Der Rechtsstaat in Gefahr - Frankfurter Allgemeine Archiv - E-Book

Der Rechtsstaat in Gefahr E-Book

Frankfurter Allgemeine Archiv

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Beschreibung

Dieses eBook ist eine Sammlung der wichtigsten Beiträge aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Rechts- und Verfassungslage im Eindruck der Migrationskrise. Auf 260 Seiten werden die aktuellen Bruchstellen in der Verbindlichkeit der Anwendung von Staats- und Verfassungsrecht aufgezeigt. Gilt in Deutschland noch für alle das gleiche Recht? Die Ausgangsthese dieses eBooks ist die gleichermaßen von Laien und von Rechtsexperten empfundene Gefährdung und Beeinträchtigung des Rechtsstaats durch die Folgen der Flüchtlingskrise. Zum einen besteht diese in der immer weniger abstrakten Gefahr durch eingesickerte islamistische "Gefährder" und zum anderen durch etliche Ereignisse, die man als "Flüchtlingskriminalität" bezeichnen kann. Der bisher schwerste Vorfall in dieser Hinsicht bestand aus einem massenhaften Begehen von Sexual- und Eigentumsdelikten in Köln in der Silvesternacht 2015. Die in der Folge diskutierten geschönten oder unterdrückten Kriminalitätsdaten, die von Seiten der Exekutive kommuniziert wurden, haben zu einem nicht zu unterschätzenden Vertrauensverlust in weiten Kreisen der Bevölkerung geführt. Ein weiterer wichtiger Punkt, der für einige das Gefühl der Rechtssicherheit beeinträchtigte, war die Infragestellung der Verfassungsmäßigkeit des deutschen Grenzregimes durch unterschiedliche Protagonisten, zu denen der bayerische Ministerpräsident Seehofer und einige prominente Verfassungsrechtler gehören. Die F.A.Z. hat zu diesem Thema die besten und wichtigsten Beiträge zu einem eBook zusammengestellt, das einen umfassenden Überblick über die Entwicklungen seit dem Sommer 2015 bietet.

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Der Rechtsstaat in Gefahr

Innere Sicherheit im Zeichen von Terror und Migrationskrise

F.A.Z.-eBook 45

Frankfurter Allgemeine Archiv

Herausgeber: Dr. Jasper von Altenbockum

Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher

Bildredaktion: Henner Flohr

Projektleitung: Franz-Josef Gasterich

eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb und Vermarktung: [email protected]

© 2016 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main

Titelbild: © F.A.Z.-Foto / Barbara Klemm

ISBN: 978-3-89843-422-5

Gleiches Recht für alle?

Dieses eBook ist eine Sammlung der wichtigsten Beiträge aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Rechts- und Verfassungslage im Eindruck der Migrationskrise. Auf den folgenden Seiten werden die aktuellen Bruchstellen in der Verbindlichkeit der Anwendung von Staats- und Verfassungsrecht aufgezeigt. Gilt in Deutschland noch für alle das gleiche Recht? Die Ausgangsthese dieses eBooks ist die gleichermaßen von Laien und von Rechtsexperten empfundene Gefährdung und Beeinträchtigung des Rechtsstaats durch die Folgen der Migrationskrise. Zum einen besteht diese in der immer weniger abstrakten Gefahr durch eingesickerte islamistische »Gefährder« und zum anderen durch etliche Ereignisse, die man als »Flüchtlingskriminalität« bezeichnen kann. Der bisher schwerste Vorfall in dieser Hinsicht bestand aus einem massenhaften Begehen von Sexual- und Eigentumsdelikten in Köln in der Silvesternacht 2015. Die in der Folge diskutierten geschönten oder unterdrückten Kriminalitätsdaten, die von Seiten der Exekutive kommuniziert wurden, haben zu einem nicht zu unterschätzenden Vertrauensverlust in weiten Kreisen der Bevölkerung geführt. Ein weiterer wichtiger Punkt, der für einige das Gefühl der Rechtssicherheit beeinträchtigte, war die Infragestellung der Verfassungsmäßigkeit des deutschen Grenzregimes durch unterschiedliche Protagonisten, zu denen der bayerische Ministerpräsident Seehofer und einige prominente Verfassungsrechtler gehören. Die F.A.Z. hat zu diesem Thema die besten und wichtigsten Beiträge zu einem eBook zusammengestellt, das einen umfassenden Überblick über die Entwicklungen seit dem Sommer 2015 bietet.

I. Das Grundgesetz und die offene Grenze

Seehofers Unrecht

Der CSU-Vorsitzende erweist mit drei Worten der Demokratie einen schlechten Dienst.

Von Jasper von Altenbockum

Wenn Horst Seehofer eine »Herrschaft des Unrechts« erleben wollte, hätte er ein paar Tage länger in Russland bleiben sollen. Er hätte aber auch, um zu begreifen, was er anrichtet, montags einfach einen Ausflug nach Dresden machen können. Auf den Pegida-Demonstrationen glauben viele Leute tatsächlich, sie lebten in einer Diktatur, in einer neuen DDR. Noch viel widersinniger aber ist, dass sich dieselben Leute von Russland und von Wladimir Putin die Rettung vor einer angeblichen Diktatur Angela Merkels versprechen. Seehofer sprach in seinem Interview nicht von einer Diktatur, auch nicht von einem Unrechtsstaat, aber indem er Merkel eine »Herrschaft des Unrechts« vorwarf, begab er sich in die Gesellschaft dieser Leute. Das ist für einen CSU-Vorsitzenden, einen bayerischen Ministerpräsidenten und für einen demokratischen Politiker eine gravierende Instinktlosigkeit.

