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In einer deutschen Großstadt ist die Sonderkommission "Da Tore" einem hochrangigen Angehörigen der Mafia dicht auf den Fersen. Doch ein erster Einsatz der SoKo endet tödlich - irgendjemand muss den Mafiosi "Arcangelo" rechtzeitig gewarnt haben! Nach diesem folgenschweren Fehlschlag stößt Hauptkommissar Adrian Simmens vom BKA zur Sonderkommission. Der erfahrene Mafia-Jäger soll von nun an die SoKo leiten und "Arcangelo" überführen. Doch je tiefer Simmens in den Fall eindringt, desto deutlicher wird, dass der verräterische "Maulwurf" in den eigenen Reihen der SoKo sitzen muss. Aber wer ist es? Wem kann Simmens in diesem brisanten Fall noch vertrauen? Als Simmens einem Millionendeal mit waffenfähigem Plutonium aus der ehemaligen UdSSR auf die Spur kommt, beginnt ein gefährlicher Wettlauf gegen die Zeit ... ---- Michael Buschmann wurde 1961 in Dortmund geboren, ist verheiratet und wohnt heute in einer Kleinstadt in Ostwestfalen. Der Bestsellerautor Michael Buschmann ist ein Spezialist für spannende, sehr realitätsnahe Romane über brandheiße Themen.
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Seitenzahl: 333
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Der Plutonium-Deal
Roman
Michael Buschmann
© 2016 Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Michael Buschmann
ISBN: 978-3-95893-052-0
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Unsere Empfehlungen
Die 150 Meter hohen Wolkenkratzer ragten an diesem warmen Sommerabend in den sonnenüberfluteten Großstadthimmel wie silbrige Nadeln aus einem Nähkissen. Die imponierende Skyline machte jedem Betrachter deutlich, wie die Machtverhältnisse in dieser Stadt verteilt lagen. Die Banken hatten nicht nur die höchsten Türme hochgezogen, sondern waren auch mit ihren zahlreichen Geldinstituten präsenter als jeder andere Wirtschaftszweig.
Am Fuße des mächtigen Bankenviertels reihten sich in schier unüberschaubarer Vielzahl winzige Nadeln aneinander – Wohnhäuser und Geschäfte. Dazwischen, in den schmalen Verkehrsadern, quälte sich Tag für Tag ein endloser Strom von Lastwagen, Bussen und Autos vorwärts. Eine dieser verschwindend kleinen Nadeln hieß »Da Tore«, eine Pizzeria mit Bar und Discothek. Das ockerfarbene Reihenhaus lag in einem Stadterneuerungsgebiet, in dem ganze Straßenzüge von Altbauten in den letzten Jahren modernisiert worden waren.
In der Discothek war wieder alles still, nachdem Alberto Chiesa, Discjockey, Barmann und Mitbesitzer, den Sound-und Lichtcheck durchgeführt hatte. Sie würde erst um 20 Uhr ihre Pforten öffnen, und bis dahin blieb noch eine gute halbe Stunde. Im Restaurant nebenan herrschte nur mäßige Betriebsamkeit. Alberto Chiesa verzog sich dorthin an die Bar und schlürfte genüsslich eine Tasse Kaffee. Dabei beobachtete er die zwanzigjährige Tochter seines Kompagnons und Freundes Gianni Martelli, mit einer neuen Bestellung zielstrebig an ihm vorbeimarschierte und durch eine Luke in der Hinterwand der Bar drei Nummern in die Küche rief.
»Die ›Milano‹ ohne Peperoni!« fügte Alice Martelli noch hinzu und drehte sich dann zur Zapfanlage um.
Die Schaumkrone, die Sekunden darauf das Pils zierte, hätte schöner nicht sein können.
Gekonnt! dachte Alberto und erinnerte sich lächelnd an ihren gestrigen gemeinsamen Nachtbummel. Es schien was zu werden mit ihnen. Zum ersten Mal hatte sie deutlich seine Gefühle erwidert.
Aus der Küche drang das Scheppern von Töpfen, die zu Boden gefallen waren. Das nachfolgende vorwurfsvolle Gebrüll ließ Alice und Alberto ahnungsvolle Blicke austauschen. Nervosität und Gereiztheit lagen in der Luft. Sie wuchsen seit dem Anruf vor zwei Stunden von Minute zu Minute. Alberto Chiesa atmete tief durch und steckte sich eine Zigarette an. Als er Alice eine anbot, bemerkte er erst, dass seine Hände leicht zitterten.
In der Küche erklärte der schwergewichtige Gianni Martelli seiner Frau, was sie bei der Gemüsesauce zu beachten hatte, dann legte er seine Kochschürze ab und ging hinauf in ihre Wohnung, die direkt über der Pizzeria lag. Er wechselte seine Arbeitskleidung gegen einen Straßenanzug, ging ins Wohnzimmer an den Sekretär, an dem er die Buchhaltung führte, und entnahm einer Schublade den Hefter mit den Kontoauszügen der vergangenen Monate. Noch während er ihn in die Innentasche seines Jacketts steckte, verließ er die Wohnung wieder.
Seine Frau stand unten am Treppenabsatz und verfolgte mit sorgenvoller Miene, wie er schweren Schrittes die Stufen herunterstapfte. Sie konnte nicht anders, sie musste ihren Mann noch einmal sehen, bevor er fortging. Mit bebenden Lippen umarmte sie ihn und hielt ihn so fest, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.
»Ah, Sophia. Bitte keine Friedhofsszene. Es wird nichts passieren. Eine Stunde, und ich bin wieder da.«
Er bemühte sich um einen ausgeglichenen Tonfall. Doch seine Augen verrieten Sophia Martelli etwas ganz anderes.
Du bist ein schlechter Lügner, Gianni, dachte sie und gab ihm einen liebevollen Kuss. In seinem typischen schwerfälligen Gang, den sie seit ihrer ersten Begegnung vor nunmehr 23 Jahren unvermindernd anziehend fand, steuerte er durch den Flur auf den Hinterausgang zum Hof zu.
Es wird wirklich nichts passieren. Du wirst zu mir zurückkommen. Dafür habe ich gesorgt.
Während Gianni Martelli draußen im Hof in seinen Fiat stieg und losfuhr, ging seine Frau zurück in die Küche und steuerte schnurstracks auf das Wandtelefon zu. Sie wollte gerade den Hörer abnehmen, als sich eine starke Hand über ihre legte.
»Du willst es wirklich tun?« fragte Alberto Chiesa leise. Sophia Martelli nickte.
»Sie müssen Gianni schützen.«
Alberto Chiesa schüttelte den Kopf. Mit nachdenklichem Gesichtsausdruck beschwor er sie: »Tu es nicht! Sie können dir keine Garantie geben. Und wenn die andern es merken sollten …«
»ER IST SCHLIESSLICH MEIN MANN!« schrie sie Alberto heftig an, dass er erschrocken und seine Hand vom Hörer zurückzog.
