Der Radspitz-Killer - Carlo Fehn - E-Book

Der Radspitz-Killer E-Book

Carlo Fehn

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Mit einem bösen Erwachen endet Hauptkommissar Pytliks erste Teilnahme an der traditionellen Seibelsdorfer Wenzel-Prozession. Seine Freundin findet in einer Scheune der Radspitz-Klause die zerstückelte Leiche des einheimischen Land- und Forstwirtes Josef Kestel. Gleichzeitig wird auf der Radspitze in einem ausgehobenen Grab ein menschliches Skelett entdeckt. Schon nach kurzer Zeit bestätigt sich für die Kronacher Polizisten ein Zusammenhang. Dann geschieht ein zweiter Mord, und Pytlik und sein Assistent Cajo Hermann müssen feststellen, dass sie es mit einem raffinierten Phantom zu tun haben, das den Ermittlern vom Kaulanger immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Mit Hochdruck versuchen sie zu verhindern, dass Der Radspitz-Killer ein weiteres Mal zuschlagen wird.

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Carlo Fehn

Der Radspitz-Killer

Mit einem bösen Erwachen endet Hauptkommissar Pytliks erste Teilnahme an der traditionellen Seibelsdorfer Wenzel-Prozession. Seine Freundin findet in einer Scheune der Radspitz-Klause die zerstückelte Leiche des einheimischen Land- und Forstwirtes Josef Kestel. Gleichzeitig wird auf der Radspitze in einem ausgehobenen Grab ein menschliches Skelett entdeckt. Schon nach kurzer Zeit bestätigt sich für die Kronacher Polizisten ein Zusammenhang. Dann geschieht ein zweiter Mord, und Pytlik und sein Assistent Cajo Hermann müssen feststellen, dass sie es mit einem raffinierten Phantom zu tun haben, das den Ermittlern vom Kaulanger immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Mit Hochdruck versuchen sie zu verhindern, dass der Radspitz-Killer ein weiteres Mal zuschlagen wird.

Der Radspitz-Killer - Hauptkommissar Pytliks elfter Fall

Carlo Fehn

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Copyright: © 2018 Verlag Carlo Fehn

ISBN 978-3-746786-62-9

 

Freitag, 13. August 2010

 

»Bist du sicher, dass es gehen wird?«

Hauptkommissar Pytlik hatte sein Auto am Parkplatz unterhalb der Radspitze in Seibelsdorf abgestellt und seiner Beifahrerin ein letztes Mal fürsorglich die Frage nach ihrem Wohlbefinden gestellt. Mit einer lapidaren Handbewegung wischte sie alle Zweifel beiseite und stieg aus. Ihren Rucksack holte sie danach von der Rücksitzbank, um anschließend hinunter ins Dorf zu blicken. Dann hob sie leicht ihren Arm und schaute auf die Uhr.

»Gut, ein bisschen später als geplant, aber ehrlich gesagt: Heute morgen hätte ich nicht gedacht, dass ich das Bett überhaupt würde verlassen können. Meine Güte! Was ist nur in mich gefahren?«

Es war schon fast 16 Uhr, und auch Pytlik hatte alles aus dem Wagen genommen, was er für den Aufstieg hinauf zur Radspitz-Klause brauchte. Er musste leise lachen, und er fühlte sich immer noch so glücklich wie lange nicht mehr. Schon die ganze Woche war Martina zu Besuch. Die Frau, die er während seines Aufenthaltes am Starnberger See im Vorjahr kennengelernt und in die er sich verliebt hatte.

»Ich denke, es ist ganz gut, dass das mit unserer – wie nennst du es? – unverbindlichen Fernbeziehung so funktioniert wie bisher. Dauerhaft wäre das Bier im Frankenwald wohl nichts für dich.«

Sie ließ es unkommentiert. Sein jetzt lautes Lachen quittierte sie mit Schweigen. Nach einigen Minuten Fußmarsch hatte Pytlik seine Freundin eingeholt und nahm sie im Vorbeilaufen in den Arm. Sie schaute verlegen.

»Mach dir nichts draus! Die Bierprobe ist Jahr für Jahr auch für viele Einheimische immer wieder eine große Versuchung. Dann noch das schöne Wetter! Und dass wir natürlich auch noch Cajo und seine Kumpels getroffen haben…«

»Trotzdem!«, versuchte die blonde Endvierzigerin nichts zu entschuldigen.

»Du weißt, dass ich sonst vielleicht mal ein Glas Wein trinke; auch mal zwei oder drei. Aber wieviel Bier war das?«

Pytlik kniff die Augen zusammen.