Über die Politik, die er damit kritisieren wollte, lässt sich trefflich streiten. Ja, es ist bedauerlich, dass »Dublin« als Rahmen der europäischen Asylpolitik ausfällt. Es ist kritikwürdig, dass Migranten und Flüchtlingen mit einer umstrittenen Ausnahmeregelung die Einreise nach Deutschland gewährt wird. Es ist ungenügend, dass sie anschließend nicht immer ordnungsgemäß registriert werden. Und ja, die Politik der Kanzlerin lässt Erfolge vermissen. Es ist allerdings realitätsblind, nicht anerkennen zu wollen, dass es sich dabei auch im zweiten Jahr der Flüchtlingskrise noch immer um die Nebenwirkungen der Notmaßnahmen im Angesicht menschlichen Elends und einer Katastrophe handelt, die sich in Syrien und Umgebung abspielt. Souverän ist, wer diesen Ausnahmezustand besser und besser verwaltet, ohne ihn verhängen zu müssen.

Die Rede vom »Staatsversagen«, vom »Unrecht« und vom »permanenten Rechtsbruch« ist dagegen eine Sackgasse, in die sich die Kritiker der Bundesregierung und auch Horst Seehofer von den Gegnern des »Systems« locken lassen. Sie erklären den Staat, der in der Lage ist, aus humanitären Gründen in kurzer Zeit eine Million Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen, zu einem Merkel-Staat, der nicht mehr als Rechtsstaat funktioniere. Das ist illoyal, unpatriotisch und ein schlechter Dienst an einer Demokratie, deren Repräsentanten jederzeit unter der Kontrolle der Rechtsprechung stehen. Wer hindert irgendjemanden daran, das zu überprüfen? Wer all das, was seit dem Sommer 2015 in Deutschland getan wurde, wie Seehofer und die CSU für verfassungswidrige Politik hält, der sollte endlich in Karlsruhe klagen. Selbst wenn es das Verfassungsgericht dann aber auch so sieht, ist das noch immer nicht ein Ausweis dafür, dass in Deutschland die Herrschaft des Unrechts ausgebrochen ist, sondern, im Gegenteil, dass der Rechtsstaat funktioniert.

Seehofer setzt sich mit seiner unbedachten Äußerung aber auch politisch ins Unrecht. Nicht nur AfD und Pegida freuen sich über diesen Fauxpas. Vier Wochen vor wichtigen Landtagswahlen dem politischen Gegner die gewinnbringende Möglichkeit zu geben, die Kanzlerin und deren Krisenmanagement zu vereinnahmen, ja wie Winfried Kretschmann geradezu anzubeten, das hat es in der Wahlkampfgeschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Der politische Sündenfall Seehofers besteht aber darin, die feindselige Propaganda zu bestätigen, die auf dem Feld wildert, das CDU und CSU seit Jahren freigegeben haben. Damit sägt man an dem staatlichen Ast, auf dem alle Demokraten sitzen. Seehofer reichten für diese, mit Verlaub, Dummheit drei Worte.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2016

© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Alle Rechte vorbehalten.

Zusammenprall der Kulturen

Den Chefs der Sicherheitsbehörden macht Angela Merkels Politik der offenen Grenzen zu schaffen. Laut sagen dürfen sie es nicht. Trotzdem hört man sie gut.

Von Eckart Lohse und Markus Wehner

Das war ein guter Tag für Dieter Romann. Besuch vom Bundespräsidenten bekommen der Präsident der Bundespolizei und seine Truppen schließlich nicht alle Tage. Joachim Gauck war schon am frühen Morgen nach Blumberg nordöstlich von Berlin gefahren. Dort sind etwa 800 Bundespolizisten stationiert. Er sei aus Respekt gekommen, sagte der Bundespräsident, »gegenüber den Menschen, die mit Leib und Leben für innere Sicherheit sorgen«.

Romann dürfte sich gefreut haben. Die Zeiten sind nicht leicht für ihn und seine Leute. Die stehen seit dem September vorigen Jahres an der deutsch-österreichischen Grenze und versuchen, Ordnung in die Flüchtlingsströme zu bringen. Aber die Möglichkeiten, das zu tun, sind begrenzt. Sie dürfen die ankommenden Syrer, Afghanen, Iraker, Eritreer oder Flüchtlinge aus anderen Ländern zwar kontrollieren. Sobald diese aber sagen, dass sie in Deutschland Asyl beantragen wollten, müssen Romanns Leute alle ins Land lassen, mit oder ohne Papiere. Immer wieder ist zu hören, dass das vielen Bundespolizisten schwerfällt, weil sie das Gefühl haben, ihre Arbeit zum Schutz der deutschen Grenzen nicht wirkungsvoll erledigen zu können.