Ihre Finger zitterten, als sie die Ziffern eintippte, die sie schließlich mit dem Funktelefon eines Wagens verbanden, der einige Kilometer entfernt vor einem Luxushotel der Stadt parkte.
Ihre Stimme klang fest und entschlossen, als sie die Mitteilung durchgab, die am anderen Ende der Leitung schon erwartet wurde.
»Herr Nowak? Er ist losgefahren.«
Wolf Nowak drückte eine Taste am Funktelefon.
»Leo 1 an Marder. Zielperson hat Haus verlassen. Es geht los.«
Es knackte kurz, dann kam die Antwort.
»Marder verstanden.«
»Wer sitzt im Verfolgungswagen?« fragte der sehr gepflegt aussehende Herr im eleganten Anzug, der hinter Nowak auf dem Rücksitz saß und jede Bewegung, jede Nuance im Tonfall genauestens registrierte.
Wolf Nowak drehte sich ein wenig zu seinem Vorgesetzten um, den Arm auf die Rückenlehne gestützt.
»Klinger und Gladisch.«
Der Chef des Landeskriminalamtes nickte. Er selbst war es gewesen, der die beiden Beamten vor einigen Wochen in die Sonderkommission »Da Tore« berufen hatte.
Nowak schaute auf seine Uhr. »In ein paar Sekunden –«
Weiter kam er nicht. Es knackte im Funktelefon. Die
gleiche zarte Frauenstimme von eben meldete sich erneut. »Marder an Leo 1. Sichtkontakt. Observation positiv.« Nowak schaute von neuem auf seine Uhr.
»Wenn Martelli sich an die kürzeste Route hält, müssten sie in etwa 20 Minuten hier sein.«
LKA-Chef Gerd Kohn sah aus dem Fenster und warf einen Blick auf die monumentale Fassade des Luxushotels »Riva«. Es musste funktionieren. Marder musste ihm dicht auf den Fersen bleiben. Würden sie ihn aus den Augen verlieren, war er in diesem riesigen Gebäude wie eine Nadel im Heuhaufen – unauffindbar. Und damit auch ungeschützt. Gerd Kohn mochte an diese Möglichkeit nicht einmal denken.
Er fingerte kurz an seiner Krawatte, dann betrachtete er zum x-ten Male das Foto, das neben ihm lag. Es war vor ein paar Tagen von der Sonderbehörde DIA in Rom an das Bundeskriminalamt gefaxt und sogleich an sein Präsidium weitergeleitet worden, zusammen mit der präzisen Mitteilung, wann der abgebildete Mann vom Flughafen Fuimicino aus mit einer Alitalia-Maschine in »Germania« – Deutschland – landen würde.
Sie hatten den ankommenden Geschäftsmann in Empfang genommen und überwacht. Durch eine wohlvorbereitete Lkw-Falle, die zum richtigen Zeitpunkt die Straße für das Zivilfahrzeug der Polizei blockiert hatte, war er dann spurlos untergetaucht.
Das Foto zeigte einen Sizilianer in feinem Seidenanzug, mit sportlicher Figur, faltenlosem Gesicht und kurzem schwarzen Haar, das perfekt geölt und nach hinten gekämmt war. Nach Angaben des Leiters der italienischen Sonderbehörde hieß der Mann Claudio Fontana, war 39 Jahre alt und ein mutmaßlicher »Uomo D'onoro« der Cosa Nostra. Der LKA-Chef wusste, dass »mutmaßlich« nichts anderes bedeutete, als dass dieser Mann genau das war – nämlich ein Mitglied der sizilianischen Cosa Nostra, nur dass ihm das bisher nicht hatte nachgewiesen werden können. Deshalb durchrieselte Gerd Kohn ein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken, dass dieser mögliche »Soldat«, dieser »Ehrenmann«, wie die sizilianische Mafia ihr Fußvolk zu nennen pflegte, sich offenbar ausgerechnet seinen Zuständigkeitsbereich für seine Aktivitäten ausgesucht hatte.
Wieso hatte das Familienoberhaupt oder gar die »Cupola« – die Kuppel, das höchste Organ der Cosa Nostra – diesen Fontana nach Deutschland geschickt? Sollte er etwas richten, das nicht nach Plan lief? Sollte er neues Territorium erschließen? Oder sogar ein Gipfeltreffen mit Camorra und dem kolumbianischen Drogenkartell von Medellin vorbereiten wie schon 1988, als die Aufteilung des Weltmarktes für Heroin und Kokain beschlossen worden war? Es musste jedenfalls einen gewichtigen Grund für sein Erscheinen geben.
»Niemand an der Hotelrezeption hat diesen Fontana identifizieren können?« fragte Kohn, als könnte er es nicht recht glauben.
Nowak schüttelte verneinend den Kopf »Sie konnten sich an keinen Gast erinnern, zu dem das Foto gepasst hätte.«
Das ist doch unmöglich, dachte Kohn. Der Kontaktmann, der sich bei Martelli telefonisch gemeldet hatte, hatte davon gesprochen, dass Arcangelo mit ihm reden wolle. Aus den Unterlagen aus Rom ging eindeutig hervor, dass »Arcangelo« der Deckname für Claudio Fontana war.
»Halten Sie es für möglich, dass die Portiers geschmiert worden sind?«
»Bei der Menge an Personal sehr unwahrscheinlich. Ich tippe eher darauf, dass der Herr sich geschickt verkleidet hat.«
Kohn legte nachdenklich den Finger an seine Lippen.
»Oder er hat das Hotel durch den Hintereingang oder die Tiefgarage betreten.«
Nowak drehte sich mit einem fragenden Blick um.
»Und wie soll er dann ein Zimmer angemietet haben?« »Durch den Kontaktmann.«
Der Oberkommissar wiegte mit nicht ganz überzeugter Miene seinen Kopf hin und her. »Es gibt noch eine dritte Möglichkeit«, hielt er dagegen.
»Die wäre?«
»Frau Martelli hat Muffensausen bekommen und uns geleimt. Das Treffen findet gar nicht in diesem Hotel statt, sondern in einem anderen.«
»In diesem Fall müsste sich Marder ja bald melden.«
*
»Halt dich ruhig noch weiter hinter dem Linienbus. Er darf unter keinen Umständen misstrauisch werden.«
Sabine Gladisch hatte ihren Kollegen am Arm gefasst, um ihn vom Überholmanöver abzuhalten.
Udo Klinger schaltete den Blinker wieder aus.
,Wie du meinst. Aber halt bloß die Augen offen, damit er uns nicht unbemerkt abbiegt.«
»Es sind ungefähr noch zwei Kilometer bis zum Hotel. Ich schätze, dass wir keine böse Überraschung mehr erleben werden.«
Udo Klinger brummte etwas Unverständliches in seinen Vollbart.
