ingeborg Bayer

Die Töchter VenedigsStadt der dunklen Masken

Roman

dotbooks.

Widmung

»Wer den Chamsin nicht erlebt hat, hat nicht gelebt«, heißt es in einem Satz dieses Buches. Und so widme ich dieses Buch nicht, wie sonst üblich, nur einer Person, sondern diesem Chamsin. Und zugleich der Wüste, die mir ein Lebensgefühl vermittelte, das mit keinem anderen zuvor und danach zu vergleichen ist.

Von allen Städten, die im Altertume

Zum Karneval so herrlich eingeladen

Mit Masken und geheimer Redeblume,

Mit Tanz, Gesang und Ball und Serenaden,

Und allem, was erglänzt in klarem Ruhme,

Gebührt der Preis Venedigs Prachtgestaden

Und in der Meergebornen höchste Glorie

Fällt, die ich euch erzähle, die Historie.

Lord Byron (1788–1824)

Teil I

Io sarò un Attila per lo stato Veneto

Ich werde für Venedig ein Attila sein

Napoleon, 1797

Kapitel 1Das verlorene Ghetto

Das Feuer loderte.

Das Feuer prasselte.

Das Feuer zischte.

Leone warf den Satz in seinem Kopf hin und her, schloss die Augen und versuchte schließlich, sich von den Wortspielereien seines jüngeren Bruders Davide zu befreien, in die dieser ihn in den letzten Tagen hineinzuziehen versuchte, um der Ungeheuerlichkeit dieses Ereignisses mehr Gewicht zu verleihen.

Leone bemühte sich, das Gebrüll, das Geschrei und das Gelächter, das um ihn herum wogte, auszublenden. Er zwang sich, wieder in die Menge zu blicken, die um den Holzstoß herumtanzte. Ein Holzstoß, der aus den vier großen Toren bestand, die von den Soldaten Napoleons in Stücke gehauen worden waren, um sie hier in der Mitte des Platzes, des Ghetto Nuovo, zu verbrennen.

Es waren überwiegend seine Leute, die tanzten. Wobei »seine« Leute ein weit gespanntes Feld bedeuteten. Es tanzten auch andere mit, die nicht dazugehörten, es aber an diesem Abend wollten, um ihre große Brüderlichkeit zu beweisen.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – es ging darum, nur darum an diesem Abend. Dass der Pfarrer von San Geremia dabeistand, sich leicht im Tanzrhythmus wiegte, als wolle er zeigen, dass er es früher gewiss auch gekonnt habe. Der Pfarrer von San Marcuola wiegte sich nicht, brachte aber ein freundliches Lächeln auf sein Gesicht, das er den Tanzenden schenkte, die zuvor nicht unbedingt mit Lächeln von christlichen Pfarrern verwöhnt worden waren. Leone störte dieses Lächeln, er hielt es für Heuchelei. Aber an diesem Abend wollte er alles anders sehen, wollte großmütig sein, alles vergessen. Und sich freuen über diesen Tag.

Und natürlich freute er sich, dass Ursul mittanzte. Dass sie mit gerötetem Gesicht und wehenden Gewändern auf ihn zutanzte, ihn berührte, anderen die Hände reichte, sich im Kreis drehte und dabei sang: »Libero, libero, libero.« So, als sei dieser Tag der Freiheit auch ihr Tag. Und nicht nur seiner.

»Wir sind doch frei, nicht wahr«, fragte sein kleiner Bruder Davide lachend und schnappte sich zur Erinnerung rasch ein winziges, bereits angekohltes Holzstück von einem der Tore, »sie können uns doch nicht mehr einsperren, jetzt, nachdem sie uns freigelassen haben? Oder?«

»Sie können alles«, sagte eine Stimme hinter ihnen, und Leone wusste, dass die Stunde der Abrechnung noch keinesfalls vorüber war. Bei Isacco, seinem älteren Bruder, würde es dauern, bis er alles vergessen konnte. Alles ohnehin nicht. Und das, wozu er bereit war, ganz gewiss nicht von heute auf morgen. Er würde sich auch nicht herablassen, von einer Stunde zur anderen so zu tun, als habe es da nie eine Abgrenzung gegeben: nie einen Kanal um dieses Ghetto herum, auf dem des Nachts Wächter – christliche Wächter, die die Juden bezahlen mussten – in ihren Booten patrouillierten, um darüber zu wachen, dass niemand von ihnen aus diesem Ort, den sie Ghetto nannten oder auch den Chazer, entwich.

Für Isacco würden diese zerschlagenen Ghettotore, um die sie herumtanzten, im Kopf weiterhin unzerstört bestehen bleiben, und niemand würde sie zum Einstürzen bringen können. Isacco war mit dem roten spitzen Hut, dem Zeichen der Demütigung, das Juden in dieser Stadt über Jahrhunderte hinweg zu tragen hatten, zu der Veranstaltung gekommen. Ein roter Hut, den andere nun unter lautem Jubelgeschrei in das Feuer warfen.

Aber Leone war ganz sicher, dass Isacco seinen roten Hut nie verbrennen würde.

Ursul hatte Leone vor einiger Zeit kennengelernt, als ihr Onkel, dessen Mündel sie war und mit dem sie für die Dauer von einem Jahr hier in Venedig lebte, mit Leones Familie Geschäfte machte. Sie sollte die doppelte Buchführung lernen, eine Sache, zu der viele Deutsche hierherkamen. Und natürlich sollte sie die Sprache lernen, um später das Geschäftemachen zu erleichtern.

»Weshalb lernen deine Geschäftsfreunde eigentlich nicht unsere Sprache«, hatte sie wissen wollen, »schließlich sind doch beide Seiten gleichermaßen an einem Profit interessiert?«

Der Onkel hatte gelacht. »Weshalb sollten sie sich anstrengen, wenn es der andere doch auf jeden Fall tut?«

Sie waren im Januar des vorigen Jahres aus Nürnberg hier eingetroffen, weil es geheißen hatte, dass der bevorstehende carnevale das schönste Fest werden sollte, das es seit einem Jahrhundert hier in der Stadt gegeben hatte. Aber Leone, den der Onkel ihr kurz nach ihrer Ankunft vorgestellt hatte, hatte keinesfalls große Begeisterung für dieses Fest gezeigt und sich zunächst sogar geweigert, teilzunehmen.

»Weshalb wollt Ihr nicht mitkommen?«, hatte sie gefragt.

»Weil Juden nun mal nicht auf christliche Feste gehen«, hatte er erwidert.

»Aber niemand wird euch erkennen«, hatte der Onkel versucht seine Zweifel zu beseitigen.

»Isacco würde mich auf jeden Fall erkennen«, hatte Leone zu bedenken gegeben.

»Aber ein Bruder wird doch nicht den anderen Bruder verraten«, hatte der Onkel sich empört.

Leone war die Antwort schuldig geblieben. Schließlich hatte er halbherzig zugesagt, mit dem Vorbehalt, dass er auf jeden Fall um Mitternacht zu Hause sein müsse, da zu dieser Zeit die Ghettotore geschlossen würden.

