Der Schlangenbaum - Uwe Timm - E-Book

Der Schlangenbaum E-Book

Uwe Timm

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Beschreibung

Wagner, Spezialist für Hoch- und Tiefbau, sieht die Chance eines Neubeginns, als seine Firma ihm die Bauleitung einer Fabrik in Südamerika überträgt. Aber bald wird er zum Gefangenen der praktischen Probleme vor Ort. Nichts gelingt mehr, das vertraute Instrumentarium seines Denkens, Fühlens und Handelns versagt. Während er durchgreift, wird seine Ohnmacht offenbar, und als die Regenzeit beginnt, erobert die Natur mit dem steigenden Grundwasser das ihr entrissene Terrain zurück. Timms Roman, mit der lebendigen Spannung des Abenteuer- und Entwicklungsromans erzählt, hat zugleich die erzählerische Strenge der Parabel. Die selbstgewissen Versuche der Europäer, sich das Fremde anzueignen und ihre Zivilisation auf der Erde auszubreiten, führen zu einem stummen Prozess ihrer »Austreibung«, die apokalyptische Schrecken heraufbeschwört.

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Seitenzahl: 402

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Uwe Timm

Der Schlangenbaum

Roman

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Uwe Timm

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

MottoKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Hinweis
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Unsere ohnmächtigen Anstrengungen gehören ebenso zur allgemeinen Ordnung wie die erfolgreichen.

Denis Diderot an die Wand seines Kerkers in Vincennes

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1

Der Beton dampfte. Das Regenwasser stand noch auf der Piste, und im Westen türmten sich blauschwarz die Gewitterwolken, durch die sie geflogen waren. Die Maschine hatte, nach einem unruhigen und durch Böen verwackelten Anflug, sanft aufgesetzt und war zu dem Flughafengebäude hinübergerollt. Als die Türen geöffnet wurden, drang langsam diese feuchtschwere Hitze in die Maschine, der Geruch nach Kerosin und Algen. Wagner glaubte, den Fluss und die nahen Sümpfe zu riechen.

Er stieg als Erster aus und ging zu der Ankunftshalle hinüber, einem kleinen schäbigen Flachbau. Schon nach wenigen Schritten war sein Hemd durchgeschwitzt, die Hose klebte ihm an den Beinen. In der Gepäckausgabe drehten sich leer die Transportbänder. Er lehnte sich an einen Pfeiler und zündete sich eine Zigarette an. Rauchend beobachtete er die Passagiere, die an das Gepäckband drängten, irgendwelche Geschäftsleute, Ingenieure und Manager, ein paar sorgfältig frisierte Frauen, dunkelhaarig und braun gebrannt. Er war ein wenig enttäuscht, denn er hatte sich die Menschen anders vorgestellt, verwegener im Aussehen, mit indianischen Gesichtszügen. Diese hier hätten in ihren Anzügen und Kostümen, in denen sie trotz der Hitze so erstaunlich frisch wirkten, auch in Rom oder Madrid stehen können. Nur die Passagiere, die mit ihm, aus Frankfurt kommend, in Buenos Aires umgestiegen waren, fielen auf: bleiche verschwitzte Gesichter, nach zweiundzwanzig Stunden Flug.

Gestern, am frühen Morgen, war er im Taxi zum Hamburger Flughafen gefahren. An den Straßenrändern lagen noch, dreckig grau, die Reste des Schnees, der nachts gefallen war. Beim Frühstück hatte er mit Susann all jene Dinge durchgesprochen, die sie in den nächsten Tagen noch erledigen musste. Sascha hatte zunächst noch etwas gequengelt, weil er nicht mit zum Flughafen durfte, dann trank er still seinen Kakao und wollte wissen, ob es dort, wo Wagner hinfuhr, Papageien gäbe. Wagner versprach, ihm das sofort zu schreiben, stand dann auf, bestellte ein Taxi, trug die Koffer zur Tür, prüfte nochmals seine Papiere und ging in den Garten hinaus. Er stand auf der Terrasse und blickte in dieses Grau, aus dem ein stiller Regen fiel. Das Brennholz, das er für den Kamin geschlagen hatte, lag sorgfältig aufgestapelt an der Hausmauer. Die kleine Holzhütte unter dem Birnbaum, die er für Sascha gebaut hatte, war nun doch nicht mehr fertig geworden. Es fehlten die Fenster, und die Tür war nur provisorisch eingehängt. Ihn fröstelte. Er war wieder ins Haus gegangen. Wenig später hatte es geklingelt. Das Taxi war da.