»Du weißt, dass Kohn keine Hochrechnungen mag. Wenn unsere Observation schiefläuft, zerreißt er uns in der Luft.«
Er sah sie mit ernster Miene an, erntete jedoch nur ein mitleidvolles Lächeln wegen seines notorischen Pessimismus. »Schon gut, schon gut.« Er hob abwehrend die Hand, so als wollte er keinen Kommentar dazu hören. »Deine Nerven möcht' ich haben.«
Nervös malträtierte er weiter sein Kaugummi.
»Wir sollten uns ein letztes Mal bei Leo 1 melden«, schlug er vor, während er den Zivilstreifenwagen an der großen Kreuzung rechts um den hohen, rotbraunen Gebäudekomplex der Finanzbehörde steuerte. Sie befanden sich nun in einer Einbahnstraße.
Kommissarin Gladisch griff zum Hörer des Funktelefons. »Marder an Leo 1. Durchfahren Ludwigstraße. Objekt zwei Wagen vor uns. Keine Komplikationen. In etwa einer Minute Sichtkontakt zu Leo 1.«
»Verstanden, Marder«, entgegnete die Stimme von Wolf Nowak.
»Wir übernehmen jetzt Objekt.«
Sabine Gladisch bedeutete ihrem Kollegen mit einem Kopfnicken, dass die nächste Phase ihres Auftrages begann. Sogleich ordnete er sich in die rechte Fahrspur zum Abbie-gen ein.
Sie schauten dem weißen Fiat nach, wie er rasch im Verkehr verschwand. Dann warf Sabine Gladisch einen Blick auf ihre Uhr.
»Okay. Nowak steigt jetzt um in sein Auto.«
»Jetzt hat er Sichtkontakt.«
»Martelli nähert sich dem Hotel.«
Kommissar Klinger beschleunigte seinen Wagen. Er war um einen Häuserblock gefahren und lenkte ihn nun wieder auf diejenige Straße zu, die sie eben verlassen hatten. An der Ampel mussten sie anhalten. Seine Kollegin starrte unverwandt auf ihre Uhr.
»Martelli biegt ab in die Tiefgarage. Nowak folgt ihm.«
Die Ampel sprang auf Grün. Mit durchdrehenden, quietschenden Reifen raste die Zivilstreife um die Kurve und preschte auf das Hotel zu, das mit seiner eigenwilligen Architektur wie ein gezahnter Spielklotz in den dunstigblauen Großstadthimmel emporragte. Bevor sie in die Einfahrt zur Tiefgarage abbogen, blendete ein Auto am linken Straßenrand für den Bruchteil einer Sekunde sein Fernlicht auf.
»Es läuft nach Plan«, kommentierte Sabine Gladisch das Signal aus dem Fahrzeug des LKA-Chefs und konzentrierte sich sofort wieder auf das Geschehen vor ihr.
»Nowak.« Udo Klinger zeigte auf den Wagen, der hinter der Passierschranke stand und erst jetzt langsam weiterfuhr. Er lenkte sein Fahrzeug an den Automaten heran, zog den sich griffbereit hervorschiebenden Parkschein aus dem Schlitz und folgte der zweiten Zivilstreife, sobald sich die Schranke gehoben hatte. Im Schritttempo rollte er in die große Parkhalle hinein, in der sich unübersichtlich eine Autoreihe an die andere fügte.
Die Augen der beiden Kriminalbeamten wanderten fieberhaft umher. Sabine Gladisch war die erste, die den weißen Fiat erspähte.
»Da vorne! Rechts neben den Fahrstühlen!« rief sie aufgeregt.
Udo Klinger manövrierte den Wagen geschickt in die erstbeste freie Parklücke, die sich bot. Nachdem sie ausgestiegen waren, beobachteten sie, wie sich die Fahrstuhltür öffnete, vor der Gianni Martelli und Wolf Nowak gemeinsam warteten. Der Oberkommissar ließ dem untersetzten Pizzeria-Besitzer den Vortritt und warf einen kurzen Blick über die Schulter. Die beiden würden es nicht schaffen. Geistesgegenwärtig ließ er wie aus Versehen den Autoschlüssel zu Boden fallen und hielt beim Bücken eine Hand in die Lichtschranke. Das gemächliche Aufheben des Schlüsselbundes ließ dem Kollegenpaar ausreichend Zeit, den Aufzug noch zu erreichen. Mit vier Personen fuhr der Fahrstuhl hinauf ins Erdgeschoß. Während die beiden Kommissare in der Hotelhalle hinter einer Blumenbank unauffällig abwarteten, was geschah, folgte Nowak dem Italiener bis an die Rezeption. Im Augenwinkel beobachtete er, wie der Portier eine Auskunft erteilte und zugleich Martellis Parkschein für ein gebührenfreies Parken markierte. Seine heimliche Hoffnung zerplatzte wie eine Seifenblase. Martelli fragte nicht nach einer Zimmernummer.
Klinger und Gladisch verfolgten durch die Palmenzweige, wie sich der Pizzeria-Besitzer von der Rezeption entfernte und wieder auf die Fahrstühle zuhielt. Im Abstand von einigen Metern sahen sie ihren Vorgesetzten ihm nachgehen. In einen Fahrstuhl stiegen bereits einige Hotelgäste ein, denen Martelli sich anschloss. Nowak beschleunigte seinen Gang, um den Aufzug noch zu erwischen. Er bemerkte dabei nicht den uniformierten Hotelpagen, der plötzlich von irgendwoher auftauchte und ihn so heftig anrempelte, dass er zu taumeln begann.
»So ein Mist!« zischte Klinger ärgerlich, der das Unheil ahnte. »Kann der Idiot nicht aufpassen!«
Die Fahrstuhltür glitt langsam zu. Der Hotelpage hielt Nowak am Arm fest und entschuldigte sich immer wieder. Nowak riss sich schließlich von ihm los. Doch es war zu spät. Der Lift hatte sich bereits nach oben in Bewegung gesetzt.
»Los! Das Treppenhaus!«
Sabine Gladisch erfasste als erste die Situation und rannte ihrem Kollegen voraus auf die entsprechende Tür in der Hotelhalle zu. Nowak schloss sich ihnen an. Gemeinsam stürzten sie die Treppen hinauf. Gladisch stürmte auf den Flur der ersten Etage. Vergeblich! Der Aufzug hatte nicht gehalten.