»Nach der zweiten Maß hättest du einfach nicht noch mit Cajo an die Cocktailbar gehen sollen!«

»Mist! Da bin ich zum ersten Mal in Kronach auf großer Bühne und dann blamiere ich mich gleich bis auf die Knochen! Super! Wahrscheinlich wissen bei dir in der Dienststelle jetzt schon alle Bescheid!«

Pytlik holte eine Wasserflasche aus der Seitentasche und reichte sie ihr.

»Mach dir da mal keine Gedanken!«

Nach einer guten Stunde erreichte das Paar sein Ziel. Martina wirkte abgekämpft. Der lange Abend auf dem Kronacher Freischießen hatte doch seine Spuren hinterlassen. Sie pustete kräftig durch, als das Plateau erreicht war.

Der Hauptkommissar musste sich eingestehen, schon lange nicht mehr hier gewesen zu sein. Zum Gasthof gehörte ein einladender Biergarten mit herrlichem Weitblick. Das Areal wurde komplettiert von einer großen Scheune auf der anderen Straßenseite, die – so machte es den Eindruck – für ein Fest vorbereitet wurde. Junge Mädchen waren damit beschäftigt, die etwas oberhalb am Hang gelegene Kapelle mit Blumen zu schmücken.

»Ganz schön viel los hier!«, stellte Martina fest, die Ausschau hielt.

An einem freien Tisch nahmen sie Platz, und auch der Hauptkommissar wunderte sich, als er sich setzte. Seinen Rucksack stellte er auf einen Stuhl.

»Scheint irgendein Fest zu sein oder so!«, spekulierte er vor sich hin, als eine rauchige Stimme hinter ihm gleich die Erklärung mitlieferte.

»Grüß Gott, die Herrschaften! Wenn ich helfen darf: Morgen ist die alljährliche Prozession. Ihr seid herzlich eingeladen mitzulaufen.«

Pytlik und Martina schauten sich an und waren erfreut über die unkomplizierte Art des Mannes, der Ende fünfzig zu sein schien. Er stellte sich als Gerhard Hölzer und Eigentümer der Klause vor. Er warf locker zwei Bierdeckel auf den Tisch, und nach einigen kurzen Informationen vorab versprach er, sich gleich um die Beiden zu kümmern.

Wenige Minuten später kam der Wirt zurück und gesellte sich zu Pytlik und dessen Begleitung an den Tisch. »So, ein Weizen für den Herrn, Apfelschorle sauer für die Dame! Zum Wohl!«

Er hatte sich auch ein Bier gezapft und setzte sich etwas schwerfällig auf die Bank. Während sein Körper vom Schatten bedeckt war, ließ er sich die tiefstehende Sonne auf den Kopf scheinen. Er kramte einen Lederbeutel hervor und begann, eine Pfeife zu stopfen. Nach einer kurzen Pause erzählte Gerhard Hölzer.

»Für Seibelsdorf ist das morgen einer der wichtigsten Tage im Jahr. Die Prozession für die furchtlosen Männer – so heißt sie eigentlich – soll in erster Linie an die Tapferkeit der zwölf Bauern und des damaligen Dorfpfarrers Wenzel erinnern.«

Gerhard Hölzer machte eine Handbewegung hinüber zur großen Scheune, in der einige Männer und Frauen die Vorbereitungen weiter vorantrieben. Bänke und Tische wurden abgeladen und aufgestellt. Grills und Kühlschränke, Verkaufstheken und auch Feldbetten standen noch ihren Platz suchend in der Gegend herum.

»Aber Sie wissen ja bestimmt, wie das heutzutage mit traditionellen Festen ist: Nur die ganz Alten wissen noch, was man eigentlich feiert oder wessen man gedenkt. Für die jungen Leute ist es halt ein Fest! Mit Bratwürsten und Steaks, Bier und später härteren Sachen an der Bar. Eben wie anderswo auch!«

Martina war interessiert.

»Erzählen Sie doch – ich meine von den Bauern und dem Pfarrer! Was ist damals passiert?«

Hölzer freute sich über das Interesse der attraktiven Frau. Er zog einmal genüsslich an der Pfeife und prostete den beiden zunächst zu. Dann begann er.

»Die Wenzel-Prozession!«

Hölzer stoppte, drehte seinen Kopf nach links und schaute ins Tal hinab. Für einen Moment schien er abwesend zu sein; sein Blick suchte etwas, das er nicht finden würde. Seine Augen wurden glasig. Seine beiden Zuhörer schauten sich gegenseitig kurz an, um dann gespannt zu lauschen.

»Ja, so heißt sie bei uns eigentlich nur: die Wenzel-Prozession!«

Hölzer drehte den Kopf zurück und schien nun wieder bei der Sache zu sein.