»Sitzen die da etwa immer noch an ihren Toren«, hatte Ursul ungläubig gefragt, »mitten in der Nacht?«

»Sie sitzen nicht mehr an den Toren«, hatte Leone widerwillig erklärt, »aber es entkommt ihnen trotzdem keiner. Nach dem Läuten der Marangana-Glocke um Mitternacht patrouillieren sie mit ihren Booten im Kanal um unser Viertel herum.«

Sie hatte naiverweise vorgeschlagen, zu schwimmen, was Leone mit einem sanften Lachen beantwortet hatte. »Auf dem Rio del Battello etwa oder auf dem Rio di Ghetto Nuovo? Dann eher waten, die Seitenarme des Kanals sind nie tief und im Augenblick ist ohnehin Niederwasser. Da sieht man den gesamten Unrat, den die Leute hineinwerfen.«

Also war Leone ihr zuliebe zu diesem Fest gekommen, phantasielos als Gondoliere verkleidet, wozu nichts weiter nötig gewesen war als ein Hut, den er sich geliehen hatte. Kurz vor Mitternacht hatte er sich verabschiedet, mürrisch und mit einem zornigen Blick auf seinen Nachfolger, einen Mann in einem prächtigen Dogenkostüm, der bereits die Hand nach Ursul ausgestreckt hatte, um mit ihr weiterzutanzen.

Danach hatte sie ihn eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Wenn es nicht lächerlich gewesen wäre, hätte sie vermutet, er sei eifersüchtig gewesen auf diesen Tänzer. Er sei auf Reisen, hatte ihr der Onkel schließlich erklärt, als sie irgendwann nach ihm gefragt hatte, »er hat im Auftrag seines Vaters Besorgungen zu machen«.

Dieses Fest um die zerstörten Ghettotore, die Napoleon hatte abreißen lassen, war also das erste neuerliche Zusammentreffen mit Leone, und es war ihr Onkel gewesen, der sie gebeten hatte, mitzukommen. »Du musst mehr unter junge Leute kommen«, hatte er entschieden, »du kannst nicht immer nur über deinen Büchern sitzen. In Nürnberg genauso wie hier.«

»Ich dachte, das sei ein Grund gewesen, dass du mich überhaupt mitgenommen hast? Um diese doppelte Buchführung zu lernen? Die man angeblich nur hier in dieser Stadt richtig verstehen kann?«

»Das war mit ein Grund, aber nur am Rande«, erwiderte der Onkel.

»Wo sind eigentlich deine Eltern?«, fragte Ursul irgendwann, als sie mit Leone wild getanzt hatte und sich für einen Augenblick auf einem der Brunnenränder des Platzes niederließ, um auszuruhen. »Ich sehe deine Mutter nirgendwo. Tanzt sie nicht?«

Leone lächelte schief. »Doch nicht meine Mutter.«

»Und weshalb nicht?«

»Meine Mutter würde nie in der Öffentlichkeit tanzen, mit oder ohne Feuer und ganz gleich aus welchem Anlass.«

»Und weshalb nicht?«

Leone zögerte. »So was liegt ihr nun mal nicht.«

»Und dein Vater?«

»Mein Vater richtet sich bei solchen Sachen grundsätzlich nach meiner Mutter. Da, wo sie ist, ist auch er.«

»Und«, Ursul überlegte kurz, »wo ist sie dann jetzt in diesem Augenblick?«

Leone wischte sich die Haare aus der Stirn. »Sie ist, so rasch sie ihre alten müden Füße getragen haben, zu unserem neuen Wohnsitz geeilt. Und zwar bereits gestern, damit sie das Spektakel hier nicht miterleben muss. Ein Spektakel, an dem sich die Armen freuen werden, wie sie meinte. Sie ließ sich von meinem Vater in dieses neue Haus in der Stadt bringen, stieg in den ersten Stock hinauf und setzte sich mitten in die sala. Dort sitzt sie vermutlich jetzt noch auf einem Stuhl und schaut in die Runde. Sie hat alles, was uns etwas bedeutet – die beiden silbernen Kerzenhalter, die große Challadecke, Honiggläser für Rosch Haschana, Kiduschbecher, das Schofarhorn –, um sich herum auf dem Boden verteilt und würde natürlich am liebsten auf den Canal Grande hinunterblicken, was ihr jedoch verwehrt ist, da der Canal eine Strecke weit weg ist. Ab und zu zieht sie die Sabbatlampe herunter, um zu sehen, ob sie auch fest und sicher an der Decke hängt. Und von Zeit zu Zeit streichelt sie einen Backstein. Und weint dazu.«

»Sie streichelt einen Backstein und weint dazu? Weshalb tut sie das?«, fragte Ursul zögernd. Sie verstand nicht alles, was an diesem Abend hier auf diesem Platz in den Gedanken dieser Menschen vor sich ging. »Und wo findet dieses seltsame Ritual statt, in einem Palazzo?«

»Nein, natürlich nicht«, wehrte Leone hastig ab, »das würde sie genauso stören wie diese Tänze inmitten des Volkes, die nicht zu ihr passen. Aus ihrer Sicht. Es ist kein richtiger Palazzo, eher ein größeres Haus.«

»Und wo ist dieses ›größere Haus‹?«

»In der Nähe von San Marco, jedoch nicht direkt am Platz. Weswegen sie auch den Canal Grande nicht sehen kann.«

»Aber in einem guten Viertel«, vermutete Ursul. »Trotzdem kann ich mir noch immer nicht vorstellen, weshalb sie über einen Backstein weint.«

»Weil sie nie einen besessen hat«, versuchte Leone zu erklären, »verstehst du? Sie hat ein Leben lang nie einen Backstein besessen. Juden durften nie Grundbesitz haben, sie durften ihre Wohnungen ja nur mieten. Also hat sie nie einen Backstein besessen. Nun wollte sie einen haben. Und deswegen schenkte ihr mein Vater einen.« Leone lachte. »Fein säuberlich eingepackt in einem seidenen Tuch und mit einer dicken roten Schleife verziert.«

»Und das geräumige Haus als kleine Beigabe«, lachte Ursul.

»So ungefähr. Mein Vater hat es ihr nachträglich zu ihrem Hochzeitstag geschenkt«, erklärte Leone, »weil dies das schönste Geschenk war, das er ihr machen konnte. Und so sind sie nun miteinander in diesem nicht eingerichteten Haus, sie berührt immer wieder die Mesuot an den Türen, erzählt sich selber, wenn mein Vater nur einmal kurz den Raum verlassen hat, dass dies nun ihre Mesuot in diesem Haus sind und sie ihr hoffentlich niemand mehr wegnehmen kann. Und sie genießt es doppelt, weil sie nie ganz sicher ist, dass man es ihr eben doch eines Tages wieder wegnehmen könnte.«

»Wer? Napoleon etwa?«, fragte Ursul ungläubig.