Mit Bangen beobachtete sie das Aufleuchten der Zahlen auf der Skala über der Tür. Das Hotel »Riva« hatte 17 Stockwerke. Sie befürchtete, dass sie chancenlos waren, wenn der Fahrstuhl nicht auf den ersten fünf Etagen anhielt. Die 3 blitzte auf – und verlosch. Die 4. Sie wippte fiebernd auf ihren Fußballen auf und ab. Auch dieses Lämpchen ging sofort wieder aus. Die 5 leuchtete auf. Sie biss sich vor Anspannung auf ihren Daumennagel. Dann sackten ihre Schultern deprimiert zusammen, und sie stampfte wütend mit dem Fuß auf. Er hatte nicht gehalten. Als die 6 kurz darauf für längere Zeit aufblinkte, ging die Kommissarin bereits enttäuscht zum Treppenhaus zurück.
*
Der LKA-Chef knallte das handliche Funksprechgerät zornig auf den Sitz. Sein Oberkommissar hatte ihm gemeldet, dass sie die Zielperson verloren hatten. Damit war der schlimmste Fall eingetreten.
»Sollen wir die einzelnen Etagen absuchen?« fragte Nowak kleinlaut über Funk.
Widerwillig griff Gerd Kohn zum Funkgerät. Erst recht wütend über diese noch dümmere Idee fauchte er seinen Untergebenen an.
»Sind Sie verrückt geworden, Nowak? Wir dürfen Fontana und seine Leute nicht weiter in die Enge treiben, sonst ist Martelli ein toter Mann. Gladisch soll sich in der Tiefgarage postieren, Klinger in der Hotelhalle. Sie kommen zurück zu mir.«
Er schaltete das Gerät ab, ohne eine Antwort abzuwarten. Grübelnd schaute er aus dem Fenster zum »Riva« hinüber. Irgendwo dort oben begab sich ein Mann jetzt gerade in die Gesellschaft der Cosa Nostra. Er schloss die Augen. Es verbitterte ihn, zur Tatenlosigkeit verurteilt zu sein. Nichts hasste er so sehr wie Versagen.
Von den dramatischen Szenen, die sich in den Stockwerken unter ihm abspielten, bekam Gianni Martelli nichts mit. Mit einer ordentlichen Portion gespielter Ruhe verließ er auf der 11. Etage den Aufzug und stampfte den leeren Flur entlang auf die Zimmernummer zu, die ihm telefonisch mitgeteilt worden war und die er sogar vor seiner Frau geheim gehalten hatte. Er rieb sich die feuchte Handfläche an seiner Hose ab, bevor er an die Tür klopfte. Während er wartete, geschah im Videoüberwachungsraum des Hotels etwas Merkwürdiges, das dem diensthabenden Wachmann vermutlich gar nicht aufgefallen wäre, wenn er nicht zufällig im gleichen Moment in Richtung eines bestimmten Monitors geschaut hätte. Das Bild, das den größten Teil der Tiefgarage erfasste, wurde plötzlich unscharf und verschwand für eine Sekunde völlig. Noch ehe er an den Reglern Korrekturversuche vornehmen konnte, erschien das Bild wieder klar und unverändert. Die ungewöhnliche Störung irritierte den Wachmann, der zu einem privaten Sicherheitsdienst gehörte, den das Hotelmanagement zum Schutz seiner Gäste engagiert hatte. Für einige Minuten ließ er den Bildschirm nicht aus den Augen. Doch es passierte nichts mehr. Kein erneuter Bildausfall, keine sonstige Störung, und auch in der Tiefgarage selbst war alles ruhig wie zuvor. Erleichtert wandte er sich vom Monitor ab, um den kleinen Vorfall dennoch ins Protokoll einzutragen.
Gianni Martelli spürte, wie seine Knie immer wackliger wurden. Er wagte es nicht, sich zu setzen, obwohl ihm ein Stuhl angeboten worden war. Er wollte lieber stehen. Warum, das wusste er selbst nicht so genau. Der elegante, gepflegt aussehende Mann aus Italien stand ihm gegenüber, rauchte lässig seine Zigarette und blätterte oberflächlich den Hefter mit den Kontoauszügen durch. Die Erscheinung des Sizilianers hatte Martelli noch verkraften können, obschon er ihm abspürte, dass er direkt aus dem Machtzentrum der Cosa Nostra kam. Viel mehr zu schaffen machte ihm die zweite Person, die eine Viertelstunde nach ihm hereingekommen war. Der Mann trug zwar die Uniform eines Pagen, aber er ahnte, dass es sich nicht um einen Angestellten des Hotels handelte. Er hatte sich seitlich von ihm mit verschränkten Armen bedrohlich aufgebaut und ließ ihn seitdem nicht aus den Augen. Die breiten Schultern des Mannes, das markante Gesicht mit dem tiefen, narbenähnlichen Grübchen am Kinn und vor allem dieser stechende Blick verunsicherten Martelli aufs äußerste. Er wurde so nervös, dass ihm dicke Schweißtropfen über die Stirn rannen.
Claudio Fontana gab ihm unbeeindruckt den Hefter zurück.
»Was halten Sie davon, diesen netten jungen Herrn«, er deutete mit dem Kopf auf den Mann in der Pagenkleidung, »in Ihrer Pizzeria als Barmann einzustellen?«
Gianni Martelli wurde es noch heißer. Er wusste, dass das die entscheidende Situation war. Sie misstrauten seinen Angaben über die Finanzlage. Und er hatte von befreundeten Geschäftsleuten gehört, dass immer dann, wenn die Mafia befürchtete, hintergangen zu werden, »Schutzengel« in die entsprechenden Läden eingeschleust wurden, die die Einnahmen kontrollieren sollten. Er musste vorsichtig sein, sehr vorsichtig sein mit dem, was er jetzt antwortete.
Mit einem verkrampften Lächeln stammelte er gehemmt: »Ihr Angebot ist gut. Sehr gut.« Er lachte verlegen und sah aufgeregt von einem zum anderen. »Der junge Mann ist bestimmt tüchtig. Aber woher soll ich das Geld für seine Bezahlung nehmen? Sie sehen ja selbst, dass das unmöglich ist.« Er wedelte mit dem Hefter seiner Kontoauszüge ungeschickt in der Luft herum. »Später vielleicht.«
Fontana zog gelassen an seiner Zigarette, die ihn in eine dicke Rauchwolke hüllte. Als er sich umdrehte, um die Asche im Kristallaschenbecher auf dem Tisch abzustreifen, meinte er leichthin: »Wenigstens ist Ihr Kredit inzwischen abbezahlt. Das lässt für die Zukunft hoffen.«
Die Worte trafen Gianni Martelli wie ein Hammerschlag. Mit kreideweißem Gesicht bangte er, ob ihm das nicht als Geldunterschlagung ausgelegt wurde.
