Der Papst und der Holocaust - Michael Hesemann - E-Book

Der Papst und der Holocaust E-Book

Michael Hesemann

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Beschreibung

Kaum ein Vorwurf kann schwerwiegender sein: Papst Pius XII. habe geschwiegen, als er von Hitlers Plan erfuhr, die Juden Europas zu vernichten. Er habe sogar tatenlos zugeschaut, als praktisch unter seinem Fenster die römischen Juden in die Todeslager deportiert wurden. Doch diese Version, auch bekannt als "schwarze Legende", ist falsch. Die Beweise, dass es ganz anders war, lagen ein halbes Jahrhundert im Geheimarchiv des Vatikans unter Verschluss. 2018 endlich werden die vielen 100.000 Akten der Forschung zur Verfügung stehen. Dr. h. c. Michael Hesemann hat als einer der ersten Historiker überhaupt Zugang zu den brisantesten Dokumenten des 20. Jahrhunderts erhalten. Im Rahmen seiner umfassenden Aufarbeitung dieses dramatischsten Kapitels der jüngeren Kirchengeschichte werden sie in diesem Band weltexklusiv veröffentlicht.

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Seitenzahl: 628

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Michael Hesemann

Der Papst

und der

Holocaust

Pius XII. und die

geheimen Akten

im Vatikan

Seiner Heiligkeit, Papst emeritus Benedikt XVI., der mich zu diesem Buch inspirierte,

und

Hwst. Pater Dr. Peter Gumpel, SJ, der auf der Suche nach der Wahrheit zu meinem Wegweiser wurde, zum 95. Geburtstag,

in Dankbarkeit und Verbundenheit

gewidmet.

Alle Rechte vorbehalten.

© für die Originalausgabe und das eBook 2018 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, Stuttgart

Lektorat: Melanie Kattanek, Hemmingen

Umschlaggestaltung: STUDIO LZ, Stuttgart

Umschlagmotiv: L’Osservatore Romano, Vatikanstadt

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-7844-3460-5

www.langen-mueller-verlag.de

Inhalt

Vorwort von Pater Dr. Peter Gumpel, SJ

Einleitung

I Kristallnacht!

II »Spirituell sind wir alle Semiten«

III Operation Exodus

IV »Hilfe für die Juden«

V Hitlers Feind

VI Verschwörung gegen den Krieg

VII Tyrannenmord

VIII Das Rennen gegen die Zeit

IX Unter dem Mantel des Schweigens

X »Sei stolz darauf, dass Du ein Jude bist«

XI Der lähmende Schrecken

XII Das »kluge Schweigen« des Papstes

XIII »Um noch größeres Unheil zu vermeiden«

XIV Die Deportationen verzögern

XV In höchster Gefahr

XVI Unter seinen Fenstern

XVII Die Stunde des Papstes

XVIII Die letzte Konfrontation

Epilog: Nach dem Sturm

Anmerkungen

Quellen und Bibliografie

Abbildungsnachweis

Abkürzungen

Dank

Vorwort

Sehr gerne und dankbar habe ich die Einladung meines verehrten Freundes und Kollegen Dr. h. c. Michael Hesemann angenommen, das Vorwort zu seinem neuen Buch Der Papst und der Holocaust zu schreiben. Ich tue dies umso lieber, weil ich diesen Papst seit meiner frühen Jugend besonders geliebt und verehrt habe und auch mehrere, zum Teil längere Gespräche mit ihm führen durfte. Unter den Päpsten der letzten Jahrzehnte habe ich nur einen nicht persönlich gekannt, nämlich Pius XI., der bereits 1939 verstorben ist, während ich erst 1947 nach Rom berufen wurde. Aber die sieben, die auf ihn gefolgt sind, habe ich alle persönlich gekannt und konnte mir in Gesprächen und Konsultationen, zu denen sie mich eingeladen hatten, ein ziemlich gutes Bild von ihnen machen.

Es ist üblich geworden, die Päpste der letzten Zeit miteinander zu vergleichen und Werturteile zu äußern, wer von ihnen denn der größte sei. Dazu kann ich nur sagen, dass ich derartige Überlegungen für äußerst problematisch halte. Ich habe feststellen können, dass sie alle sehr unterschiedliche Persönlichkeiten waren und darüber hinaus ihre jeweilige Amtsperiode in Zeitumstände fiel, die nicht miteinander vergleichbar sind. Pius XII. zum Beispiel, von dem dieses Buch handelt, hat in seiner Amtszeit den Nationalsozialismus und den Kommunismus erleben müssen, den Zweiten Weltkrieg und, nach einer relativ kurzen Unterbrechung, auch den Kalten Krieg. Gott sei Dank ist keinem seiner Nachfolger das Los zuteilgeworden, ihr Amt als Papst in derart schwierigen Zeiten auszuüben. In diesem Zusammenhang sehe ich mich veranlasst, noch eine weitere Bemerkung zu machen. Wiederholt wird darauf hingewiesen, dass die Nachfolger von Pius XII. bereits selig- oder heiliggesprochen wurden. Das gilt für Johannes XXIII., der bereits heiliggesprochen ist, für Paul VI., der im Oktober 2018 heiliggesprochen wird, und für Johannes Paul II., der schon vor den beiden anderen »zur Ehre der Altäre« erhoben worden ist, obgleich er erst 2005 verstarb. Pius XII. hingegen, 1958 verstorben, ist ein einfacher »Venerabilis« (die Stufe vor der Seligsprechung) geblieben. Daraus konkludiert manch einer aber völlig zu Unrecht, dass diese Nachfolger, da sie heiliggesprochen sind, »größere« Päpste gewesen seien als Pius XII. Ich glaube, dass ich das Recht habe, darüber ein Urteil auszusprechen. Zu meinem Amt als Professor der Geschichte des Dogmas und der Theologie an der päpstlichen Universität Gregoriana kam am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils der Auftrag von Paul VI., zusammen mit dem damaligen Generalpostulator der Gesellschaft Jesu, Prof. Dr. Paolo Molinari, SJ, das Seligsprechungsverfahren für Pius XII. einzuleiten und nach bestem Vermögen durchzuführen. Wir haben es uns dabei nicht leicht gemacht. Wir hatten alles zusammen 149 Verfahren zu begutachten, und später wurde mir zuerst als Konsultor, dann als Relator die Aufgabe zugeteilt, viele weitere Verfahren zu beurteilen. Ich denke, das berechtigt mich zu einem solchen Urteil und dazu, jeden Vergleich mit seinen Nachfolgern zurückzuweisen. Ob ein Papst selig- oder heiliggesprochen wird, bezieht sich auf sein persönliches Leben, sein Leben aus dem Glauben, sein Leben des Gebetes und das ehrliche Bemühen, sein Amt so gut wie möglich auszufüllen. Das bedeutet aber nicht, dass die Menschen, die bereits selig- oder heiliggesprochen sind, unter allen Umständen immer die beste Wahl getroffen haben und es verdienen, als besonders große Päpste in die Geschichte einzugehen. Das gilt nicht nur für die Päpste der Neuzeit, die ich alle sehr verehrt habe, sondern für alle Päpste der Kirchengeschichte. In diesem Zusammenhang möchte ich hinweisen auf eine Bemerkung, die mein damaliger Lehrer im Bibelinstitut, Prof. Dr. Augustin Bea, SJ, später Kardinal, gemacht hat, als wir ihn einluden, für den Seligsprechungsprozess eine eidliche Aussage über Pius XII. zu machen, den er ja sehr gut gekannt hat, war er doch lange Jahre sein Mitarbeiter gewesen. Kardinal Bea jedenfalls hat damals gesagt – und er hat es später viele Male wiederholt: »Pius XII. hat es nicht nötig, dass ich mein Urteil über ihn abgebe. Nach meiner festen Überzeugung ist er der größte Papst der Neuzeit gewesen.« Und dann fügte er noch einen Satz hinzu, den ich nie vergessen habe: »Seien Sie versichert, dass erst nach 100 Jahren klar und deutlich sein wird, wie groß dieser Papst gewesen ist, welche Richtung er der Kirche gegeben hat und wie viel wir ihm verdanken.« Ich glaube, das Urteil eines solchen Mannes verdient es, hier zitiert zu werden.

Im Übrigen möchte ich auf eine Tatsache hinweisen, die mich immer wieder verwundert. Pius XII. hat unermüdlich gearbeitet und sehr viel für die Kirche getan. Von Anfang an hat er sich für den Frieden eingesetzt. Am 24. August 1939, nur wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, sagte er in einer für die Welt bestimmten Radiobotschaft: »Nichts ist verloren mit dem Frieden. Alles kann verloren sein durch den Krieg.« Prophetische Worte, die sich dann auch bewahrheitet haben.

Deshalb wundert es mich, wie wenig heute von Pius XII. gesprochen wird, und wenn, dann nur unter dem einen Aspekt, um den es auch in dem vorliegenden Buch meines Freundes und Kollegen Dr. Michael Hesemann geht: die Frage nach seinem Verhalten im Holocaust. Alles, was er sonst geleistet hat, scheint in Vergessenheit geraten oder wird nicht genannt. Herrn Hesemann ist da kein Vorwurf zu machen, hat er doch schon vor zehn Jahren eine äußerst lesenswerte Gesamtbiografie Pius’ XII. verfasst unter dem Titel: Der Papst, der Hitler trotzte. Aber von vielen anderen wird das gerne unterschlagen.

Es steht außer Frage, dass Pius XII. sehr viel für die Juden getan hat, vielleicht mehr als jeder andere. Auch deshalb verdient er es, verehrt zu werden, doch es gibt noch viele andere Gründe. Da ist, ich erwähnte es bereits, sein unermüdlicher Einsatz für den Frieden. Pius XII. hat auch sehr viel dafür getan, Italien aus dem Krieg herauszuhalten, was ihm leider nicht gelungen ist. Als am 21. Dezember 1939 der italienische König und die Königin ihn im Vatikan besuchten, hat er ihnen ebenso ins Gewissen geredet wie sieben Tage später bei einem Gegenbesuch im Quirinal. Doch weder diese noch zahlreiche andere Versuche waren erfolgreich, wofür ihn natürlich keine Schuld trifft.