»Es war ein heißer Sommer damals! Es hatte Wochen, Monate nicht geregnet! Die Ernte war verloren, Mensch und Vieh litten! Petrus schien sich gegen uns verschworen zu haben. Ich war damals acht. Eines Tages lief meine Großmutter – Gott hab’ sie selig! – über unseren Hof. Plötzlich stöhnte und ächzte sie, stürzte mit dem Eimer in der Hand vorne über auf den Kopf und lag regungslos da. Man konnte ihr nicht mehr helfen. Hitzeschlag hat man hinterher gesagt. Bei ihrer Beerdigung wurden zwei alte Frauen am Grab ohnmächtig. Es war wie ein Fingerzeig des Schicksals.«

Hölzer zog wieder an der Pfeife und die Flamme des Feuerzeugs verschwand in deren Öffnung. Dann trank er einen Schluck, bevor er weitererzählte.

»Ich werde nie den Gesichtsausdruck von Pfarrer Wenzel vergessen, als er zusammen mit uns Ministranten danach in die Sakristei ging. Ich bin mir sicher, innerlich hat er geflucht. Er hat mit seinem Gott geschimpft und ihm Fragen gestellt. Gefragt, warum er die Menschen so leiden ließ. Es war Samstag, der 13. August 1960. Beim Grabmal in der Wirtschaft stand Pfarrer Wenzel – es war schon spät am Abend – plötzlich auf und schrie in den Saal: Verflucht! Verflucht noch eins!«

Pytlik bemerkte, wie an den Nebentischen der Eine oder die Andere kurz zuckte.

»Der Pfarrer erzählte von einem Traum, den er in der vorherigen Nacht gehabt hatte. Eine Art Erscheinung! Was genau, weiß ich heute nicht mehr! Auf jeden Fall war er fest entschlossen, hier zur Kapelle hochzulaufen, eine Bittandacht zu halten und für jeden Einwohner Seibelsdorfs und symbolisch für alle anderen Menschen, die unter der Dürre litten, eine Kerze anzuzünden. Innerhalb weniger Minuten standen draußen vor dem Wirtshaus die wichtigsten Bauern und der Pfarrer. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen. Bepackt mit Rucksäcken voller Kerzen und etwas Proviant für den Marsch hinauf machten sie sich auf den Weg.«

Hölzer unterbrach und musste zynisch lachen.

»Mein Gott!«, sagte er. »Ist das nicht verrückt?«

Pytlik schaute Martina an, sie ihn.

»Sie wissen tatsächlich nichts davon, oder?«, fragte Hölzer nach. Die Beiden schüttelten gespannt die Köpfe.

»Die Männer sind losmarschiert, mit Fackeln und zügigen Schrittes. Entschlossen, mit einem Zeichen für ihren Herrgott die Leidenszeit zu beenden. Sie waren kaum außer Sichtweite – ich erinnere mich daran noch ganz genau –, da hörte man schon leichtes Donnergrollen. Stellen Sie sich mal vor: Monatelang kein Regen, nicht mal Gewitter hat es gegeben! Und dann…! Als die Männer oben an der Kapelle angekommen waren, hat es Pfarrer Wenzel wohl nicht einmal mehr geschafft, auch nur eine Kerze anzuzünden. Ein Blitz muss mit unglaublicher Wucht eingeschlagen haben. Ich habe den grellen Lichtschweif, der wie ein teuflisches Schwert in den Berg eintauchte, immer noch vor Augen.«

Hölzers Blick war leer, er unterbrach seine Erzählung.

»Wie viele?«, fragte Pytlik trocken, in dessen Stimme man die Ehrfurcht hören konnte. Martina traute sich kaum zu atmen.

»Der Pfarrer und fünf Bauern waren sofort tot. Zwei weitere starben Tage später; nur fünf Männer überlebten mit lebensgefährlichen Verletzungen. Nichts war von da an mehr wie vorher in Seibelsdorf. Das Wetter schlug ab dem nächsten Tag um. Als die Männer beerdigt wurden, schüttete es wie aus Kübeln.«

Am Tisch war es nun ruhig. Hölzer stopfte die Pfeife neu, Pytlik schnaufte einmal tief durch, und Martina quittierte die Geschichte mit Bedauern.

»Und seitdem gibt es jedes Jahr am ersten Samstag nach dem 13. im August zu Ehren dieser tapferen Männer eine Gedenkprozession – heuer zum fünfzigsten Mal. Deswegen wird alles auch ein bisschen größer gefeiert als sonst. Sie sehen es ja!«

Dann stand Gerhard Hölzer unvermittelt auf. So als hätte ihn die Erzählung aufgewühlt, fragte er fast etwas emotionslos, ob die Beiden noch etwas trinken wollten.