Der politische Streit, ob dieser Umgang mit dem Asylverfahrensrecht überhaupt zulässig ist, hat in Berlin längst die höchsten politischen Ebenen erreicht und wird wohl bald auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen. Nicht nur in der Bundespolizei fragt man sich, wer mit der Flüchtlingswelle noch ins Land kommt. Auch die Verfassungsschützer, die seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 einen wesentlichen Teil ihrer Zeit mit dem Kampf gegen die Ausbreitung des Islamismus in Deutschland verbringen, machen sich Sorgen. Erst vor wenigen Tagen hat der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, darauf hingewiesen, dass es in Deutschland immer mehr Salafisten gebe und dass man schon mehr als 230 Mal festgestellt habe, dass Salafisten Flüchtlinge angesprochen hätten.

Romann und Maaßen sind Beamte, keine Politiker. Wenn sie sich öffentlich äußern, dürfen sie Fakten verbreiten über die Arbeit ihrer Behörden. Politische Entscheidungen zu kommentieren, allemal wenn sie von ihrem Dienstherrn, dem Bundesinnenminister, oder gar von der Bundeskanzlerin kommen, steht ihnen nicht zu. Dementsprechend geben die beiden keine Interviews solcher Art. Dennoch tut man ihnen wohl nicht unrecht mit der Behauptung, dass sie lieber vorgestern als gestern damit begonnen hätten, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen.

Im Berliner Regierungsviertel gibt es genügend Möglichkeiten, auch ohne Interview oder Talkshow-Teilnahme seine Meinung zu verbreiten. Romann sprach kürzlich vor der Führung der SPD-Fraktion im Bundestag und vor der CDU-Landesgruppe Nordrhein-Westfalen über die Möglichkeiten der Grenzschließung durch die Bundespolizei. Im Innenministerium wusste man davon. Die nordrhein-westfälische Landesgruppe ist mit mehr als 60 Mitgliedern die größte der CDU. Anwesend bei dem Gespräch waren führende Innen- und Außenpolitiker sowie Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Romann ist nicht der Typ, der bei solchen Gelegenheiten aus seinem Herzen eine Mördergrube macht. Seit einiger Zeit tauchen in den Zeitungen immer wieder Berichte auf, wie die Bundespolizei sich auf Grenzschließungen vorbereitet. Romanns Name wird dabei nie als Quelle genannt. Auch Maaßen spricht oft mit Abgeordneten und ist wie Romann ein Freund der offenen, gern auch der sehr offenen Aussprache. Wer im politischen Berlin wissen will, wie die beiden denken, muss kein brillanter Rechercheur sein, um es herauszufinden.

Die Auftritte der zwei Präsidenten bleiben dem Bundeskanzleramt nicht verborgen. Dieses ist mittlerweile zur Festung geworden, aus der heraus Angela Merkel mit ihren Getreuen ihr Nein zu Grenzschließungen und der Zurückweisungen von Flüchtlingen gegen eine wachsende Zahl von Kritikern aus den eigenen Reihen verteidigt. Man ist im Kanzleramt nicht glücklich darüber, dass Romann und Maaßen ihre Haltung in vielen Gesprächen mit Parlamentariern kundtun – um das Mindeste zu sagen. Merkels Truppe weiß, dass sie so keine Unterstützung für ihren Kurs bekommt. Wenn nicht sogar das glatte Gegenteil geschieht.

Dieser Tage machte das Gerücht die Runde, Romann und Maaßen seien ins Innenministerium »einbestellt« und an ihre »Loyalitätspflicht« erinnert worden. Eine Bestätigung war dafür nicht zu bekommen, von keinem der potentiell Beteiligten. Mancher bestreitet, dass so etwas stattgefunden habe, andere bleiben vage. Tatsächlich dürfte man sich die Sache nicht als Einbestellung im diplomatischen Sinne vorstellen, als würde der nordkoreanische Botschafter nach einem Atombombentest ins Auswärtige Amt zitiert. Das ist gar nicht erforderlich. Romann und Maaßen sind ohnehin mindestens einmal in der Woche im Bundesinnenministerium und stehen auch darüber hinaus mit dessen Spitze in regelmäßigem Kontakt, sei es nun Minister Thomas de Maizière oder Staatssekretärin Emily Haber. Dabei gibt es genügend Möglichkeiten, auch über Außendarstellung und Öffentlichkeitsarbeit zu sprechen. Dem Vernehmen nach geschieht das.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz teilte mit, »konkrete Gesprächsinhalte« kommentiere man grundsätzlich nicht öffentlich. Doch wolle man die »gute und enge« Zusammenarbeit mit dem Innenministerium betonen und das »sehr gute und vertrauensvolle« Verhältnis Maaßens zu de Maizière. Im Kanzleramt gibt man sich unwissend. Doch heißt es, sollte es zu einem solchen Vorfall gekommen sein, wäre man nicht verwundert.