Aber ich möchte noch auf einige andere Aktivitäten Pius’ XII. hinweisen, die es verdienen, nicht vergessen und nicht weiter verschwiegen zu werden. Zu den wichtigsten Aufgaben eines Papstes gehört es, dafür zu sorgen, dass, wenn er stirbt, das Kardinalskollegium voll besetzt ist, das seinen Nachfolger zu wählen hat. Pius XII. konnte lange Zeit keine neuen Kardinäle ernennen – während des Zweiten Weltkrieges war es völlig unmöglich, weil die Kardinäle gar nicht nach Rom kommen konnten. Erst 1946 hat er dann 32 neue Kardinäle ernannt, darunter merkwürdigerweise nur vier Italiener. Ich betone das, weil in den letzten Jahrhunderten immer der größte Teil der Kardinäle aus Italien stammte und natürlich dann auch einen Italiener zum Papst wählte. Pius XII. wollte das nicht, und er hat es erreicht, dass der Weg frei wurde zu einem nichtitalienischen Papst. Er war natürlich nicht gegen Italien, im Gegenteil, er liebte sein Vaterland. Doch aufgrund seiner großen internationalen Erfahrung war er wohl zu der Einsicht gelangt, dass auch andere Nationen Päpste stellen könnten und auch stellen sollen – und das hat er erreicht. Weiter führte er eine neue Ordnung in der kirchlichen Administration ein. Er hat 87 neue Kirchenprovinzen, 99 neue Erzdiözesen und 413 neue Bistümer eingerichtet, was zeigt, in welch gesundem Zustand sich damals die Kirche befand. Wenn Sie sehen und wissen, wie viel Arbeit notwendig ist, um auch nur ein einziges neues Bistum zu schaffen, dann können Sie sich ausmalen, wie mühsam dieser Weg und wie unermüdlich dieser Papst war.

Weiter möchte ich auf die Lehraktivität Pius’ XII. hinweisen, die außerordentlich ist. Ihm verdanken wir 40 Enzykliken, die den gesamten Bereich des kirchlichen Lebens betreffen. An erster Stelle ist natürlich Summi pontificatus zu nennen, die programmatische erste Enzyklika seines Pontifikates vom 20. Oktober 1939, in der Pius XII. über den Frieden, das Zusammenleben der Nationen und die Neuordnung der Staaten sprach. Vom theologischen Standpunkt verweise ich auf Mystici corporis vom 29. Juni 1943, den ersten großen Versuch, theologisch zu erklären, was die Kirche eigentlich ist. Am 30. September 1943 folgte die berühmte Enzyklika Divino afflante Spirito, die uns erklärte, wie wir heute das Neue und das Alte Testament zu verstehen haben. Am 20. November 1947 stellte er mit Mediator Dei die Weichen in der Liturgie. Schließlich warnte er in Humani generis am 12. August 1950 vor bestimmten Tendenzen, die sich in der Kirche unter der Oberfläche bemerkbar machten. Aus heutiger Sicht, im Rückblick auf das Zweite Vatikanische Konzil, erweist sich diese Enzyklika als geradezu prophetisch und kann jetzt erst in ihrer vollen Bedeutung erkannt werden.

Zu erwähnen sind auch die zahlreichen Ansprachen Pius’ XII., die jährlich in der Serie Discorsi e radiomessagi di Sua Santitá Pio XII 1939–1958 veröffentlicht wurden. Pius XII. hatte die Gewohnheit, wann immer er die Teilnehmer eines der zahlreichen in Rom veranstalteten Fachkongresse in Audienz empfing, sich zuvor gründlich auf Basis der neuesten Fachliteratur auf das jeweilige Thema vorzubereiten, um dann wirklich fundiert etwas sagen zu können. Seine Ansprachen waren keine kurzen Grußbotschaften, sondern sorgfältig erarbeitete Abhandlungen auf der Grundlage der Lehre der Kirche. Besonders die Medizin, die christliche Ehe und der Kampf gegen die Abtreibung, die damals schon immer häufiger praktiziert wurde, aber auch politische Fragen lagen ihm am Herzen. Die Audienzen fanden damals noch nicht auf dem Petersplatz oder in der Aula Nervi statt, die erst von Paul VI. erbaut worden ist, sondern in den großen Sälen des Apostolischen Palastes. Anschließend nahm Pius XII. sich Zeit, mit jedem Audienzteilnehmer einzeln zu sprechen. Er war immer begleitet von einem Sekretär, der eventuelle Wünsche schriftlich festhielt, damit man der Sache im Anschluss nachgehen konnte.

Beachtlich war sein Einfluss auf das Zweite Vatikanische Konzil. Pius XII. hatte ursprünglich selbst den Wunsch gehabt, ein Konzil einzuberufen, hat aber dann doch davon abgesehen und diese Aufgabe seinem Nachfolger überlassen, weil er erst noch mehr Ordnung in der Kirche schaffen wollte. Und das ist ein Verdienst, das ihm keiner absprechen kann: Bei ihm herrschte Ordnung, jeder in der Kirche wusste, wo er stand. Wir wussten schon als katholische Jungen, was er über den Nationalsozialismus dachte. Wir wussten als junge Priester, wie er über den Kommunismus dachte. Wir wussten auch, was er für die Juden getan hat. Das alles darf heute nicht vergessen werden. Mein damaliger Chef, der berühmte Universitätsprofessor Paolo Molinari, SJ, hielt einmal an der Universität von Marseilles einen Vortrag über »Die Anwesenheit Pius’ XII. auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil«. Darin zählte er genau auf, wie oft Pius XII. in den Konzilsdokumenten zitiert wurde, nämlich 219 Mal – mehr als alle anderen Päpste zusammengenommen. Im Index der Acta Synodalia findet sich sein Name ganze 1673 Mal. Den Einfluss Pius’ XII. auf das Konzil kann man somit wohl nicht infrage stellen.

Doch erlauben Sie mir ein letztes Wort zum Thema dieses Buches. Ich habe anfangs gesagt, wie sehr mich verwundert, was alles über Pius XII. verschwiegen wird – auch vonseiten mancher kirchlichen Stellen –, während sich alles auf eine einzige Frage seines Pontifikates konzentriert, die Frage der Schoah, des Holocaust, um die es auch in der vorliegenden Studie meines verehrten Kollegen Dr. Hesemann geht. Es ist völlig abwegig, zu behaupten, dass Pius XII. antijüdisch gewesen sei, war doch sein bester Freund schon in Schultagen ein Jude, Guido Mendes, dem er 1938 die Ausreise in die Schweiz ermöglichte, von wo aus er dann nach Palästina übersiedelte. Die beiden sind zeitlebens Freunde geblieben, und als Mendes bereits ein berühmter Arzt in Israel war, kam er zweimal nach Rom, um den Kontakt zu seinem Freund wieder zu erneuern. Als Pius XII. am 9. Oktober 1958 starb, war er es, der voll Lobes seines Freundes gedachte. Doch er war nicht allein; auch die damalige Außenministerin Israels, Golda Meir, der erste Ministerpräsident Mosche Scharett und so viele andere jüdische Instanzen haben Pius XII. gelobt und gepriesen für alles, was er von Anfang an für die Juden getan hatte, während so viele andere ihnen die Hilfe verweigert hatten. Pius XII. hat sich immer und immer wieder bemüht und auch hier in Rom dafür gesorgt, dass der Vatikan und über 200 kirchliche Institutionen ihre Tore für die Juden öffneten, als ihre Verfolgung die Ewige Stadt erreichte. Ich kann das bezeugen, denn als ich selbst 1947 als blutjunger Dozent der Philosophie im päpstlichen Kollegium Germanicum hier in Rom war, hatte ich die Gelegenheit, viele von ihnen zu sprechen. Priester erzählten mir, wie sie vom Papst beauftragt worden waren, von einem Kloster zum anderen zu gehen und zu sagen: »Öffnet Eure Tore für die Juden.« Selbst da, wo dies eigentlich verboten ist, etwa in Klausur- und Frauenklöstern, wurden Ausnahmen gemacht. Das hohe Ziel war, Menschenleben zu retten – nur darum ging es. Die beiden Nachfolger von Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI., haben beide später bestätigt, dass sie bei allen Bemühungen, Juden zu retten, immer nur das getan hatten, was der Papst von ihnen verlangt hatte. Es gibt heute, Gott sei Dank, viele Juden, die das anerkennen. Ich nenne da an erster Stelle die Pave the Way Foundation von Herrn Gary Krupp aus New York. Aber es gibt auch renommierte jüdische Wissenschaftler wie Sir Martin Gilbert, der von der Queen aufgrund seiner wissenschaftlichen Verdienste in den Adelsstand erhoben wurde und der Pius XII. immer wieder verteidigt hat, in seinen Büchern und in seinen Vorträgen, und der persönlich nach Yad Vashem ging, um dagegen zu protestieren, dass Pius XII. in der sogenannten Hall of Shame neben Hitler und Eichmann zu sehen war. Aber leider gibt es auch andere, deren Behauptungen das vorliegende Buch so eindrucksvoll widerlegt.

Auch ein anderes wichtiges Kapitel erwähnt dieses Buch, nämlich die Verschwörung deutscher Generäle und Admiräle gegen Hitler, ihren Plan, ihn aus dem Weg zu räumen, und ihre Zusammenarbeit dabei mit Pius XII., der, anders als sonst, nicht erst lange überlegte, sondern ihnen spontan und innerhalb von wenigen Stunden seine Unterstützung zusicherte. Das war ein äußerst mutiger Entschluss, denn wenn Hitler das je erfahren hätte, hätte der katholischen Kirche in Deutschland eine noch unerbittlichere Verfolgung gedroht, als sie ohnehin schon stattfand.