»Ich nehme noch ein Weizen. Und du?«

Martina nickte. Hölzer wusste somit Bescheid und ging in die Gaststube.

 

***

 

Die Sonne konnte sich nur noch schwach über den Baumwipfeln halten. Pytlik genoss die Momente mit der Frau, von der er nicht erwartet hätte, dass sie sich so zwanglos und unverbindlich auf eine Fernbeziehung mit ihm eingelassen hatte. Der Biergarten war immer noch gut besucht, und die Vorbereitungen für den nächsten Tag schienen so langsam beendet zu werden. Der Hauptkommissar warf noch einen Blick hinüber auf die Kapelle, der man nicht ansehen konnte, dass sie vor genau fünfzig Jahren komplett zerstört worden war.

»Was überlegst du?«, fragte Martina ihn.

Pytlik hatte die Arme verschränkt und sich gemütlich zurückgelehnt.

»Das ist schon eine unglaubliche Geschichte! Findest du nicht? Gerade, wenn die noch jemand erzählt, der das alles als kleiner Junge hautnah miterlebt hat.«

Dann hielt der Hauptkommissar zunächst kurz inne. Gerhard Hölzer brachte die Getränke an den Tisch und legte die Speisekarte daneben.

»Kein einziges Jahr hat es bisher am Tag der Wenzel-Prozession geregnet. Das hatte ich noch vergessen zu erwähnen.«

Der Wirt schaute Pytlik und Martina dabei an und zwinkerte mit einem Auge. Beide schmunzelten, und Pytlik hatte anschließend noch eine Frage.

»Kann eigentlich jeder mitlaufen und wann geht es morgen los?«

 

***

 

Der Hauptkommissar und seine Liebste hatten sich von der Küche verwöhnen lassen. Nach einem weiteren Bier und netten Gesprächen mit anderen Besuchern war die Zeit fast unbemerkt deutlich fortgeschritten. Die Dämmerung ging bereits in Dunkelheit über, aber Pytlik und Martina war das egal. Der Wirt schaute sich noch einmal nach ihnen um, während die Vorbereitungen für die Prozession am nächsten Tag abgeschlossen wurden.

»Na, wie sieht’s aus? Gefällt’s euch hier bei uns, oder? Es ist schon dunkel. Wenn ihr ins Tal laufen wollt, holt euch drinnen bei meiner Frau doch zwei Taschenlampen, falls ihr selbst keine dabeihabt. Ansonsten sind noch genügend Mitfahrgelegenheiten hier. Fragt einfach! Ich muss noch mal weg. Wir sehen uns dann morgen? Das hatte ich doch richtig verstanden?«

Pytlik zeigte mit dem Daumen nach oben. Martina lag an seinen Oberkörper angelehnt und nickte ebenfalls.

»Fünfzig Jahre Wenzel-Prozession! Da müssen wir dabei sein!«, sagte Pytlik, dem man die Unbeschwertheit in Verbindung mit dem Gerstensaft schon etwas anmerkte.

»Schön!«, zeigte sich Hölzer erfreut.

»Um 21 Uhr ist Abmarsch am Dorfplatz. Seid pünktlich und bringt nach Möglichkeit Fackeln mit. Falls ihr überlegt, morgen drüben in der Halle übernachten zu wollen: Wir haben genügend Decken hier! Also dann bis morgen! Kommt gut nach Hause!«

Pytlik und Martina erwiderten die Verabschiedung.

 

***

 

»Vorsicht! Nicht, dass uns noch jemand über den Haufen fährt!«

Sie hatten sich entschieden, Hölzers Frau um die angebotenen Taschenlampen zu bitten und den Weg hinunter zum Parkplatz zu Fuß zurückzulegen. Ein paar Mal mussten sie Autos, die nach unten fuhren, passieren lassen. Der Hauptkommissar war deutlich angetrunken und Martina etwas genervt von ihm.

»Franz, bitte! Hör auf! Was soll das jetzt? Lass die Fummelei! Willst du jetzt hier mit mir in die Büsche? Also wirklich!«

»Wieso nicht?«, lechzte Pytlik mit kindischem Unterton in seiner Stimme. Und dann war es auch schon passiert! In einem Augenblick der Unachtsamkeit geriet er zu nahe an den Wegesrand und machte daraufhin einen Schritt ins Leere.

»Franz!«, schrie Martina erschrocken, und das Nächste, das sie hörte, waren Flüche und Stöhnen des Hauptkommissars. Mit ihrer Lampe leuchtete sie auf den Körper, der etwa drei Meter weiter unten von einem Gebüsch gestoppt worden war.