»Ich musste das tun«, log er eilig. »Die Bank hatte mir einen Termin gesetzt. Sonst wäre es zur Pfändung gekommen.«
Er flehte innerlich zu seinem Schutzpatron, dass der Abgesandte der Cosa Nostra die Ausrede schlucken möge. Denn in Wirklichkeit war er mit seinem Kompagnon übereingekommen, die Einnahmen zu frisieren, so dass sie, statt erhöhtes Schutzgeld zu bezahlen, vorzeitig ihren Bankkredit tilgen konnten.
»Gehen Sie jetzt«, sagte Fontana plötzlich in ruhigem Ton, drückte die Zigarette aus und wandte sich von seinem Besucher ab.
Verwirrt schaute Gianni Martelli von einem zum anderen. Was hatte dieses jähe Ende des Gesprächs zu bedeuten? War es ein gutes Zeichen? Hatte er überzeugend gewirkt? Als er draußen im Gang stand, atmete er erleichtert auf und wischte sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. Er kam zu dem Schluss, dass es noch einmal gutgegangen war. Denn immerhin hatte dieser Abgesandte der Mafia die neuen Schutzgeldforderungen nicht einmal erwähnt, geschweige denn ihm für den Fall der Nichtzahlung gedroht. Sie waren fürs erste davongekommen. Eine Zentnerlast fiel ihm vom Herzen. Gutgelaunt pfeifend fuhr er mit dem Aufzug direkt in die Tiefgarage. Während er zu seinem Fiat stampfte, holte ihn ganz unverhofft ein Satz ein, den dieser Arcangelo gesagt hatte. »Wenigstens ist Ihr Kredit inzwischen abbezahlt.«
Erst jetzt ging Martelli ein Licht auf, was eigentlich hinter dieser Bemerkung steckte. Woher konnte dieser Mann etwas davon wissen? Er selbst hatte es mit keiner Silbe erwähnt. Alberto kam als Informant ebenfalls nicht in Frage. Und sonst blieb niemand übrig außer … seiner Bank. Ihm wurde flau im Magen bei dem Gedanken, dass diese Leute über seine Geldgeschäfte Bescheid wussten. Denn wenn dem so war, dann hatte der Mafiosi seine Lüge über einen angeblichen Zahlungstermin sofort durchschaut. Oder doch nicht? Er hatte überhaupt nicht darauf reagiert. Martellis anfängliche Zuversicht schwand ein wenig. Er war nur noch froh, von diesem Ort wegzukommen.
Er stieg in seinen Wagen, setzte ihn aus der Parklücke zurück und fuhr langsam aus der Halle auf die Schranke zu. Dabei merkte er nichts von dem Augenpaar, das ihn aus dem Verborgenen beobachtete. Und er ahnte schon gar nichts von den merkwürdigen Gegenständen, die an der Bodenplatte seines Autos hafteten und deren Sicherheitsstifte über Drähte Kontakt zur Vorderachse hatten. Sorglos steckte er seinen freigemachten Parkschein in den Automatenschlitz, und die Schranke hob sich. Während er die Auffahrt hinauf ins Tageslicht rollte, wickelten sich unter seinem Auto dünne Metalldrähte immer weiter um die Vorderachse.
*
Mit großer Erleichterung nahm der LKA-Chef die kurze Funkmeldung entgegen, Gianni Martelli habe soeben unversehrt sein Fahrzeug wieder bestiegen.
»Gott sei Dank«, murmelte er, legte aber sofort wieder seinen gewohnt scharfen Tonfall an den Tag, als er Udo Klinger anfunkte.
»Wie sieht es in der Halle aus?«
»Von Fontana keine Spur«, meldete sich eine leise flüsternde Stimme.
»Und bei Ihnen, Nowak?« Er hatte seinen Oberkommissar an den Hinterausgang des Hotels beordert, der zugleich Zufahrt für alle Lieferanten war.
»Alles ruhig«, kam die knappe Antwort.
Der LKA-Chef vertraute seinem durch lange, harte Dienstjahre ausgeprägten kriminalistischen Spürsinn. Und der verriet ihm, dass der von der DIA in Rom gemeldete »Ehrenmann« jetzt irgendwo in genau diesem Hotel saß und sich vor wenigen Minuten mit Martelli getroffen hatte, auch wenn ihm dafür kein stichhaltiger Beweis vorlag.
Und noch etwas sagte ihm sein Instinkt: Sie würden ihn nicht zu fassen kriegen, selbst wenn sie das gesamte Hotel auf den Kopf stellten. Kein Mafiosi ging ein unnötiges Risiko ein. Und dieser Arcangelo schien sich sicher zu fühlen wie in einer Schweizer Bank. Nahezu 20 Minuten war Gianni Martelli bei ihm gewesen. Nahezu 20 Minuten hatte er sich seelenruhig unterhalten, obwohl er mittlerweile hatte wissen müssen, dass eine Polizeiaktion lief Denn der Anrempler am Fahrstuhl, der den Oberkommissar gekonnt schachmatt gesetzt hatte, war kein Zufall gewesen. Fontana hatte offenbar von der Observation gewusst, und das nicht rein zufällig, sondern so frühzeitig, dass er Gegenmaßnahmen hatte planen können. Das wiederum hieß, dass er einen Informanten gehabt haben musste, der die Aktion verraten hatte. Aber wen? Martelli selbst hatte von der Observation keine Ahnung gehabt. Seine Frau, die zwar davon gewusst hatte, trieb ganz gewiss kein falsches Spiel, um ihren Mann nicht zu gefährden. Wer also war der Informant gewesen? Dazu kam eine zweite Frage, die den LKA-Chef sehr beschäftigte: Wieso war sich Fontana so sicher, dass dem LKA die Zimmernummer für das Treffen nicht bekannt war? Immerhin hatte er sich für das Gespräch 20 Minuten Zeit gelassen. Eine lange Zeit, die für ihn jedoch keinerlei Risiko bedeutet zu haben schien. Warum nicht? Gerd Kohn beunruhigten diese Fragen, auf die er keine Antwort hatte.
Er richtete sein Augenmerk auf die Ausfahrt der Tiefgarage. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis er den weißen Fiat zu Gesicht bekam. Sie würden ihm nicht nachfahren. Die Observation war beendet. Nowak würde Martelli für morgen ins Präsidium laden – das war früh genug, um zu erfahren, was dort oben besprochen worden war. Martelli lief ihnen nicht weg.
Die Motorhaube des Fiat rollte allmählich ins Sichtfeld. Nur noch wenige Meter verblieben bis' zur Straße. Bevor der Fiat sie jedoch erreichen konnte, erschütterte eine gewaltige Detonation die Umgegend des Hotels. Der Unterboden des Fiat riss auseinander wie eine Blechbüchse. Splitter von Handgranaten schossen durch das Innere des Wagens und durchschlugen das Dach. Sie durchsiebten da-bei den Rumpf Gianni Martellis und ließen ihm nicht den Hauch einer Überlebenschance.