All das ist heute leider vergessen. Es ist darum hoch an der Zeit, dass Autoren wie mein Freund Michael Hesemann daran erinnern, was Pius XII. wirklich getan hat und welches Risiko er dabei auf sich nahm, um Menschenleben zu retten. Hätten alle seine Bemühungen um Frieden und um eine Beseitigung Hitlers Erfolg gehabt, hätte weder der Zweite Weltkrieg stattgefunden noch die Schoah, der schreckliche Holocaust. Es ist die Tragik seines Lebens, dass es ihm trotz aller Versuche nicht gelungen ist, diese Schrecken zu verhindern. Doch es ist sein Verdienst, alles Menschenmögliche versucht zu haben.

Indem ich den Autor noch einmal beglückwünsche, spreche ich den Wunsch aus, dass dieses Buch bald in viele Sprachen, vor allem ins Englische, übersetzt wird. Möge es dazu beitragen, dass diesem großen Papst endlich Gerechtigkeit widerfährt.

Pater Prof. Dr. Peter Gumpel, SJ, Vatikanstadt

Relator im Seligsprechungsprozess für Pius XII.

Einleitung

»Er handelte oft im Verborgenen und in der Stille, gerade weil er im Licht der konkreten Situationen jenes komplexen historischen Augenblicks spürte, dass man nur auf diese Weise das Schlimmste verhindern und die größtmögliche Zahl von Juden retten konnte.«

Papst Benedikt XVI. über Pius XII. am 9. Oktober 20081

Dieses Buch ist das Ergebnis von 15 Jahren gründlicher Recherchen. Sie begannen, als ich mich 2003 für ein Forschungsprojekt mit den pseudoreligiösen Aspekten des Nationalsozialismus befasste. In meinem Buch Hitlers Religion, das 2004 erschien, weise ich nach, dass Adolf Hitlers feindselige Einstellung gegenüber der katholischen Kirche nicht nur in seinem fanatischen Antisemitismus begründet war – zumindest erkannte er die jüdischen Wurzeln des Christentums –, sondern auch in seinem Anspruch, Quasiprophet einer neuen Heilslehre, einer »politischen Religion« (Voegelin) zu sein, die in synkretistischer Manier heidnische und gnostische, darwinistisch-rationale und mystisch-okkulte Elemente in sich vereinte und sie in wagnerianischer Dramaturgie und menschenverachtender Brutalität inszenierte. Der Erste, der das glasklar erkannte, war ausgerechnet der damalige päpstliche Nuntius in München, Erzbischof Eugenio Pacelli, der den Nationalsozialismus schon 1925 treffend als »die gefährlichste Häresie unserer Zeit« bezeichnete. Dass ausgerechnet dieser Eugenio Pacelli, der 1939 als Pius XII. die Nachfolge Petri antrat, als »Hitlers Papst« diffamiert wurde, erschien mir schon 2003 als regelrechte Absurdität. So recherchierte ich weiter und widmete diesem prominentesten Fake-News-Opfer des 20. Jahrhunderts ein Kapitel in meinem Buch Die Dunkelmänner, das mit so mancher antiklerikalen »schwarzen Legende« aufräumt. Schon damals hatte ich so viel Material angesammelt, dass ich ihm unmöglich in einem Kapitel allein gerecht werden konnte, und so entstand 2008 meine nach wie vor aktuelle Biografie Pius’ XII. Der Papst, der Hitler trotzte – der Titel ist eine direkte Antwort auf die »schwarze Legende« vom Papst, der schwieg (so der Titel von Cornwells Buch). Sie erschien pünktlich zum 50. Todestag Pius’ XII. und just bevor Papst Benedikt XVI. dessen »heroischen Tugendgrad« promulgierte, die vorletzte Stufe vor der Seligsprechung in einem Prozess, der vor 43 Jahren, nämlich 1965, von Papst Paul VI. eröffnet worden war.

Schon während der Recherche für dieses Buch lernte ich in Rom den Relator (Untersuchungsrichter) dieses Prozesses, Pater Dr. Peter Gumpel, SJ, kennen, der seitdem zu meinem Lehrer und väterlichen Freund wurde. Mittlerweile bald 95 Jahre alt, gehört er zu den faszinierendsten Persönlichkeiten des Jesuitenordens, ja des ganzen Vatikans. Wie das Schicksal (oder die Vorsehung) es wollte, wurde er schon als Sechsjähriger dem damaligen Nuntius Pacelli vorgestellt. Er stammt aus einer bedeutenden Familie der Weimarer Republik, sein Großvater, ein einflussreicher Bankier, war einer der Berater des Reichspräsidenten Hindenburg. Am 15. November 1923 in Hannover-Kleefeld geboren, wurde Gumpel im Alter von neun Jahren nach Hitlers Machtergreifung nach Paris gebracht, weil sein Großvater ihn sicher wissen wollte. Drei Jahre später kehrte der Junge nach Deutschland zurück, lebte mit seiner Mutter in Berlin, wo er auf das Jesuitengymnasium ging, und musste erleben, wie die Gestapo seine Mutter verschleppte. Nur mithilfe einflussreicher Freunde der Familie, darunter Admiral Canaris, entging sie der Hinrichtung und überlebte den Krieg. In Verbindung mit ihrer Freilassung begegnete der gerade 15-jährige Gumpel dem SS-Gruppenführer Karl Wolff, der ihm schon damals so viel menschlicher erschien als die Schergen der Gestapo. Kurz darauf, im Januar 1939, verließ Gumpel ein zweites Mal – und jetzt endgültig – das Reich und besuchte zunächst ein Jesuiteninternat im niederländischen Nijmwegen. Dort wurde er Zeuge, wie Erzbischof de Jong 1942 gegen die Deportation der holländischen Juden protestierte, worauf die Nazis mit der Ermordung von insgesamt 694 Konvertiten2 antworteten. Nach dem Krieg trat Gumpel in die Gesellschaft Jesu ein und wurde von seinem Orden nach Rom geschickt, wo der blitzgescheite junge Theologe schnell eine akademische Karriere machte und bald an der Jesuitenuniversität Gregoriana lehrte. Damals beauftragte ihn Pius XII. immer wieder, Zitate für seine Predigten und Ansprachen zu überprüfen. Die Integrität, intellektuelle Brillanz, tiefe Menschlichkeit und der heiligmäßige Lebenswandel dieses Papstes beeindruckten Gumpel zutiefst. Seine »Nähe zu Petrus« wiederum machte ihn bald zu einem wichtigen und oft konsultierten Mitarbeiter des Vatikans. Gemeinsam mit seinem großen Ordensbruder Pater Dr. Paolo Molinari, SJ, bereitete er Dokumente für das Zweite Vatikanische Konzil vor, dann beauftragte man beide, das Amt des Postulators und das des Relators in 149 Selig- und Heiligsprechungsprozessen zu übernehmen. Betroffen waren Persönlichkeiten, die Kirchengeschichte schrieben – doch niemand zog Gumpel so sehr in seinen Bann wie der Pacelli-Papst, wohl auch, weil sie seelenverwandt waren. So wurde Pater Gumpel zum weltweit führenden Experten, was den Weltkriegs-Papst betrifft.

Er nahm mich von Anfang an wohlwollend unter seine Fittiche und schrieb auch schon das Vorwort zu meinem ersten Pius-Buch. Ihm verdanke ich, dass ich schließlich selber forschen konnte und 2008 Zugang zum vatikanischen Geheimarchiv, seit 2014 auch zum Archiv des Staatssekretariats bekam. Ebenfalls 2008 schickte er mich auf eine Tagung, die gerade in Rom zum Pius-Jubiläum stattfand. Im Collegio Militare, ausgerechnet dort, wo am 16. Oktober 1943 über 1000 Juden auf den Abtransport nach Auschwitz warteten, hatte die amerikanische Pave the Way Foundation (PTWF) Experten aus aller Welt eingeladen, die der »schwarzen Legende« Fakten entgegensetzten und Pius XII. umfangreich rehabilitierten. Ich sprach mit dem Veranstalter, Gary Krupp aus New York, und erfuhr, dass er Jude ist und es als unerträglich empfindet, wie dieser große Freund seines Volkes diffamiert, wie seine wirkungsvolle Hilfe für die verfolgten Juden totgeschwiegen oder abgestritten wird. Seine Stiftung hatte sich den interreligiösen Dialog und die Aussöhnung von Katholiken und Juden zur Aufgabe gemacht und sah hier ein Hindernis, das es zu überwinden galt. Ich war dankbar, Gleichgesinnte gefunden zu haben, und erklärte mich bereit, die PTWF fortan in Deutschland zu vertreten. Seitdem verbindet mich eine enge Freundschaft mit Gary und seiner Frau Meredith.

Fortan forschte ich für die PTWF in den Vatikanarchiven, während Gary und sein Team die daraus gewonnenen Erkenntnisse weltweit medial verbreiteten. So gelang es uns auch, dass in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte oberhalb von Jerusalem, eine ursprünglich kritische Tafel zu Pius XII. ausgetauscht und durch einen neutralen Text ersetzt wurde. Derzeit prüft man dort, ob man dem Antrag der PTWF nachkommen und dem Weltkriegs-Papst doch noch den Titel eines »Gerechten unter den Völkern« verleihen will, wie so vielen, die in seinem Auftrag Juden gerettet haben.

An der Sorbonne, der berühmten Universität von Paris, überzeugten wir 2012 auf einem Pius-Symposium den Dekan der historischen Fakultät, Edouard Housson, von den Bemühungen Pius’ XII. und eröffneten eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den Vatikanarchiven. Gleichzeitig konterten wir den Wortführer der Pius-Gegner, den italienischen Historiker Alberto Melloni, einen Vertreter der linken Schule von Bologna, der mir vorwarf, mich zu oft auf Dokumente zu berufen – während er selbst keinerlei Belege für das von ihm postulierte »Gesamtbild« vorlegen konnte. Eigentlich müsste jeder Historiker wissen, dass Archivstudien unerlässlich und Dokumente die Mosaiksteine sind, aus denen Geschichte rekonstruiert wird. Als seine Schüler dann noch ein Papstzitat bewusst verfälscht wiedergaben,3 waren die Würfel gefallen; wir hatten die Debatte gewonnen.