»Alles gut!«, beruhigte er sie sogleich. Der Spaß war ihm vergangen.

»Hast du dich verletzt? Mann! Was für eine Kacke!«

Nach einer kurzen Ruhepause meldete sich Pytlik wieder.

»Oh, du kannst ja richtig schimpfen!«

»Bist du in Ordnung? Kommst du da alleine wieder hoch? Ich finde das jetzt nicht mehr lustig!«

»Alles gut! Unverletzt – zumindest scheint nichts gebrochen. Ich komme jetzt wieder hoch!«

Als Pytlik wieder festen Boden auf dem Schotterweg unter den Füßen hatte, nahm er Martina fest in die Arme und entschuldigte sich bei ihr.

»Lass uns jetzt gehen! Ich möchte nach Hause«, sagte sie trocken, und Pytlik konnte das Missfallen in ihrer Stimme nicht überhören. Sie nahm seine Hand und drückte sie ganz fest. Pytlik versuchte, sie zu beruhigen.

»Keine Angst! Uns passiert nichts. Es ist nicht mehr weit bis zum Parkplatz. Alles gut!«

Einige Minuten war nun schon kein Fahrzeug mehr von oben heruntergekommen. Die Schritte der beiden auf dem Weg huschten synchron in die dunkle Nacht. Plötzlich zuckte Martina heftig zusammen und klammerte sich mit beiden Armen an seinen Oberkörper, nachdem sie einen spitzen Schrei ausgestoßen hatte. Auch Pytlik musste sich eingestehen, dass ihn das Geräusch nicht nur erschreckt hatte. Er war auch etwas irritiert.

»Keine Angst! Nur eine Kettensäge!«, konnte er Martina nicht wirklich davon überzeugen, dass dies normal war.

»Nur eine Kettensäge?«

Ihre Angst war in Wut umgeschlagen. Pytlik meinte, sie zittern zu spüren.

»Wenzel-Prozession, Dürre und Blitzeinschlag! Zig Tote! Mir scheint, du ziehst Mord und Unheil regelrecht an, Franz! Und jetzt noch eine Kettensäge mitten in der Nacht! Wie spät haben wir denn? Ist das im Frankenwald so üblich, dass die Menschen erst nachts aus ihren Löchern kommen und das Arbeiten beginnen?«

Pytlik wusste nicht so recht mit dem Vorwurf umzugehen; er wollte die Situation aber nicht noch unnötig befeuern.

»Im Vergleich zu euch in NRW arbeiten manche Menschen hier eben auch manchmal bis in die Dunkelheit, meine Liebe!«

Für einen Moment war Totenstille.

»Es war nicht so gemeint! Entschuldige!«

Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf seinen Oberkörper und küsste ihn dann.

»Ich habe mich nur erschro…!«

Wieder klammerte sie sich an Pytlik fest, diesmal heftiger. Erneut war für einige Sekunden das Geräusch einer Säge zu hören, die sich mühsam abzuquälen schien. Dann wieder Ruhe. Pytlik und Martina gingen weiter. Noch einige Male hörten sie in regelmäßigen Abständen und dann jeweils für einige Sekunden das unheimlich durch den Wald hallende Geräusch.

 

***

 

 

Samstag, 14. August 2010

 

Pytlik hatte das Auto diesmal in der Nähe des Seibelsdorfer Sportplatzes geparkt, zu groß war der Andrang im Ort. Es war kurz vor 21 Uhr, und zusammen mit Martina machte er sich auf den Weg zum Dorfplatz. Nachdem es am Vorabend noch so ausgesehen hatte, dass seiner Freundin der Abstieg von der Radspitze hinunter zum Parkplatz in der Dunkelheit nicht unbedingt Freude bereitet hatte, war er umso überraschter, dass sie seine spontane Entscheidung, an der Wenzel-Prozession teilnehmen zu wollen, ohne jegliche Diskussion befürwortet hatte. Vielleicht lag es auch daran, dachte er sich, dass Martina schon am nächsten Tag wieder abreisen musste, weil sie bereits für die nächste Woche Termine in ganz Deutschland angenommen hatte. Dem Hauptkommissar kam es vor, als wäre die gemeinsame Woche mit ihr wie im Flug vergangen. Umso glücklicher war er jetzt, dass er mit ihr zusammen noch einen gemeinsamen Abend verbringen konnte, auf den beide gespannt waren.

»Das gibt es doch nicht!«, entfuhr es Martina, als sie sich dem Startpunkt für die Prozession näherten. Es waren wohl, so schätzte der Hauptkommissar, als auch er die bereits wartende Menge sah, um die 300 Menschen, die in einer Mischung aus freudiger Erwartung und Aufregung einen deutlich hörbaren, aber nicht unangenehmen Lärmpegel erzeugten.

