Völkermord an den Armeniern - Michael Hesemann - E-Book

Völkermord an den Armeniern E-Book

Michael Hesemann

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Beschreibung

Mit einer Razzia begann der unfassbare Leidensweg der wohl ältesten christlichen Nation am 24. April 1915. Nach Einschätzung moderner Historiker fielen dem Armenozid rund 1,5 Millionen Menschen zum Opfer. Unter dem Vorwand einer angeblichen Verschwörung der Armenier gegen das Osmanische Reich setzte die Regierung der Jungtürken mit ungeheurer Grausamkeit ihre "Vision" eines rein muslimischen Staates in die Tat um. Der gegenwärtige türkische Staat leugnet diesen Genozid bis zum heutigen Tag, spricht allenfalls von einem "bedauerlichen Massaker". Doch die Dokumentation der Ereignisse, erstmals unter Verwendung bislang unveröffentlichter Quellen aus dem päpstlichen Geheimarchiv, belegt auf erschütternde Weise dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

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© für die Originalausgabe und das eBook: 2015 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Satz und eBook Produktion: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7766-8213-7

Inhalt

Vorwort von Azat Ordukhanyan, ZAD, AAV

Einleitung: »Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?«

I. »Gräuel vor Gott«

II. Eine Nation unter dem Kreuz

III. Die Knute des Halbmonds

IV. Der rote Sultan

V. Der erste »Holocaust«

VI. »Mit großem Schmerz«

VII. Die Revolution der Jungtürken

VIII. Ein Sturm braut sich zusammen

IX. Der »Heilige Krieg«

X. Der Aufstand, der keiner war

XI. Der 24. April 1915

XII. Der Marsch in den Tod

XIII. Die Topographie des Todes

XIV. Die Endlösung der Armenierfrage

XV. Das Scheitern der Diplomatie

XVI. Ein gefährliches Nachspiel

XVII. Das Erbe der Jungtürken

Nachwort: Was unsere Verantwortung ist

Karte

Quellen

Literatur

Anmerkungen

Dank

Abschrift des handschriftlichen Briefes von Papst Benedikt XV. an Sultan Mehmet V. vom 10. September 1915 (A.S.V., Arch. Deleg. Turchia 101, 528, S. 9)

© Die Dokumente wurden veröffentlicht mit freundlicher Erlaubnis des Archivio Segreto Vaticano, Vatikanstadt.

»Tatsächlich ist die Zahl der Jünger, deren Blut für Christus während der tragischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts vergossen wurde, gewiss größer als die der Märtyrer der ersten Jahrhunderte und in diesem Martyrologium nehmen die Kinder der armenischen Nation einen Ehrenplatz ein. Das Mysterium des Kreuzes, das so kostbar in der Erinnerung ihres Volkes ist und sich ausdrückt in den wundervollen Steinkreuzen, die jeden Winkel ihres Landes schmücken, wurde von so vielen Söhnen und Töchtern ihres Volkes in der direkten Teilhabe am Leidenskelch des Herrn gelebt. Ihr Zeugnis, gleichermaßen tragisch und edel, darf nie vergessen werden.«

Papst Franziskus am 8. Mai 2014[1]

Dem armenischen Märtyrervolk gewidmet!

Michael Hesemann

Vorwort

Als Michael Hesemann mir am 11. Februar 2012 ein kleines Konvolut von zwanzig Dokumenten aus dem Archiv des Vatikans übergab, konnte ich nicht ahnen, welche Sprengkraft dieses Material entfalten würde. Und ich hätte nicht ahnen können, dass der Düsseldorfer Historiker und Autor schon in kürzester Zeit eine derart gründliche und umfassende Studie präsentieren würde, wie sie uns nun mit diesem Buch vorliegt.

Es war eine Zusammenkunft mit vielen anderen Akademikern in Willich, als wir uns zum ersten Mal trafen. Ich war damals Vorsitzender des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD). Bereits ein erster kurzer Blick in die Papiere machte mir deutlich: Diese Dokumente würden auch aus der Sicht des Vatikans den türkischen Genozid an den Armeniern 1915 zweifelsfrei belegen – und damit die Blicke der Welt nachdrücklich auf ein dunkles Kapitel der Geschichte lenken, das sonst so gerne vergessen wird. Wenn diese Papiere aus dem Vatikan, einer hohen moralischen Instanz, veröffentlicht würden, bekäme der internationale Diskurs über den Völkermord an den Armeniern eine neue Dynamik.

Tief beeindruckt von den im Archivio Segreto Vaticano erworbenen Archivmaterialien, deren französischen Teil die junge Düsseldorfer Wissenschaftlerin Susanna Melkonian für uns ins Deutsche übersetzt hat, lud der Vorstand des ZAD Michael Hesemann ein, seine Recherche-Ergebnisse aus dem Vatikan am zentralen Gedenktag für die Opfer des Völkermordes an den Armeniern, dem 24. April 2013, in der Frankfurter Paulskirche erstmals öffentlich vorzutragen.

Die Frankfurter Paulskirche war der Sitz des ersten demokratisch gewählten gesamtdeutschen Parlaments, der Nationalversammlung. Sie gilt heute mit Recht als ein nationales Symbol für die Freiheit und damit als Wiege der Demokratie in Deutschland. Dort, an diesem symbolträchtigen Ort, hält der ZAD jedes Jahr am gleichen Tag und zur gleichen Uhrzeit (24. April, um 19:30 Uhr) die zentrale Gedenkveranstaltung der in Deutschland lebenden Armenier für die Opfer des Völkermords ab. Freiheit, Frieden, Anerkennung des Genozids von 1915, Gerechtigkeit für die Opfer: das sind die immer wiederkehrenden Forderungen, die diesen Gedenktag bestimmen.

Nach seiner glänzenden Rede war allen Anwesenden deutlich, dass der Heilige Stuhl mit Michael Hesemann einen ehrlichen und mutigen Wissenschaftler gewonnen hatte, um seine bis jetzt geheim gehaltenen und von ihrer Bedeutung her außergewöhnlich inhaltsschweren Archivalien an die Weltöffentlichkeit zu bringen.

Nun also das Buch: Bei der Lektüre stellt man sofort fest, dass der Autor eine ganz und gar passende Methode gefunden hat, diese höchst komplizierte und vielschichtige Periode der europäischen Geschichte darzustellen. Besonders für deutsche Leser wird das sehr aufschlussreich sein.

Hesemann nämlich zieht etliche zutreffende Parallelen zwischen jungtürkischen und nationalsozialistischen Verbrechen und zeichnet auf diese Weise die Entwicklung der historischen Ereignisse im Osmanischen Reich und im Nazi-Deutschland im faktischen Vergleich nach.

So beschreibt er etwa die Tatsache, dass die Politik der Nazi-Führung, einen »Lebensraum« im Osten zu suchen, haargenau auch auf die jungtürkische Regierung zutrifft, die nicht einmal zwanzig Jahre vor Hitler mit genau dem gleichen Wortlaut von ihrem »Lebensraum« gesprochen und geträumt und diesen Traum dann grausam zu verwirklichen versucht hat: Allein diese Passage macht uns deutlich, dass der deutsche Historiker im Vatikan einen tiefen Einblick in die damaligen Ereignisse hat. Indem er immer wieder die Parallelen zur deutschen Geschichte zieht, lässt er keinen Zweifel daran, wie tief das Deutsche Reich – und damit das heutige Deutschland als dessen Rechtsnachfolger – in das historische Drama von 1915 verwoben ist.

Anhand der Dokumente des päpstlichen Geheimarchivs erfährt die Weltöffentlichkeit erstmals viele bisher unbekannte Seiten der Ereignisse von 1915 und den darauf folgenden Jahren. So werden in diesem Buch ganz neue Aspekte der Geschichte des Armenozids aufgeschlossen, analysiert und bildhaft rekonstruiert. Manche Erkenntnisse werden wohl jetzt neu zu bewerten sein.

Bis heute haben die Armenozidforscher ihre Kenntnisse großenteils aus den Dokumenten evangelischer Kreise entnehmen können. Jetzt bricht Hesemann diese jahrzehntelange Tradition und erschließt der Fachwelt reichhaltige katholische Quellen zu dem Massenmord an den Armeniern und den anderen Ethnien im damaligen Osmanischen Reich.

Hesemann verwendet meist die wissenschaftlich korrekten Begriffe, was für die gegenwärtige deutsche Geschichtsschreibung und Publizistik keineswegs selbstverständlich ist: Sie orientieren sich in Hinblick auf die Armenische Frage im wahren Sinne des Wortes vor allem an der türkischen staatlich-propagandistischen Geschichtsinterpretation. Für Hesemann aber ist West-Armenien kein »Ost-Anatolien«, so wie der Völkermord an den Armeniern für ihn kein »Massaker« war.