In diesen Tagen wuchs in mir der Wunsch, die in Hunderten Stunden Archivarbeit gewonnenen neuen Erkenntnisse und Fakten zu einem Buch speziell über den Papst und den Holocaust zusammenzufassen. Ich wartete freilich noch darauf, dass die Archive ihre Bestände zum Pontifikat Pius’ XII. zugänglich machten; bislang, seit 2006, waren nur die Akten aus dem Pontifikat Pius’ XI. einsehbar. Dreimal hatten wir (die PTWF) eine jeweils einstündige Besprechung im vatikanischen Staatssekretariat, das erste Mal 2009 mit Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, das zweite Mal 2015 mit seinem Nachfolger Petro Parolin und zuletzt 2017 mit Unterstaatssekretär Erzbischof Paul Gallagher. Jedes Mal wurde uns versichert, die Freigabe der Archivbestände sei nur noch »eine Sache von Monaten«. So war auch ich zunächst zuversichtlich, hielt mir 2016 und 2017 praktisch frei, nahm in dieser Zeit keine neuen größeren Buchprojekte in Angriff, um gegebenenfalls sofort nach Rom fliegen und die Akten sichten zu können – und wartete vergebens. Doch worauf?

Schon 1964, als direkte Antwort auf Rolf Hochhuths ahistorisches Skandaldrama Der Stellvertreter – ein Werk aus der Propagandaküche des KGB4 –, hatte Papst Paul VI. vier gelehrte Jesuitenhistoriker beauftragt, die wichtigsten Akten und Dokumente des Heiligen Stuhls in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg (ADSS)5 in einer elfbändigen Edition herauszugeben. 1981 war das Mammutprojekt abgeschlossen. Seitdem liegen 5141 bislang geheime Dokumente auf 7698 Seiten vor, von denen sich 2522 speziell mit der Situation der Juden befassen – allerdings wurden sie bislang weitgehend ignoriert.

»Warum arbeiten Sie nicht mit den ADSS?«, fragte mich schon Kardinal Bertone, als ich ihn auf mein Projekt ansprach. Zwei Männer, denen ich vertraue und die beide Zugang auch zur »geschlossenen Sektion« der Vatikanarchive haben, Pater Gumpel und der Archivist des Staatssekretariats, Dr. Johan Ickx, versicherten mir glaubhaft, dass über 90 Prozent der relevanten Dokumente dort zu finden seien. Zudem habe ich Zugang zu den Akten der Seligsprechung Pius’ XII., die ihr Postulator, Pater Dr. Paolo Molinari, mit solcher Akribie zusammengestellt hat, und zu zahlreichen Archiven, in denen man bereits Originale aus der Kriegszeit einsehen kann. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr musste ich also dem Kardinal recht geben: Selbst wenn die 16 Millionen6 Seiten aus dem Pontifikat Pius’ XII. einmal komplett freigegeben sind, würde es Jahre, ja vielleicht sogar Jahrzehnte dauern, bis ich und andere sie vollständig gesichtet hätten. Sicher würde man das eine oder andere finden, das die vier Jesuiten übersehen haben oder nicht für relevant genug hielten, aber wird es etwas am Gesamtbild ändern? Doch eher nicht. Also beschloss ich, mich mit dem zufriedenzugeben, was bereits vorliegt (und auf Veranlassung der PTWF, die für die Digitalisierung verantwortlich zeichnet, auch online einsehbar ist).7 Sobald alle Dokumente zugänglich sind und sich tatsächlich etwas Relevantes findet, werde ich auf der Website der PTWF (www.ptwf.org) und auf meiner eigenen Homepage (www.michaelhesemann.info) darüber informieren.

Dieses Buch erscheint also keineswegs zu früh, sondern gerade rechtzeitig zum 60. Todestag Pius’ XII. († 9. Oktober 1958), dem 80. Jahrestag der Pogromnacht (9. November 1938), dem 75. Jahrestag des »Blutsabbats« und der Deportation der Juden Roms (16.–18. Oktober 1943) – und kurz vor dem 80. Jahrestag der Wahl und Krönung Pius’ XII. (2. bzw. 12. März 1939). Es ist an der Zeit, dass diesem großen Lebensretter Gerechtigkeit widerfährt und gleichzeitig der sechs Millionen, die keine päpstliche Hilfe mehr retten konnte, neu gedacht wird. Noch spalten die Lügen über Pius XII. Christen und Juden. Die Wahrheit über den Papst, der in dieser dunkelsten Zeit der Geschichte auch ihr besorgter Vater war, kann sie einander nur näher bringen!

Rom, am 2. Juni 2018

Michael Hesemann

I Kristallnacht!

»Herr Kardinal, bitte lassen Sie mich herein. Wir brauchen dringend Ihre Hilfe!«

Der junge Jude zitterte am ganzen Körper vor Aufregung und Angst. Er war gerade um sein Leben gerannt, um den Nazis zu entkommen und den Münchner Erzbischof zu alarmieren. Der braune Mob war dabei, jüdische Geschäfte zu verwüsten, Juden auf die Straße zu zerren und sie zu verprügeln. Die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße stand in Flammen. In größter Eile, ja in Panik, hatte ihr Rabbi, Ernst Ehrentreu, versucht, zumindest ihre 70 Torahrollen, das größte Heiligtum seines Gotteshauses, vor der Entweihung und Zerstörung durch den Nazipöbel zu retten. Fast wäre er dabei selbst von den SA-Männern ins Feuer geworfen worden, hätte er nicht um Gnade gefleht und daran erinnert, dass er doch auch ein Familienvater sei. Er war es, der den Jungen zu Michael Kardinal von Faulhaber geschickt hatte, dem einzigen Nichtjuden, dem er bedingungslos vertraute. Vielleicht ahnte er, dass dieser Tag alles verändern würde, dass die Zeit der relativen Ruhe nun endgültig vorüber war, der Startschuss fiel für eine Verfolgung, die im größten Völkermord der Geschichte enden würde.

Es war Donnerstag, der 9. November 1938, kurz vor Mitternacht, als in München die Pforten der Hölle geöffnet wurden.

»Nach Bekanntwerden des Ablebens des durch feige jüdische Mörderhand niedergestreckten deutschen Diplomaten Parteigenossen vom Rath haben sich im ganzen Reich spontane judenfeindliche Kundgebungen entwickelt. Die tiefe Empörung des deutschen Volkes machte sich dabei vielfach auch in starken antijüdischen Aktionen Luft«,8

hatte abends die gleichgeschaltete deutsche Presse vermeldet. Doch es war alles ganz anders gewesen.

Am 9. Oktober 1938 hatte die polnische Regierung beschlossen, die Pässe aller polnischen Staatsbürger, die länger als fünf Jahre im Ausland lebten, auslaufen zu lassen. Davon waren auch die etwa 18000 verarmten polnischen Juden betroffen, die – viele von ihnen illegal – im Deutschen Reich lebten. Die deutsche Regierung stellte daraufhin Polen ein Ultimatum, die Rückkehr der Juden zu garantieren, die man ansonsten sofort ausweisen würde. Nach Ablauf des Ultimatums am 26. Oktober begann die Gestapo im ganzen Reich mit Massenverhaftungen. Die polnischen Juden wurden aus ihren Wohnungen geholt, in schwer bewachte Züge und Lastwagen gepfercht, zur deutsch-polnischen Grenze verfrachtet und auf polnisches Gebiet getrieben. Die völlig überraschten polnischen Grenzbeamten verweigerten den Ausgewiesenen zunächst mit Waffengewalt die Rückkehr in ihre Heimat. Tagelang mussten diese ohne Nahrung im Niemandsland oder auf völlig überfüllten Grenzbahnhöfen verharren, bis sich die Polen ihrer erbarmten und sie einreisen ließen. Etwa 11000 kehrten in ihre Dörfer zurück, rund 7000, die keine Papiere und keine Verwandten hatten, wurden in ein Flüchtlingslager bei Poznan gebracht.

Während der bilateralen Krise, die durch die »Polenaktion« der Nazis heraufbeschworen worden war, erfuhr der in Paris lebende 17-jährige Jude Herschel Grynszpan, dass seine ganze Familie zu den Deportierten gehörte. Seine Verzweiflung trieb ihn zu einer Kurzschlussreaktion mit verheerenden Folgen. Er besorgte sich einen Revolver, drang in die deutsche Botschaft in Paris ein und erschoss den 28-jährigen Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath, seit 1932 Mitglied der NSDAP und der SA. Später, nach der Verhaftung Grynszpans, kam heraus, dass es keinesfalls ein Zufallsmord war, am allerwenigsten aber eine »Kriegserklärung des Weltjudentums«, als die es die Nazis später darstellen wollten. Tatsächlich kannte Grynszpan den deutschen Diplomaten aus der Pariser Homosexuellenszene. Möglicherweise hatte er ihn zuvor erpresst, um an Reisedokumente für seine Familie zu kommen. Ebenso denkbar ist aber, dass vom Rath ihn sich mit falschen Versprechungen gefügig gemacht hatte.9

Als vom Rath zwei Tage nach dem Attentat seinen Verletzungen erlag, war die NS-Führung gerade in München versammelt, um ihrer vermeintlichen »Märtyrer der Bewegung« zu gedenken. So nannten die Nazis, in bewusster Perversion des christlichen Märtyrerbegriffes, die Opfer von Hitlers Novemberputsch von 1923, der im Bürgerbräukeller begann und an der Feldherrnhalle endete. Seitdem galt der 9. November als »nationalsozialistischer Karfreitag«, und seit der Machtergreifung wurde er geradezu rituell begangen. Nie zeigten Hitler und seine Vasallen so deutlich, dass ihre Partei längst zur Gegenkirche, zu einer antichristlichen und antijüdischen Sekte geworden war.10 So stellte auch Hitlers Architekt Albert Speer in seinen Spandauer Tagebüchern fest:

»Den Satz vom Tausendjährigen Reich hatte ich lange als leere Formel genommen, als Anspruch, etwas über die eigene Lebenszeit hinaus zu begründen. Aber bei der Festlegung, ja fast Kanonisierung des Rituals [am 8./9. November] wurde mir erstmals bewusst, dass das ganz buchstäblich gemeint war. Immer hatte ich geglaubt, dass all diese Aufmärsche, Umzüge und Weihestunden Teil einer virtuosen propagandistischen Revue seien; jetzt wurde mir klar, dass es für Hitler fast um die Gründung einer Kirche ging.«11