In die wartenden Passagiere kam eine plötzliche Bewegung. Auf dem Transportband erschienen die ersten Gepäckstücke, darunter auch sein großer Aluminiumkoffer. Er hob ihn vom Band und wartete, bis auch der andere, etwas kleinere, kam.

Berthold hatte ihm empfohlen, beim Zoll eine Zehndollarnote in den Pass zu legen. So könne man das lästige Aus- und Einpacken vermeiden. Aber in der Firmenleitung hatte man ihm gesagt, er müsse sich keine Gedanken machen, es reiche aus, wenn er den Firmenbrief mit der Arbeitsbestätigung vorzeige.

Wagner stand beim Zoll hinter einer älteren Frau. Sie war ihm schon in Frankfurt aufgefallen, weil sie einen breitkrempigen Strohhut trug, den sich Reisende sonst aus Südamerika mitbringen.

Jetzt redete sie auf Spanisch auf den Zollbeamten ein, der mit gleichmütigem Gesicht verschiedene Pillendosen aufschraubte und auf dem Tisch ausschüttete, wo schon Wäsche und Kleidungsstücke verstreut lagen.

Der Zöllner machte eine unwirsche Handbewegung: Die Frau solle alles wieder einpacken. Er kam zu Wagner, las den Firmenbrief und machte mit Kreide ein Zeichen auf den Koffer. Wagner durfte durchgehen.

Am Ausgang drängten sich Menschen, die auf die Ankommenden warteten. Unter ihnen entdeckte er einen großen, rotblonden Mann, der ein Stück Pappe hochhielt mit der Aufschrift: Wagner.

Wagner winkte ihm. Der Mann zwängte sich durch die Wartenden und sagte etwas, was nach Guten Morgen klang, dann gab er Wagner die Hand, eine extrem große, fleischige Hand. Er warf das Pappschild in einen Papierkorb, griff sich sodann die beiden schweren Koffer und trug sie, fast mühelos, aus der Flughafenhalle.

Sie gingen zu dem Parkplatz hinüber. Der Asphalt gab weich unter dem Schritt nach, und über den Autodächern flimmerte die Luft. Ihm lief der Schweiß über die Stirn und durch die Brauen brennend in die Augen. Er bereute es, kein Stofftaschentuch eingesteckt zu haben, denn sein Papiertaschentuch war nur noch ein kleines fusselndes Knäuel.

Auf einem Gerüst, vor der Ankunftshalle, schrieb eine meterhohe Leuchtreklame den Namen seiner Firma grellrot in den Himmel und legte zum Schluss in Gelb das ovale Firmenzeichen herum.

Der Chauffeur öffnete die Fondtür eines alpinweißen Mercedes. Wagner stieg in eine angenehme Kühle und ließ sich in die Polster fallen. Die Klimaanlage lief mit einem leisen Fauchen. Der Chauffeur legte die Koffer in den Kofferraum, ging um den Wagen, griff in die Jackentasche und steckte den Mercedesstern auf den Kühler.