Das Knirschen zwischen dem Lager der Kanzlerin auf der einen Seite und den Sicherheitsbehörden auf der anderen ist mehr als ein weiteres Rumpeln im politischen Betrieb rund um die Flüchtlingsfrage. Es ist ein Zusammenprall von Kulturen, von unterschiedlichen Prägungen und Überzeugungen. Auf der einen Seite die Führungsleute des Kanzleramtes mit einer starken europäischen Prägung, die teilweise durch langjährige Tätigkeiten in Brüssel ihr Fundament erhielt. Auf der anderen Seite zwei Männer, die im Abstand von wenigen Monaten im Jahr 1962 am Rhein geboren wurden, die sich gut kennen und die seit mehr als zwei Jahrzehnten im Bundesinnenministerium in unterschiedlichsten Verwendungen ihre vornehmste Aufgabe darin sehen, die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten.

Dieter Romann ist zumindest äußerlich der rustikalere der beiden Behördenleiter. Er ist kräftig gebaut, starker Raucher, ein Freund auch schon mal deftiger Worte. Romann wurde 1996 mit einer Arbeit über Recht und Pflicht zur Remonstration im Beamtenrecht promoviert. Er hat eine klare Vorstellung davon, was ein Beamter seinem Vorgesetzten an Widerworten zumuten darf – und sollte. Man darf unterstellen, dass er einer Staatssekretärin oder einem Minister sagt, wenn er die Dinge anders sieht als der Vorgesetzte.

Romanns Werdegang im Bundesinnenministerium seit seinem Eintritt im Jahr 1993 wirkt wie eine systematische Vorbereitung auf die Aufgabe, an der Spitze der Bundespolizei die Flüchtlingsströme zu lenken. So war er schon vor der Jahrtausendwende in der Abteilung für die Angelegenheiten des Bundesgrenzschutzes tätig, aus dem die Bundespolizei hervorging. Dann war er mit dem Asylverfahrensrecht befasst, anschließend in der Abteilung für die Angelegenheiten der Bundespolizei mit »Polizeilichen Grundsatz- und Einsatzangelegenheiten«. Bevor er 2012 Präsident der Bundespolizei wurde, hatte er ein Referat geleitet, das sich mit Terrorismus von Ausländern befasste.

Maaßen, der oberste Verfassungsschützer, hatte sich zur Aufgabe gemacht, sein Haus nach dem Skandal um die rechtsextreme Terrortruppe NSU aus dem Dornröschenschlaf zu wecken und es fit dafür zu machen, sowohl der Polizei als auch der Politik die nötigen Informationen zu liefern. Ziel ist es, die gefährlichen Personen im Bereich des Islamismus wie des Rechtsextremismus in Deutschland zu kennen und auch die Lage so einzuschätzen, dass die Politik davon profitieren kann.

Maaßen verfolgt dieses Ziel mit Nachdruck. Doch nun sieht er sich mit einer Situation konfrontiert, in der seine Behörde keine Übersicht mehr hat, wer sich überhaupt im Land aufhält. Kürzlich suchten seine Beamten eine als gefährlich eingestufte Person und konnten sie nicht finden. Erst über GPS-Tracking entdeckten sie den Gefährder – nach zwölf Tagen. Tausende Illegale sind ein Problem für Behörden, die die Lage im Blick haben wollen. Zugleich hat sein Haus es heute in Deutschland mit einer so hohen Zahl von Rechtsextremisten und Hooligans zu tun, wie es sie in den vergangenen Jahrzehnten nie gegeben hat. Sie radikalisieren angesichts der Flüchtlingskrise auch die Rechtspopulisten und die Wutbürger, die auf die Straße gehen. »Die Abgrenzung zwischen bürgerlichem und extremistischem Anti-Asyl-Protest erodiert«, sagte er dieser Tage. Kein Wunder, dass Maaßen über die Gefahren für die innere Sicherheit höchst alarmiert ist.

Maaßen, äußerlich schmaler als Romann, fast filigran, ist durch und durch Jurist mit Karriere im Bundesinnenministerium. Er ist zugleich ein exzellenter Fachmann für das Thema Asyl. Im Ministerium war er Referatsleiter für Ausländerrecht, er selbst hat das geltende Asylgesetz maßgeblich verfasst. Noch heute hält er als Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin Vorträge etwa zum Ausländerrecht. Für den SPD-Innenminister und »Law and Order«-Mann Otto Schily entwarf er nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die Anti-Terror-Gesetze.

Wenn einer sich mit dem Buchstaben des Ausländergesetzes auskennt, dann er. Manche finden, dass er es mit der Bürokratie bisweilen etwas zu ernst nimmt. Maaßen ist bereit, sich für seine Ansichten ins Zeug zu legen. Als Journalisten der Internet-Plattform »netzpolitik.org« interne Dokumente seines Hauses, nämlich den gesamten Wirtschaftsplan samt einer neuen Einheit zur Erfassung von Massendaten in sozialen Netzwerken, eins zu eins ins Netz stellten, erstattete Maaßen im Juli 2015 Anzeige – auch, weil Kanzleramtschef Peter Altmaier dazu nicht bereit war. Gegen die »Presse« vorzugehen ist ein heikles Unterfangen. Maaßen aber wollte Flagge zeigen, einen Abschreckungseffekt erzielen. Daraus wurde eine Affäre wegen Landesverrats, über die der damalige Generalbundesanwalt Harald Range stolperte.