Eigens zum Zweck ihrer zukünftigen Verehrung hatte Hitler die Leiber der 16 Opfer seines politischen Abenteuers von 1923 zwölf Jahre später exhumieren lassen. Ihre sterblichen Überreste wurden in 16 bronzenen Sarkophagen gesammelt, die zunächst in der mit braunem Tuch ausgeschlagenen und mit Feuerschalen dekorierten Feldherrnhalle aufgestellt wurden. Nach einer Erinnerungsrede im Bürgerbräukeller fuhr Hitler kurz vor Mitternacht, im offenen Wagen stehend, durch das Siegestor, wo ihn ein Meer von Flammen erwartete. Bis zum Odeonsplatz war die Ludwigstraße gesäumt von 240 blutrot verkleideten Pylonen mit qualmenden Feuerbecken, von denen jeder mit goldenen Lettern die Namen der »Märtyrer der Partei« trug. Die Flammen tauchten die Szenerie in ein gespenstisch flackerndes Licht. Zwischen dem Spalier nervös tanzender Schatten bildeten Einheiten von SS und SA mit Tausenden Fackeln feurige Linien. Im Schritttempo fuhr Hitler, gefolgt von einer Prozession »alter Kämpfer«, die ihm aus dem Bürgerbräukeller gefolgt war, ihre Reihen ab. Während die Namen der Gefallenen aufgerufen wurden und zu ihren Ehren 16 Kanonenschüsse fielen, hielt der Wagen vor der Feldherrnhalle, und Hitler stieg, mit zum Gruß erhobenem Arm, auf einem roten Läufer die Stufen empor. In sich versunken wie ein Hohepriester verweilte er vor jedem der Särge, als hielte er eine stumme Zwiesprache mit den Toten, dann marschierten 60000 uniformierte Parteigenossen mit ihren Fahnen schweigend vorüber.

Am nächsten Morgen, dem 9. November 1938, setzte sich im düsteren Grau eines Novembertages12 die feierliche Gedenkprozession in Gang, die den Marschweg von 1923 nachvollzog. An der Spitze des Zuges ging Hitler, gefolgt von den Trägern des von ihm gestifteten »Blutordens« und der »Führergruppe« mit der »Blutfahne«, der Reliquie von 1923. Das »Heiligtum der Bewegung«, wie sie HJ-Führer Baldur von Schirach nannte, wurde nur zweimal im Jahr enthüllt: zur Fahnenweihe auf dem Reichsparteitag in Nürnberg und am 9. November in München. Wieder und wieder erklang aus Tausenden Lautsprechern das martialische Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne, die an die Fahne und die Toten erinnerte: »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen …« 16 Artilleriesalven dröhnten über der Stadt, als die Prozession endlich die blutroten Pylone passiert und die Feldherrnhalle erreicht hatte. Während die Glocken der Stadt Sturm läuteten, schritt Hitler noch einmal die Stufen der Feldherrnhalle empor, die das NS-Parteiorgan, der Völkische Beobachter, »unseren Altar« nannte, und legte einen Kranz für die Toten nieder. Dann wurden die Särge auf 16 Pferdegespanne geladen und zu den beiden offenen, säulengesäumten Ehrentempeln im griechischen Stil gefahren, die der Architekt Ludwig Troost am Münchner Königsplatz errichtet hatte. Während die Blaskapellen in ohrenbetäubender Lautstärke immer wieder das Deutschlandlied spielten, erreichte der Trauerzug den »Platz der Wiederauferstehung«. Noch einmal wurden die Namen der 16 Toten aufgerufen, doch jetzt antwortete jedes Mal die versammelte Hitlerjugend im Chor mit einem donnernden »Hier!«.13

Als diese »Naziversion eines Passionsspiels« – so der Historiker David Clay Large14 – beendet war, fand am Abend noch ein Parteiempfang im Alten Rathaus der Stadt München statt. Dort war es, dass NS-Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels vom Tod des homosexuellen Diplomaten und von ersten gewalttätigen Demonstrationen seiner Parteigenossen in Kassel und Passau erfuhr. In seinem Tagebuch hielt er fest:

»Ich gehe zum Parteiempfang im alten Rathaus. Riesenbetrieb. Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen einmal den Volkszorn zu spüren bekommen. Das ist richtig. Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei. Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles saust gleich an die Telefone. Nun wird das Volk handeln.

Einige Gauleiter machen schlapp. Aber ich rufe immer wieder alles hoch. Diesen feigen Mord dürfen wir nicht unbeantwortet lassen. Der Stoßtrupp Hitler geht gleich los, um in München aufzuräumen … Eine Synagoge wird in Klump geschlagen … Ich gebe nun ein präzises Rundschreiben heraus, in dem dargelegt wird, was getan werden darf und was nicht … Unterdeß verrichtet der Stoßtrupp sein Werk. Und zwar macht er ganze Arbeit … Ich will ins Hotel, da sehe ich am Himmel blutrot. Die Synagoge brennt … Der Stoßtrupp verrichtet fürchterliche Arbeit. Aus dem ganzen Reich laufen nun die Meldungen ein: 50, dann 75 Synagogen brennen. Der Führer hat angeordnet, daß 20–30000 Juden sofort zu verhaften sind. Das wird ziehen. Sie sollen sehen, daß nun das Maß unserer Geduld erschöpft ist …«15

Es war 23.59 Uhr, als bei der Münchner Branddirektion die erste Meldung dieser Nacht der Scherben und Flammen einging. Im Schaufenster des jüdischen Textilwarengeschäftes Hans Weber in der Augustenstraße habe es ein Kleinfeuer gegeben. Damit begann eine ganze Serie mutwilliger Zerstörungen, Brandstiftungen und Plünderungen, die bis in die frühen Morgenstunden andauern sollte. Beim Hutmodengeschäft Heinrich Rothschild in der Sendlinger Straße wurden die Schaufenster eingeschlagen, aber nicht die Täter wurden abgeführt, sondern der Eigentümer. Im Kaufhaus Uhlfelder im Rosental, bislang mit seinen Rolltreppen, seiner Gastronomie und seinem Streichelzoo ein Symbol für das mondäne München, kam es zur Zerstörung der Auslagen, dann zu Plünderungen und Verwüstungen, schließlich zur Brandstiftung. Dem Herrenbekleidungsgeschäft Joachim Both in der Lindenstraße wurden die Scheiben von SA-Männern eingeschlagen. Als das Ehepaar Both gerade von einem Theaterbesuch heimkehrte, überraschte es die plündernden Nazis. »Wir hatten den Hauseingang noch nicht betreten, als sich etwa zehn Männer, die im Hauseingang standen, auf uns stürzten und mit den Händen auf uns einschlugen«, erinnerte sich Marjem Both später.16 Sie bekam gerade noch mit, wie die Nazis ihren Mann in den ersten Stock des Hauses zerrten, ehe sie bewusstlos geschlagen wurde. Am nächsten Morgen fand sie die Leiche ihres Mannes im Kinderzimmer. Neben Geschäften waren auch unzählige Privathäuser und soziale Einrichtungen Ziele der Randalierer. Die jüdischen Altersheime in der Kaulbach- und der Mathildenstraße wurden gestürmt, Geld und Einrichtungsgegenstände gestohlen. Als eine 83-jährige Heimbewohnerin einen anwesenden SA-Mann fragte, wo sie denn hingehen solle, erhielt sie die zynische Antwort: »Der Starnberger See hat Platz genug für euch alle.«17

SA-Männer in Zivil drangen auch in die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße ein und verwüsteten die Einrichtung, bevor sie das Gebäude in Brand setzten. Als Kardinal von Faulhaber durch den jungen Juden davon erfuhr, reagierte er prompt und schickte einen Lastwagen des Bistums. Dieser brachte die von Ehrentreu geretteten Torahrollen ins Erzbischöfliche Palais und damit in Sicherheit.

Der Rabbi wusste, dass sie bei Faulhaber bestens aufgehoben waren, denn der Kirchenmann hatte ihn noch nie enttäuscht. Kardinal Michael von Faulhaber (1869–1952) war, sicher auch in katholischen Kreisen damals eine Seltenheit, ein ausgesprochener Freund des Judentums. Nach seiner Priesterweihe, Promotion und Habilitation hatte er von 1903 bis 1910 an der Universität Straßburg Alttestamentliche Exegese und biblische Theologie gelehrt und sich ausgiebig mit der jüdischen Geisteswelt vertraut gemacht. Als er zunächst von Papst Pius X. für ein Jahr zum Bischof von Speyer, dann zum Erzbischof von München und Freising ernannt wurde, setzte er demonstrativ die Menorah, den siebenarmigen Leuchter der Juden, entzündet von der Taube des Heiligen Geistes, auf sein Bischofswappen. Bezeichnenderweise finden wir seinen Namen in einem der ersten Dokumente im vatikanischen Geheimarchiv, das den Namen Adolf Hitlers erwähnt. Der Apostolische Nuntius Erzbischof Eugenio Pacelli hatte am 14. November 1923, also wenige Tage nach Hitlers »Bürgerbräu-Putsch«, einen Bericht an Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri verfasst, der insbesondere auf »den antikatholischen Charakter des Nazi-Aufstandes« hinwies. Pacelli wörtlich:

»Dieser [antikatholische] Charakter hat sich in erster Linie in der systematischen Hetze gegen den katholischen Klerus gezeigt, mit welchem die Anhänger Hitlers und Ludendorffs, vor allem in Reden auf öffentlichen Straßen, die Bevölkerung aufwiegelten und so die Geistlichen Beleidigungen und Schmähungen aussetzten. Ihre Angriffe gelten insbesondere dem gelehrten und gewissenhaften Kardinalerzbischof, der in einer Predigt im Dom am 4. November und in einem Schreiben an den Herrn Reichskanzler [Gustav Stresemann], veröffentlicht … am 7. November, die Verfolgungen der Juden angeprangert hatte … So kam es, dass während der Turbulenzen am letzten Samstagnachmittag eine große Gruppe von Demonstranten vor dem erzbischöflichen Palais stand und ›Nieder mit dem Kardinal!‹ brüllte.«18

1926 schloss Kardinal von Faulhaber sich den Amici Israel an, einer Gruppe hochkarätiger katholischer Kleriker, die sich für eine Veränderung in der Karfreitagsliturgie nach dem Römischen Messbuch von 1570 einsetzte, das noch immer in der gesamten katholischen Welt benutzt wurde. Darin lautete die lateinische Gebetseinladung zur achten Fürbitte »Oremus et pro perfidis Iudaeis«, was zwar »Lasset uns auch beten für die ungläubigen19 Juden« bedeutet, aber doch den Antisemiten eine Steilvorlage bot: Sie konnten von den »perfiden Juden« sprechen und sich dabei noch auf die katholische Kirche berufen. Diesen Missbrauch, diese Gefahr einer Vereinnahmung in einer Zeit des zunehmenden rassistisch motivierten Antisemitismus prangerten die »Freunde des Volkes Israel« an. In einem offenen Brief an Papst Pius XI. (1922–1939) forderten sie eine Reform der Karfreitagsfürbitte. Zudem plädierten sie für eine überfällige Versöhnung zwischen Katholizismus und Judentum.