Leone zuckte mit den Schultern. »Irgendwer. Sicher nicht Napoleon, nachdem er sich gerade so großzügig gezeigt hat. Aber es gibt tausend Möglichkeiten, damit so etwas oder etwas Ähnliches wieder passieren könnte.«

Später, als das Fest noch einen weiteren Höhepunkt erreicht hatte und man rasch noch einen Baum geschlagen hatte, einen Freiheitsbaum, um den man herumtanzen konnte, sagte Ursul zögernd: »Ich möchte dir gerne etwas schenken.« Sie legte ihre Hand auf Leones Arm und nahm einen kleinen Korb, den sie neben einen der Brunnen gestellt hatte, vom Boden. »Aber es wäre mir lieb, wenn es nicht unbedingt hier sein müsste, wo uns jeder sieht.«

»Eine Überraschung also«, stellte Leone erfreut fest, »ich hoffe nur, du hast dich nicht mit dem Datum getäuscht, ich habe weder Geburtstag, noch feiern wir zurzeit eines der Feste, zu denen es Geschenke gibt. Purim ist längst vorüber.«

Ursul lachte. »Ist dies heute etwa kein Fest«, fragte sie zurück und schaute sich um, »sogar ein grandioses Fest! Und dazu gehören Geschenke.«

»Wir könnten – wir könnten in die banca rosso gehen«, sagte Leone zögernd, »auch wenn es mir nicht eben gefallen würde, wenn uns jemand dabei beobachtet.«

»Weshalb«, fragte Ursul irritiert, »wer sollte daran Anstoß nehmen?«

Leone blickte sich um, dann nahm er Ursul am Arm und schob sie aus der tanzenden Menge an den Rand der Tanzenden. Er lief vorweg, Ursul hatte Mühe ihm zu folgen. Als sie schwer atmend am Rande des Platzes vor einem der drei jüdischen Pfandhäuser stand – der banca rossa, der banca verde, der banca nera, die nach der Farbe der Quittungen so hießen –, hatte Leone bereits den Schlüssel aus der Tasche gezogen und die Tür geöffnet. Sie folgte ihm in den Raum, der dunkel war und muffig roch.

»Tagsüber ist es besser«, erklärte er, als er eine Kerze angezündet hatte und ihr Gesicht sah, »da kommt mehr Luft herein. Die verschiedenen Gegenstände haben eben unterschiedliche Gerüche: ein Mantel riecht anders als ein paar getragene Schuhe und die dicken alten Bücher mit ihren Ledereinbänden strömen den stärksten Geruch aus.«

Ursul blickte sich um, versuchte etwas von dem Nimbus dieses Raumes zu erfassen, aber die Gegenstände, die die Leute zum Pfänden gebracht hatten, waren hinter Vorhängen verborgen.

»Es soll niemand wissen, was der andere gerade weggegeben hat«, erklärte Leone und zündete eine zweite Kerze an, »ich lasse auch stets nur immer eine Person allein in den Raum.«

»Und was sind das für Leute?«, wollte Ursul wissen.

Leone zuckte mit den Schultern. »Jeder, der Geld braucht. Juden, Christen, Muslime, Adelige, Nichtadelige, Arme, Reiche.«

Ursul hatte inzwischen ihr Päckchen geöffnet, den Gegenstand herausgenommen und hielt ihn Leone entgegen. Ein schwarzes Barett, wie es die Venezianer trugen.

Leone starrte für einen Augenblick auf das Geschenk, schluckte dann, machte aber keine Bewegung, das Geschenk anzunehmen.

Ursuls Lachen erlosch langsam. »Du freust dich nicht?«

Leone seufzte, drehte sich um, ging ein paar Schritte, kam zurück, wischte mit der Hand über den Tisch, als sei er nicht sauber genug für dieses Geschenk. »Das ist fast zu viel, was in dieser einen Minute auf mich einstürmt. Und ich hatte mit so etwas nicht gerechnet. Weder von dir noch überhaupt. Ich weiß nicht einmal, ob ich diesen capel nero, den du mir da geben willst, überhaupt haben möchte. Sofort haben möchte. Jetzt in dieser Minute.«

»Was soll das heißen? Willst du etwa diesen roten spitzen Hut der Juden weitertragen, den sie draußen gerade haufenweise in die Flammen werfen?«, erregte sich Ursul.

»Natürlich will ich das nicht«, sagte Leone zögernd, »auch wenn Isacco mit genau diesem Hut heute Abend hierher gekommen ist. Ich weiß nicht, was ich im Augenblick will. Ich weiß auch nicht, ob ich diesen schwarzen Hut, diesen capel nero, überhaupt will. Ihn von dir will.«

Ursul ließ sich auf einen Stuhl vor der Theke sinken. »Wie meinst du das?«

Leone runzelte die Stirn. »Verstehst du das nicht?«

»Was soll ich verstehen?«

»Nun, dieser Hut wurde uns doch einst übergestülpt. Von euch. Von den Christen. Irgendwann einmal. Das war schon 1215, bei dem ersten Laterankonzil. Seither müssen wir diese Markierungen tragen: rote spitze Hüte, gelbe Hüte, gelbe Ringe, blaue Bänder, und vermutlich gibt es noch andere Zeichen, die ich ganz gewiss nicht alle kenne.«

»Ich weiß zwar nicht, was in diesem Augenblick in deinem Kopf vor sich geht«, sagte Ursul betroffen, »aber ich bin ganz gewiss nicht daran schuld, dass Juden in Venedig über Jahrhunderte hinweg diesen roten spitzen Hut tragen mussten.«

»Und ins Gefängnis mussten, wenn sie diesen capel nero, nämlich genau diesen hier, den du gerade gebracht hast, trugen«, sagte Leone aufgebracht. »Ich weiß nicht, wie viele Prozesse es deswegen gab. ›Hat den schwarzen Hut getragen‹, hieß das dann, so, wie wenn man jemanden umgebracht hätte.«

Ursul nahm ihr Geschenk langsam vom Tisch und versuchte, es wieder einzupacken. Leone nahm es ihr aus der Hand. »Entschuldige, ich fürchte, mich hat dieser Tag etwas durcheinandergebracht. Erst mein großer Bruder, der voller Trotz mit diesem roten Hut erscheint, so als sei es der Hut des Dogen, dann mein kleiner Bruder, der sich halb verbrannte Erinnerungsstücke von den Ghettotoren aus dem Feuer holt. Und schließlich meine Mutter, die in unserer neuen Wohnung mitten in der sala sitzt und über einen Backstein Tränen vergießt.«

Von draußen war noch immer das Lachen und Singen der Menschen zu hören, Stimmen kamen näher.

»Du wirst auch in diese neue Wohnung, in dieses Haus, einziehen?«, fragte Ursul nach einer Weile.

»Wir werden alle in dieser neuen Wohnung wohnen. Alle. Außer Isacco. Er bleibt hier im Ghetto. Er ist nicht einmal bereit, über diese Contrada dell’Unione, wie das nun heißt, zu reden. Er sagt, er braucht sich den Begriff gewiss nicht zu merken, da sie – irgendwer, wer gerade Lust danach hat – es ohnehin bald wieder abändern werden. Und wir dann wieder unseren alten Chazer bekommen. Darauf freut er sich schon jetzt.«

»Wirst du ihn aufsetzen?«, fragte Ursul behutsam, als Leone unschlüssig den capel nero in der Hand hin und her drehte.

»Vielleicht«, sagte Leone langsam. »Aber lass mir bitte Zeit dazu.«

»Natürlich«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, ein Luftzug ließ den Vorhang flattern.