Etwas abseits blieben beide zunächst einmal stehen, um sich zu orientieren und einen Überblick zu verschaffen. Pytlik ließ seine Augen ringsum wandern, um zu überprüfen, ob möglicherweise Bekannte von ihm auch hier waren.

»Na, irgendwelche Verflossenen von dir?«, fragte Martina neckisch, während sie den Hauptkommissar beobachtete. Der ließ aber nur ein müdes Lächeln folgen, bevor er verneinte.

»Also, was ich so sehen kann, scheint das hier wirklich eine Art Insiderveranstaltung zu sein.«

»Nur weil du niemanden kennst?«

Nachdem Pytlik und Martina sich noch ein wenig durch die Menschenmenge gekämpft hatten, trafen sie ein Pärchen, mit dem sie am Abend vorher in der Radspitz-Klause ins Gespräch gekommen waren. Man begrüßte sich gegenseitig freundlich und hielt ein bisschen Smalltalk, bevor Schlag 21 Uhr die Kirchturmglocken in voller Lautstärke ertönten und sich binnen weniger Sekunden der Prozessionszug in Marsch setzte.

Pytlik hatte sehr schnell das Gefühl, dass die sogenannte Wenzel-Prozession tatsächlich wohl eine Art gemeinsame Wanderung war. Auch wenn er den Hintergrund kannte und vorneweg auch der örtliche Pfarrer mit einem Mikrofon in der Hand in regelmäßigen Abständen Psalmen und Lieder anstimmte, war doch das zu spüren, was Gerhard Hölzer, der Eigentümer der Radspitz-Klause angedeutet hatte. Es war einfach nur ein besonderes Event und am Ende freuten sich alle auf Bratwürste, Steaks und Bier.

»So, jetzt ist es gleich so weit!«, sagte Harald zu Pytlik und Martina, nachdem er wusste, dass die beiden zum ersten Mal an der Prozession teilnahmen und sie schon ein paar Minuten unterwegs waren. Der Hauptkommissar und seine Freundin schauten sich gegenseitig verdutzt an.

»Was genau?«, war Martina neugierig. Haralds Frau deutete mit dem ausgestreckten Arm nach vorne auf die Informationstafel, auf der die Wanderwege rund um die Radspitze eingezeichnet waren.

»Das hat sich irgendwann so eingebürgert und ist dann auch zur Tradition geworden. Wenn man an dieser Stelle vorbeiläuft, zündet man seine Fackel an. Sozusagen weil man dann in die Dunkelheit des Berges eintaucht und als Erinnerung daran, dass die Leute aus dem Dorf vor fünfzig Jahren die Fackeln der tapferen Männer hier zum letzten Mal gesehen haben, bevor sie in den Wald nach oben gelaufen sind.«

Auch wenn Pytlik hinsichtlich des Gedenkens an Pfarrer Wenzel und seine mutigen Bauern aus Seibelsdorf keine besonderen Emotionen spürte, so fühlte er sich doch während der Wanderung auf die Radspitze als ein Teil dieser Gemeinschaft. Es machte ihn glücklich, auch weil er Martina an seiner Seite hatte, die ihm ebenfalls den Eindruck vermittelte, Spaß zu haben. Der Hauptkommissar erzählte unterwegs – als er meinte, gerade die entsprechende Stelle zu passieren – auch von seinem Missgeschick am Vorabend.

»Warte! Das muss ich erzählen!«, unterbrach ihn Martina und konnte sich ein herzhaftes Lachen dabei nicht verkneifen. In der Wandergruppe wurde angeregt geplauscht und hier oder da hatte man auch schon Wegzehrung in Form von Wein oder Spirituosen in den Händen.

»Also«, begann Martina, »er hatte ja schon einiges getankt. Das habt ihr sicher auch gemerkt, als wir gegangen sind. Er hat sich dann ein bisschen zu sehr für mich interessiert anstatt auf seinen Weg zu achten. Und plötzlich…«

»Jetzt sag’ bloß…!«, meinte Ursula, Haralds Frau, zu wissen, was jetzt kommen würde.

»Glaubt ihr kein Wort!«, versuchte Pytlik, Martinas Erzählungen ins Reich der Fabel zu verweisen. Alle vier lachten.

»Ihr könnt euch ja vorstellen, wie mir der Schrecken in die Glieder gefahren ist«, wurde Martina als Erste wieder ernst. Dann fuhr sie fort.