Das ist ein wichtiger Aspekt, weil die Auslöschung der historischen Namen natürlich Teil des Genozids bzw. des Patriozids an den Armeniern ist: Zahlreiche Ortsnamen des Armenischen Hochlands sind zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa durch den deutschen Geologen und Forschungsreisenden Prof. Otto Wilhelm Hermann Abich (1806–1886) dokumentiert, wurden aber seit den 1920er-Jahren durch türkische Namen ersetzt. Das trifft auch auf die künstlich verwendete Bezeichnung »Hochland von Ostanatolien« zu. Nach dem Genozid und Patriozid wurden Armenier häufig Kaukasier genannt, obwohl sie ein Volk aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Kleinasien sind. Nur ein Bruchteil Armeniens liegt im Kaukasus. Man ändert also zwangsweise die Geographie des Volkes und versucht damit zugleich auch, die Bezeichnung des Volkes neu zu definieren. Genau das passiert jetzt in Europa wieder mit der Bezeichnung der alten Heimat der Armenier: Das ist, unter dem massiven Druck der staatlichen türkischen Propagandamaschinerie, der Versuch, den Begriff West-Armenien durch eine neue künstliche Definition, nämlich »Ost-Anatolien« zu ersetzen. Geographisch betrachtet endet Ost-Anatolien dort, wo West-Armenien anfängt. Nach dem Patriozid an den Armeniern wurden ca. 16 000 armenische Ortschaften in der heutigen türkischen Republik umbenannt. Die alten traditionsreichen armenischen Namen hat man einfach turkisiert.

Eine Besonderheit des Buches von Michael Hesemann ist, dass der Autor einen engen Zusammenhang und eine feste Kontinuität zwischen den Jahrzehnte andauernden Ereignissen der kollektiven Vernichtungspolitik des Osmanischen Reichs und der Politik des Deutschen Reichs sieht: »Wäre es den Türken nicht so erfolgreich gelungen, den Genozid an den Armeniern totzuschweigen, hätte Hitler es vielleicht nie gewagt, die Gräuel der Vernichtung fast eines ganzen Volkes im Herzen Europas zu wiederholen. Und schließlich, so unbequem diese Wahrheit für uns Deutsche auch ist: Deutsche Soldaten waren Zeugen, Mitwisser und Mitverschweiger des ersten Völkermordes, bevor sie zu Vollstreckern des zweiten wurden.« Aus dieser historischen Rolle heraus sieht Hesemann das heutige Deutschland in einer hervorgehobenen Verantwortung für den Umgang mit dem Armenozid.

Leider muss man mit großem Bedauern feststellen, dass die deutsche Politik in Hinblick auf die Anerkennung des Genozids sowie auf die Bestrafung der Genozid-Leugnung hinter anderen Ländern wie etwa der Schweiz, Frankreich oder der Slowakei sträflich zurückbleibt. Deutschland war engster Verbündeter des Osmanischen Reichs – die heutige Bundesrepublik Deutschland hat also durchaus Verantwortung zu übernehmen und sollte wenigstens heute, hundert Jahre nach dem Völkermord, den Mut aufbringen, die Verharmlosung zu beenden und den türkischen Völkermord an den Armeniern von 1915 endlich formal im Sinne der UN-Konvention über Verhütung und Bestrafung von Völkermord anzuerkennen. Mit einem solch eindeutigen Anerkennungsbeschluss würden, spät, aber nicht zu spät, Fakten gesetzt. Damit würde den anderthalb Millionen Opfern die Ehre der Wahrheit erwiesen.

Zum Glück ist der Autor Hesemann in Deutschland nicht allein. Wolfgang Gust, Historiker, Journalist und einer der besten Armenozid-Kenner in Deutschland, hat sich 2009 bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Völkermords an den Armeniern in der Frankfurter Paulskirche folgendermaßen geäußert: »Sie, die Armenier in Deutschland und anderswo, sind keine Bittsteller. Sie können mit Recht von uns verlangen, dass wir eine historische Schuld begleichen und Ihnen helfen. Wir leben in einer Welt der Symbole, die manchmal noch mehr bewirken können als Worte. Ein solches Symbol ist das Holocaust-Mahnmal mitten in Berlin und in der Nähe des Reichstagsgebäudes. Auch Ihnen, den Armeniern, gebührt ein solches Symbol. Drei, fünf oder sieben Kreuzsteine nicht irgendwo in der Provinz, sondern im Herzen von Berlin könnten ein solches Monument sein. Drei, fünf oder sieben Chatschkars (»Kreuzstein«) hätten auch eine gute Proportion zum großen Mahnmal, um vielen Politikern die Angst zu nehmen, wir wollten unsere Verantwortung für den Holocaust mindern. Und diese Steine kosten, was in Zeiten enger Kassen wichtig ist, fast nichts. Drei, fünf oder sieben dieser starken armenischen Symbole, die gleichzeitig für den Tod und das wiedererwachende Leben stehen, auf dem Gelände direkt vor dem Bundestag und in Sichtweite zum Holocaust-Denkmal, das wäre ein weithin sichtbares Zeichen. Einem solchen symbolträchtigen Zeichen kann sich der Bundestag nicht verschließen. (…) Es wäre eine in Stein gehauene Bitte um Versöhnung mit einem geschundenen und fast verschwundenen Volk, dem wir die Hilfe versagt haben.«

Ein anderer Düsseldorfer, der Politiker Bernhard von Grünberg, sprach ein Jahr vor Hesemann, am 24. April 2012, in der Frankfurter Paulskirche über »(…) die Wahrheit und die Aufarbeitung der Wahrheit gegen all diejenigen, die gern vergessen würden und ihre eigene Politik mit dem Verdrängen machen.« Und er forderte, wie Hesemann: »Da das Leugnen des Holocaust in Deutschland strafbar ist, muss auch das Leugnen des Genozids an den Armeniern strafbar werden. In diesen Fragen darf es keine Ungleichbehandlung geben.« Das Thema Völkermord gehört in die Schulen, so der SPD-Abgeordnete.

Hesemann versteht es, die Komplexität und die Kontinuität der Vernichtungspolitik der Türken, klar und nachvollziehbar zu schildern, jene Vernichtungspolitik, die über Jahrzehnte hinweg bis in die heutigen Tage andauert. Mit den jüngsten Ereignissen in Syrien, wo die heutige politische Klasse Ankaras eine aktive Rolle spielt, kehrte der Geist des Genozids an den Armeniern zurück. Dieser Geist war auch schon wieder präsent und lebendig vor fünfundzwanzig Jahren. Damals gingen die kleinen östlichen Brüder der Türken, die Aserbaidschaner, mit genau den gleichen brutalen Methoden gegen die Armenier vor wie ihre westlichen Vorbilder im Jahre 1915. In der Hauptstadt des Landes, in Baku, und ebenso in den großen Ballungszentren von Sumgait, Kirovabad, Maraga und anderen Orten wurden die Armenier massakriert oder in die Flucht gezwungen. Viele Armenier gehen heute noch – und wohl leider zu Recht – davon aus, dass die Türkei, wenn die Gelegenheit günstig ist, ihre Chance wahrnehmen würde, das Werk von 1915 zu vollenden. Der Genozid an den Armeniern ist noch immer im vollen Gange, er ist keineswegs nur eine historische Frage und wird die Armenier leider noch lange begleiten.

Hesemann vertritt die These, dass die Vernichtung der Armenier, wie auch der Assyrer und der Griechen, während des Ersten Weltkriegs und in den darauffolgenden Jahren die größte und blutigste Christenverfolgung in der Geschichte war. Es ging, so schreibt er, »um Religion und nicht um Rasse«. Er schlussfolgert, »dass auf den Völkermord an den Armeniern ein zweiter Völkermord an den syrischen Christen und ein dritter an den orthodoxen Griechen des Osmanischen Reiches folgte«.

Nicht vergessen werden dürfen jedoch auch die Jeziden und die Dersimer Alewiten, die genauso zu Opfern des jungtürkischen Wahns und später des blutigen Wütens von Atatürk und seinen ebenbürtigen Nachfolgern wurden. Während des Völkermords an den Armeniern in den Jahren von 1915 bis 1923 galt z.B. das alewitische Dersim als ein relativ sicherer Ort für die armenischen Flüchtlinge. Ungefähr 30 000 bis 40 000 Armenier flüchteten dorthin und konnten sich bei Einheimischen verstecken, die dafür bitter bezahlen mussten: Die türkische kemalistische Regierung konnte oder wollte den Dersimern ihre Menschlichkeit nicht verzeihen und überzog sie in den Jahren 1937–1938 mit einer tödlichen Vernichtungspolitik. Bei dem Völkermord an den Dersimern wurden auch die überlebenden Armenier gnadenlos massakriert, obwohl sie großenteils ihren christlichen Glauben aufgegeben und das Alewitentum übernommen hatten.

Ein besonders wichtiger Aspekt von Hesemanns Studie ist die Auseinandersetzung mit der Frage der armenischen Heimat. Was wird aus West-Armenien? Welche Rechte haben die Überlebenden des Genozids und Patriozids?

Nach dem Genozid an den Armeniern folgten der Ethnozid, also die Vernichtung kultureller Spuren, und der Patriozid, der Raub ihrer Heimat. Patriozid ist ein genauso großes Menschheitsverbrechen wie der Genozid selbst. Die Armenier wie die Griechen und Assyrer, aber auch die Jeziden und Dersimer haben beide Verbrechen erfahren müssen. Das Ziel der osmanischen und später auch der republikanischen Türkei war es, die historische, physische, wirtschaftliche und kulturelle Anwesenheit der Armenier im ganzen Armenischen Hochland endgültig auszulöschen und eine Rückkehr definitiv auszuschließen.

Es ist höchste Zeit, dass die Politiker und die Fachwelt des internationalen Rechtes den Begriff »Patriozid« zu einer politischen und juristischen Kategorie machen. Die Frage des Genozids und des Patriozids an den Armeniern ist keinesfalls eine Frage nur der Armenier. Die Armenische Frage war vielmehr von Anfang an eine internationale Frage, eine Frage der Deutschen, Franzosen, Engländer, Russen und anderer. Und alle haben die Verpflichtung, diese offene Wunde der Weltgemeinschaft zu heilen, und zwar mit allen nur denkbaren politischen und juristischen Mitteln.