Gerd Kohn zuckte zusammen und musste ohnmächtig mitansehen, was geschah.
»Rufen Sie einen Notarzt!« befahl er seinem Fahrer und sprang aus dem Wagen. Dann hielt er inne. Zum einen, weil seine Kommissarin Gladisch bereits mit einem Feuerlöscher auf das zertrümmerte und brennende Fahrzeug zulief, zum anderen, weil er ahnte, dass mit diesem Bombenanschlag das Desaster der von ihm genehmigten Polizeiaktion komplett war. Ein Mann wurde hingerichtet – vor den Augen der Polizei, die seine Frau zur geheimen Mitarbeit gegen ihn überredet hatte. Er konnte sich denken, wie die Presse darüber herfallen würde. Sein Mund wurde trocken bei der Vorstellung, wie er der Ehefrau diese grausame Schreckenstat nahebringen sollte, die ihren Mann für immer von ihrer Seite weggerissen hatte. Erschüttert ließ er sich zurück in den Sitz des Wagens fallen und schloss für Sekunden die Augen. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Dieser neuerliche katastrophale Fehlschlag würde, ja musste Konsequenzen für seine Abteilung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität haben.
»Verbinden Sie mich mit dem Bundeskriminalamt in Wiesbaden«, instruierte er seinen Fahrer fast tonlos mit belegter Stimme, »Präsident Kossak von der Abteilung für organisierte Kriminalität. Machen Sie es dringend.«
Der Motor des schwarzen Audi Quattro war mächtig warmgelaufen. Eine Geschwindigkeit von durchschnittlich nahezu 170 Stundenkilometern auf der Autobahn ging auch an einer derart leistungsstarken Maschine nicht spurlos vorüber. Trotzdem lief sie jetzt leise und gleichmäßig wie ein Uhrwerk, während sich das schwere Stahltor auf einer Metallschiene beiseiteschob und die Zufahrt zum Gelände des Landeskriminalamtes freigab. Das Flackern der orangefarbenen Warnlampe auf den Stahlstreben spiegelte sich im glänzenden Metallic-Lack des Autos und seiner Windschutzscheibe wider. Sachte wie auf einem Teppich rollte der Wagen über die Torschwelle auf den weitläufigen Parkplatz, der direkt vor einem mehrgeschossigen Gebäude lag, welches das Herzstück des LKA-Komplexes bildete.
Der Sicherheitsbeamte im Wachhaus, der den Ausweis des Fahrers per Computerabfrage kontrolliert hatte, drückte auf seinem Schaltpult den Knopf, der das Stahltor wieder zum Schließen brachte. Während er durch das gepanzerte Glas dem Audi hinterherschaute, griff er nach dem Telefonhörer, um den außergewöhnlichen Besucher bei der entsprechenden Stelle anzumelden.
Der Mann, der kurz darauf dem Quattro entstieg, war etwa 40 Jahre alt, von stattlicher Figur, mit dichtem Oberlippenbart und buschigen Augenbrauen. Die seidigen Haare waren so gekämmt, dass sie die Geheimratsecken geschickt verborgen hielten. Die braunen Augen hinter einer Brille mit dünnem Gestell verrieten Wachsamkeit. Sie waren scheinbar immer auf alles gefasst.
Adrian Simmens war ledig und ein typischer Einzelgänger. Ein Stand, der es ihm in seinem schweren Beruf leichter machte – ein Beruf, in dem er sich für eine der gefährlichsten Aufgaben entscheiden hatte, die es für einen Kriminalbeamten gab: Er war ein Mafia Jäger geworden. Der »harte Hund«, wie Kollegen ihn respektvoll nannten, gehörte zu einer Gruppe von Spezialfahndern des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden.
Sein schmaler, maschinenlesbarer Ausweis öffnete ihm jede gewünschte Tür im LKA bis hin zur geheimen Sonderabteilung gegen das organisierte Verbrechen. Er saß bereits eine ganze Weile im Büro des LKA-Chefs, als dieser dem Gespräch nach einem Vorgeplänkel aus lockerer Unterhaltung und Sich-Kennenlernen schließlich die erwartete Wende gab.
Mit einem zufriedenen Nicken meinte Gerd Kohn: »Ich bin sicher, dass die Beamten der Soko ›Da Tore‹ und Sie gut zusammenpassen werden. Präsident Kossak hat Sie informiert?«
Adrian Simmens nahm seine Brille ab und ließ sie kreisen. »So weit er konnte, ja. Sie hatten also mehrere Fehlschläge?«
Die Direktheit der Frage bereitete dem LKA-Chef Unbehagen. Seufzend stand er auf und schritt ans Fenster, die Hände auf dem Rücken verschränkt.
»Es war ein Versuch. Ein aussichtsreicher«, beeilte er sich anzufügen. »Wir dachten, wir könnten auf diese Weise endlich an die Drahtzieher der Schutzgelderpressung herankommen. Gianni Martelli, so hieß der Besitzer des ›Da Tore‹, wollte nicht mehr zahlen. Die Einschüchterungen waren die üblichen. Eine Postkarte mit Sarg. Ein mysteriöser Anruf in sizilianischem Akzent. Na ja, Sie kennen die Methoden.«
Und ob er sie kannte! Adrian Simmens hörte genau zu, wie Kohn mit schwerer, sorgenbeladener Stimme fortfuhr.
»Die Observation ging so dermaßen daneben, wie nur etwas danebengehen kann. Das Resultat: Martelli zerbombt. Vom Ehrenmann der Cosa Nostra keine Spur. Und wir sind die absoluten Deppen.«
»Die öffentliche Exekution dieses Martelli soll zweifels-ohne zur Abschreckung anderer potentieller Verweigerer dienen«, bemerkte Simmens kurz und hängte die Frage an: ›Was sagt der KTU-Bericht über die Granaten?«
Kohn hob die Achseln, als wäre das Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung von keiner großen Bedeutung.
»Sie stammen aus Beständen der Roten Armee. Fachmännisch präpariert und befestigt.”
Simmens wusste, dass das in der Tat kein Anhaltspunkt war, der die Ermittlungen weiterbrachte. Derartige Granaten wurden in den neuen Bundesländern von Soldaten der ehemaligen Sowjetarmee zuhauf verhökert.
»In der Tiefgarage des Hotels, wo Martellis Wagen präpariert worden ist, hat übrigens eine Überwachungskamera gehangen.«
In Simmens Gesicht regte sich kein Muskel. Er ahnte, was kommen würde. Schließlich hatten sie es mit absoluten Profis zu tun.
»Aber auch diese Hoffnung entpuppte sich rasch als Fehlanzeige. An die Kamera war ein Endlos-Videoband mit dem Bild der Tiefgarage angeschlossen, so dass sie immer nur das gleiche Foto in den Kontrollraum sendete. Der oder die Täter, die die Granaten installierten, konnten sich also unbehelligt von den Augen des Wachmanns in der Tiefgarage bewegen.«
Präzise, ausgefeilt, ohne Spuren, dachte Simmens.