Im Bundeskanzleramt herrscht eine andere Art zu denken als im Innenministerium und den Sicherheitsbehörden. Hier herrscht eine gewisse Skepsis gegenüber Nachrichtendiensten, die von der Bundeskanzlerin geteilt wird. Für notwendig hält man die Dienste allerdings unbedingt. Angela Merkel hat Klaus-Dieter Fritsche zum Geheimdienstkoordinator gemacht. Der Mann war vorher Staatssekretär im Bundesinnenministerium, ist also bestens mit der Denkweise in diesem Haus vertraut. Doch die wichtigsten Akteure um Merkel ticken anders als die Sicherheitschefs. Kanzleramtsminister Peter Altmaier ist zwar Jurist. Aber der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter am Europa-Institut des Saarlands ist zugleich beurlaubter EU-Beamter. Zu Beginn seiner Karriere vor mehr als 20 Jahren war er in der Europäischen Kommission tätig, kümmerte sich um die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer.

Altmaier, der früh zusammen mit anderen CDU-Politikern den Kontakt zu den Grünen suchte, setzte sich in seiner Partei für eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts ein, suchte den Dialog mit Flüchtlingsverbänden und Kirchen, wandte sich gegen die Haltung des Vatikans zur Bekämpfung der Homoehe. Zwar ist das Innenministerium Altmaier nicht fremd, er war dort von 2005 bis 2009 als Parlamentarischer Staatssekretär tätig. Doch ein Sicherheitspolitiker ist der Vertraute Merkels nicht, sondern eher ein Europapolitiker. Merkels außen- und sicherheitspolitischer Berater Christoph Heusgen kommt ebenfalls aus einem internationalen und europäischen Umfeld. Der Diplomat, der seit einem Jahrzehnt bei Merkel ist, arbeitete im Auswärtigen Amt im Büro des Außenministers Klaus Kinkel und als Leiter der Unterabteilung Europa, bevor er bis 2005 sechs Jahre lang den Politischen Stab von Javier Solana, dem damaligen Hohen Repräsentanten für die europäische Außenpolitik, führte.

Die Leiter der Sicherheitsbehörden gelten im Kanzleramt als Leute, die zu sehr eine nationale Brille tragen, denen auch in der Flüchtlingskrise der Blick auf die europäischen und internationalen Folgen fehlt, die bestimmte nationale Maßnahmen, wie etwa eine Grenzschließung, haben würde. Wenn man nur an die nationale Sicherheit denkt, dann gerät das große Ganze, das europäische Projekt schnell aus den Augen, dann ist auch manche Parole nicht weit, die eher an Stammtischen gepflegt wird – so in etwa ist die Sicht.

Allerdings hat es das Spannungsverhältnis, ja auch Konfrontationen zwischen der Innenansicht und dem globalen Blick schon immer gegeben, vor allem im Innen- und Außenministerium. Angela Merkel hat versucht, dieses Denken in Antagonismen aufzubrechen, auch aus der Erkenntnis, dass sich in einem geeinten Europa und einer globalisierten Welt beide Bereiche nicht mehr voneinander trennen lassen. Sie hat Emily Haber, eine studierte Historikerin, die als Diplomatin unter anderem in Moskau tätig und im Auswärtigen Amt als Staatssekretärin zuletzt für Europapolitik zuständig war, 2014 ins Innenministerium beordert – zuständig für innere Sicherheit, Migration und Integration. Es ging Merkel auch darum, die Kultur des Hauses zu verändern.

Minister de Maizière unterstützte sie in diesem Ansinnen. Hardcore-Leute aus dem Innenressort gegen die Weicheier aus der Außen- oder Sozialpolitik, das sollte der Vergangenheit angehören. Nationales Sicherheitskalkül und das Denken in globalen Kategorien sollten miteinander verschränkt werden, Innen- und Außenpolitik mehr zusammen betrachtet werden. Für die meist männlichen Top-Juristen im Innenministerium war die Ankunft Habers in ihrem Haus ein Schock. Eine Frau, keine Juristin, und dann noch als Vorgesetzte von Männern, die große Apparate führten – das war schwer zu schlucken. Dass Haber durch die fehlende juristische Ausbildung die notwendigen Grundlagen für ihren Job fehlen würden, das wird noch heute von den Sicherheitsleuten allenthalben erwähnt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.2016

© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Alle Rechte vorbehalten.

Ein Geheimerlass zur Öffnung der Grenze?

Der demokratische Staat wird zu Recht als der »Staat der Öffentlichkeit« (M. Jestaedt) bezeichnet. Zwar müssen auch in einer Demokratie bestimmte Geheimnisse gehütet werden, muss das eine oder andere Staatshandeln, um seiner Wirksamkeit willen, dem neugierigen Blick der Öffentlichkeit verborgen werden, wenn das Wohl des Landes nicht gefährdet werden soll.

Von Professor Dr. Christian Hillgruber

Auch der Kern- und Eigenbereich der Exekutive darf nicht ausgeforscht werden, und persönliche Daten genießen den grundrechtlichen Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts.