Eines der frühesten Dokumente im Vatikanarchiv, das Hitler erwähnt, weist auch auf den »antikatholischen Charakter« seiner Bewegung und auf den Widerstand der Kirche gegen deren Antisemitismus hin.

Der Münchner Erzbischof

Michael Kardinal Faulhaber

Präsident dieses bemerkenswerten Priesterwerks war immerhin der Generalabt der Benediktinerkongregation von Monte Cassino, Benedikt Gariador (1859–1936). Zu ihren prominentesten Mitgliedern zählten damals Kardinalstaatssekretär Pietro Gasparri, der Sekretär des Heiligen Offiziums (heute: Glaubenskongregation), Kardinal Raffaele Merry del Val, der Präfekt der Kongregation für die Verbreitung des Glaubens, Kardinal Wilhelmus Marinus van Rossum, der General des Dominikanerordens und ehemalige Nuntius in München, Kardinal Andreas Frühwirth, der Kölner Erzbischof Kardinal Karl-Joseph Schulte und Faulhaber sowie 13 weitere Kardinäle, 287 Bischöfe und Erzbischöfe wie auch rund 3000 Priester.20 Erst die heftige Opposition konservativer Kirchenmänner ließen diese zunächst so stolze Front zerbröckeln, ja führte sogar zu einer Kehrtwende bei Kardinal del Val, der den Amici schließlich »gefährliche Wendungen«, »irrige Aussagen« und religiöse Indifferenz bescheinigte. Auch Papst Pius XI. ging dieser »klerikale Philo-Semitismus« zu weit. So wies das Heilige Offizium eine Reform der Karfreitagsfürbitte ausdrücklich zurück, betonte aber dennoch in seinem Dekret vom 25. März 1928:

»Die katholische Kirche … verurteilt ohne jede Einschränkung den Hass gegen das von Gott einst auserwählte Volk, ein Hass, der heute gemeinhin als ›Antisemitismus‹ bezeichnet wird.«21

Damit war auch dem Antisemitismus der Nazis eine klare Absage erteilt worden.

So blieb Faulhaber trotz der Niederlage der Amici Israel auch in den nächsten Jahren seinem Kurs treu. Im November 1930 etwa bezeichnete er auf einer Diözesansynode den Nationalsozialismus als »eine Häresie« (also Irrlehre!), die »mit der christlichen Weltanschauung nicht in Einklang« zu bringen sei.22 Zuvor, im September 1930, hatte das Erzbistum Mainz erklärt (was prompt von einigen Pfarrern von der Kanzel aus verlesen wurde):

»Jedem Katholiken ist es verboten, eingeschriebenes Mitglied der Hitlerpartei zu werden.Jedem Mitglied der Hitlerpartei sei nicht gestattet, in korporativer Zusammensetzung an Beerdigungen oder sonstigen Veranstaltungen teilzunehmen.Solange ein Katholik eingeschriebenes Mitglied der Hitlerpartei sei, könne er nicht zu den Sakramenten zugelassen werden.«23

Dieses Interdikt kam praktisch einer Exkommunikation der Nazis gleich. Doch der Mainzer Alleingang war in der Deutschen Bischofskonferenz nicht unumstritten und gewiss nicht mehrheitsfähig; man hielt das Vorgehen für »taktisch unklug und praktisch undurchführbar«24. Stattdessen entschloss sich ihr Vorsitzender, der Breslauer Erzbischof Kardinal Adolf Johannes Bertram, zu einem »offenen Wort in ernster Stunde«, das lediglich eine eindrückliche Warnung vor dem Rassenwahn und der Forderung der Nazis nach einer Nationalkirche enthielt.25 Kardinal Faulhaber dagegen wählte eine andere Strategie. In den pastoralen Anweisungen der bayerischen Bischofskonferenz, deren Vorsitzender er war, wurden unter der Überschrift »Nationalsozialismus und Seelsorge« im Februar 1931 vor allem der Rassismus und die Ablehnung des Alten Testaments durch die Nazis als »Irrlehren« gebrandmarkt. Katholischen Geistlichen wurde die Zusammenarbeit mit den Nazis strikt untersagt, die Teilnahme von Nationalsozialisten in Parteiuniform an Gottesdiensten blieb verboten. »Zu der Frage, ob ein Nationalsozialist zu den Sakramenten der Buße und des Altares zugelassen werden kann, ist von Fall zu Fall zu prüfen, ob der Betreffende nur ein Mitläufer der Bewegung ist ...«26 Bei Mitläufern sei Barmherzigkeit angesagt, bei Abgeordneten und anderen Aktivisten dagegen Strenge. Auch die oberrheinischen Bischöfe und die Bischöfe der Kölner Kirchenprovinz warnten im März 1931 vor dem Nationalsozialismus, weil »er Anschauungen verfolgt und verbreitet, die mit der katholischen Lehre unvereinbar sind. Es kann deshalb Katholiken nicht erlaubt sein, diese Anschauungen als wahr anzunehmen und sie in Wort und Tat zu bekennen.«27 Die bayerische Initiative fand Unterstützung durch einen großformatigen Bericht in der Vatikanzeitung L’Osservatore Romano.28 Als Hermann Göring anlässlich eines Rombesuchs am 30. April 1931 versuchte, bei Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli vorstellig zu werden, um sich »über die Probleme unserer Bewegung aussprechen zu können«,29 erhielt er eine Abfuhr. Anstelle des zweitmächtigsten Mannes des Vatikans nahm sich lediglich Unterstaatssekretär Pizzardo seiner an. Noch im August 1932, fünf Monate bevor Hitler Reichskanzler wurde, erließ die gesamtdeutsche Fuldaer Bischofskonferenz »Richtlinien«, in denen zu lesen steht: »Sämtliche Ordinariate haben die Zugehörigkeit zu der [Hitler-]Partei für unerlaubt erklärt, weil 1. Teile des offiziellen Programms derselben, so wie sie lauten und wie sie ohne Umdeutung verstanden werden müssen, Irrlehren enthalten …«30

Als dann trotzdem im Januar 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergriffen und es zu gewalttätigen Übergriffen auf die Juden kam, stieg Faulhaber auf die Kanzel. »Judentum, Christentum, Germanentum« war das Thema seiner Adventspredigten 1933 in der Michaelskirche, die anschließend als Büchlein verlegt wurden.

»Wenn die Rassenforschung, an sich eine religiös-neutrale Sache, zum Kampf gegen die Religion sammelt und an den Grundlagen des Christentums rüttelt, wenn die Abneigung gegen den Juden von heute auf die Heiligen Bücher des Alten Testamentes und das Christentum wegen seiner ursprünglichen Beziehungen zum vorchristlichen Judentum verdammt wird, wenn Steine gegen die Person unseres Herrn und Erlösers geworfen werden, in einem Jahr, in dem wir das Jahrhundertgedächtnis seines Erlösungswerkes feiern [im Heiligen Jahr der Erlösung 1933], kann der Bischof nicht schweigen«,31

erklärte er sein Engagement, um unverblümt festzustellen: »Christus war ein Jude«. Er schloss mit einem eindeutigen Plädoyer:

»(Es) darf die Liebe zur eigenen Rasse in der Kehrseite niemals Hass gegen andere Völker werden ... Rasse ist Verbundenheit mit dem Volk, Christentum ist zunächst Verbundenheit mit Gott. Rasse ist völkische Geschlossenheit und Abgeschlossenheit, Christentum ist weltweite Heilsbotschaft an alle Völker … Wir sind nicht mit deutschem Blut erlöst. Wir sind mit dem kostbaren Blut unseres gekreuzigten Herrn erlöst.«32

Fortan wurde der Münchner Erzbischof von der NS-Propaganda als »Judenfreund« verhöhnt. In der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 1934 wurde der große Salon seiner Residenz beschossen; die Täter konnten nie ermittelt werden. Dass Faulhaber trotz dieses couragierten Eintretens für die Juden nicht über den eigenen Schatten preußischer Obrigkeitshörigkeit springen konnte und Adolf Hitler nach dessen Machtergreifung zunächst als legitimes Staatsoberhaupt anerkannte, macht die Tragik seiner Persönlichkeit aus.33 Er tat, was von ihm erwartet wurde, bis hin zum öffentlichen Gebet für den »Führer«, vielleicht, um seine Herde vor weiteren Übergriffen, vor Verfolgung, ja vor einem neuen Kulturkampf zu schützen. In der »Kristallnacht« aber zeigte er, dass er nach wie vor ein »Freund Israels« war, freilich mit entsprechenden Konsequenzen. Nur einen Tag, nachdem er die kostbaren, den Juden heiligen Torahrollen vor der sicheren Zerstörung durch die Flammen gerettet hatte, fiel der inszenierte »spontane Volkszorn« auch über ihn her.