,Was ist mit Sophia Martelli und dem Kompagnon?«
Kohn wandte sich vom Fenster um. Er war beeindruckt, wie gut sich dieser BKA-Mann vorbereitet hatte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Frau Martelli fand gestern eine rote Rose auf der Treppe zu ihrer Wohnung. Sie wissen, was dieser Gruß bedeutet?«
Simmens nickte. In Italien gehörte eine solche Blume auf den Sarg eines Toten. Die Mafia verstand es immer wieder, subtil, aber deutlich ihre Botschaft mitzuteilen.
»Bei dem Kompagnon sind sie rabiater vorgegangen. Ihm haben sie heute Nacht eine Axt in die Tür geschlagen«, fuhr Kohn fort.
»Also Schweigen im Walde bei den beiden«, zog Simmens vorausahnend das Fazit.
»Wer will's ihnen verdenken? Zu uns haben sie kein Vertrauen mehr, also werden sie lieber bis an ihr Lebensende zahlen.«
Mit einer überraschenden Körperbewegung ließ er seinen Oberkörper nach vorne fallen, die Hände auf seinen Schreibtisch gestützt. Seine Stimme wurde eindringlich, fast beschwörend.
»Hören Sie, Simmens! Was mir wie Blei im Magen liegt, sind ganz andere Sorgen. Da ist die Frage, wie sich dieser Fontana 20 Minuten Zeit nehmen konnte, so als befände er sich mutterseelenallein auf dem Mount Everest, und von Polizei keine Spur.« Er schlug nachdrücklich mit der Hand auf den Tisch. »Ich will wissen, wie er von der Observation Wind bekommen hat, dass er bis hin zum Anrempler am Fahrstuhl Vorbereitungen ergreifen konnte. Und ich will wissen«, er pochte mit dem Finger auf die Tischplatte, »woher er offenbar wusste, dass uns die Zimmernummer für das Treffen unbekannt war.«
Adrian Simmens blieb trotz der energischen Gebärden seines Gegenübers gelassen.
»Es ist Ihnen hoffentlich klar, worauf Ihre Fragen im Grunde genommen hinauslaufen. Sie deuten auf einen Maulwurf im LKA.«
»Na, das liegt doch auf der Hand«, entgegnete Kohn wie selbstverständlich und richtete sich kerzengerade auf. »Sorgen Sie also dafür, dass aus meinem Magendrücken kein Magengeschwür wird.«
Simmens setzte seine Brille wieder auf.
»Wenn ich die Soko ›Da Tore‹ übernehme, werde ich dafür sorgen, dass alle Ermittlungen total abgeschottet verlaufen. Es gibt nämlich nicht nur Polizeibeamte, die Ermittlungen verraten, sondern die Fälle mehren sich bedenklich, in denen Beamte aus der Justiz, der Justizverwaltung bis hin zu Staatsanwälten und Richtern in so was verwickelt sind.«
»Sie haben freie Hand, Simmens«, erklärte der LKA-Chef und sah auf seine Uhr.
»Ich denke, es ist an der Zeit, Sie mit Ihrem neuen Arbeitsbereich bekanntzumachen.«
Gerd Kohn war mit dem Gesprächsverlauf zufrieden. Dieser Spezialfahnder war ein Mann, der neben Fachwissen und Kompetenz die ruhige Kraft und den natürlichen Instinkt besaß, immer so zu handeln, dass ihn die Menschen respektieren mussten. Dazu strahlte er genau die persönliche Anziehungskraft aus, die notwendig war für jemanden, der andere Menschen erfolgreich führen sollte.
Optimistisch gelaunt geleitete Kohn den BKA-Mann aus dem Büro in den 5. Stock des Hauses, in dem die Abteilung für organisierte Kriminalität untergebracht war. Mit den Worten »Ihr neues Reich« zeigte er ihm dort einen langen schmalen Flur mit einer Flucht von Türen links und rechts.
»Hier haben wir unseren Ermittlungsstab für Geld-wäsche eingerichtet.« Kohn deutete auf eine Tür, an der sie gerade vorbeigingen.
»Wie sieht die Trefferquote aus?« fragte Simmens direkt, obwohl ihm klar war, welch heiklen Punkt er anrührte.
»Die Zahl der Verdachtsanzeigen hat sich seit Einführung des Geldwäschegesetzes verzehnfacht. Aber wenn Sie nach der Trefferquote fragen, so muss ich leider eingestehen, dass sie bei Null liegt. In keinem einzigen Fall ist es Hauptkommissar Beckmann bisher gelungen, einen kriminellen Hintergrund innerhalb der vom Gesetz geforderten Zwei-Tages-Frist so zu erhellen, dass eine Beschlagnahmung des Geldes möglich gewesen wäre.«
Simmens war nicht einen Moment überrascht, hatte er doch mit keiner anderen Antwort gerechnet. Wie sollten auch Gewinne von kriminellen Vereinigungen abgeschöpft werden, wenn Ermittler nicht einmal vom Finanzamt Informationen über die finanzielle Lage eines Verdächtigen einholen durften?
»Wenn die Politiker wirklich begriffen hätten«, begann Simmens kopfschüttelnd, »dass das Geld das Lebensblut der organisierten Kriminalität ist, hätten sie auch die Beweislastumkehr im Geldwäschegesetz festgeschrieben.«
Kohn hatte von diesem praxiserfahrenen Mann keine andere Meinung erwartet. Genauso wertete auch er die gegenwärtige Situation.
Sie folgten dem neonbeleuchteten Gang hinunter bis ans Ende.
»Das hier sind die Büros der Soko ›Da Tore‹«, meinte
Kohn und wollte gerade die Klinke herunterdrücken, als die Tür von innen unverhofft geöffnet wurde.
Die junge Frau, die nun erschrocken vor ihnen stand, wich einen Schritt zurück.
»Sehen wir aus wie Gespenster?« fragte der LKA-Chef trocken und trat in das Büro, in dem drei Schreibtische auf engstem Raum beieinander standen.
»Nein, äh, natürlich nicht«, stammelte Sabine Gladisch verdattert und ließ Adrian Simmens dabei keine Sekunde aus den Augen. Ohne Umschweife begann Gerd Kohn mit der Vorstellung der Mitarbeiter.
»Oberkommissar Nowak.« Er wies auf den Mann am Waschbecken, mit lichter Stirn, drahtigem Körperbau und einer auffälligen Narbe über dem linken Auge. »Er hat Ihnen freundlicherweise sein Büro zur Verfügung gestellt. Es liegt gleich nebenan.« Kohn zeigte auf eine Tür, in die eine Milchglasscheibe eingelassen war.