»Was macht ihr mitten in der Nacht in der banca?«, fragte Isacco grob, so, als hätte er seinen Bruder dabei erwischt, dass er die Kasse ausräumen wollte.

Sie zuckten zusammen, als seien sie Diebe, die man soeben auf frischer Tat ertappt hatte. Ursul ließ das Tuch fallen, in das sie den Hut gewickelt hatte.

»Nichts«, sagte Leone zögernd, »wir sind nur hier.«

»Will sie etwa einen capel nero verpfänden«, spottete Isacco, »mitten in der Nacht, wo alle übrigen Pfandhäuser geschlossen sind? Nur deines scheint geöffnet zu sein, oder? Soll ich es Vater sagen, dass du so ein eifriger Sohn bist, der selbst nachts noch die Interessen der Familie Levi vertritt?«

Ursul schüttelte hilflos den Kopf, Leone zuckte ärgerlich mit den Schultern. »Nein, nein, nein, das will sie nicht. Sie will nichts verpfänden. Das hat sie wohl auch kaum nötig.«

»Was will sie dann?« Eine Weile war Stille. »Was soll dieser schwarze Hut hier«, fragte Isacco, inzwischen fast flüsternd.

»Sie will ihn mir schenken«, erwiderte Leone lahm.

Diese Stille schien undurchdringlicher zu sein als die erste. »Und wieso will sie das tun? Was soll diese Gabe für einen Sinn haben? Will sie damit etwa die mehr als 281 Jahre Unterdrückung hier in diesem Ghetto löschen? Oder was sonst? Und wer gibt ihr das Recht, so etwas zu tun? In wessen Auftrag macht sie das?«

»Es war meine Entscheidung«, sagte Ursul in aller Deutlichkeit, »meine ganz allein.«

»Ach ja, Eure Entscheidung.« Isacco lachte auf. »Habt Ihr auch nachgedacht über diese Entscheidung, gründlich nachgedacht? Hat sie etwas mit Euch zu tun? Oder gar mit meinem Bruder?« Er klopfte mit dem Finger erregt auf den Tisch. »Wir brauchen keine Gojim, die uns Geschenke machen, für die wir uns möglicherweise dann auch noch bedanken müssen. Wofür auch?«, fragte Isacco voller Hass. »Sie haben uns mehr als zwei Jahrhunderte in einen Käfig eingesperrt, den sie Ghetto nannten. Oder Chazer. Ein Käfig, der jede Nacht von irgendwelchen Gojim abgeschlossen wurde, Gojim, die bei Nacht den Kanal bewachten, Gojim, die wir bezahlen durften. Gojim, die in irgendwelche Bücher schrieben, wann wir diesen Käfig verließen und wann wir ihn wieder betraten. Wollt Ihr sie sehen, diese Bücher? Ich habe eines davon den Wächtern abgeluchst, damit es nicht eines Tages verschwindet und später niemand mehr weiß, wie alles war. Und überdies bin ich ganz sicher, dass sie nur sehr kurze Zeit dazu brauchen, um uns wieder in diesen Käfig einzusperren, den sie dann genau wieder so nennen wie zuvor:

Ghetto. Weil sie sich von diesem Namen nun mal nicht trennen können.«

Leone nahm den Hut vom Tisch, hob das Tuch vom Boden und legte alles in Ursuls Korb. Dann nahm er sie am Arm und warf den Schlüssel auf den Tisch. »Du kannst abschließen, wenn du mit deinen tiefsinnigen Betrachtungen am Ende bist«, sagte er dann hart und schob Ursul zur Tür hinaus.

Später in seiner Kammer, die er bis jetzt noch bewohnte, wusste Leone, dass es falsch gewesen war, diesen capel nero anzunehmen. Ihn von dieser Ursul aus Nürnberg anzunehmen, ihn von einer Nichtjüdin anzunehmen, ihn überhaupt anzunehmen, bevor er sich im Klaren darüber war, wie er sich weiterhin verhalten sollte. Wie sich Isacco verhalten wollte, war klar: Er würde im Ghetto oder in dieser neuen Contrada dell’Unione bleiben. In ihrer alten engen Wohnung, auf ihren engen Schlafbänken. Es sei wärmer dort, hatte er gesagt, als er spät in der Nacht noch in Leones Kammer gekommen war. Er bleibe hier. Er verstehe die Sache mit dem Backstein bei seiner Mutter, er verspreche auch, dass er nicht darüber lächeln werde. Aber es sei nicht seine Welt. Und diese andere Welt da draußen, die ihm bisher verboten gewesen sei, interessiere ihn jetzt, da er sie ungestraft haben könne, auch nicht. Früher habe sie ihn interessiert, früher, als Jugendlicher, als man ihn wegen des roten Hutes verspottet habe, aber jetzt, da er ihn ablegen könne, wolle er das nicht mehr. Und sich bei Napoleon mit einem Tanz unter dem Freiheitsbaum zu bedanken, sei unter seiner Würde. Er habe keine Lust, einen Kniefall zu machen wegen dieser voll und ganz erzwungenen Sache.

»Aber in das Geschäft unseres Vater, in die neue Bank in San Marco, wirst du doch schon eintreten wollen,« spottete Leone, »oder etwa nicht? Keine Gegenstände mehr schätzen zu müssen, mit den Kunden feilschen um ein paar Silberlinge mehr oder weniger, den Geruch abgestandenen und verarmten Lebens ständig in der Nase, hinter Vorhängen nur mühsam gebändigt? Wie stehst du dazu?«

Isacco warf sich mit einem Ruck auf seiner knarrenden Schlafbank auf die Seite und drehte Leone den Rücken zu.

Ursul kannte das Ghetto seit Jahren. Seit sie der Onkel zum ersten Mal mit nach Venedig mitgenommen hatte, damit sie die Sprache lernen konnte und die doppelte Buchhaltung, die er für notwendig hielt, auch wenn Ursul einen anderen Beruf ergreifen wollte.

Sie hatte stets inmitten der Stadt gewohnt, mal bei den Bäckern, mal bei den Wollarbeitern, immer bei Witwen deutscher Abstammung, deren Männer zum fondaco gehört hatten, dem »Deutschen Haus«. Auch diesmal wohnte sie bei einer Witwe im Stadtteil Cannaregio und daher führte ihr Weg – falls sie dies wollte – täglich durch das Ghetto. Sie war neugierig auf diese Welt, besonders weil zu Beginn dieses Ghettos vor mehr als 200 Jahren auch Nürnberger Bürger – zusammen mit Augsburgern und Regensburgern – dabei gewesen waren.

Als sie den Onkel einmal gefragt hatte, ob diese Nürnberger Bürger bei der Gründung dabei gewesen seien, hatte der Onkel den Kopf geschüttelt. »Ich denke nicht, dass man ›Gründung‹ sagen kann, schließlich war die Sache ja nicht freiwillig: die Obrigkeit von Venedig hatte entschieden, dass die Juden auf einem Platz zusammen wohnen sollten, und hatten dafür die Stelle gewählt, auf der einst Kanonen gegossen worden waren.«

Als Ursul an diesem Morgen auf den Platz kam, auf dem sie am Abend zuvor mit Leone und den anderen getanzt hatte, war nicht mehr viel von der ausgelassenen Freude des Abends zuvor zu sehen. Alles war genau wie sonst: Die kleinen Buden rund um das Ghetto Nuovo öffneten soeben ihre schmalen Bretterverschläge, Frauen hängten Kleider auf Stangen heraus, bürsteten hier noch ein Stäubchen weg, zogen dort noch eine Naht gerade. Ursul überlegte, ob mit dem Niederbrennen der Tore wohl auch die vielen Verordnungen gefallen waren, zum Beispiel die, dass Juden nur gebrauchte Kleider verkaufen durften und daher oft zu der List griffen, dass sie in neue Kleider ein kleines Loch brannten oder einen Riss hineinmachten, damit sie den Gesetzen folgten.