Der Historiker Michael Hesemann macht mit seinem neuen Buch einen großen Schritt in Richtung Anerkennung und Sühne des Völkermordes an den Armeniern und den anderen Opfervölkern des türkischen Grauens. Er hilft damit den Enkelkindern der Überlebenden, hoffentlich schon bald den Sieg der Vernunft und der Moral in der Politik zu feiern.

Azat Ordukhanyan

Historiker

Vorsitzender des Armenisch-Akademischen Vereins 1860 e.V. (AAV); von 2009 bis 2014 Vorsitzender des Zentralrats der Armenier in Deutschland (ZAD)

Einleitung: »Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?«

Das Treffen fand unter höchster Geheimhaltung statt; es war so geheim, dass selbst die Geladenen erst in letzter Minute erfuhren, was Sache war. Am 21. August 1939 wurden die vierzig ranghöchsten Generäle und kommandierenden Offiziere der deutschen Streitkräfte zunächst nach München geflogen, wo man sie in verschiedenen Hotels einquartierte. Auf eine Registrierung bei der Rezeption oder den Eintrag in einen Meldeschein wurde dabei zu ihrer Überraschung verzichtet. Ihre einzige Anweisung lautete, sich am nächsten Morgen pünktlich um 9.00 Uhr früh in Zivilkleidung an der jeweils verabredeten Stelle einzufinden, wo bereits ein Wagen auf sie wartete. Erst, als sie darin Platz genommen hatten, erfuhren sie, wohin die Fahrt ging: »Auf den Obersalzberg«.

Dort, im Schatten des geheimnisvollen Untersberges, begrüßte sie zunächst Reichsmarschall Hermann Göring, der ebenfalls keine Uniform, sondern ein pompöses Jagdgewand trug. Er führte sie in einen länglichen Saal, in dem nur ein Schreibtisch, ein Flügel mit einer Büste Richard Wagners und zwei Reihen Stühle standen. Durch ein riesiges Panoramafenster war die Bergkulisse im strahlenden Sonnenlicht zu sehen. Es handelte sich um das Arbeitszimmer Adolf Hitlers.

Der »Führer« ließ sie, wie es seine Gewohnheit war, zunächst einmal warten. Dann betrat er, als Einziger die braune Parteiuniform tragend, forsch den Saal, in dem ein donnerndes »Heil Hitler« erscholl, das dieser mit einer zackigen Geste erwiderte. Nach einem knappen »Setzen Sie sich, meine Herren«, erklärte er bedeutungsschwer: »Ich habe Sie zusammengerufen, um Ihnen ein Bild der politischen Lage zu geben, damit Sie einen Einblick tun können in die einzelnen Elemente, auf die sich mein Entschluss, zu handeln, aufbaut, und um Ihr Vertrauen zu stärken. Danach werden wir die militärischen Einzelheiten besprechen.«[2]

Was folgte, war ein vierstündiger Monolog, einzig unterbrochen durch den einstündigen Mittagsimbiss, der auf der lichtdurchfluteten Terrasse des Berghofes eingenommen wurde. Doch obwohl es ein warmer Sommertag war, muss einigen der Beteiligten zu diesem Zeitpunkt längst das Blut in den Adern gefroren sein. Denn Hitler hatte diese höchst geheime Zusammenkunft einberufen, um die Heeresspitze auf seine Kriegspläne einzuschwören. Er hatte beschlossen, in Polen einzumarschieren und das Land erbarmungslos zu zerschlagen, um den schon in Mein Kampf beschworenen »Lebensraum im Osten« zu schaffen.

Hitler sprach frei, ein offizielles Protokoll oder gar eine Bandaufzeichnung gab es nicht, wohl aber Mitschriften einiger der Anwesenden. Einer von ihnen war Admiral Wilhelm Canaris, der Chef der Abwehr, des militärischen Geheimdienstes der Wehrmacht. Er hatte sich schon zwei Jahre zuvor, angewidert von der Brutalität und Skrupellosigkeit der Nazis, innerlich von Hitler abgewendet und sich im Vorjahr einer Gruppe hitlerkritischer Offiziere rund um den zum Rücktritt gezwungenen ehemaligen Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck, angeschlossen. Jetzt aber bestand für ihn kein Zweifel mehr, dass der Führer ein Verbrecher war, der Deutschland und Europa ins Verderben stürzen würde.

»Gleich am nächsten Tag las er (Canaris, d. Verf.) uns die wichtigsten Stellen (seiner Aufzeichnungen von der Hitler-Rede, d. Verf.) vor«, erinnerte sich Hans Bernd Gisevius, ein Mitglied der Widerstandsgruppe. »Er war noch immer voller Entsetzen. Seine Stimme zitterte. Er fühlte, Zeuge von etwas Ungeheuerlichem gewesen zu sein.«[3] Die Welt musste von den Plänen des Wahnsinnigen erfahren.

So übergab Admiral Canaris seine Aufzeichnungen seinem Freund und Ergänzungsoffizier Oberst Hans Oster, der daraus einen inhaltlich korrekten, sprachlich aber dramatisierten Text erstellte, den ein anderes Mitglied der Widerstandsgruppe dem in Berlin akkreditierten amerikanischen Journalisten Louis P. Lochner von der Associated Press übergab. Lochner übermittelte das brisante Dokument noch vor dem 25. August 1939 der britischen Botschaft in Berlin.

Wie weit sein Wortlaut tatsächlich Hitlers freier Rede vom 22. August entsprach, ist allerdings unter Historikern umstritten.[4] Ein Augenzeuge, Generaladmiral a.D. Hermann Boehm, hielt ihn 1971, also 32 Jahre später, für eine »blutrünstige und unwahre Darstellung«[5], bestritt aber auch die – zweifelsfrei belegte – Präsenz von Admiral Canaris in der Runde. Doch auch in Boehms Aufzeichnungen findet sich die Notiz, Hitler habe gesagt, die Glaubwürdigkeit einer Kriegserklärung sei gleichgültig, im Sieg liege das Recht. Ein weiterer Zeuge, Generalstabschef Franz Halder, fasst dagegen den strittigen Absatz in seinem Kriegstagebuch mit den Worten »Ziel: Vernichtung Polens – Beseitigung seiner lebendigen Kraft. Es handelt sich nicht um Erreichen einer bestimmten Linie oder einer neuen Grenze, sondern um Vernichtung des Feindes, die auf immer neuen Wegen angestrebt werden muss«[6] zusammen. So hält etwa der Historiker Christoph Bergner die »Lochner-Version« der Hitler-Ansprache für glaubwürdig, der Politologe und Zeitgeschichtler Richard Albrecht sogar für »jene Version«, die »am wahrscheinlichsten zusammenfasst und ausdrückt, was Hitler sagte«[7]. Jedenfalls zitiert sie ihn mit diesen Worten:

»Unsere Stärke ist unsere Schnelligkeit und unsere Brutalität. Dschingis Khan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt, bewusst und fröhlichen Herzens. Die Geschichte sieht in ihm nur den großen Staatengründer. Was die schwache westeuropäische Zivilisation über mich behauptet, ist gleichgültig. Ich habe den Befehl gegeben und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert, dass das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?«[8]

Diese Aussage Hitlers, apokryph oder nicht, ist der Schlüssel zum Verständnis dieses Buches. Denn sie verdeutlicht nur zu gut, weshalb der Völkermord von 1915 nie mehr verschwiegen und geleugnet, vor allem aber: nie vergessen werden darf.

Der Genozid an den Armeniern, kurz »Armenozid« genannt, ist die Mutter aller Völkermorde und damit ebenso untrennbar mit der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, dem Ersten Weltkrieg, verbunden wie der Holocaust, der Völkermord an den Juden, mit dem Zweiten Weltkrieg. Er diente nicht nur dem Vernichtungsschlag der Deutschen gegen die Polen, sondern, viel offensichtlicher, der »Endlösung der Judenfrage« als Vorbild, auch wenn Hitler seine Generäle an jenem Augusttag des Jahres 1939 in diesen Plan noch nicht einweihen wollte. So sprach kein Geringerer als der Friedensnobelpreisträger von 1986, der Auschwitz-Überlebende Elie Wiesel, schon vor 65 Jahren in einer auf Jiddisch verfassten Broschüre vom »Holocaust vor dem Holocaust« und wies damit als Erster auf den Zusammenhang von Armenozid und Schoah hin.

Nach dem Vorbild des Völkermords an den Armeniern wurden auch die anderen Völkermorde des 20. Jahrhunderts begangen, nicht nur die Massaker der Türken an den christlichen Aramäern (Assyrern) mit etwa 300 000 Opfern (1915–1917) oder die Vertreibung der Griechen aus Kleinasien und dem Pontos durch die Türken, als bis zu 500 000 Menschen auf Zwangsmärschen durch das karge Hochland von Anatolien, durch gezielte Massaker und Massenexekutionen ums Leben kamen. Sondern auch etwa der Völkermord der Hutu an den Tutsi in Burundi (1972, 250 000 Opfer) oder dessen »Vergeltung«, der Völkermord der Tutsi an den Hutu in Ruanda (1994, bis zu einer Million Opfer). Ja, die Chronik des Grauens endete auch nicht mit der Jahrtausendwende. Vielleicht kein Völkermord, aber eine systematische Vertreibung von Christen wurde nach der »Befreiung« des Irak durch die Amerikaner gemeldet. Dort sank die Zahl der Christen im Irak in einem Jahrzehnt von etwa 1,5 Millionen auf unter 300 000; so jedenfalls die Zahl zu Anfang des Jahres 2014, bevor die Terrormilizen des Islamischen Staates das Werk zu vollenden drohten. Sind schon bei den zerstrittenen Konfessionen des Islam, bei Sunniten und Schiiten, »Ungläubige« (und als solche definiert der Qur’an alle Nichtmuslime) unerwünscht, so weitete der salafistische ISIS die Verfolgung und den Völkermord auch auf Schiiten, Alewiten, Kurden und Jeziden aus.