Sie fuhren auf einer breiten Betonstraße. Rechts und links erstreckte sich eine graubraun vertrocknete Graslandschaft, in der ein paar zerzauste Palmen und staubbedeckte Eukalyptusbäume standen. Dazwischen, versumpft und mit dichtem Schilf bestanden, Lagunen, aus denen schwerfällig, vom Motorgeräusch aufgeschreckt, Reiher hochruderten. An den Sumpfrändern lange weiße Streifen wie Schnee, die aber plötzlich zu einer weißen Wolke aufflogen: Schmetterlinge. Am Straßenrand wälzte der Wind Staubwolken entlang und trieb Papierfetzen und Plastikmüll über die Fahrbahn. Hin und wieder standen Häuser an der Straße, kleine weiß getünchte Steinhäuser, mit verschachtelten Dächern. Viele Lastwagen waren unterwegs und ein paar Überlandbusse. Einmal musste der Chauffeur um ein totes Pferd herumfahren, das auf der Straße lag und dem bläulich schwarze Gedärme aus dem After gedrückt worden waren. Ein wenig später war der Geruch von Aas im Auto.

Der Chauffeur begann plötzlich auf Wagner in einer Sprache einzureden, die der zunächst für Dänisch oder Holländisch hielt, bis er hin und wieder Worte verstand und langsam begriff, dass es Deutsch war, ein ganz eigentümlicher, nie gehörter Dialekt. Er wünschte sich, der Mann hätte kein Wort Deutsch gekonnt, er hätte dann mit ein paar Brocken Spanisch seinen Verständigungswillen andeuten und danach schlafen können. So aber saß er weit nach vorn gebeugt, angestrengt lauschend, um den Sinn der so fremd klingenden Worte zu erfassen. Was er herauszuhören glaubte, war, dass eine deutsche Firma diese Straße hätte bauen sollen, was aber durch irgendwelche Machenschaften verhindert worden war. Offenbar hatte dann eine einheimische Baufirma die Straße gebaut, in der jetzt – je weiter sie sich vom Flughafen entfernten – immer mehr und immer größere Risse klafften, regelrechte Schluchten, die der Fahrer jedes Mal an der schmalsten Stelle überfuhr. Offensichtlich kannte er den Weg genau, denn er fuhr diese Stellen gezielt an, dann rumpelte es.

Prende, rief der Mann, Prende.

Wagner schreckte hoch. Was?

Prende, rief der Mann und gestikulierte.

Ah, ja, sagte Wagner.

Aber der Mann blieb hartnäckig: Prende alleens doo.

Wagner beugte sich nach vorn und sah in die Richtung, in die der Mann zeigte. Da entdeckte er die Feuerwalze auf dem graubraunen Grasland, eine kleine gelbbraune Rauchwolke vor sich herschiebend, dahinter lag eine schwarz verbrannte Fläche, in der einzeln stehende Bäume wie Fackeln brannten.

Er fragte den Fahrer, wo er sein Deutsch gelernt habe. Der Fahrer erzählte, wenn Wagner ihn richtig verstand, dass sein Urgroßvater, aus dem hessischen Hanau kommend, hier eingewandert sei, ein Gerber, der sich bei Salta, am Fuß der Anden, niedergelassen habe, und zwar in einem kleinen, abgelegenen Ort. Die Familie habe, trotz Einheirat von Einheimischen, an ihrem Deutsch festgehalten.

So war also ein, wenn auch nur von dieser Familie gesprochener, hessischer Andendialekt entstanden.

Aba di Kindala babbala kan Detsch, no, lodá, lodá.

Der Fahrer bremste, fuhr auf die Bankette, stieg aus, stellte sich vor den Wagen und pinkelte.

Wagner hatte die ganze Zeit das Gefühl, in die falsche Richtung zu fahren. Er hatte sich zu Hause auf einer Landkarte genau die Strecke eingeprägt, die zur Baustelle führte. Er hatte sich die Landschaft hügeliger vorgestellt. Vor allem aber fuhren sie in südöstlicher statt in nordwestlicher Richtung. Ihn durchzuckte der Gedanke, dass er entführt würde, so wie einer seiner beiden Vorgänger auf der Baustelle entführt worden war, aber dieser Gedanke war, wenn er sich den andenhessisch sprechenden Fahrer ansah, lächerlich. Als sie weiterfuhren, fragte Wagner, ob diese Straße zum Meer führe.