Genau genommen musste sich alles ändern in dieser neuen Contrada dell’Unione, überlegte sie, aber sie war nicht sicher, wie rasch es sich ändern würde. Zwar hatten sich bereits am Morgen des Tages die Gerüchte überstürzt, was nun alles erlaubt sei, aber noch sah der Platz natürlich nicht anders aus als sonst: Frauen standen am Brunnen, zogen die Wassereimer hoch, unterhielten sich dabei lautstark auf Venezianisch, Jiddisch oder irgendwelchen anderen Sprachen, die Ursul nie zuvor gehört hatte. Sie verstand so gut wie nichts.

Eine Frau ging mit gebeugtem Kopf zu der banca nera, versuchte ihr Kleid über einen Gegenstand zu schieben, um ihn zu verhüllen, die Wachskocher rührten in ihren Kupferkesseln, die Knochenhändler kippten Knochen von einem Karren in Behälter, Frauen hasteten mit Gemüse und Brot über den Platz, ein Mann rollte ein kleines Weinfässchen am Brunnen vorbei, Kinder ließen ihre Kreisel in wildem Schwung zwischen den Beinen der Leute zwirbeln, ein Huhn rannte laut gackernd durch die Menge, vermutlich um seinem Henker zu entfliehen.

Das Einzige, was anders war als in den Tagen zuvor, waren der riesige Haufen von Asche und die Reste der verbrannten Tore, die jetzt zusammengekehrt wurden. Ein alter Mann zog einige der halb verkohlten und nicht ganz verbrannten Holzstücke aus dem Haufen hervor und lud sie auf einen kleinen Schubkarren, wohl um seinen spärlichen Brennholzvorrat etwas aufzustocken. Eine Gruppe Kinder tanzte in der Nähe des Aschehaufens die Hora und winkte französischen Soldaten zu, die in der Nähe standen. Sie hörte Sätze in einem Dialekt, der sie an ihre Heimatsprache erinnerte, schaute einem Karren mit Möbeln zu, die von einigen Männern zu der Agudibrücke gefahren wurden, vermutlich um sie zu anderen, nunmehr besseren Wohnbezirken zu karren.

Als sie die Glocke hörte, die die Mittagszeit ankündigte, schreckte sie auf. Sie war mit dem Onkel verabredet, um einen Kunden wegen einer Ladung von Gewürzen aufzusuchen, die soeben gelöscht worden war. Als sie auf den alten Ghettoeingang zulief, die Stelle, an der tags zuvor eines der Tore niedergerissen worden war, sah sie zwei Männer sich eben voneinander verabschieden. Als sie näher kam, erkannte sie, dass der eine Mann Isacco war. Er trug ein dickes Buch unter dem Arm, das er ganz offensichtlich soeben von einem der Torwächter übernommen hatte. Seine Hand hatte für einen kurzen Augenblick in der Hand des anderen Mannes geruht, der sich daraufhin betont unauffällig umgeschaut hatte. Ob dabei ein Geldstück den Besitzer gewechselt hatte, war nicht auszumachen gewesen, aber vermutlich war es so.

Ursul überlegte, ob sie umkehren sollte, damit sie Isacco nicht zu begegnen brauchte, aber dann entschied sie sich dagegen – schließlich hatte sie nichts verbrochen: jemandem ein Geschenk zu überreichen, auch wenn es ein ungewöhnliches war, war kein Verbrechen.

Sie ging etwas langsamer als zuvor auf Isacco zu, der die Brücke inzwischen verlassen hatte und auf sie zukam. Als sie nur noch ein paar Schritte voneinander entfernt waren, nickte sie leicht mit dem Kopf, um einen Gruß anzudeuten. Isaccos Nicken fiel kürzer aus. Er ging an ihr vorüber, verhielt dann plötzlich den Schritt. »Einen Augenblick«, sagte er abrupt. »Ich denke, Ihr solltet eigentlich wissen, was da eben war. Und auch wie Ihr Euer Geschenk einzuordnen habt. Das hier«, er schlug das dicke Buch vor ihr auf, blätterte es mit zittrigen Fingern durch, ohne auf einer Seite zu verharren, blätterte eilig weiter, diesmal von vorne nach hinten, und schob es dann grob auf eine Mauer am Kai. »Wollt Ihr wissen, wer da noch vor einigen Tagen alles über diese Brücke gegangen ist? Daniele Vivante, Regina Namias, Allegra Cesare, Abramo Franchetto, Guiseppe Tedesco, Samuele Greco – genügt das? Was sie in der Stadt gemacht haben, steht da natürlich nicht, aber wenigstens wird man noch in Hunderten von Jahren wissen, wer es war. Wir – ich habe seit gestern Abend ja nun das Recht ›wir‹ zu sagen, da wir nun alle Bürger dieser Stadt sind – wir sind nämlich so gründlich wie kaum eine andere Stadt in diesem Land, wir schreiben alles auf. Wir wollen alles wissen, weil Wissen Macht bedeutet. Macht, die wir nun natürlich nicht mehr haben – keinen Dogen, keine Inquisitoren, bald keine Bronzepferde mehr – wie es bereits geplant ist –, keinen Goldschatz. Aber wir werden das schon alles meistern.«

Ursul schaute auf das Buch, die Namen glitten an ihrem Ohr vorüber wie Regen, der rauschte und dann zu Boden fiel. Erst als Isacco mit seiner Suada am Ende schien, schaute sie ihn an. »Ihr tut, als sei ich für all dies verantwortlich«, sagte sie dann leise.

Er betrachtete sie, als sei sie ein Kalb mit zwei Köpfen. »Seid Ihr Christin oder nicht?«, stieß er dann hervor. »Habt Ihr nie von dem Prozess der Giuditta Castillero gegen Caliman Ravenna gehört? Der Kaufmann habe sie entführt, ihr Blut ausgesogen, um es später bei religiösen Zeremonien verwenden zu können? Die anonymen Briefe, die an die Juden in Venedig und die dortigen Rabbiner geschickt wurden, hätten brutaler nicht sein können: Tod den Juden, Feuer in den Ghettos, möge Euer Volk durch den Dolch ausgelöscht werden!«

»Ich habe davon gehört«, gab sie zu, »aber ich dachte, jetzt nach diesem Tag, nach diesem 24. Messidor, nach dem Abriss der Ghettotore, sei alles friedlich zwischen Christen und Juden: Ihr könnt Immobilienbesitz haben, öffentliche Schulen besuchen, ihr dürft Militärdienst leisten, öffentliche Ämter bekleiden, Mitglieder in sämtlichen kulturellen Einrichtungen werden und sicher noch vieles mehr, wovon ich nichts weiß.«

»Friedlich«, murmelte Isacco und lachte dann nahezu hysterisch auf. »Friedlich! Das ist friedlich in Euren Augen? So lange Pfarrer in Santo Stefano, in San Marco und in Santa Maria Formosa ihren Beichtkindern die Sakramente verweigern, wenn sie mit Juden zusammenleben und jüdische Kinder stillen, ist für mich nichts, aber auch gar nichts friedlich.« Dann schnappte er sein Buch und ging davon.