»Ich sage mal: Wenn jetzt hier vielleicht jemand in der Gruppe...«

»... na klar! Aber ihr wart ja alleine!«, grätschte Ursula dazwischen. »Und dann?«

»Lass sie doch mal erzählen, Mensch!«, war Harald ungeduldig und rügte seine Frau.

»Ich war wütend, das kann ich euch sagen! Ich habe innerlich gekocht und mir nur gedacht: Scheiße, was, wenn er sich jetzt vielleicht was gebrochen hat?«

»Habe ich aber nicht, wie man sehen kann!«, sagte Pytlik trocken.

»Naja«, kürzte Martina das Ganze ab, »langer Rede kurzer Sinn: Er hatte Glück im Unglück! Aber als wir dann auch noch – ich war ja eh schon oben durch – in der tiefsten Nacht plötzlich das Geräusch einer Kettensäge aus dem Wald hörten, da war es bei mir aus! Hätte mir da jemand gesagt, dass ich heute schon wieder da hinauflaufen würde, hätte ich ihm mal ganz schön den Vogel gezeigt.«

Pytlik, Harald und Ursula lachten. Der Lehrer, der gebürtiger Seibelsdorfer war und jedes Jahr zur Prozession aus dem Schwarzwald nach Hause kam, bat seine drei Begleiter kurz anzuhalten, und er holte aus seinem Rucksack Plastikbecher und eine Flasche Wein hervor.

 

***

Die letzten Meter hinauf zur Radspitz-Klause hatten es in sich. Wie eine steile Rampe zog sich die schmale Straße bis zum Wirtshaus. Die Stimmung war ausgelassen, und der Pfarrer hatte längst damit aufgehört, in sein Mikrofon zu sprechen. Pytlik, Martina, Ursula und Harald befanden sich ungefähr in der Mitte der Wandergruppe, und als sie das festlich erleuchtete Areal bereits erblicken konnten, hörten sie auch schon, wie – begleitet von rhythmischem Klatschen – erste Gesänge angestimmt wurden.

»Also dann, auf einen schönen gemeinsamen Abend und herzlichen Glückwunsch zu eurer ersten Teilnahme an der Wenzel-Prozession!«

Harald gab Martina und Pytlik die Hand und umarmte beide. Seine Frau tat es ihm anschließend gleich. Danach suchten sich die Vier ein gemütliches Plätzchen. Die Stimmung war ausgelassen. Pytlik schaute sich um und stellte fest, dass die fleißigen Helfer am Abend vorher ganze Arbeit geleistet hatten. Alles war feierlich geschmückt und an mehreren Plätzen konnte man den Rauch sehen, der von den Grillrosten langsam in den Himmel stieg. Der Parkplatz unterhalb der Scheune war komplett mit Bänken und Tischen vollgestellt und in Verbindung mit dem Biergarten und dem Gasthof konnten alle Teilnehmer einen Platz finden. Der Hauptkommissar sah auch Gerhard Hölzer, den Eigentümer der Radspitz-Klause, der bereits damit begonnen hatte, die ersten Getränkebestellungen entgegenzunehmen.

»Puh! Wunderschön! Ich muss wirklich sagen, die Leute haben sich alle sehr viel Mühe gegeben. Es ist hier oben aber auch wirklich schön. Und mit den vielen Lichtern – ganz toll!«, war Martina sichtlich berührt vom Ambiente und der Atmosphäre. Eine freundliche junge Stimme unterbrach sie dann.

»Darf’s bei euch schon etwas sein?«

Pytlik und Harald tranken Bier, die Frauen ließen sich einen Wein schmecken. Nachdem die Gläser das erste Mal leer waren, bemerkten die Vier, dass viele sich von ihren Bänken erhoben und langsam hinauf zur Kapelle liefen. Wenige Minuten später gedachte der Pfarrer in einer kurzen Rede der Männer, die vor fünfzig Jahren hier oben ihr Leben gelassen hatten, weil sie der Dorfgemeinschaft hatten helfen wollen. Der abschließende fromme Wunsch des Geistlichen, den Abend und die Nacht nun in geselliger Runde miteinander zu feiern, wurde anschließend erfüllt.

Nach der schlechten Erfahrung des Vortages hatte Martina irgendwann spontan entschieden, das Angebot zu nutzen und sich zusammen mit Pytlik später, falls es noch notwendig sein sollte, in der Scheune einen Schlafplatz zu suchen und erst am nächsten Morgen wieder hinunterzulaufen ins Dorf. Sie unterhielten sich gut mit Ursula und Harald, Pytlik traf doch noch den einen oder anderen Bekannten und Martina konnte sich nicht darüber beklagen, ab und an beim Getränkeholen von anderen Männern interessiert angesprochen worden zu sein.