Naa, sagte der Fahrer, ins Landesinnere (er sagte: Ladinerè).

Aber wir fahren doch nach Südosten, sagte Wagner.

Naa, Nordwesten.

Wagner glaubte, dass die Familie in ihrer langen Abgeschiedenheit die Benennung der Himmelsrichtungen vertauscht habe. Wagner zeigte zur Sonne: Süden.

Naa, Norden, sagte der Mann.

Wagner beschrieb mit einer Handbewegung den Lauf der Sonne.

Naa, sagte der Mann und zeigte eine andere Linie.

Erst jetzt wurde Wagner klar, dass er hier die Sonne in einem anderen Blickwinkel hatte. Er würde umdenken müssen.

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2

Am späten Nachmittag erreichten sie die Stadt. Wagner hatte fast vier Stunden geschlafen. Als er aufwachte, fuhren sie durch eine rotbraune staubige Ebene, in die der Regen tiefe Rinnen gewaschen hatte. Dann kam ein Zementwerk, daneben standen vierstöckige kastenförmige Häuser, Neubauten, die wie Ruinen aussahen. Hier wohnten offenbar die Arbeiter des nahe gelegenen Zementwerks. Die Häuser standen in einer Senke, in der vom letzten Regen das Wasser stehen geblieben war. Frauen wateten darin herum, ein Mann balancierte auf einer Bohle zu einem Hauseingang. Kinder paddelten auf zusammengebundenen Benzinkanistern von Haus zu Haus. Was für eine idiotische Planung, dachte Wagner, die Häuser in dieser Senke zu bauen. Ein paar Hundert Meter weiter hätten sie auf dem Trockenen gestanden.

Sie fuhren an Hütten und kleinen Behelfshäusern vorbei und kamen in den älteren Teil der Stadt. Die Häuser hier waren meist zweistöckig, hatten schwungvolle Voluten an der Dachbalustrade und waren wahrscheinlich um die Jahrhundertwende gebaut worden. Von den Fassaden war der Putz flächig abgefallen, Gesimse waren abgebrochen, in den hölzernen Fensterläden fehlten Traljen. Aus den Innenhöfen ragten Palmen, grau überpudert vom Staub des nahen Zementwerks und zerzaust wie riesige Klosettbürsten. Vor den Häusern, im Schatten, saßen Frauen, die Wäsche stopften und Gemüse putzten. Eine alte grauhaarige Frau saß an einer Tret-Nähmaschine auf dem Bürgersteig. Eine Horde Kinder kämpfte um einen Fußball.

Sie fuhren über einen Platz, in dessen Mitte ein Reiterdenkmal aus Kupfer stand, ein Mann, der auf einem sich aufbäumenden Pferd seinen Säbel in den Himmel stieß.

San Martin, sagte der Fahrer, da Freiheitshold.

Hinter dem Platz erhoben sich drei, vier neuere Hochhäuser. Vor dem ersten, in dessen honigfarbenem Glas sich die untergehende Sonne spiegelte, hielt der Fahrer, stieg aus und öffnete den Wagenschlag. Im selben Moment kam aus der Tür des Hochhauses ein Mann in einem beigen Anzug, lief die breiten, mit weißem Marmor ausgelegten Treppen hinunter und streckte Wagner schon von Weitem die Hand entgegen.

Willkommen, rief er, hier in der Wildnis, dann drückte er Wagner übertrieben fest die Hand und sagte: Mein Name ist Bredow. Ich dachte, das Beste ist, wenn wir gleich zu Ihnen nach Hause fahren, dann können Sie sich umziehen, schwimmen, und danach kommen Sie zu uns zum Essen, wenn Sie das noch mögen, nach der langen Reise. Im Übrigen sollten wir uns duzen, das ist hier üblich.