Als Ursul wenige Tage später Leone zufällig am Markusplatz traf, sah sie bereits von weitem, dass er nicht das schwarze Barett trug, das sie ihm geschenkt hatte. Auch wenn es sich in der Form keinesfalls von ihrem Barett unterschied, sah sie, dass dieses hier aus einem anderen Stoff gemacht war. Er war glatter, schien fester zu sein als das ihre, und sie hatte das Gefühl, dass ihm ein Regenschauer gewiss nichts ausmachen würde.

Leone folgte ihrem Blick, nahm das Barett vom Kopf, als er vor ihr stand, und hielt es verlegen in der Hand.

»Isacco wollte nicht, dass ich es trage«, sagte er dann leise. »Er ist der Älteste, und wenn Vater nicht da ist, bestimmt er, was geschieht.«

»Und was hat er mit meinem Geschenk gemacht?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Leone hilflos. »Er wird es weggeschenkt haben.«

»Den Armen?«, hakte sie nach.

»Vermutlich. Komm, lass uns nicht darüber Trübsinn blasen, ich bin sein Bruder und habe zu tun, was er mir befiehlt. Ich kann ihn nicht ändern«, fuhr er fort, während sie miteinander durch die Stadt gingen. »Er ist, wie er ist. Und er zieht auch nicht mit in das neue Haus.«

»Er bleibt also wirklich im Ghetto?«, vermutete Ursul.

»Er sagt, es sei wärmer dort«, erklärte Leone, »und er will wissen, wo er hingehört. Auch wenn er nun ein ›Bürger‹ sein soll, wie die anderen Venezianer. Woran er ohnehin nicht glaubt. Er sei unseren Vorfahren schuldig, dass er sich immer an das erinnert, was einst war. An unsere Wurzeln, wie er das nennt. Er will nicht um das Wohlwollen buhlen, plötzlich ein ›Nachbar‹ zu sein, ein Bürger, der mit den anderen auf einer Stufe steht. Von einer Stunde zur anderen.«

»Wurzeln«, sagte Ursul kopfschüttelnd, »was wissen wir denn schon von ihnen? Ich für meinen Teil so gut wie nichts. Ich meine, wir wissen, wer unsere Eltern sind, unsere Großeltern, die wir möglicherweise nie gesehen haben, aber danach hört es doch meistens schon auf. Zumindest bei mir. Und bei dir wird es ja wohl kaum anders sein, oder?«

»Das könnte ich eigentlich so nicht sagen«, erwiderte Leone zögernd, »in meiner Familie, in der weiteren Familie zumindest, ist sogar eine ganze Menge überliefert.«

»Du meinst Briefe«, vermutete Ursul, »irgendwelche Urkunden?«

»Nein, Briefe nicht. Aber Bilder«, erwiderte Leone und nahm Ursuls Hand. »Komm, ich zeig’s dir. Auch wenn ich selber so gut wie gar nichts damit anfange. Aber vielleicht komme ich dem Geheimnis eines Tages ja doch noch näher.«

Sie gingen zu der Bank des Vaters am Ponte dell’ Angelo, an dessen Außenfront noch die Handwerker beschäftigt waren, ein matt glänzendes Schild mit der Aufschrift »Levi & sons« anzubringen.

»Ist das klug?«, fragte Ursul zögernd.

»Du meinst, gleich den neuen Namen anzubringen? Vor allem, nachdem es die ›sons‹ noch gar nicht gibt?«

»Ja, genau, das meine ich.«

»Es gibt sie schon«, erwiderte Leone, »aber noch sind nicht alle bereit. Außer mir bis jetzt niemand.«

»Und Isacco?«

»Isacco studiert in Padua Jurisprudenz. Aber er hat schon jetzt verkündet, dass er nicht in das Geschäft eintreten will.«

»Und weshalb nicht?«

Leone seufzte. »Weiß der Himmel. Isacco war von Kind an der große Schlichter, wenn es irgendwo Streit gab. Und er konnte um eine Sache kämpfen, die aussichtslos schien, aber meist brachte er es dann fertig, dass wirklich – zumindest in seinen Augen – am Ende Gerechtigkeit herrschte. Und diese Gabe findet er verschwendet, wenn er in eine Bank geht und sich um die Gelder anderer Leute kümmert – Geldhüten sei etwas für Langweiler. Dann würde er noch lieber nach Jerusalem gehen oder nach Safed im Heiligen Land und dort die Kabbala studieren.«

»Und Davide? Wird er einmal zu seinem Vater in die Bank gehen?«

Leone lachte. »Das glaube ich kaum. Als vor einigen Jahren die neue Condotta heiß diskutiert wurde, ging es unter anderem auch um die Schiffe, die sich im Besitz von Juden befanden. Reeder, das sei etwas, was er später einmal werden wolle, hatte Davide damals gesagt. Weil nämlich einer unserer Onkel in diesem Geschäft tätig ist. Also bleibe bis jetzt nur ich, der sich mit diesen langweiligen Dingen wie Geldhüten beschäftigen wird.«

Ursul deutete mit dem Kopf zu einer Gruppe von Männern, die mit zornigen Gesichtern einige Meter von der Bank auf der Seite standen und auf das Schild zeigten. »Sie mögen es nicht, euer Schild.«

Leone lachte. »Weißt du, egal, was wir Juden tun, es wird irgendwen ärgern. Damit haben wir bisher leben müssen und jetzt wird sich das kaum ändern. Komm, lass uns etwas trinken, dort drüben, auch wenn ein Kännchen Kakao dort so viel kostet wie an andern Orten ein Mittagessen. Ich bin sofort wieder da.«

Als er nach einigen Minuten zurückkehrte, hatte Ursul sich bereits an einen Tisch gesetzt. Leone legte eine Mappe vor sie und öffnete sie. »Es sind die seltsamsten Bilder, die ich je gesehen habe«, erklärte er, »und wenn ich nicht wüsste, dass sie wirklich aus meiner Familie stammen, hätte ich sie vermutlich sogar schon weggegeben. Oder vielleicht sogar verkauft, weil ich nichts damit anfangen kann. Aber da hätte Isacco vermutlich dann ein Machtwort gesprochen.«

DAS BUNTE LEBEN DER LEA COEN stand in Hebräisch auf der Mappe, Leone übersetzte es. »Die meisten Bilder ergeben keinen Sinn«, sagte er dann und reichte Ursul das erste der Blätter. »Zumindest für mich ergeben sie keinen Sinn.«

»Du weißt auch nicht, wer das gemacht hat?«, wollte Ursul wissen.