Begonnen hat er seine Terrorherrschaft ausgerechnet in Syrien, das als eine der Wiegen des Christentums gilt; schon zum Zeitpunkt der Bekehrung des heiligen Paulus, also drei Jahre nach der Kreuzigung und Auferstehung Jesu, gab es in Damaskus eine blühende Gemeinde, die wahrscheinlich unmittelbar nach dem Pfingstereignis gegründet worden war. Unter dem laizistischen Assad-Regime lebten die ca. 2,2 Millionen Christen, etwa 10 % der Gesamtbevölkerung, in völliger Gleichberechtigung. Christen stellten Mitglieder der Regierung und des Parlamentes. Sie brauchten sich nicht in ihren Kirchen zu verstecken, sondern führten etwa Prozessionen auf offener Straße durch. Das änderte sich freilich, als im März 2011, im Zuge des »Arabischen Frühlings«, der zum Winter für die Christen wurde, im ganzen Land ein blutiger Bürgerkrieg ausbrach. Zunächst kämpften Jihadisten Seite an Seite mit westlich-demokratisch orientierten Rebellen, dann übernahmen die Islamisten ganz das Ruder im Krieg gegen Assad. Von der Türkei, Katar und Saudi-Arabien unterstützt, kontrollierten sie zwischenzeitlich den gesamten Norden des Landes, darunter die von zahlreichen Christen bewohnten Städte Homs und Aleppo. Im März 2012 alarmierte die syrisch-orthodoxe Kirche – die größte Konfession im Lande – die Weltöffentlichkeit: in Homs würden »ethnische Säuberungen gegen Christen« stattfinden. Nach Aussagen einer ihrer Bischöfe sollen islamistische Mitglieder der »Faruq-Brigade« der Freien Syrischen Armee (die man im Westen zu den »gemäßigten Rebellen« rechnet) bereits über 90 % der Christen aus der Stadt vertrieben und ihr Eigentum konfisziert haben. Ganze Stadtviertel seien bereits »christenrein«.[9] Als die Islamisten sich im Mai 2014 aus Homs zurückzogen, hinterließen sie eine Trümmerlandschaft.[10] Im Januar 2014 meldete die italienische Tageszeitung La Stampa, islamistische Milizen in Nordsyrien würden jetzt auch gezielt armenische Christen terrorisieren. Von Enthauptungen, Kreuzigungen, Säureanschlägen auf Kirchen und Zwangsbekehrungen zum Islam war die Rede. Ein im Internet verbreitetes Video zeigte einen älteren Armenier, offenbar das Oberhaupt eines Familienclans, der vor einem muslimischen Prediger unter Zwang das islamische Glaubensbekenntnis ablegt. Widerruft er einen Tag später, gilt er als Abtrünniger; jeder Moslem hat dann das Recht, ihn und seine Angehörigen zu töten. »Die Geister des armenischen Genozids von 1915 kehren zurück«, kommentierte die Zeitung.[11] Seitdem hat sich die Lage dramatisch zugespitzt und dem Leser dieses Buches wird es vorkommen, als hätte er ein Déjà-vu – so haargenau gleichen die Bilder, die uns von der Terrorherrschaft des ISIS erreichen, in ihrer ganzen menschenverachtenden Brutalität doch denen, die aus den Zeiten des Völkermordes von 1915/16 überliefert sind. Umso bezeichnender, dass ISIS ausgerechnet am 21. September 2014, dem armenischen Unabhängigkeitstag, in Deir el-Zor (auch: Der Zor), dem Auschwitz dieses leidgeprüften Volkes, eine Kirche in die Luft sprengen ließ, die als Gedenkstätte an den Armenozid diente. Der Islamische Staat trat damit das Erbe der Mörder von damals an.[12]

Die Geister von 1915 werden so lange zurückkehren, wie versucht wird, sie zu verdrängen. Und genau das macht dieses Thema so aktuell.

Wie heftig nach wie vor versucht wird, den Armenozid zu leugnen, zeigt ein aktuelles Beispiel. Keine drei Monate nach seiner Wahl, am 10. Juni 2013, erlebte Papst Franziskus seine erste diplomatische Krise. Das türkische Außenministerium rief seinen Botschafter beim Heiligen Stuhl nach Ankara zurück und legte offiziell beim Vatikan Protest ein, während sich die gesamte türkische Presse über eine Äußerung des sonst so beliebten Argentiniers empörte. Bei einer Zusammenkunft mit dem armenisch-katholischen Patriarchen Nerses Bedros XIX. Tamouni im Vatikan hatte der Papst die Ereignisse von 1915 als »ersten Genozid des 20. Jahrhunderts«[13] bezeichnet. Durch eine Aufnahme des vatikanischen TV-Senders CTV war die Aussage am darauffolgenden Wochenende öffentlich gemacht worden.

»In einer Erklärung verurteilte das türkische Außenministerium die päpstliche Aussage am Wochenende als ›absolut inakzeptabel‹«, berichtete Die Welt am 10. Juni 2013. »Vom Papst werde erwartet, dass er zum Weltfrieden beitrage, und nicht, dass er Feindseligkeiten über historische Ereignisse schüre.« Das armenische Außenministerium in Jerewan ließ dagegen dem Papst über seinen Botschafter beim Heiligen Stuhl, Mikayel Minasyan, ausdrücklich für seine Worte danken. Zugleich lud der Kaukasus-Staat Franziskus zu den Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Völkermordes am 24. April 2015 ein.

Tatsächlich war die päpstliche Äußerung keine Überraschung für jene, die sich bereits intensiver mit der Vorgeschichte des neuen Kirchenoberhauptes befasst hatten. Denn schon in dem Buch Über Himmel und Erde, das er 2010 zusammen mit dem jüdischen Rabbi Abraham Skorka aus Buenos Aires herausgegeben hatte, ging der damalige Kardinal Bergoglio, ausgerechnet in einem Kapitel über den Holocaust, auf den Armenozid ein:

»Die großen Mächte wuschen sich die Hände, sahen weg, denn sie wussten viel mehr, als sie sagten, so wie sie sich auch beim Genozid an den Armeniern die Hände wuschen. Zu jener Zeit war das Osmanische Reich stark, die Welt befand sich im Ersten Weltkrieg und sah weg.«[14]

An einer anderen Stelle dieses Buches hatte der spätere Papst die Ursachen des Völkermordes analysiert:

»Im Namen Gottes zu töten heißt, die religiöse Erfahrung zu ideologisieren. Das bringt politische Ränkeschmiederei mit sich, und es kommt zur Vergötterung der Macht im Namen Gottes. Menschen, die dies tun, erheben sich selbst zu Gott. Mitten im 20. Jahrhundert vernichteten solche Menschen ganze Völker, weil sie sich für Gott hielten. Die Türken taten das mit den Armeniern, der stalinistische Kommunismus mit den Ukrainern, der Nationalsozialismus mit den Juden.«[15]

Nur langsam, oft zögerlich und stets gegen den erbitterten Widerstand der modernen Türkei beginnt die Welt heute zu begreifen, was 1915 wirklich geschah.

Ab 1984 untersuchte das »Permanente Völkertribunal«, eine unabhängige Menschenrechtsorganisation, unter Hinzuziehung von namhaften Historikern, Juristen und Augenzeugen die Ereignisse von 1915. Dabei kam es mit großer Mehrheit zu dem Urteil, dass es sich beim Armenozid um einen sorgfältig geplanten Völkermord handelte, für den die heutige Türkei als legitimer Erbe des Osmanischen Reiches zur Verantwortung zu ziehen ist.[16] Ein Jahr später, am 29. August 1985, sprach auch die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen in einem offiziellen Bericht von einem »Genozid«; ausdrücklich gegen den Einspruch »einiger Mitglieder des Unterausschusses«[17], wie es in dem Dokument heißt. Diese erklärten einige der Beweise für die Gräueltaten der Türken ohne nähere Erklärung kurzerhand für »gefälscht«.