Gut, sagte Wagner, der die kumpelhafte Duzerei auf dem Bau hasste, zumal unter den Ingenieuren und Bauleitern. Bredow setzte sich neben Wagner in den Fond und sprach mit dem Fahrer auf Spanisch.

In der Firmenleitung hatte der Direktor der Auslandsabteilung Wagner ausdrücklich auf die Kompetenzaufteilung bei diesem Bau hingewiesen. Wagner sei ausschließlich für die technische Durchführung des Projekts zuständig, darin allerdings absolut selbstständig. Alles andere aber, die kaufmännischen Fragen, insbesondere auch die Verhandlungen mit den Behörden und Dienststellen im Lande, sei ausschließlich Aufgabe von Bredow. Bredow habe schon mehrere Projekte geleitet (er sagte sehr betont geleitet, und später ärgerte sich Wagner, nicht nachgefragt zu haben, wer denn nun Bauleiter sei, er oder Bredow), ein Mann, der schon fünfzehn Jahre im Lande lebe und über ganz ausgezeichnete Beziehungen zu den offiziellen Stellen verfüge. Ohne die laufe dort nichts. Wagners Vorgänger habe sich wie ein Elefant im Porzellanladen aufgeführt, und es sei nicht verwunderlich, dass der Mann dann einen Nervenzusammenbruch bekommen habe. Wagner verstand es so, wie es gemeint war, als Warnung.

Bredow hatte auffallend durchsichtige hellblaue Augen, aber seine Gesichtshaut war so tief gebräunt, wie man es sonst allenfalls an brünetten Menschen sieht. Die langen hellblonden Haare hatte er straff an den Kopf gekämmt, bis in den Nacken hinunter, wo sie, wie erlöst, sich wieder nach oben kräuselten.

Sie fuhren aus der Stadt nach Westen hinaus, der untergehenden Sonne entgegen. In der sonst kahlen rotbraunen Ebene lag, wie eine Insel, ein mit Bäumen und Büschen bestandener Hügel. In dem Grün waren Häuser und Villen zu erkennen. Auf der linken Straßenseite kamen ihnen, in einer nicht abreißenden Reihe, Männer und Frauen entgegen.

Das sind die Dienstboten (was für ein altertümliches Wort) und Gärtner, erklärte Bredow, die haben Feierabend und gehen jetzt nach Hause in die Stadt.

Am Fuß des Hügels war die Straße durch einen Schlagbaum gesperrt. Zwei Soldaten mit Maschinenpistolen standen dort Wache. Der eine Soldat kam auf den Wagen zugeschlendert. Bredow hatte das Fenster heruntergekurbelt und rief etwas auf Spanisch hinaus. Der Soldat lachte, sagte irgendetwas und ging zum Schlagbaum, den er hochdrückte.

So, das ist der grüne Hügel. Du wohnst unten, direkt an der Mauer. Unser Haus ist nicht weit entfernt. Ganz oben wohnen die gut betuchten Einheimischen, die sogenannten ranzigen Familien.

Die Straße war breit und sorgfältig asphaltiert. Die Kantsteine waren mit phosphoreszierender Farbe weiß gestrichen. Überall brannte, obwohl es jetzt erst dämmerte, Licht: Häuser, Gartenmauern, Wege, ja sogar die Rasenflächen und einzelne Bäume in den Gärten wurden angestrahlt.

Wagner fragte, ob man abends zu Fuß zur Stadt hinüberspazieren könne.

Nein, besser nicht. Du hast ja deinen Wagen. Die Firma bewilligt zwar nur einen Ford, aber der tut seine Dienste. Der Chauffeur hielt vor einem großen, hell erleuchteten Bungalow.