»Doch, das weiß ich schon«, erwiderte Leone, »ein gewisser Moise Coen aus Livorno. So steht es zumindest auf der Rückseite der Mappe. Er muss ein begabter Stecher gewesen sein, aber ich habe sonst keine anderen Stiche von ihm entdecken können. Weder Landschaften noch andere Themen. Vermutlich war er jemand aus der näheren Familie dieser Lea Coen.«

»Und das ist sie, diese Lea?«, fragte Ursul und schaute auf ein Bild, das eine Frau zeigte, die in der riesigen sala eines Palazzos ein paar Tanzschritte machte. Sie blickte dabei sorglos zur Decke empor, die ein Bild zeigte, das von Tizian sein konnte. Und sie lächelte. »Könnte sie in einem Palazzo gelebt haben?«

»Wohl kaum«, erwiderte Leone, »kein Jude durfte in einem Palazzo leben. Wir lebten im Ghetto. In Häusern bis zu acht Stockwerken hoch. Bis vor ein paar Tagen, wie du ja wohl weißt.«

»Aber hier scheint diese Lea nicht eben glücklich zu sein«, sagte Ursul befremdet und hielt ein Bild hoch, auf dem eine Barke zu sehen war, auf der an der einen Ecke ein Stück eines Tallits hervorschaute. Lea hielt ein schwarzes Barett in der Hand und starrte über die Lagune.

»Sie weint«, sagte Ursul betroffen.

»Ich weiß nicht, ob sie weint«, sagte Leone zögernd, »nur ist das Bild das genaue Gegenteil von dem ersten, auf dem sie in dieser sala tanzt.«

»Aber dieses Bild ist wieder lustig«, entschied Ursul und gab Leone das nächste Blatt: eine Lea, die unter Bücherbergen schier begraben schien und darunter hervorlinste. »Weißt du, ob sie etwas mit Büchern zu tun hatte?«

Leone schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mal, ob sie überhaupt lesen konnte. Aber vielleicht hatte sie einen Mann, der es ihr beibrachte. Und irgendwer hat einmal erzählt, dass es in früheren Jahren in unserer Familie einen Buchladen gegeben habe, gegenüber der spanischen Synagoge. Wie lange dieser Laden unserer Familie gehörte – das heißt, wie lange er in jüdischer Hand war, ohne uns zu gehören –, weiß ich natürlich nicht. Von der ganzen Familie ist ohnehin nur dieser junge Mann zu sehen, den Lea geradezu anhimmelt. Er überragt sie um fast zwei Köpfe und sieht ihr nicht im Geringsten ähnlich. Das Haus, vor dem sie stehen, dürfte die Jeschiwa sein.«

»Vielleicht war er Lehrer«, vermutete Ursul.

»Mag sein, aber ich kenne seinen Namen nicht. Lediglich Lea hat einen Namen und dieser Stecher, dieser Moise. Mit dem jungen Mann, den sie anblickt, steht sie dann auch vor diesem Grabstein mit der Inschrift 1631. Das war die Pest. Und vermutlich hat sie hier Menschen verloren. Wie alle in der Stadt. Mehr als ein Drittel, manchmal sogar noch mehr, kam dabei um, wie überall auf der Welt.«

»Und diese drei Frauen, wo gehören die hin?«, wollte Ursul wissen und nahm das nächste Bild aus der Mappe. Es zeigte drei zusammenstehende Frauen vor einem Schiff. »Sind das ihre Freundinnen? Freundinnen aus dem Ghetto?«

»Ich nehme an. Aber wie sie zu diesem riesigen Schiff passen sollen, das hinter ihnen ganz offensichtlich gerade zum Auslaufen bereit ist, weiß ich nicht. Zu ihr gehörte es ganz gewiss nicht.«

»Sie sieht aus, als sei sie gerannt«, stellte Ursul fest, »alles verrutscht, die Haube, der Kragen, der Ärmel hängt auch halb herunter. Und in der Hand hält sie krampfhaft ein Fläschchen oder etwas Ähnliches.«

»Ich muss nach Hause«, sagte Leone plötzlich, »meine Mutter hat heute Abend Gäste und möchte, dass ich mit dabei bin. Aber dieses eine Bild musst du ganz gewiss noch sehen«, fügte er dann hinzu und nahm das letzte Blatt aus der Mappe. »Es ist für mich das kurioseste Bild der ganzen Sammlung.«

Das Bild zeigte Beamte Venedigs, völlig unterschiedliche Beamte, die an ihrer Kleidung jedoch zuzuordnen waren. Sie standen auf ellenlangen Leitern, die bis zu den Wolken hinaufreichten und hefteten ganz offensichtlich Augen an den Himmel. Unterschiedlich große Augen, die jedoch alle eines gemeinsam hatten: Sie blickten starr auf das Ghetto hinunter, direkt auf den großen Platz des Ghetto Nuovo. Und genau dort stand Lea, die mit schreckgeweiteten Augen in den Himmel emporblickte.

»Der Stecher musste ein ausgezeichneter Künstler gewesen sein«, meinte Leone, »er wollte vermutlich, dass für alle Betrachter klar war, dass diese Lea voller Zorn in den Himmel schaute.«

»Verstehst du irgendetwas von diesem Bild?«, fragte Ursul irritiert.

»Nicht das Geringste«, sagte Leone kopfschüttelnd und wollte die Mappe wieder an sich nehmen. Als er Ursuls enttäuschtes Gesicht bemerkte, die sah, dass weitere Bilder hinten in einer Klappe steckten, hielt er inne. »Wenn du willst, kannst du sie gerne in Ruhe anschauen«, sagte er dann. »Ich brauche sie heute Abend ganz gewiss nicht, und ich habe in meiner Familie ohnehin bisher noch nie jemanden gesehen, der sich dafür interessiert hat. Außer Isacco natürlich, der sich für alles interessiert, was mit der Familie jetzt oder in der Vergangenheit zu tun hat.«

Er verabschiedete sich hastig, Ursul blieb mit der Mappe zurück und wusste im ersten Augenblick nicht recht, was sie damit anfangen sollte. Schließlich entschied sie sich für einen Besuch im fondaco, im Deutschen Haus, da die Zeit des Abendessens gekommen war und sie sicher war, dass der Onkel sie bereits erwartete.

Der fondaco war der Ort in Venedig, in dem die deutschen Kaufleute wohnten, handelten, kauften und verkauften. Und außerdem ihre Religion ausüben konnten, wenn auch unter erschwerten Bedingungen, falls es sich um die lutherische Religion handelte. Das Haus, das direkt am Kanal lag, hatte Kammern, die von den deutschen Kaufleuten gemietet werden konnten, zum Teil über Jahrzehnte hinweg.

Jetzt hatte Napoleon entschieden, dass dieser fondaco aufgelöst werden sollte, um anderen Zwecken zu dienen. Aber noch war alles in der Schwebe, und da einige der Kaufleute bereits packten und andere gar ihre Möbel schon in dem großen Hof gestapelt hatten, war alles ein großes Chaos.

Ursul setzte sich an den Schreibtisch in der Kammer der Helmbrechts und breitete die Zeichnungen, die ihr Leone überlassen hatte, vor sich aus.

»Was ist das?«, wollte der Onkel wissen, und neigte sich neugierig im Vorbeigehen über Ursuls Schulter.