Am Morgen des 11. Novembers 1938 wurde in allen Münchner Tageszeitungen und auf riesigen Plakaten zur Teilnahme an einer von insgesamt 20 Großkundgebungen am Abend aufgerufen: »An Alle! … Gegen das Weltjudentum und seine schwarzen und roten Bundesgenossen«.34 Gegen 22.00 Uhr zog der aufgehetzte Mob von einer dieser Kundgebungen zum Bischöflichen Palais, der Residenz Kardinal Faulhabers. Dessen Generalvikar Ferdinand Buchwieser, der Zeuge der Vorgänge wurde, hielt in seinem Bericht fest:

»Rasch kamen die Gruppen von der Prannerstraße gegen den Bischofshof. Es ratterten von der Prannerstraße Autos und Motorräder in raschem Tempo, unter Sirenengeheul und mit grellem Licht, unter Schreien und Johlen heran. Etwa gegen 70 Leute … sammelten sich dort. Besonders zahlreich waren darunter Amtswalter der Partei und einige SS- und HJ-Angehörige. Sofort begann ein Steinhagel auf die Fenster des Bischofshofs, sowohl im Erdgeschoß wie im 1. Stock, und zwar unter Rufen wie: ›Nach Dachau mit dem Schlawiner … In Schutzhaft mit dem Hund! … mit dem Hochverräter! … Heraus aus dem Hause! … Wir haben ihn gesehen!‹ Dann wiederum spöttisch: ›Wir wollen unsern Bischof sehen! … Wir brauchen ihn ja! … Lieber Bischof sei so nett, zeige dich am Fensterbrett!‹ Dann allgemeines höhnisches Lachen. Aus dem Umbau des Nachbarhauses waren Ziegelsteine zum Einwerfen der Fenster geholt worden, ebenso auch Balken und Bretter, mit denen ein paar Fenster, Fensterstöcke und Fensterläden zertrümmert bzw. eingestoßen wurden. Insbesondere wurden wertvolle Glasmalereien in den Fenstern der im Erdgeschoß befindlichen Hauskapelle, in der auch das Allerheiligste war, zerstört. Der ganze Boden war voll Splitter. Einzelne Ziegelsteine waren bis an die Gegenwand geschleudert. Mit aller Gewalt wurde des weiteren der Versuch gemacht, das Tor mit einem kräftigen Balken und durch Anrennen mit einem Karren zu sprengen. Eine Frau, welche die Demonstranten von weiteren Versuchen, das Tor zu sprengen, abhalten wollte, indem sie sagte: ›Das hat doch keinen Wert, er ist ja gar nicht drinnen‹, wurde sofort zu Boden geschlagen und blutete heftig.«35

Erst als ein »hoher Parteifunktionär« erschien und kurz zu den Demonstranten sprach, zogen sie wieder ab. »Wir wollen dem Herrn keine Waffe in die Hand geben«,36 hatte er ihnen erklärt. Insgesamt waren, wie Kardinal Faulhaber anschließend dem Papst berichtete, »116 Fensterscheiben zertrümmert«37 worden.

Damit war wahr geworden, was Faulhaber bereits 1933 befürchtet hatte. Damals, am 1. April, hatte es für Deutschlands Juden einen Vorgeschmack auf die Pogromnacht fünf Jahre später gegeben, wurden erstmals die Scheiben jüdischer Geschäfte zerschlagen oder beschmiert, ihre Besitzer verhöhnt, schikaniert und brutal zugerichtet.

Auslöser dessen, was im NS-Jargon verharmlosend als »Judenboykott« bezeichnet wurde, war der jüdische Protest gegen die vermehrten Übergriffe auf ihre Geschäfte und Einrichtungen im ganzen Reich seit der Machtergreifung Hitlers. Als daraufhin einzelne jüdische Organisationen in den USA und Großbritannien einen Boykott deutscher Waren und Dienstleistungen forderten, als die britische Boulevardpresse bereits reißerisch einen »Krieg Judaeas gegen Deutschland«38 propagierte, wiegelten die meisten jüdischen Verbände, vor allem aber auch die deutschen Juden ab: Man solle Hitler nicht provozieren, denn das könne fatale Konsequenzen haben. Doch dazu war es bereits zu spät. Die voreilige Boykottdrohung genügte, um den Nazis einen Vorwand für ihren ersten landesweit organisierten Angriff auf die verhassten Juden zu liefern. »Samstag, Schlag 10 Uhr, wird das Judentum wissen, wem es den Kampf angesagt hat«, schrieb Propagandaminister Goebbels nach Absprache mit Hitler am 29. März im Parteiblatt Völkischer Beobachter. Vor dem Reichstag rechtfertigte der »Führer« den Einsatz der SA damit, eine »Abwehr aus dem Volk heraus« könne »leicht unerwünschte Formen annehmen«.39 Die Maßnahmen wurden zunächst auf vier Tage begrenzt.

Dabei hatten die führenden Nazis nicht bedacht, dass die meisten jüdischen Geschäfte am Samstag – dem Schabbat – ohnehin geschlossen waren. So standen zum angekündigten Zeitpunkt bewaffnete Einheiten der SA zusammen mit Angehörigen der Hitlerjugend (HJ) und des Wehrverbandes Stahlhelm vor oft verriegelten jüdischen Geschäften und verschlossenen Kanzleien. Andere marschierten vor den großen jüdischen Kaufhäusern auf und forderten mit Schildern und Plakaten: »Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht beim Juden!« Gleichlautende Forderungen wurden von Chören und durch Lautsprecherwagen in die Straßen gebrüllt.

Doch es blieb nicht bei solchen Boykottaufrufen und Mahnwachen. Gerade in unbelebten Seitenstraßen und ländlichen Gegenden wurden bei jüdischen Geschäften auch die Scheiben eingeschlagen und die Auslagen der Schaufenster verwüstet. Mutige Kunden, die an den SA-Posten vorbeiwollten, wurden angepöbelt und bedroht. An deutschen Gerichten erhielten jüdische Rechtsanwälte und Richter Hausverbot. Eine Woche später sollte der »Arierparagraf«, das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, Juden eine Tätigkeit beim öffentlichen Dienst unmöglich machen. An der Börse erlitten jüdische Unternehmen beträchtliche Kursverluste, was in vielen Fällen den Weg zu ihrer späteren »Arisierung« ebnete. Von der Bevölkerung dagegen wurde der »Judenboykott« mit Befremden aufgenommen und eher reserviert beobachtet, was dann auch zu seinem vorzeitigen Abbruch führte.

»Kein Bischof, keine Kirchenleitung, keine Synode wandte sich in den entscheidenden Tagen um den 1. April gegen die Verfolgung der Juden in Deutschland«40, behauptete später der protestantische Kirchengeschichtler Klaus Scholder. Doch er irrte.

So gab es sehr wohl eine in der katholischen Presse veröffentlichte Stellungnahme der Erzbischöfe Schulte (Köln) und Klein (Paderborn) sowie des Bischofs Berning (Osnabrück): »Erfüllt von heißester Liebe zu ihrem Vaterlande, dessen nationalen Aufstieg sie stets mit allen ihren Kräften fördern, sehen die Bischöfe mit tiefster Kümmernis und Sorge, wie die Tage der nationalen Erhebung zugleich für viele treue Staatsbürger und darunter auch gewissenhafte Beamte unverdientermaßen Tage des schwersten und bittersten Leidens geworden sind.« Nicht nur dem Apostolischen Nuntius in Berlin, Erzbischof Cesare Orsenigo, der Rom über diesen Schritt informierte, war sofort klar, dass damit auf die Juden angespielt wurde: »Doch leider wurde das antisemitische Prinzip von der gesamten Regierung akzeptiert und sanktioniert und diese Tatsache wird leider als unwürdiger Fleck gerade auf den ersten Seiten der Geschichte, die der deutsche Nationalsozialismus schreibt, … haften bleiben«,41 kommentierte er.

Tatsächlich hatten die Vorgänge in Deutschland nicht nur die deutschen Bischöfe, sondern auch den Heiligen Stuhl beschäftigt. Gleich am Dienstag, dem 4. April 1933, schrieb Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli an den Nuntius Orsenigo. Hohe israelitische Würdenträger hätten sich an Papst Pius XI. gewandt, »um Sein Eingreifen gegen die Gefahr antisemitischer Exzesse in Deutschland zu erbitten«. Es liege in der Tradition des Heiligen Stuhls, »seine universale Friedens- und Liebesmission unter allen Menschen auszuüben, gleichgültig, unter welchen sozialen Umständen sie leben und welcher Religion sie angehören«. Daher würde der Heilige Vater den Nuntius beauftragen, »zu sehen, ob und wie es möglich ist, sich in dem gewünschten Sinn der Sache anzunehmen«.42

Die Antwort traf fünf Tage später, also nach der Verabschiedung des »Arierparagrafen«, telegrafisch im Vatikan ein. »Der antisemitische Kampf hat seit gestern regierungsamtlichen Charakter angenommen. Eine Intervention des Repräsentanten des Heiligen Stuhls käme damit einem Protest gegen ein Gesetz der Regierung gleich«43 und sei damit nicht nur aussichtslos, sondern gefährlich: Auf den Judenboykott könne schnell ein Kirchenboykott folgen, warnte Orsenigo.

Fast gleichlautend schrieb Kardinal Faulhaber zwei Tage später an Pacelli: »Uns Bischöfen wird zur Zeit die Frage vorgelegt, warum die katholische Kirche nicht, wie so oft in der Kirchengeschichte, für die Juden eintrete. Das ist zur Zeit nicht möglich, weil der Kampf gegen die Juden zugleich ein Kampf gegen die Katholiken werden würde …«44

Am gleichen Tag, dem 10. April 1933, empfing der Kardinal einen deutschen Offizier namens Borchardt, einen gebürtigen Juden. Er hatte als deutscher Offizier in türkischem Dienst die Gräuel des Völkermordes an den Armeniern miterlebt und war danach zum katholischen Glauben konvertiert. Jetzt fürchtete er sich vor der Zukunft; wie würden seine Kameraden mit ihm umgehen, wenn sie erfuhren, dass er, wie er es nannte, ein »Judenstämmling« sei?