Der Angesprochene nickte Simmens im Spiegel wortlos zu, während er sich mit dem Handtuch die Hände trockenrieb. »Das ist Kommissar Klinger.«
Ein etwa 30jähriger Mann mit Vollbart saß an einem der drei Schreibtische, vor sich einen Stapel Aktenordner.
»Und die junge Dame, die wir eben offenbar erschreckt haben, ist Kommissarin Gladisch.«
Die zierliche junge Frau, an die Kohn sich zuletzt wandte, stand ein bisschen hilflos im Raum und verfolgte gespannt die Szene.
»Und das, meine Dame und meine Herren, ist der neue Leiter der Soko. Hauptkommissar Simmens vom BKA, Abteilung ›OK‹. Er wird unsere Arbeit bis auf weiteres unterstützen.«
Eine bedrückende Stille trat für einige Augenblicke ein.
Simmens, dem von Anfang an bewusst gewesen war, dass er nicht mit Begeisterung empfangen werden würde, ergriff die Initiative.
Mit einem lockeren Schmunzeln meinte er: »Wie sagt ein georgisches Sprichwort: ›Der Baum lebt dank seiner Wurzeln, und der Mensch dank der Gesellschaft.‹ Da ich gerne lebe, würde ich es begrüßen, wenn die Tür ruhig wieder verschwindet, auch wenn Sie sie eben erst mühsam eingehängt haben.«
Wolf Nowak schaute ihn perplex an, so dass er erklärend hinzufügte: »An der Tür sind die gleichen frischen Öl-spuren wie an Ihrem Ärmel.«
Beim Betrachten der Flecken auf seinem weißen Hemd erwiderte Nowak: »Die Tür – wissen Sie, wir …«
»Schon gut.« Simmens zwinkerte ihm gutmütig zu.
»Auch mir ist es wichtig, dass wir ein Team sind.«
Der Oberkommissar lächelte freundlich zurück und krempelte den Ärmel auf, damit die Flecken wenigstens optisch verschwanden.
Erleichtert stellte der LKA-Chef fest, dass damit eine wichtige Hürde genommen war, und hörte ebenfalls aufmerksam zu, was der Neue zu sagen hatte.
»Ich weiß nicht, welche Erfahrungen Sie bei Ihrer Arbeit machen. Ich persönlich habe häufig den Eindruck, dass es mit der organisierten Kriminalität wie mit dem Ozonloch ist. Alle reden davon, niemand kann sie sehen, und in ihren Folgen ist sie verheerend. Etwas, das der einfache Mann auf der Straße vielleicht nur dann merkt, wenn sein schicker Mercedes geklaut wurde oder er die teurer gewordene Autoversicherung bezahlen muss.« Simmens ging zu einem der Tische und setzte sich auf die Kante.
»Schon 1970 stellte man in Italien fest, dass die Mafia in die Planung eines Staatsstreiches, dem sogenannten ›golpe borghese‹, verwickelt war. Verschiebungen der Wählerstimmen bei den Wahlen 1987 gingen auf das Konto der Mafia. Sie verpasste der christdemokratischen Partei damit einen Denkzettel, weil sie sich als unfähig erwiesen hatte, Antimafia-Ermittlungen zu stoppen. Experten führen den Ausstieg Italiens und Englands aus dem internationalen Währungssystem darauf zurück, dass die Mafia die Währungen angeschossen hat. Politiker gestehen selbst zu, dass der Arm der Mafia bis ins Europa-Parlament reicht. Doch Sie und ich, wir wissen, dass dieser Arm uns viel näher ist, als uns lieb sein kann.«
Im Hintergrund nickte der LKA-Chef zustimmend.
»Das BKA spricht von 60.000 Mafiadelikten jährlich in Deutschland. Nehmen wir Mannheim. Allein dort haben sich 500 Bewohner aus Palma di Montechiaro niedergelassen, einer Mafia-Hochburg mit drei Cosa-Nostra-Clans. Sie tragen ständig kugelsichere Westen. Denn die Pistole, die ein Mafiosi bei sich hat, trägt er nicht zur Abschreckung. Er trägt sie, um sie zu benutzen. Und die Cosa Nostra ist nur ein Moloch, der sich Deutschland zur neuen Drehscheibe für seine Aktivität erwählt hat.
Die Antimafia-Kommission in Italien spricht ganz offen von einer sogenannten ›pista tedesca‹, einer deutschen Spur. Deutschland zu einer Filiale machen, das wollen auch die neapolitanische Camorra, die kalabrische ›Ndrangheta‹, die japanische ›Yakuza‹, die chinesischen ›Triaden‹, die sogenannte ›Polen-Mafia‹, die sich auf den Autoklau spezialisiert hat, die ‚Türkische Mafia‹, die ›Russische Mafia' mit ihrem Verkauf von nuklearem Material – und natürlich sind da die kolumbianischen Drogenkartelle. Sie alle tummeln sich auf deutschem Boden wie auf einer Spielwiese und stecken eifrig ihre Claims ab. Und egal, wen wir aufs Korn nehmen, wir haben es bei allen mit brandgefährlichen Gegnern zu tun. Das gilt erst recht für die ›Da Tore'-Angelegenheit und diesen Claudio Fontana.
Italiens Mafiajäger Nummer eins, Giovanni Falcone, hat einmal gesagt: ›Meine Rechnung mit der Cosa Nostra bleibt offen. Ich weiß, dass ich sie nur durch meinen Tod begleichen werde – sei er natürlich oder nicht.‹«
Simmens machte eine Pause. Er brauchte nichts weiter zu sagen, denn an den Gesichtern konnte er ablesen, dass sie alle darum wussten, dass die Rechnung inzwischen beglichen war. Beglichen mit einer Tonne des Sprengstoffs Tritol, die das Leben des Richters Falcone im Bruchteil einer Sekunde ausgelöscht hatte.
Er wandte sich an den LKA-Chef.
»Was wir uns bei unserer Arbeit verstärkt zunutze machen werden, ist die Europol-Zentralstelle in Den Haag. Das Schengen-Dateisystem kann uns Informationen zu Straftätern aus Terrorismus und organisierter Kriminalität liefern, Schmuggelrouten, kriminelle Vorgehensweisen.«
»Gut. Aber das dauert«, warf Wolf Nowak ein. »Bis dahin –
»Bis dahin ist uns ein Verdächtiger bestimmt nicht entwischt«, setzte Simmens den Satz fort. »Binnen 5 Minuten können wir Informationen samt Foto auf unserem Bildschirm haben, die früher Tage oder Wochen über zig Behörden unterwegs waren.«
Der LKA-Chef meldete sich zu Wort.
»Inwiefern kann uns das neue deutsch-italienische Ab-kommen eine Hilfe sein?«