 

***

 

 

Sonntag, 15. August 2010

 

»Franz! Franz!«

Martina war vom Schnarchen des Hauptkommissars aufgewacht und spürte gleichzeitig, dass sie einen sehr trockenen Hals und ein großes Durstgefühl hatte.

»Franz!«, zischte sie jetzt forsch und so laut, dass auf den beiden Feldbetten, die gegenüber standen, Harald und Ursula sich bewegten, aber nicht aufwachten. Die Vier waren die Einzigen, die die Übernachtungsgelegenheit in der Scheune genutzt hatten. Martina nahm Pytliks Arm, der um ihre Taille lag, und schob ihn zur Seite. Anschließend richtete sie sich auf und tastete nach ihrem Handy. Die Betten standen im hinteren Teil der Scheune und waren durch einen Bretterverschlag von dem Bereich getrennt, in dem noch wenige Stunden vorher die Tische und Bänke mit feiernden Menschen belegt waren. Nichts war zu hören, und Martina machte sich mithilfe des beleuchteten Displays langsam und mit wackeligen Beinen auf die Suche nach etwas Trinkbarem. Während des Abends hatte sie einmal zufällig beobachtet, wie einige der jungen Leute, die für die Getränke zuständig waren, hier in der Scheune in einem separaten Raum verschwanden.

»Mist!«, fluchte sie leise vor sich hin, als sie alle herumstehenden Kästen daraufhin geprüft hatte, ob noch irgendwo eine volle Flasche zu finden war.

»Das kann doch nicht wahr sein!«, flüsterte sie weiter. »Haben die das wirklich alles gesoffen? Hier muss doch noch irgendwo etwas…«

Hinter einem Kastenstapel gut versteckt und kaum sichtbar, sah sie einen großen weißen Behälter stehen. Da es sehr ruhig war, machte ihr das leise Surren, das sie hören konnte, Hoffnung. Sie bewegte sich langsam in die Richtung und stellte schnell fest, dass es sich um eine Art Kühltruhe handelte. Sie öffnete den Deckel.

»Na, vielleicht finde ich ja hier…«

 

***

 

Pytlik war noch einmal hinübergegangen in die Gaststube der Radspitz-Klause. Im spärlich beleuchteten Raum war es mucksmäuschenstill. Gerhard Hölzer kam aus der Küche gelaufen und hatte eine große Kanne mit Kaffee in der Hand, die er auf den Tisch stellte, an dem Pytliks Freundin Martina, Ursula und Harald saßen. Alle waren eingehüllt in warme Decken und starrten gedankenverloren vor sich hin. Auch ein Arzt war anwesend, der mit Martina sprach und ihr anschließend eine Packung mit Medikamenten auf den Tisch legte.

»Nehmen Sie davon heute Mittag und abends jeweils noch eine! Das sollte Ihren Kreislauf beruhigen und Sie werden dann auch einigermaßen gut schlafen können. Gehen Sie nächste Woche aber bitte dennoch zu Ihrem Hausarzt und lassen Sie sich noch einmal gründlich durchchecken! So ein Erlebnis sollte man nicht unterschätzen, und ich möchte nur ausschließen, dass nicht doch etwas bei Ihnen hängengeblieben ist. Alles Gute!«

Nachdem der Mediziner seine Utensilien in seinem Koffer verstaut hatte, verabschiedete er sich in die Runde und bat Pytlik, noch einmal kurz mit ihm vor die Tür zu gehen.

»Sie sollten das nicht unterschätzen, Herr Pytlik! Achten Sie darauf, dass sie sich noch einmal gründlich untersuchen lässt!«

Pytliks Gesichtsausdruck war ohne Regung. Er nickte nur kurz, gab dem Arzt die Hand und ging dann wieder hinein.

»Was ist nur in dieser Welt los?«, hörte er noch schwach.

Von dem festlichen Lichterglanz, der heiteren Stimmung und dem Duft frisch gebratener Würste und Steaks war nun nichts mehr übrig. Auf dem Parkplatz, auf dem im Verlauf der Nacht bereits nach und nach Bänke und Tische abgebaut und etwas abseits gestapelt worden waren, standen zahlreiche Autos von Polizei und Spurensicherung. Einen Krankenwagen anzufordern, hatte sich Hauptkommissar Pytlik gespart. Der von ihm alarmierte Notarzt war auch nicht notwendig gewesen, um den Tod der bisher unbekannten Person festzustellen, die sich – in mehrere Einzelteile zerlegt – in der Kühltruhe in einem Nebenraum der Scheune befand. Dass ausgerechnet seine Freundin Martina bei ihrem ersten längeren Besuch in Kronach so einen Albtraum erleben musste, machte ihn wütend und fassungslos.