Sie stiegen aus. Plötzlich war es still, bis auf das melodische Singen eines Vogels. Wagner stand in der Dämmerung und hatte noch die Fahrgeräusche in den Ohren, Geräusche, die ihn über dreißig Stunden lang begleitet hatten und wie ein Echo nachhallten. Es hatte etwas abgekühlt. Die Luft war erfüllt von einem schweren Blütenduft, den Wagner sonderbarerweise auch zu schmecken glaubte, süßlich. Die Tür des Bungalows wurde geöffnet, und eine Sirene heulte kurz auf. Eine Hand zuckte wieder zurück. Die Sirene wurde ausgeschaltet. Dann erschien eine ältere Frau in einem weißen Kittel. Ihr graues Haar hatte sie zu einem dicken Zopf gebunden. An den ungewöhnlich großen, nackten Füßen trug sie Plastiksandalen.

Das ist Sophie, sagte Bredow, dein guter Hausgeist.

Die Frau gab Wagner die Hand, starrte ihn aus blauen unbeweglichen, fast leblosen Augen an.

Willkommen, murmelte sie und schlurfte ins Haus. Der Chauffeur folgte ihr mit den Koffern.

Sie kommt aus Entre Rios, sagte Bredow, dort leben viele Russlanddeutsche, die in den Zwanzigerjahren, nach der Revolution, aus Russland ins Land gekommen sind. Etwas altertümlich in ihren Ansichten, aber ehrlich und fleißig, was hier ja nicht immer selbstverständlich ist.

Bredow führte Wagner durch das Haus, fünf Zimmer und ein riesiges Wohnzimmer, davor eine Veranda. Die Zimmer waren möbliert, klobige Sessel, polierte Mahagonischränke.

Nicht gerade das italienische Design, sagte Bredow und klopfte an einen Schrank, aber solide Handarbeit und vor allem hier im Lande hergestellt.

Sechs Zimmer. Ich kann die nur abschließen oder aber eine Pension aufmachen.

Dann schon lieber ein Freudenhaus.

Wagner sah in den angeleuchteten Garten hinaus, großlappige Blätter, ein kurz geschorener Rasen, eine Bananenstaude, an der schwer ein Fruchtkolben hing, üppige Büsche, dahinter: Dunkelheit. Er ging durch die Zimmer. Das Schlafzimmer war mit weiß lackierten Einbauschränken vollgestellt, in der Mitte stand ein kolossales Ehebett aus Messing. Im nächsten Zimmer: nur ein Schrank, ein kleiner Schreibtisch und ein Bett. An dem Fenster, das zum Garten führte, klebten zwei bunte Abziehbilder, zwei Schlümpfe. Durch sie verlor der Raum etwas von seiner Fremdheit. Wagner sagte, er wolle in diesem Zimmer schlafen, nicht in dieser Zwingburg von einem Ehebett.

Ist mir egal, murmelte Sophie und schleppte die Reisetasche Wagners in das Zimmer.

Ich fahr jetzt nach Hause, sagte Bredow. Du kommst zum Essen, so in einer Stunde. Du hast unser Haus ja schon gesehen, die Nummer ist leicht zu merken, 333, die Schlacht bei Issos.

Er brachte Bredow zur Tür und verabschiedete sich vom Chauffeur. Er beobachtete Bredow, wie der zum Wagen hinüberging. In all seinen Bewegungen war eine bewusste Ökonomie, etwas Kraftsparendes, und es ging eine freundliche Ruhe von ihm aus. Wagner war überzeugt, dass er mit Bredow gut auskommen würde. Das war nicht der Mann, der um Anerkennung kämpfen musste, mit dem man in einem Grabenkampf um läppische Details focht.

Sophie war dabei, die Sachen in die zahlreichen Einbauschränke des Hauses zu verteilen. Es wäre viel einfacher gewesen, alles in dem Schrank des früheren Kinderzimmers unterzubringen, aber die Frau hatte ihre festen Vorstellungen, und so verloren sich seine Socken, Hosen und Hemden langsam im Haus.