Aber für Rechtsvorschriften der demokratisch legitimierten Staatsgewalt gilt der Grundsatz der Publizität. Denn im demokratischen Rechtsstaat kann kein legitimes Interesse daran bestehen, die Kenntnis eines von der demokratischen Staatsgewalt zu verantwortenden Rechtsetzungsakts der Öffentlichkeit vorzuenthalten und damit demokratischer Kontrolle zu entziehen. Das staatlich gesetzte Recht gehört definitiv nicht zu den Arcana Imperii.

Rechtsvorschriften, die den Bürger in die Pflicht nehmen, müssen schon deshalb veröffentlicht werden, weil der Bürger sein Verhalten daran ausrichten soll und können muss. Aber auch internes Recht, das sich an nachgeordnete Behörden und Amtswalter richtet und deren Verwaltungspraxis steuern soll (Verwaltungsvorschriften), ist – jedenfalls auf Nachfrage, also bei Geltendmachung eines entsprechenden Informationsanspruchs – dem Bürger mitzuteilen. Selbst der Erlass, das heißt eine als Einzelweisung ergehende Anordnung der Exekutive, die bestimmt, wie in einem Einzelfall zu verfahren ist, unterliegt als solcher keinem Geheimnisschutz. Die Zeit der Geheimerlasse, so dachte man bisher, ist in Deutschland endgültig vorbei. Oder etwa doch nicht?

Zahlreiche Medien haben darüber berichtet, dass das Bundesministerium des Innern Ende August/Anfang September 2015 auf der Rechtsgrundlage des Paragraphen 18 Absatz 4 Nr. 2 Asylgesetz angeordnet haben soll, aus humanitären Gründen von der in Absatz 2 dieser Vorschrift zwingend angeordneten Zurückweisung asylsuchender Ausländer, die aus einem sicheren Drittstaat einreisen, für ankommende syrische (und andere?) Staatsangehörige auszusetzen. Ohne eine solche Anordnung wäre die ungehinderte Einreise der vielen (syrischen) Flüchtlinge offensichtlich gesetzeswidrig; ob mit einer solchen Anordnung die Rechtslage anders zu beurteilen ist, bedürfte genauerer Prüfung. Die aber ist gegenwärtig gar nicht möglich.

Wir wissen nämlich bis heute nicht genau, ob eine solche Anordnung tatsächlich ergangen ist, in welcher Form und welchen genauen Inhalt sie hat. Wer ist, wenn es sie denn geben sollte, ihr Adressat, für welchen Personenkreis gilt sie und wie lange? Mit Recht hat Udo Di Fabio in seinem für die Bayerische Staatsregierung erstatteten Gutachten moniert, dass es an der öffentlichen Bekanntmachung eines so wesentlichen Beschlusses fehlt. Die Bürger darüber in Unkenntnis zu lassen ist angesichts der rechtlichen und tatsächlichen Tragweite dieser Anordnung ebenso unbegreiflich wie demokratisch unerträglich. Das Bundesinnenministerium behandelt die Frage wie eine geheime Kommandosache und hält die Bürger hin, die einen auf das Informationsfreiheitsgesetz gestützten Auskunftsanspruch geltend machen. Will es sich allen Ernstes verklagen lassen? Auf Abgeordnete der Koalitionsfraktionen soll, wie aus der Unionsfraktion zu hören ist, massiver politischer Druck ausgeübt worden sein, damit sie es unterlassen, diesbezügliche Anfragen an die Bundesregierung zu richten; solche Anfragen, so wurde zudem signalisiert, würden in der Sache ohnehin nicht beantwortet.

Auch über die angebliche Ausübung des sogenannten Selbsteintrittsrechts nach Artikel 17 der Dublin-III-Verordnung, mit der erst die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung der Asylverfahren der ins Land gelangten Flüchtlinge begründet worden sein könnte und die – sofern sie stattgefunden haben sollte – doch wohl den anderen Mitgliedstaaten der EU und der Kommission notifiziert worden sein dürfte, kann derzeit mangels Kenntnis nur spekuliert werden. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Weder Bürger noch Abgeordnete sollten sich von der Geltendmachung und, wenn notwendig, gerichtlichen Durchsetzung ihrer Informationsansprüche abhalten lassen. Denn sie erweisen der Demokratie und dem Rechtsstaat damit einen Dienst.

Die Flüchtlingskrise entwickelt sich zunehmend zu einer Krise des Rechts und der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. Von vielen ist die Rückkehr zum geltenden Recht angemahnt worden. Damit die Befolgung des Rechts eingefordert werden kann, muss zuerst Auskunft über das Recht gegeben werden. Wir alle haben zunächst einmal und vor allem anderen einen Anspruch darauf zu wissen, welches Recht hier überhaupt gilt. Wenn die Bundesregierung meint, sie habe rechtliche Trümpfe in der Hand, dann darf sie diese nicht im Ärmel verstecken; dann muss sie sie ausspielen, also endlich die Karten auf den Tisch legen.

Professor Dr. Christian Hillgruber lehrt öffentliches Recht an der Universität Bonn.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.01.2016

© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Alle Rechte vorbehalten.

Es geht um Deutschland

Die Sicherung der Grenze muss der Beginn einer neuen Politik sein. Das ist unabdingbar.