1997 kam die »Internationale Vereinigung von Völkermordforschern« in einer Resolution zu der gleichen Einschätzung: Es war ein Völkermord![18] Drei weitere Resolutionen (bis 2007) forderten eine offizielle Anerkennung dieses Tatbestandes durch die Staatengemeinschaft.[19]

Tatsächlich bestätigten seit 1965 bereits zweiundzwanzig Staaten[20], darunter Argentinien, Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Kanada, Libanon, die Niederlande, Russland, Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Uruguay und Zypern[21], dass es sich bei den Ereignissen von 1915 um einen Völkermord handelte. Das Europäische Parlament machte die Anerkennung der Massaker an den Armeniern als Völkermord in seinen Beschlüssen von 1987 und 2001 sogar zu einer der Bedingungen für einen möglichen EU-Beitritt der Türkei.[22] In Frankreich wurden diese Verbrechen 2001 per Gesetz als Völkermord eingestuft.[23] 2006 sollte in einer von Präsident Sarkozy unterstützten Initiative ihre Leugnung – ähnlich der Holocaust-Leugnung – zur Straftat erklärt werden.[24] Nur der massive Druck der Türkei, die mit dem Boykott französischer Produkte drohte, verhinderte, dass der Gesetzentwurf den französischen Senat passierte.[25] Als fünf Jahre später die Nationalversammlung ein Gesetz verabschiedete, das ganz pauschal »die Leugnung von Genoziden« unter Strafe stellte, zog die Türkei auf unbestimmte Zeit ihren Botschafter ab und drohte mit Sanktionen.[26] Daraufhin beklagte das französische Parlament offen die »unerträglichen Versuche« der Regierung Erdogan, auf demokratische Staaten und ihre unabhängigen Gremien Druck auszuüben.[27] Der Senat bestätigte schließlich das Gesetz, bevor es dann doch vom Verfassungsrat abgelehnt wurde, weil es angeblich gegen die Meinungsfreiheit verstoße.[28]

Umso absurder, dass es ausgerechnet in Deutschland so lange dauerte, bis das Thema erstmals öffentlich diskutiert wurde. Auslöser war dabei eine mutige Bildungsinitiative. 2002 hatte der Bildungsminister des Landes Brandenburg, Steffen Reiche (SPD), die Behandlung des »Genozids an der armenischen Bevölkerung Kleinasiens« in die Lehrpläne für den Geschichtsunterricht schreiben lassen. Drei Jahre später tilgte sein parteiloser Nachfolger Holger Rupprecht diesen Eintrag auf ausdrücklichen Wunsch der türkischen Regierung. Der türkische Generalkonsul Aydin Durusay hatte sich bei Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) und Rupprecht beschwert.[29]

Die Opposition sprach von einem »Skandal«. »Es ist nicht die Sache Ankaras, über die deutschen Geschichtslehrpläne zu befinden«, erklärte CDU-Generalsekretär Sven Petke. Das »Armenien-Problem« sei kein Völkermord, sondern vielmehr durch »Aufstände, Hunger und Seuchen« zu erklären, konterte der türkische Botschaftssprecher Necmettin Altuntas.[30] Wie die Presse damals berichtete, hatte die Türkei bereits 2001 versucht, die Errichtung einer Gedenkstätte für den Potsdamer Theologen und Orientalisten Johannes Lepsius (1858–1926) zu verhindern, der als Erster die Gräueltaten der Türken dokumentierte. Platzeck, damals Oberbürgermeister von Potsdam, erhielt sogar Morddrohungen[31]; vielleicht ein Grund für sein »Umknicken« vier Jahre später.

Trotzdem schaffte es das Thema am 21. April 2005 bis auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages. Auf Antrag der CDU diskutierte das Parlament eine Entschließung, in der die Türkei aufgefordert wurde, endlich die Verantwortung für die »Massaker an armenischen Christen«[32] zu übernehmen. Zudem bedauerte es »die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen.«[33] Der Begriff »Völkermord« wurde bewusst vermieden, aber immerhin auf die »über eine Million« Toten verwiesen und darauf, dass zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und Organisationen die Ereignisse längst als Genozid bezeichnen. Am 15. Juni 2005 wurde der Antrag einstimmig angenommen.[34]

Fünf Jahre später kam das Thema erneut zur Sprache, als die Partei »Die Linke« in einer kleinen Anfrage von der Bundesregierung wissen wollte, ob diese die Ereignisse von 1915 als Völkermord werte. Die Antwort war ausweichend: Man überlasse die Bewertung den Historikern.[35] Offensichtlich hatten die Drohungen aus Ankara ihre Wirkung nicht verfehlt.

Folglich ging die nächste Runde im Kampf um die Wahrheit für Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel geradezu blamabel aus. Die Kanzlerin hatte die Deutschen Anfang 2012 dazu aufgerufen, mit ihr in einen »Dialog über Deutschland« zu treten und online Themen vorzuschlagen, derer sich die Politik in der näheren Zukunft annehmen sollte. Über 11 000 Vorschläge wurden gemacht, über 1,7 Millionen Bürger beteiligten sich an diesem ersten Feldversuch für eine direktere Demokratie, bei dem sie einem der Anträge zustimmen konnten. Doch von allen Themen, die von der »Legalisierung von Cannabis« bis zur »Offenen Diskussion über den Islam«, von der »Finanzierung des Kinderwunsches« bis zur »Wiederzulassung der doppelten Staatsbürgerschaft« reichten, fand keines so viele Unterstützer wie der Antrag auf ein »Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern und Aramäern«. Es bekam schließlich stolze 156 870 Stimmen und landete damit deutlich auf Platz 1 der Vorschlagsliste.[36] Grund genug für Angela Merkel, das Thema – auch weiterhin zu ignorieren. »Ich werde das nicht unterstützen«, erklärte sie kurz und bündig am 3. Juli 2012 auf einem Empfang für die Urheber der zehn populärsten Initiativen im Kanzleramt.[37] Die »Aufarbeitung der Ereignisse« sei eine bilaterale Angelegenheit Armeniens und der Türkei,[38] wiegelte die gleiche Kanzlerin ab, die erst 2009 von Papst Benedikt XVI. eine Erklärung zum Holocaust eingefordert hatte. Wie hätte sie damals wohl reagiert, wenn die Antwort aus Rom gelautet hätte, das sei »eine bilaterale Angelegenheit zwischen Deutschland und Israel«? Über die Rolle deutscher Soldaten, Diplomaten und Regierungsmitglieder als Augenzeugen, Mitwisser und Mitverschweiger des Völkermordes von 1915, von der in diesem Buch noch die Rede sein wird, schwieg sich Merkel aus.

Doch je näher der 100. Jahrestag des Armenozids rückt, desto schwerer lässt sich das Thema unter den Teppich kehren. Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Januar 2014 Deutschland besuchte, schwieg Merkel noch immer. Stattdessen forderte die Vorsitzende des »Bundes der Vertriebenen« und menschenrechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion, Erika Steinbach, eine Entschuldigung der Türkei für den Völkermord an den Armeniern: »Bis zum heutigen Tag verweigert sich Erdogan der Erkenntnis, dass Wahrheitsverdrängung nicht zur Versöhnung mit den Opfern führen kann«, erklärte die gebürtige Westpreußin. »Es ist Erdogans Pflicht, fast 100 Jahre nach dem Beginn dieses schrecklichen Genozids der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und auch dafür zu sorgen, dass die türkischen Schulbücher diesen Teil türkischer Geschichte nicht länger verfälschen oder verdrängen.«[39]

Davon freilich ist man im Land der Täter noch weit entfernt. Obwohl der damalige Großwesir (etwa: Ministerpräsident) des Osmanischen Reiches, DamadFerid Pascha, am 11. Juni 1919 den Völkermord an den Armeniern offen eingestand[40], wird in der modernen Türkei nicht etwa nur die Leugnung, sondern das Aussprechen der historischen Wahrheit mit schweren Strafen geahndet. Zum Einsatz kommt dabei der berüchtigte Paragraf 301 des türkischen Strafgesetzbuches, früher pathetisch mit »Beleidigung des Türkentums« überschrieben, der seit 2008 den folgenden Wortlaut hat:

»Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft.«[41]

Ihm zum Opfer fielen bereits mehrere Journalisten und Schriftsteller, darunter der Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk, die gewagt haben, die Gräueltaten von 1915 zu thematisieren, ohne sich dabei an die staatlichen Vorgaben zu halten[42]. Danach darf der Genozid allenfalls als »armenisches Massaker« (mit intendierter Doppeldeutigkeit) oder als »behaupteter« bzw. »angeblicher Völkermord« bezeichnet werden. An der Spitze der Armenozid-Leugner steht Ministerpräsident Erdogan. Der selbst ernannte »Führer der Türken« ließ nicht nur 2011 den Abriss von Mehmet Aksoys »Denkmal der Menschlichkeit« in der osttürkischen Stadt Kars anordnen, das an den Völkermord erinnern sollte.[43] Er hatte bereits 2010 auf die Arbeit armenischer Aktivisten im Ausland mit der Drohung geantwortet, die in der Türkei lebenden Armenier ausweisen zu wollen: »Ich muss sie nicht in meinem Land behalten. Wenn nötig, sage ich ihnen: Auf geht’s, zurück in euer Land.«[44] Nicht viel anders war die Logik der Mörder von 1915. Daran hat sich auch nichts geändert, als Erdogan am 24. April 2014, zum 99. Jahrestag des Armenozids, zynisch den Enkeln der Opfer »sein Beileid« aussprach – so als seien deren Großeltern Opfer einer Naturkatastrophe, aber eben nicht eines staatlich geplanten Völkermordes geworden.[45]