»Stiche, die irgendein Vorfahr von Leone gemacht hat«, erklärte sie. »Hauptsächlich von einer Frau, die Lea Coen hieß und im Ghetto wohnte. Es steht kein Datum drauf, aus welcher Zeit das alles stammt.«

Der Onkel blieb stehen und betrachtete verblüfft die Bilder. »Das muss aber eine seltsame Frau gewesen sein, diese Lea«, sagte er dann, »so etwas Kurioses habe ich noch nie als Kupferstich gesehen.«

»Ich hätte sie gerne gekannt«, sagte Ursul und blätterte weiter in den Stichen. »Hier sieh nur«, sagte sie dann kopfschüttelnd und zeigte auf das Bild mit der tanzenden Lea in der sala des Palazzo. »Es dürfte klar sein, dass sie sich das zusammenphantasiert hat, eine jüdische Frau durfte ganz gewiss nicht in einem Palazzo wohnen.«

»Es ist immer nur sie?«, wollte der Onkel wissen.

»Bis auf dieses eine Bild«, erwiderte Ursul und blätterte zurück, »da sind noch zwei andere Frauen abgebildet. Vermutlich ihre Freundinnen.«

»Jüdische Freundinnen?«

»Ich nehme an. Es ist am Kai vor dem Arsenal gemalt, und ich weiß natürlich überhaupt nicht, in welchem Zusammenhang das Schiff, vor dem die Frauen stehen, mit Lea und ihren Freundinnen zu tun hat.« Ursul lachte. »Sie wird wohl kaum die Eigentümerin dieses Schiffes gewesen sein.«

»Es müssen ja nicht unbedingt jüdische Freundinnen sein«, überlegte der Onkel, »sie haben keinen Schleier auf dem Kopf, wie es vorgeschrieben war.«

»Und hier«, Ursul blätterte inzwischen weiter, »das ist das seltsamste Bild, diese Himmelsleitern, mit diesen Augen am Himmel, die die Beamten anstecken.«

»Geh noch mal zurück«, bat der Onkel plötzlich, »ich möchte das vorherige Bild noch mal sehen.«

»Die Freundinnen?«, fragte Ursul und schlug das Blatt mit den drei Frauen nochmals auf.

»Diese Frau kenne ich«, sagte der Onkel plötzlich erregt und deutete auf die mittlere der Frauen, »ich müsste mich sehr täuschen, wenn ich sie nicht kennen würde.«

»Und woher?«

»Das weiß ich nicht ganz genau.« Er zögerte. »Vielleicht von uns daheim, von Nürnberg«, sagte er dann rasch. »Der Kleidung nach könnte sie dort hingehören. Sie sieht freilich anders aus, aber da gibt es in jedem Fall eine gewisse Ähnlichkeit. Du müsstest sie eigentlich auch kennen.«

»Ich«, fragte Ursul verblüfft, »ich habe diese Frau gewiss noch nie gesehen. Und wo auch?«

»In unserem Kontor«, sagte der Onkel mit Entschiedenheit.

»Im Kontor? Wo denn da?«

»Nun, ich denke, die großen Porträts unserer Vorfahren können dir eigentlich nicht entgangen sein, auch wenn man sich nicht dafür interessiert.«

»Ich komme höchst selten in diesen Raum – wieso soll dort überhaupt eine Frau hängen? Ich habe nur Männer in Erinnerung.«

»Eben deswegen. Du hast sie für einen Mann unter Männern gehalten, deswegen fiel sie dir nicht auf.«

»Und was weißt du von ihr?«

»Nichts«, sagte der Onkel entschieden, »absolut nichts. Aber sie muss ja schließlich irgendetwas mit unserem Geschäft zu tun gehabt haben, sonst würde sie nicht da hängen. Aber da wir in Kürze wieder nach Nürnberg fahren werden, kannst du die Bilder dort in aller Ruhe betrachten und schauen, ob du diese Frau findest. Mehr dazu werde ich jetzt ganz gewiss nicht verraten.« Am anderen Morgen war das Chaos im fondaco noch um einiges wilder.

»Mir hat die Sache mit dieser unbekannten Frau heute Nacht keine Ruhe gelassen«, sagte der Onkel, als sie sich zwischen Eseln und Ballentreibern auf dem Hof hindurchgequetscht hatten, »schließlich sind wir hier in diesem fondaco schon seit vielen Jahren und hatten da unsere Kammern. Ich denke, dass man hier nochmals nachforschen könnte.«

»Es gibt doch sicher irgendwelche Bücher darüber, sind sie etwa schon alle eingepackt?«

»Und unser Faktor ist anderswo beschäftigt. Ich werde das meiste bei dem Umzug wohl allein machen müssen. Vielleicht müssen wir wirklich auf Nürnberg warten, bis wir mit unseren Fragen weiterkommen.«

Er ging zur Tür, legte dann den Finger an die Nase. »Früher hatten wir einmal eine Kammer mehr, aber dann waren die Geschäfte in jenem Jahr nicht so gut und so haben wir sie wieder abgegeben.«

»Vielleicht weiß der Nachfolger etwas von dieser abgegebenen Kammer. Oder ob irgendetwas von ihr zurückgeblieben ist.«

»Ich werde fragen, falls ich ihn finde«, sagte der Onkel bereitwillig, »aber viel Hoffnung habe ich nicht.«

Die Nachfrage nach etwaigen in der Kammer zurückgelassenen Dingen blieb erfolglos. »Wenn etwas liegen blieb, wurde es im Keller aufgehoben«, sagte der alte Verwalter, »früher. Aber jetzt?« Er wies mit der Hand auf den chaotischen Hof und die Galerien. »Niemand von den Franzosen kann Italienisch«, murmelte er dabei vor sich hin.

Zwei Tage später kam der Onkel mit zwei sorgfältig zugeklebten Päckchen und legte sie vor Ursul auf den Tisch. »Stell dir vor, er hat mir das gebracht, der Verwalter«, erklärte er und rümpfte die Nase, »öffne es auf der Galerie, es ist alles voller Staub. Und er war auch gar nicht sicher, ob das überhaupt etwas mit unserer früheren Kammer zu tun hatte, es sei eine Nummer dabei gewesen mit einer 8. Aber jetzt sei ohnehin alles durcheinander und wir könnten es ja wegwerfen, wenn wir es nicht brauchen könnten.«

Ursul rümpfte die Nase. »Wonach riecht das denn?«, fragte sie dann.

Der Onkel zog die Luft ein. »Nach Kirche«, sagte er kopfschüttelnd.

»Nach Kirche?« Ursul streckte die Nase in eines der beiden Tütchen, das sie aus dem Päckchen herausgenommen hatte. »Du hast recht, nach Kirche. Nach Weihrauch, oder?«

»Vielleicht«, sagte der Onkel und schüttete den Inhalt eines Tütchens behutsam auf seine Hand. »Aber ich habe nie gehört, dass jemand aus unserer Familie in Nürnberg mit Weihrauch gehandelt hat. Wir waren Waffenhändler, Eisenhändler, Drahtzieher. Einer der Vorfahren war zwar ein Safranhändler, aber dies hier ist ganz gewiss kein Safran.«