Von Reinhard Müller

Wer will das noch erklären? Die Bundespolizei weist schon jetzt Flüchtlinge an der Grenze ab – aber nur die wenigen, die ausdrücklich erklären, in Schweden Asyl beantragen zu wollen. Alle anderen werden weiterhin nach Deutschland hereingelassen, obwohl auch sie keinen Anspruch darauf haben. Und das sind immer noch etwa dreitausend Personen am Tag.

Dabei zeigt sich immer mehr, dass die Bundesregierung nicht auf europäische Solidarität setzen kann. Und es hat bisher offenbar auch nicht viel gebracht, auf die Türkei zu setzen, wo jetzt deutsche Urlauber bei einem Terroranschlag in Istanbul getötet wurden. Keine Frage: Deutschland muss weiter helfen. Deutschland muss aber auch sich selbst helfen.

Es gibt keinen Grund zu Panik, und es darf schon gar nicht gehetzt werden. Aber es gibt allen Grund zu handeln. Die jetzt beschlossenen Erleichterungen zur Ausweisung straffälliger Ausländer sind ein erfreuliches Signal. Doch allein dadurch verlässt niemand das Land. Die Bundesregierung will jetzt »alles dafür tun, durch verbindliche Vereinbarungen mit den Herkunftsländern die tatsächliche Abschiebung von Straftätern zu erleichtern«. Aber das liegt eben nicht (allein) in ihrer Hand.

Der Bundesjustizminister will – erfreulicherweise – sicherstellen, dass Migranten nicht unter Generalverdacht geraten, und deswegen klar unterscheiden: Die »vielen rechtstreuen Flüchtlinge, die bei uns Sicherheit und Zuflucht suchen, müssen wir schützen. Gegen kriminelle Ausländer aber müssen wir sehr entschlossen vorgehen.« Aber das Hauptproblem sind doch die »vielen rechts-treuen Flüchtlinge«, von denen wir übrigens gar nichts wissen, offenbar nur, dass sie rechtstreu sind. Das ändert aber nichts daran, dass nur die wenigsten von ihnen nach europäischem wie deutschem Recht hierzulande einen Asyl- oder Schutzanspruch haben. Gleichwohl wird weiterhin fast jeder hereingelassen, und wer da ist, soll integriert werden – ohne dass sich der Souverän je dazu geäußert hätte. Dazu passt, dass weit mehr als eine halbe Million von Asylanträgen noch gar nicht bearbeitet ist. Besonders rechtstreu geht man mit den rechtstreuen Flüchtlingen also nicht um.

Wozu führt das? »Die innere Sicherheit ist gefährdet, soziale Spannungen drohen die Gesellschaft zu spalten. Geltendes Recht wird nicht beachtet.« Diese Sätze stammen nicht aus dem Aufruf einer Bürgerwehr, sondern aus einem aktuellen Positionspapier der Bayerischen Staatsregierung. Das mag die Bundesregierung nicht beeindrucken, schließlich ist die Flüchtlingskrise im Alltag der allermeisten Deutschen noch gar nicht angekommen. Berlin ist allerdings schon mit der humanen Unterbringung von 40 000 Flüchtlingen überfordert. Hätte die Hauptstadt die gleiche Last zu schultern wie manche Kommune, müsste sie sieben Millionen Migranten aufnehmen. Dann sähe die Flüchtlingspolitik auch der Bundesregierung wohl etwas anders aus.

Oder kann Bundeskanzlerin Merkel nur nicht hinter ihr »Wir schaffen das« zurück? Abgesehen davon, dass es hier nicht um einen möglichen Gesichtsverlust einer Politikerin, sondern um das ganze Land geht, wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, um zu sagen: Wir helfen weiter, wie wir können, wir haben alles versucht, um die Krise europäisch zu lösen. Jetzt muss die Grenze gesichert werden, um unseren Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten. Das können wir wirklich schaffen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.2016

© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main. Alle Rechte vorbehalten.

Exzeptionelle Erschütterung

Bayern will mit einem Gutachten Udo Di Fabios zur Grenzsicherung Druck auf Berlin machen

Von Reinhard Müller

Bayern hat einen weiteren Pfeil gegen den Bund im Köcher. Das Gutachten des früheren Bundesverfassungsrichters Udo Di Fabio trägt den Sach- und Rechtsstand zur Flüchtlingskrise pointiert zusammen – so, wie er schon gelegentlich dargestellt wurde, und so, wie sich das die Bayerische Staatsregierung erhofft haben dürfte. Di Fabio hatte allerdings von vornherein klargemacht, dass er Bayern nicht vor dem Verfassungsgericht vertreten würde – aber es ist ohnehin unklar, ob es je zu einer Klage des Freistaats gegen den Bund wegen dessen Öffnung der Grenzen und seiner folgenden Untätigkeit kommt. Die Klage bleibe für Bayern eine Option, sagt Justizminister Winfried Bausback. Noch im Januar will der Freistaat ein förmliches Schreiben nach Berlin schicken. Die bayerische Regierung hebt vor allem hervor, dass der Grundsatz der Bundestreue auch bedeute, dass der Bund die Handlungsfähigkeit der Länder gewährleiste.