Die Frage bleibt, wie lange sich westliche Politiker von den uneinsichtigen Erben der Mörder noch etwas vorschreiben lassen wollen. Und die Antwort ist ernüchternd. Erst im Dezember 2013 gab ausgerechnet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte einer Klage des türkischen Rechtsextremisten und Armenozid-Leugners Dogu Perincek gegen die Schweiz statt. Perincek hatte auf mehreren Kundgebungen die von Historikern akzeptierte Darstellung der Ereignisse von 1915 als »internationale Lüge« und das Ergebnis einer »Verschwörung gegen die Türkei« bezeichnet. Daraufhin wurde er von einem Schweizer Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt. Perincek ging in Berufung, doch das Eidgenössische Bundesgericht bestätigte das Urteil: Über den Völkermord bestünde ein wissenschaftlicher Konsens, der Türke habe aus rassistischen und nationalistischen Motiven die Opfer verhöhnt. In Straßburg, der nächsten von ihm angerufenen Instanz, gab man ihm dagegen recht; das Schweizer Urteil habe gegen das Grundrecht der freien Meinungsäußerung verstoßen. Gleichzeitig wies der Europäische Gerichtshof darauf hin, dass ein qualitativer Unterschied zum Holocaust bestünde; dessen Leugner würden »konkrete historische Fakten« wie die Existenz von Gaskammern in den Vernichtungslagern bestreiten.[46][47]

Was bleibt, ist der schale Beigeschmack, das üble Gefühl, es könne »Völkermorde erster und zweiter Klasse« geben. Natürlich war die Schoah, der Völkermord an sechs Millionen Juden, ein singuläres Ereignis. Nichts in der Geschichte der Menschheit lässt sich mit der industriellen Massentötung von Menschen vergleichen, wie sie von den Nazis eiskalt geplant und dann in den Todeslagern von Auschwitz-Birkenau, Majdanek, Treblinka, Sobibor und Belzec durchgeführt worden war. Der Armenozid war keinesfalls mechanisch, weniger systematisch und gar nicht industriell. Doch er war ebenso barbarisch, geprägt von archaischer Gewalt und Grausamkeit, von bedingungslosem Vernichtungswillen und einer breiten Beteiligung der muslimischen Bevölkerung. Beide Katastrophen sind untrennbar miteinander verbunden. Die Idee, ein ganzes Volk auszurotten, wurde in der Türkei geboren. Wäre es den Türken nicht so erfolgreich gelungen, den Genozid an den Armeniern totzuschweigen, hätte Hitler es vielleicht nie gewagt, die Gräuel der Vernichtung fast eines ganzen Volkes im Herzen Europas zu wiederholen.

Deutschland hat für die Verbrechen seiner Vergangenheit die Verantwortung übernommen, hat echte Reue gezeigt und sich geschworen, zukünftig um jeden Preis zu verhindern, dass sich die schrecklichen Folgen von Rassismus und Antisemitismus wiederholen. Durch eine schonungslose Aufarbeitung seiner unseligen Vergangenheit ist es wieder zu einem respektierten Mitglied der Völkerfamilie geworden. Unsere Generation, begünstigt durch die »Gnade der späten Geburt«, trifft keine Schuld mehr an den Verbrechen der Väter, doch wir tragen die Verantwortung und haben die Verpflichtung, die aus ihnen erwächst. Die Türkei entschied sich für einen anderen Weg, der nicht akzeptabel ist, weil er die Opfer verhöhnt.

Im Fall des Armenozids sind wir Deutschen zwar keine Mittäter, aber Augenzeugen und Mitwisser der ersten Stunde. Schon deshalb sind wir den Opfern gegenüber verpflichtet, alles daranzusetzen, dass die Ereignisse von 1915 lückenlos aufgeklärt werden. Auf die Wünsche oder den Druck der Vertuscher darf dabei keine Rücksicht genommen werden. Denn nur eine schonungslose Aufarbeitung der Verbrechen kann verhindern, dass sich eine solche Katastrophe wiederholt.

Bereits vor zehn Jahren veröffentlichte der Spiegel-Journalist Wolfgang Gust in seinem Buch Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 auf 674 Seiten die wichtigsten Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes. Sie lassen keinen Zweifel mehr daran, dass man in Berlin von Anfang an bestens über diese schrecklichen Ereignisse informiert war. Schließlich war das Osmanische Reich der wichtigste Verbündete der Mittelmächte, also des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns.

Dieses Buch behandelt einen anderen Aspekt. Denn ähnlich wie der Holocaust nicht nur einen rassistischen, sondern auch einen religiösen Hintergrund hatte (wie ich in meinem Buch Hitlers Religion aufzeige), war der Armenozid eben nicht allein die Vernichtung einer Ethnie, aus welchen Gründen auch immer. Er war auch die größte und blutigste Christenverfolgung der Neuzeit. Dass es um Religion und nicht um Rasse ging, zeigt allein, dass auf den Völkermord an den Armeniern ein zweiter Völkermord an den syrischen Christen und ein dritter an den orthodoxen Griechen des Osmanischen Reiches folgte. Damit sank der Anteil der Christen an der Gesamtbevölkerung in der heutigen Türkei von 19 % im Jahre 1914[48] auf jetzt nur noch 0,2 %[49].

Natürlich rekapituliert dieses Buch die Ereignisse rund um das Jahr 1915, wie sie auf dem neuesten Stand der historischen Forschung auf der Grundlage Tausender offizieller Dokumente und Augenzeugenberichte rekonstruiert werden können. Vor allem aber fügt es der Armenozid-Forschung einen neuen Quellenschatz hinzu. Erstmalig gibt es Einblick in die Berichte und Dokumente, die seit fast einem Jahrhundert in den Archiven des Vatikans ruhen. Sie bestätigen weitgehend die bekannte Darstellung, fügen ihr aber wichtige neue Aspekte hinzu. Vor allem lassen sie keinen Zweifel daran, dass sich Ungeheuerliches in den Dörfern und Städten der Osttürkei, in den Steppen des »anatolischen« Hochlandes und der Wüste Nordsyriens zugetragen hat. Sie belegen die verzweifelten Versuche des Papstes und der vatikanischen Diplomatie, das Morden zu stoppen und den Verfolgten beizustehen, und dokumentieren doch die Niederlage der Menschlichkeit im Wettstreit mit der Barbarei. Mögen sie dazu beitragen, dass Hitlers zynisches Wort unwahrer denn je wird: Dass die Welt wieder von der Vernichtung der Armenier redet und aus ihr eine Lehre für die Zukunft zieht.

Verfolgte Minderheiten, vor allem, wenn es sich um unsere christlichen Brüder und Schwestern handelt, haben unsere Solidarität verdient. Gestern, heute und morgen – zu jedem Zeitpunkt der Geschichte!

Darin liegt, heute mehr denn je angesichts der erschreckenden Nachrichten über die Situation der Christen im Nahen Osten, unsere Verantwortung.

Rom, 30. November 2014

Michael Hesemann

I. »Gräuel vor Gott«

Der Weg in den Himmel führte für sie durch die Hölle. Natürlich wussten die sieben deutschen Ordensschwestern von der Gemeinschaft der Missions-Benediktinerinnen, dass ihre Aufgabe keine leichte sein würde. Der Erste Weltkrieg war ausgebrochen, sie sollten sich jetzt um die Kranken und Kriegskrüppel in den Lazaretten an der Front kümmern. Dass sie dabei täglich ihr Leben riskieren würden, war ihnen bewusst. Doch sie waren auch bereit, jedes Risiko auf sich zu nehmen, um bedingungslos »an der Sorge Jesu um das Heil und die Heilung von Menschen«[50] teilzuhaben. Nicht ahnen konnten sie, dass sie dabei auch zu Zeugen der schrecklichsten Christenverfolgung der Neuzeit, ja vielleicht sogar der Geschichte werden würden.

Wir kennen ihre Namen, von einigen auch ihre Lebensgeschichte. Etwa von Schwester Clodesindis (Clara) Lüken (1880–1945), die elf Jahre später zur Generalpriorin ihrer Gemeinschaft gewählt wurde. Sie war das siebte der elf Kinder eines Bahnangestellten aus Dortmund, eines fleißigen, sparsamen Mannes, der es immerhin dazu brachte, ein eigenes Haus zu erwerben und seine Kinder auf gute Schulen zu schicken. Als einer ihrer Brüder sich zum Priester berufen fühlte, verspürte Clara den Wunsch, in ein Kloster einzutreten. Nur auf Drängen ihres Vaters schlug sie zunächst einen anderen Weg ein und wurde Lehrerin. Nach wie vor las sie Missionsschriften, reiste heimlich in das Kloster der Missionsschwestern in St. Ottilien. Nach dem Tod des Vaters beschloss sie, ihren Lebenstraum zu verwirklichen. Und so war sie glücklich, als sie vier Jahre später ihre Einkleidung erleben, 1909 schließlich ihre Ewigen Gelübde ablegen durfte und den Ordensnamen Clodesindis wählte. Zunächst wurde sie als Lehrerin in der Schule und dem Institut ihrer Gemeinschaft eingesetzt. Dann aber brach der Erste Weltkrieg aus.

Drei der sieben deutschen Missions-Benediktinerinnen in Mossul; in der Mitte Schwester Clodesindis Lüken

© Archiv Norbert Schwake, Nazareth

Immer mehr ihrer Mitschwestern wurden für den Dienst in Lazaretten und Soldatenheimen an der West- und Ostfront eingesetzt. 1916 traf in St. Ottilien schließlich die Bitte ein, Schwestern buchstäblich ans Ende der Welt zu entsenden, wo deutsche Soldaten Seite an Seite mit dem osmanischen Verbündeten kämpften. In Mossul am Tigris, unweit der Ruinen der biblischen Stadt Ninive, sollte für sie ein Lazarett eröffnet werden. Für diese ebenso gefährliche wie opfervolle Mission wurden Sr. Clodesindis und sechs Gefährtinnen ausgewählt. Drei weitere Schwestern sollten in Kayseri, dem antiken Caesarea in Kappadozien, ein Lazarett übernehmen.