Er fragte nach seiner Badehose, und sie schlurfte, etwas in sich hineinmurmelnd, raus. Er würde von jetzt an nach jedem Kleidungsstück fragen müssen. Er ging hinaus, in den Garten, über das stoppelige Gras, das er unter nackten Sohlen spürte.

Das Schwimmbecken war gute zehn Meter lang und endete in einer aus Natursteinen gebauten Grotte, aus der ein kleiner Katarakt plätscherte. Von unten beleuchtet, warf das Wasser seine Reflexe auf die Steine und die weit überhängenden, großen Blätter mehrerer dickstängeliger Pflanzen, die so dicht wuchsen, als beginne hier, hinter dem Swimmingpool, der Urwald. Wagner schwamm und tauchte. Über ihm glänzte das Laub eines gewaltigen Baums, dessen Stamm die Form einer Flasche hatte. Ein Nachtvogel sang, ein Singen wie ein feines, melodisches Pfeifen, das jedes Mal in einem eigentümlichen froschartigen Glucksen endete. Wenn es denn nicht zwei Tiere waren, die einander antworteten. Wagner legte sich auf eine mit einem Frotteehandtuch bedeckte weiße Holzliege. Er lag da im Dunklen und spürte das Kitzeln der ablaufenden Wassertropfen auf der Haut.

Er hatte sofort zugesagt, als man ihn fragte, ob er eine Baustelle in Südamerika übernehmen wolle.

Der Direktor der Auslandsabteilung hatte ihn in seinem Baubüro in Lüdenscheid angerufen. Man habe in der Firmenleitung überlegt, wer das Projekt übernehmen könne, und sei auf ihn, Wagner, gekommen, einmal, weil er mit seinem Elektrizitätswerk ja fast fertig sei, denn die Abnahme in drei Wochen könne auch Wagners Stellvertreter machen, zum anderen aber, und darum frage man ihn als Ersten, weil man Wagner zutraue, das etwas verfahrene Projekt wieder in Gang zu bringen. Eine Papierfabrik mitten im Urwald. Der Job sei nicht einfach, und die Firma habe bisher mit den Bauleitern Pech gehabt. Der erste sei von Guerilleros entführt, später zwar wieder freigelassen worden, allerdings unter der Auflage, das Land zu verlassen. Der zweite sei vor drei Wochen krank geworden, genauer, er habe einen Nervenzusammenbruch bekommen. Der Mann habe offenbar besonders unter dem Klima gelitten und die ganze Organisation nicht in den Griff bekommen. Die Arbeitsverhältnisse seien natürlich nicht mit denen im Sauerland zu vergleichen, und natürlich gebe es jede Menge unkalkulierbarer Schwierigkeiten. Mal abgesehen von fachlichen Fragen, müsse man beides beherrschen, die Organisation und die Improvisation. Aber vielleicht reize Wagner ebendas. Es sei halt etwas ganz anderes.

Wagner sagte: Ja, ich übernehme das. Wann muss ich da sein?

Nächste Woche. Wir sind schon in Verzug.

Wagner sagte abermals: Ja, und zugleich wunderte er sich, wie selbstverständlich und ohne jedes Zögern er zusagte und damit alle seine Pläne umstieß. Denn er sollte, nach Abnahme des Elektrizitätswerkes und einem vierwöchigen Urlaub, eine Zuckerfabrik in der Nähe von Uelzen bauen. Die Baustelle konnte er in einer dreiviertelstündigen Autofahrt von zu Hause erreichen. Damit hätte er nach zwei Jahren als Wochenendpendler endlich wieder zu Hause wohnen können. Alle, Sascha, Susann und er selbst, hatten sich darauf gefreut und Pläne gemacht.