Di Fabio selbst schreibt am Ende zu den Erfolgsaussichten eines Bund-Länder-Streits vor dem Bundesverfassungsgericht, es liege innerhalb eines »nur begrenzt justiziablen politischen Gestaltungsermessens des Bundes, was getan werden muss, um ein gemeinsames europäisches Einwanderungs- und Asylrecht wiederherzustellen oder neu zu justieren«. Zurzeit deute einiges darauf hin, »dass das Mindestmaß an politischen Aktivitäten durch den Bund diesbezüglich noch unterschritten ist«. Wenn also (noch) keine Klage eingereicht wird, so bleibt nur der Druck der Fakten und Argumente.

Der Bonner Staatsrechtslehrer spricht in seinem Gutachten im Auftrag der Bayerischen Staatsregierung davon, dass »im europäischen Gefüge eine besorgniserregende Spannungslage eingetreten« sei. Der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist demnach »akut gefährdet und eine rechtmäßige Behandlung Einreisewilliger ist ebenso wenig gewährleistet wie die vorgeschriebene Unterbringung und Verteilung von Menschen, denen aus humanitären Gründen ein Bleiberecht zusteht«. Die im europäischen System vorgesehene faire Verteilung der Lasten »stößt sich hart im Raume mit den politischen Bedingungen mitgliedstaatlicher Demokratien«. Insofern bedeute die Migrationskrise – einschließlich der durch das Verhalten der Bundesregierung möglicherweise (mit)verursachten Entwicklung – »eine exzeptionelle Erschütterung des europäischen Verbundgefüges«.

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter kommt zu dem Ergebnis, dass eine »Rechtspflicht des Bundes«, »namentlich der Bundesregierung« bestehe, »darauf hinzuwirken, eine funktionsfähige, vertragsgemäße europäische Grenzsicherung (wieder)herzustellen und ein System kontrollierter Einwanderung mit gerechter Lastenverteilung zu erreichen«. Zudem müsse »darauf gedrängt werden (auch mit Hilfe europäischer Solidaritätsmaßnahmen) eine den humanitär vorgeschriebenen Standards entsprechende Unterbringung und Verfahrensbehandlung in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen, damit Gründe für das Selbsteintrittsrecht und gegen die Rücküberstellung in den zuständigen Mitgliedstaat entfallen«.

Zudem sei »fraglich, ob eine gesetzliche Regelung, die für eine erhebliche Fallzahl eine praktisch unkontrollierte Einreise in das Bundesgebiet erlaubte, überhaupt mit dem Demokratieprinzip vereinbar wäre«. Die buchstäbliche Offenheit des Grundgesetzes für die europäische Integration und die internationale Friedenssicherung ändere nichts daran, »dass Demokratie nur funktionieren kann, wenn ein Staatsvolk mit einem entsprechenden klar definierten Bürgerrecht identifizierbar und in Wahlen und Abstimmungen praktisch handlungsfähig ist. Insofern muss das Staatsvolk einerseits über die Bevölkerungszusammensetzung und über die Regeln zum Erwerb oder Verlust der Staatsangehörigkeit mit dem Gesetz im formellen Sinne entscheiden, andererseits darf es dabei nicht die praktische Möglichkeit parlamentarischen Regierens und demokratischen Entscheidens bei elementaren Fragen der politischen Gemeinschaft aufgeben.« Da die »teilweise praktisch ausgefallene Grenzsicherung und Einreisekontrolle mit allen dramatischen Folgen für die von den Ländern zu leistende Unterbringung und ihre Rechtsverantwortung für die betroffenen Menschen auch eine Folge des Zusammenbruchs des europäischen Schengen- und Dublinsystems« sei, laste auf dem Bund auch im essentiellen Interesse der Länder »eine verfassungsmäßige Pflicht zur Korrektur im Rahmen der Integrationsverantwortung«.

Die Bundesregierung könne sich durchaus darauf berufen, dass bestimmte Maßnahmen, wie die bessere Sicherung der Außengrenzen oder der subsidiär gestaffelte Aufbau von Grenzsicherungsanlagen zwischen den Mitgliedstaaten, die praktisch einen Transitweg nach Deutschland bilden, erst nach einem gewissen Zeitraum wirken können und insofern die Entwicklung noch beobachtet werden dürfe. Sollten solche Maßnahmen allerdings nicht ausreichen, um die bis dato bestehende exzeptionelle Situation wieder kontrollierbar zu machen, werde auch der Bund dann aus dem praktischen Scheitern der gemeinsamen europäischen Einreisekontrolle heraus »verfassungsrechtlich verpflichtet sein, wirksame eigene Grenzsicherung an der Bundesgrenze zu betreiben«.

Di Fabio hebt hervor, dass das Grundgesetz die Beherrschbarkeit der Staatsgrenzen und die Kontrolle über die auf dem Staatsgebiet befindlichen Personen voraussetze: Der Bund dürfe zur Sicherung der Staatsgrenzen Hoheitsrechte auf die EU übertragen, bleibe aber im Falle des »nachweisbaren Leistungsverlusts europäischer Systeme« in der Verantwortung für die »wirksame Kontrolle von Einreisen in das Bundesgebiet«. Der Bund ist demnach aus verfassungsrechtlichen Gründen verpflichtet, »wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist«.