Am 1. Juli 1916 brachte der Balkanexpress die zehn Reisenden von München nach Konstantinopel. Mit dabei waren neben Schwester Clodesindis noch die Kandidatin Maria Pulcheria von Dalwigk-Lichtenfels, eine Nichte des Kölner Erzbischofs Felix Kardinal von Hartmann, sowie die Schwestern M. Pia Cramer, M. Ubalda Hecht, M. Erbenburga Stehle, M. Emmanuela Weber, M. Asalla Spannagel, M. Radegundis Behr, M. Remigia Burger und M. Wereburg Kohler.[51] Auf einem Schiff überquerten sie den Bosporus und landeten in Skutari, von wo aus sie mit der Anatolischen Eisenbahn erst Kleinasien, dann das karge Hochland Kappadoziens durchquerten. In Bozanti, zu Füßen des mächtigen Taurusgebirges, endete die Trasse. Die drei Schwestern, die für die Missionsstation in Kayseri bestimmt waren, hatten bereits in Ulu-Kischla die Gruppe verlassen, um ihren Weg nach Nordosten fortzusetzen. Die sieben Schwestern, die nach Mossul wollten, stiegen auf Maultierwagen um, die sie über verschlungene Wege zunächst nach Dorak bei Tarsus, der Heimatstadt des Apostels Paulus, bringen sollten. In Osmaniye folgte eine zweite Unterbrechung der Trasse, musste das Amanus-Gebirge bis Islahiye überquert werden. Doch nicht wegen der verwegenen Bergpfade, auf der einen Seite begrenzt durch mächtige Steilwände aus nacktem Fels, auf der anderen durch düstere Schluchten, wurde es zu einer Reise in die Unterwelt, auch nicht wegen der Lebensgefahr, die allerorten lauerte. Sondern wegen der Gräueltaten, deren Zeugen die Schwestern auf dieser gefährlichen Reise wurden.

Glauben wir ihren Berichten, so lag ein Todesodem über den felsigen Pfaden. In den Schluchten, so mussten die Schwestern bald feststellen, türmten sich Abertausende Leichen, deren süßlicher Verwesungsgeruch die Luft verpestete. Es waren die sterblichen Überreste von armenischen Christen: Männern, Frauen und Kindern, die teils Wochen, teils Monate zuvor in Scharen durch diese Schluchten in ihr Verderben getrieben worden waren. Immer wieder stießen die Schwestern auf verwüstete Dörfer und zerstörte Kirchen, die vom Hass ihrer Feinde zeugten. Viele Male begegneten sie auch den Überlebenden dieser Gräuel: Zerlumpten Frauen, Kindern und Greisen, die, oft völlig verstört, ja dem Wahnsinn nahe, um ein wenig Brot bettelnd durch die karge Landschaft zogen, die ihnen einst Heimat war, jetzt aber ihren Nächsten und bald auch ihnen selbst zum Friedhof werden sollte. Für die deutschen Schwestern war es, als seien sie in Dantes Inferno ausgestiegen. Doch so sehr ihr Herz blutete, als sie die Verzweifelten sahen, so sehr es sie empörte, als sie einen Zug von Wankenden beobachteten, die von berittenen Türken wie Vieh zum Schlachthof getrieben wurden, sie konnten, sie durften nicht helfen. Die deutschen und türkischen Soldaten, die sie zu ihrem Schutz begleiten sollten, untersagten ihnen strikt jeden Kontakt zu den Armeniern. Ein deutscher General habe ihre »kriegsnotwendige Umsiedelung« genehmigt, hieß es lakonisch. Schwester Clodesindis und ihre Begleiterinnen ahnten, dass es eine Umsiedelung ins Totenreich war.

Am 14. Juli erreichten die sieben Benediktinerinnen Aleppo, wo sie bei deutschen Borromäerinnen freundliche Aufnahme fanden. Von dort aus ging es weiter mit der Bagdadbahn über Harran, von wo aus Abraham in das Heilige Land aufgebrochen war, nach Ras al-Ain, dessen Bahnstation gerade fertiggestellt worden war. Dort warteten bereits drei Militärwagen auf die sieben Schwestern. In Mossul war die Cholera ausgebrochen, sie wurden dringend gebraucht. Deutsche Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett sollten für ihre Sicherheit garantieren. Überfälle von arabischen und kurdischen Räuberbanden waren an der Tagesordnung. Längst hatten die Benediktinerinnen sich auf den Tod vorbereitet, auch wenn sie auf der Fahrt durch Nacht- und Morgenstunden fröhliche und fromme Lieder sangen. Man brach nachts um 2.00 Uhr auf und errichtete schon um 10.00 Uhr früh das Lager, um sich vor der unerträglichen Hitze und den Moskitos zu schützen. Die ganze Nacht über heulten nah und fern die Schakale. An einer Raststelle trauten sich arabische Kurden mit kranken Augen und entzündeten Arm- und Beinwunden, die fremden Frauen um Hilfe zu bitten, und wurden mit einer Medizin und einem frischen Verband dafür belohnt. Ein anderes Mal lud ein türkischer Pascha die Ordensfrauen und ihre Begleiter in sein Zelt und bewirtete sie freundlich mit Mokka und süßem Gebäck. Doch als sie wieder gehen wollten, hielt er eine von ihnen zurück; sie sei jetzt sein Eigentum, der Preis für das freie Geleit der anderen! »Das ist unmöglich«, erwiderte ihm die resolute Schwester Clodesindis: »Wir sind alle mit Allah (arab. »Gott«) vermählt!« Das schien der Türke zu begreifen; trotzdem waren die Schwestern froh, als die Nacht vorübergegangen war, ohne dass er die Begehrte verschleppt hatte.

Am 5. August 1916 trafen sie endlich in Mossul ein. Der greise Patriarch Thomas Emanuel, der syrisch-chaldäische Bischof von Mossul, ließ es sich nicht nehmen, ihnen, in einen roten Talar gekleidet, auf seinem Schimmel entgegenzureiten. Sie sollten seiner väterlichen Sorge und Hilfe versichert sein. »Diese Strecke hat noch keine Dame gemacht!«, begrüßte sie der Herzog von Mecklenburg, der hier im Generalstab diente. Ihre Hände waren von den Mücken zerstochen, die Erschöpfung ihnen ins Gesicht geschrieben. Doch sie lebten und könnten bald Kranken helfen und das war alles, was für sie zählte. Sie wussten noch nicht, dass zwei von ihnen, darunter Schwester Clodesindis, sich mit der Malaria infiziert hatten und davon nur schwer erholen sollten.

Doch auch in Mossul holten sie die Albträume aus den Taurus- und Amanusschluchten wieder ein. Vorübergehend wohnten sie im Kloster der arabischen Nonnen des Patriarchen, besuchten gerne auch seine Liturgien in der Kathedrale, die ihnen gleichermaßen fremd wie vertraut erschienen; schnell erkannten sie in den orientalischen Christen Brüder und Schwestern im Glauben. Umso mehr erschütterten sie die Berichte vom Schicksal der Armenier, die bis nach Mossul getrieben worden waren, um dort in der Wüste zu sterben. »Auf den Straßen wimmelte es von armen Armeniern«, heißt es im Nekrologbuch des Ordens[52], »manchmal nahm Marie (Pulcheria von Dalwigk-Lichtenfels) Kaffee und Milch in Flaschen mit, um sie bei Ausgängen Halbverhungernden zuzustecken.« Als sie dann in das Zeltlager der Deutschen umzogen, »drang so manches Mal durch das Schweigen der Nacht bis zum Schlafzelt der Schwestern das Jammergeschrei der immer noch von den Türken zur Niedermetzelung aus ihren Dörfern vertriebenen Christen«, wie es in der Vita von Schwester Clodesindis heißt, die eine Mitschwester auf Grundlage der wenigen erhaltenen Aufzeichnungen niederschrieb. Und an einer anderen Stelle heißt es:

»Welch furchtbare Begebenheiten erzählte unter strömenden Tränen der weißbärtige Patriarch: über hundert seiner Dörfer lagen verwüstet und menschenleer. Die besten seiner wenigen Priester hatte islamitischer Hass wortwörtlich in Stücke zerhauen. Und hier versagte auch für Sr. Clodesindis, die sonst unentwegt gegen jedes Unrecht auftrat, die Möglichkeit zu helfen. Hätte ein Deutscher gewagt, sich den Wüten der Mordenden in den Weg zu stellen, so würde deren Christenhass den bisherigen Verbündeten nicht geschont haben.«[53]

Während die Zeugnisse, die sich in den Annalen der Missions-Benediktinerinnen erhalten haben, nur einen oberflächlichen Eindruck von der menschlichen Tragödie vermitteln, deren Zeugen sie wurden, ist uns der sehr viel ausführlichere Bericht eines deutschen Franziskanermönches erhalten, der etwa zeitgleich mit ihnen dasselbe Ziel hatte. Pater Joseph Kiera, OFM war als Divisionspfarrer der VI. deutsch-türkischen Armee in Bagdad und Mossul zugewiesen worden und berichtet in seinen Kriegserinnerungen Ins Land des Euphrat und Tigris, die 1935 in Breslau erschienen, von seiner Begegnung mit den sieben deutschen Ordensfrauen in der Missionsstation am Ufer des Tigris. Ihm verdanken wir auch den Hinweis, dass der Kölner Erzbischof, Kardinal von Hartmann, das Soldatenheim von Mossul »auf seine Kosten (hatte) einrichten lassen.«[54] Auf elf Seiten beschreibt der Franziskanerpater in bewegenden Worten den »Todesgang des armenischen Volkes«, der auch ihn zutiefst erschütterte. Da er auf dem gleichen Weg nach Mossul kam wie die sieben Benediktinerinnen, hilft uns sein Zeugnis auch, zu erahnen, welche Gräueltaten sich ihnen darboten.