Andere in ähnlicher Situation hätten sich bereits erschossen, erklärte er, er suche den Rat des Kardinals. Warum könne die Kirche nicht gegen diese Ungerechtigkeit protestieren? »Die Haltung der Kirche (ist) consequent, aber nicht so, dass sie immer gleich drein fährt«, hielt Faulhaber seine Antwort in seinem Tagebuch fest, und

»immer so, daß sie fragt, ob nicht größeres Übel daraus entstehe. Das würde entstehen, wenn ich [für die Juden] eintrete, gegen die Jesuiten den Spieß zu drehen und gegen die Juden erst recht. Das will er [Borchardt] nicht einsehen. Übrigens werden die Juden sich selber helfen, besonders das Ausland, ich bin sicher, es [der Boykott] wird abgeblasen noch weiter. Ob es menschlich ist, so vorzugehen, ob es gerecht ist, danach wird heute nicht gefragt.«45

Da es genau so kam, blieb auch der päpstliche Protest zunächst aus. Fünf Jahre später, nach der »Kristallnacht«, sollte es nicht anders sein: Es obsiegten wieder die Vorbehalte, die Sorge, eine Intervention des Vatikans könne nicht nur die Situation eskalieren lassen, sondern auch weitreichende negative Konsequenzen für die Kirche in Deutschland haben.

II »Spirituell sind wir alle Semiten«

Fünf Tage nach der Pogromnacht im Deutschen Reich, am 15. November 1938, verfasste der Apostolische Nuntius in Berlin, Erzbischof Cesare Orsenigo, einen an Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli gerichteten vierseitigen Bericht über den »antisemitischen Vandalismus«:

»Hochwürdigste Eminenz,

ich halte es für meine Pflicht, durch zusätzliche Notizen zu ergänzen, was die Zeitungen über den antisemitischen Vandalismus am 9. und 10. November dieses Monats in Deutschland bereits veröffentlicht haben.

Die Zerstörungen begannen, wie auf ein Stichwort, in der Nacht, unmittelbar nachdem der Tod des jungen Diplomaten in Paris bekannt geworden war, der den Schüssen des jungen Juden erlegen war, dessen Eltern wenige Tage zuvor aus Deutschland nach Polen ausgewiesen worden waren. Der blinde Volkszorn folgte überall der gleichen Methode: in der Nacht zertrümmerte man die Schaufenster und steckte die Synagogen an, am darauffolgenden Tag wurden die Geschäfte geplündert, die ohne Schutz blieben, wobei selbst die kostbarsten Güter unbrauchbar gemacht wurden.Erst gegen den Nachmittag des 10., nach einem Tag, an dem der Pöbel seine wildesten Gefühle herausgelassen hatte und dabei von keinem Polizisten aufgehalten worden war, gab Minister Goebbels den Befehl, aufzuhören und das Ereignis als Zornesakt des ›deutschen Volkes‹ zu bezeichnen. Dieses Wort genügte, um die Ruhe wiederherzustellen.

All das lässt leicht erkennen, dass die Anweisung oder Erlaubnis zum Handeln von sehr weit oben kam. Durch diesen Satz von Goebbels, dass diese sogenannten ›antisemitischen Reaktionen‹ ein Werk des ›deutschen Volkes‹ seien, hat das wahre und gesunde deutsche Volk, das mit Sicherheit den größten Teil darstellt, schwer zu leiden: ein protestantischer, im Ruhestand lebender Superintendent, achtzig Jahre alt, kam sogar in die Apostolischen Nuntiatur, um gegen diese Formulierung von Goebbels zu protestieren.«46

Der Bericht des Nuntius ließ keinen Zweifel daran, dass die schrecklichen Ereignisse der »Kristallnacht« und damit auch der Sturm auf das Palais des Münchner Erzbischofs von der Regierung des nationalsozialistischen Deutschland gesteuert und größtenteils sogar inszeniert worden waren. Mit ihnen erreichte der Antisemitismus in Deutschland eine neue Phase. Die Zeit der reinen Diskriminierung, der Behandlung von Juden als Bürger zweiter Klasse, der Boykotte, Berufsverbote und Schikanen war vorüber. Jetzt mussten die Juden um ihren Besitz und ihre Sicherheit, ja um Leib und Leben fürchten. Hitler und Goebbels hatten offensichtlich ihre letzten Hemmungen, jede Sorge um die Reaktionen der freien Welt, über Bord geworfen.

Doch wie sollte der Vatikan auf die Ereignisse in Deutschland reagieren? Kurzfristig erwog der Papst, alle diplomatischen Beziehungen zu Nazideutschland abzubrechen; doch dann gab er diesen Plan auf, wissend, dass er damit die deutschen Katholiken im Stich gelassen hätte.

Zudem plagten Pius XI. in diesen Tagen andere Sorgen. Sein politisches Lebenswerk, die Aussöhnung mit der Republik Italien, einst entstanden aus der dezidiert antiklerikalen, freimaurerischen Nationalbewegung Garibaldis und Cavours, war gefährdet. Der Mann, der ihm größtmögliche Konzessionen gemacht hatte, um durch diese Aussöhnung internationale Achtung zu erfahren, Benito Mussolini (1883–1945), ließ sich zusehends von Hitler instrumentalisieren. Und das, obwohl man noch 1933 gehofft hatte, der »Duce« als eines von Hitlers Vorbildern (neben Enver Pascha und Atatürk) könne mäßigend auf ihn wirken. Dass er dies anfangs auch versucht hatte, steht außer Frage. So berichtete der Nuntius Orsenigo im April 1933 in einer chiffrierten Nachricht an Kardinalstaatssekretär Pacelli, der Duce habe sich über den Judenboykott vom 1. April 1933 empört gezeigt und Hitler »zuerst eine mündliche Ermahnung und dann eine geheime Mitteilung zukommen lassen, in der er ihn beschwört, sich nicht zu einer antisemitischen Kampagne hinreißen zu lassen«47. Doch Hitler ließ sich in der Verwirklichung seiner wahnsinnigen Pläne von niemandem stoppen.

Antisemitischer Vandalismus: Der Bericht des Nuntius Orsenigo über die Ereignisse der Pogromnacht

Tatsächlich war der italienische Faschismus ursprünglich so wenig antisemitisch, wie er antikatholisch war, was ihn beides deutlich vom Nationalsozialismus unterschied. Auf Mussolini wirkte Hitlers Judenhass anfangs geradezu abstoßend, zumal viele führende Köpfe seiner faschistischen Bewegung Juden waren und er selbst eine jüdische Geliebte hatte. Antisemitismus sei »einer europäischen Nation unwürdig«,48 stellte er fest. Einen biologisch, ja mit »Blut« begründeten Rassismus lehnte er damals ab. Für ihn war Italiener, wer sich mit der italienischen Nation identifizierte, und die Juden hatten sich als Soldaten und Bürger bestens bewährt.

Wie sein Vater war der »Duce« zunächst Sozialist gewesen, hatte zeitweise als Lehrer, aber auch in der Schweiz als Bauarbeiter und Ladenhelfer gearbeitet und war mit den linken politischen Denkern seiner Zeit vertraut. Seinen Zeitgenossen fiel vor allem sein starker Geltungsdrang auf. Im Ersten Weltkrieg, er war zwischenzeitlich Chefredakteur des Zentralorgans der Sozialisten, hatte er zunächst für Italiens Neutralität plädiert, dann aber für einen Kriegseintritt aufseiten der Entente. Dieser Alleingang hatte zum Bruch mit den Sozialisten und zum Parteiausschluss geführt. Erst jetzt wurde Mussolini zum Hoffnungsträger der radikalen Nationalisten und Kriegsbefürworter. Reiche Industrielle wie Agnelli von den Fiatwerken, aber auch der französische und britische Geheimdienst finanzierten ihm eine neue Zeitung und seinen politischen Aufstieg. Aus ehemaligen Frontsoldaten und nationalen Kräften, die eine Veränderung und ein neues, starkes Italien wollten, setzte er dann nach dem Krieg seine Bewegung zusammen. Sie gab sich jetzt als »antisozialistische Kampfgruppe« aus und wurde umso entschiedener von Industrie und Landbesitzern unterstützt. Mussolini selbst erklärte sich plötzlich zum Freund der Monarchie und der katholischen Kirche, um auch diese auf seine Seite zu bekommen. Der König blieb in seiner Diktatur nominelles Staatsoberhaupt, die Loyalität der Kirche erkaufte er sich durch das Konkordat von 1929 mit weitreichenden Konzessionen und einer Entschädigung von 750 Millionen Lire für die Enteignungen durch die italienische Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, die den damaligen Kirchenstaat samt seiner Hauptstadt Rom annektiert hatte. War Papst Pius IX. nach der Besetzung Roms 1870 faktisch zum »Gefangenen des Vatikans« geworden, verbarrikadierten sich auch seine Nachfolger Leo XIII., Pius X. und Benedikt XV. trotzig hinter den Leoninischen Mauern, riss das Konkordat zwischen Pius XI. und Mussolini die Tore wieder auf. Es erklärte den Katholizismus in Italien zur Staatsreligion, gewährte der Kirche weitreichenden Einfluss auf Ehe, Familie und Schule und erlaubte mit der Azzione Cattolica eine 700000 Mann starke Jugendorganisation im ganzen Land. Als ewiges Denkmal der Versöhnung wurde eine breite Schneise durch den Stadtteil Borgo geschlagen, der sich zwischen dem Vatikan und dem Tiber erstreckt, und die Via della Conciliazione angelegt, eine breite Allee hin zum Ponte Vittorio Emanuele, die seit 1911 direkt ins Herz von Rom führt. Damals tat der »Duce« alles, um im Vatikan als guter Katholik zu erscheinen,49 und es gab keinen Grund, ihm das abzustreiten. Für Papst Pius XI. war er jedenfalls »ein Mann …, welchen die Vorsehung uns gegenübergestellt hatte«.50