»Vom Todeszug eines ganzen Volkes will ich erzählen, den ich mit eigenen Augen während meines zweieinhalbjährigen Aufenthaltes in der Türkei schauen musste, und den kein deutscher Soldat jemals vergessen wird, den aber auch kein rechtlich fühlender Mensch entschuldigen kann, er mag noch so sehr an der Turkomanie leiden«[55], beginnt er seinen Bericht, verfasst in der ebenso pathetischen wie poetischen Literatursprache seiner Zeit.

»Als wir über den Taurus und Amanus zogen, fing sich der Vorhang zu heben an, der dieses … Drama der größten Barbarei … verhüllte. In langen Reihen kauerten im glühenden Sonnenbrande armenische Männer und Jünglinge am Wegesrande der staubigen Bergstraße, die mit kraftlosen Armen und verstörten Augen die harte Arbeit der Steinklopfer auszuüben sich bemühten. (…) Kaum, dass sie ein Stücklein Brot von der türkischen militärischen Behörde bekamen; umso unbarmherziger wütete die Knute und der Kolben der gefühllosen Gendarmen und Askaris (Soldaten, d. Verf.)auf Rücken und Brust dieser Todgeweihten. Wie viele ihres Volkes waren von den Küsten des Schwarzen Meeres diese Straße gezogen, um in den Konzentrationslagern von Ras el Ain, von Meskene, von Rakka, von Sadinda (Sheddede, d. Verf.), von Deir el-Zor an Flecktyphus, Dysenterie (Ruhr, d. Verf.), an Hunger und Kälte zu sterben? Wie viele lagen in den schwindelnden Tiefen zu beiden Seiten des Karawanenweges, der ihre Verzweiflung geschaut und ihr Todesstöhnen gehört, da die Gendarmen die zu Tode erschöpften in die Tiefe fallen ließen. Wer von uns Deutschen hätte sich bei diesem Anblick nicht gefragt: Wie lange wird es dauern, bis auch der letzte aus diesen Arbeiterkolonnen, die der barmherzige Tod immer mehr lichtete, dort unten sein offenes Grab finden wird? (…) Auch zarte Kinder mit wundgelaufenen Füßen; vornehme Frauen aus den ersten Gesellschaftskreisen von Sinope und Trapezunt, von Angora (Ankara, d. Verf.) und Konia; mühsam einherwankende Greise, Mütter und Töchter derselben Familie vermodern im Taurusgebirge im grausen Durcheinander, während man die Männer und Jünglinge aus der Totenkarawane herausgeholt und sie einige Kilometer vor der Stadt niedergemetzelt und den Vögeln der Luft und den Tieren des Gebirges zum Mahle überlassen hatte.«[56]

»Als der Weg durch das Gebirge zuende war, bot uns die Ebene von Aleppo dasselbe Bild in ihren Städten und Dörfern dar. Gott weiß allein, wie viele Armenierinnen in jenen Jahren durch das ›Komitee für Einheit und Fortschritt‹, das Komitee der jungtürkischen Revolution, aller Zivilisation zum Spott umgekommen, und durch die schimpflichste Knechtschaft in den Harems, durch den Weitertransport in die Wüste, durch gewaltsamen Tod oder durch die Schrecken des Hungers dem Hasse und der barbarischen Rache der türkischen Regierung zum Opfer gefallen sind. (…)

Den Höhepunkt der furchtbaren Tragödie, die mit der Vernichtung eines der intelligentesten Völker des Orients endigte, sah ich in den Konzentrationslagern der Wüste in Meskene, Rakka und Deir el Zor (…) Der Weg führte mich durch das Biwak dieser zusammengetriebenen Massen, die zeitweilig 20 000 bis 30 000 wohl betragen haben mögen. Welch schrecklicher Anblick bot sich uns da! Die einen liegen auf dem kalten, feuchten Boden der Wüste, um ihren Erlöser, den Tod zu erwarten; die anderen, wandelnden Skeletten vergleichbar, strecken uns ihre dürren Hände entgegen, wenn sie sich von den mitleidslosen Gendarmen unbeobachtet wähnten; diese hier sind mit dem letzten Dienst beschäftigt, den sie einem Menschen erweisen, der soeben ausgelitten hat; jene dort reißen, am Boden kniend, die spärlichen Grashalme aus der Erde, um den Hunger zu betäuben. Die einen suchen sich in dem weichen Erdreich am Euphrat, der in majestätischer Breite an diesem Ort des Grauens rasch vorübereilt, Löcher zu graben, um wenigstens bei Nacht vor der empfindlichen Kälte geschützt zu sein; denn Stroh oder Decken oder dergleichen gibt es hier nicht. Die anderen, ausgemergelte Greise, denen der Wahnsinn aus den starren Blicken funkelt, bemühen sich mit halbnackten Kindern, die unverdauten Gerstenkörner aus dem Pferdemist zum Munde zu führen. Hier liegen gegen 400 an schwerer Dysenterie darnieder, die infolge mangelnder Pflege binnen weniger Tage der Tod dahinrafft; dort erheben sich dunkle Erdhügel, die in ihrem Schoße viele Hundert der glücklichen Unglücklichen bergen …, die vor vier oder acht Wochen an dieser Stätte ihren müden Lauf beschlossen haben, während ihre lebenden Mitgefährten weiterziehen müssen, bis sie irgendwo niedersinken. Denn endlos ist der Todeszug des armenischen Volkes, das über den Taurus herabwankt, und auch diese sollen nach wochenlanger Wanderung hier in Meskene ihre letzte Rast halten. Und über die ganze Ebene zieht ein Odem des Todes dahin, ein furchtbarer Verwesungs- und Pestgeruch, der allein schon genügen würde, mit seinen Miasmen (Ausdüstungen, d. Verf.) gesunde Menschen zu vergiften (…) die schwarzen Erdhügel von Meskene bergen gegen 60 000 Armenier, die hier den mühevollen Weg ihres Lebens beschlossen.«[57]

»Nach achttägiger Fahrt machten wir im zweiten Konzentrationslager, in Deir el Zor, halt. Es war am Karsamstag 1916. (…) Deir el Zor bildet vielleicht den traurigen Höhepunkt in diesem Drama der gewaltsamen Ausrottung eines Volkes; durch mehrere Wochen führte man täglich 400 Männer aus dem Lager einige Kilometer in die Wüste hinein, an den Chabur. Was mit diesen Männern geschah, ahnte man wohl, sollte es aber später durch deutsche Soldaten und Offiziere einwandfrei erfahren und feststellen. Diese ›Erlesenen‹ wurden draußen am Chabur wie Schafe hingeschlachtet; weite Strecken waren mit ihren Leichnamen besät.«[58]

Diese eindrucksvollen Schilderungen aus dem Munde eines Augenzeugen mögen genügen, um einen Eindruck davon zu vermitteln, welch schreckliche Szenen sich auch vor den Augen der sieben Benediktinerinnen abgespielt haben müssen. Vieles mögen sie auch von Pater Kiera selbst erfahren haben, als er sie in Mossul und später in Tell el Helif besuchte. Mehr als einmal werden sie diskutiert haben, was man tun könnte, um das Morden an den Armeniern zu beenden. Von einigen Versuchen berichtet der Franziskaner in seinem Buch:

»Der Diplomingenieur K. D. (Kaiserlich Deutscher, d. Verf.) Oberleutnant Bünte sandte … an den Herrn Konsul Rößler in Aleppo (eine) Aufzeichnung seiner Beobachtungen, die nebst zahllosen anderen dem deutschen Reichskanzler und der Obersten Heeresleitung zugeschickt wurden, ohne dass es diesen Stellen trotz der energischsten Vorstellungen möglich war, die Türken von ihrem grausamen Vernichtungswerke abzubringen.«[59]

Es ist davon auszugehen, dass es einer so resoluten Ordensfrau wie Schwester Clodesindis Lüken gewiss nicht genügte, nur von anderen zu hören, die versuchten, an das Gewissen des Reichskanzlers zu appellieren. Sie wusste allerdings auch, dass ihren Worten weniger Gehör geschenkt werden würde als denen eines deutschen Offiziers oder gar des Konsuls in Aleppo. So mag der Plan aufgekommen sein, an den Mann zu appellieren, der das Soldatenheim von Mossul gestiftet hatte, den Mann, der darüber hinaus noch der Onkel ihrer Kandidatin Maria Pulcheria von Dalwigk-Lichtenfels war[60]: Sie musste den Kölner Erzbischof Felix Kardinal von Hartmann (1851–1919; Kölner Erzbischof seit 1912) erreichen. Als Vorsitzender der Fuldaer Bischofskonferenz (heute: DBK) war er die gewichtigste Stimme der katholischen Kirche im Deutschen Kaiserreich.

Von Hartmann entstammte einer westfälischen Adelssippe, die seit Generationen im preußischen Beamtentum verwurzelt war. Ihn selbst hatte es stattdessen schon früh in den Dienst der Kirche gezogen. Er galt als konservativ, gleichermaßen romtreu wie nationalistisch. Dem Haus Hollenzollern war er treu ergeben. »Aus vollem, freudigen, warm ergebenem Herzen«[61]