Es muss schnell entschieden werden, sagte der Direktor, aber doch nicht so schnell. Ich kann Ihnen einen Tag Bedenkzeit geben.

Nein, das ist nicht nötig.

Das wird nicht einfach sein für Ihre Frau.

Nein, das wird nicht einfach sein, aber es wird gehen.

Sie können Ihre Familie mitnehmen. In der Hauptstadt gibt es eine deutsche Schule.

Mal sehen, sagte Wagner.

Für die nächste Woche wurde ein Treffen in der Firmenzentrale in Düsseldorf verabredet. Er sollte dann in das Projekt eingewiesen werden.

Er überlegte, ob er sofort Susann anrufen sollte. Aber da er am nächsten Tag sowieso fliegen würde, hielt er es für besser, ihr alles zu Hause zu erzählen. Wie sollte er ihr das aber auch erklären, dass er sofort und ohne sich lange zu besinnen diesen wahnsinnigen Job angenommen hatte? Er konnte es sich nicht einmal selbst genau erklären. Und doch kam bei ihm kein Zweifel an seiner Entscheidung auf. Er probierte an diesem und am folgenden Tag, sogar noch auf dem Heimflug, zwischen all diesen erschöpften Männern, immer wieder die möglichen Antworten. Die Pflicht, auch einmal in einem unterentwickelten Land zu arbeiten, dort sein Wissen und seine Kenntnisse einzubringen. Sie würde nur lachen, schließlich kannte sie ihn nicht erst seit gestern. Auch das Geld war es nicht. Der Direktor hatte zwar eine überraschend hohe Gehaltssumme genannt, aber Susann und er waren sich schon immer darin einig gewesen, dass das, was sie verdienten, sie als Lehrerin und er als Bauleiter, genug sei. Es blieb trotz der Raten für das Haus, das sie vor drei Jahren gebaut hatten, mehr als genug übrig. Er habe ja, sagte er sich, schon als Kind nach Südamerika in den Dschungel reisen wollen, und er hatte das auch Susann erzählt, aber als Erklärung für seinen schnellen Entschluss war das nur ein kindisches Argument. Und so blieb ihm nur der Hinweis auf seine Karriere, auf das, was er einmal werden wollte, Leiter einer Großbaustelle in Übersee, wobei es sein Wunsch war, und zwar schon seit seiner Studienzeit, einen Großflughafen zu bauen, wie Berthold, der den Pilgerflughafen in Dschidda gebaut hatte. Und doch wusste er, dass es nicht der wahre Grund war.

Er war am Freitagabend nach Hause gekommen, und wie immer hatte Susann gekocht, Sascha saß vor seinem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Wagner hatte sich vorgenommen, gleich von seiner neuen Baustelle zu erzählen, dann aber, weil Sascha drängte, doch endlich zu spielen, verschob er es. Wie immer musste er darauf achten, dass er möglichst nicht, wenigstens nicht zu schnell, gewann. Sascha konnte nicht verlieren. Und meist brach er das Spiel ab, entweder weil er verlor oder weil er merkte, dass Wagner ihn gewinnen ließ. Es war aber auch unendlich schwer, bei diesem Spiel absichtlich zu verlieren, ohne dass Sascha es merkte. Und wie zur Strafe würfelte er immer die Zahlen, die ihn vorrücken ließen und damit diesen nervösen Zug in Saschas Gesicht brachten. Plötzlich zappelte er, plötzlich hatte er keine Lust mehr, plötzlich sah man ihm die tiefe, ihn ganz erfassende Enttäuschung an, hatte er sich doch die ganze Woche auf diesen Augenblick gefreut, mit dem Papa Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, und nun enttäuschte jeder schlechte Wurf seine Erwartungen.

Später aßen sie zusammen, und es war genauso, wie er es schon vorhergeahnt hatte. Er erzählte von einem Polier, der nach acht Flaschen Bier, wenn er gut aufgelegt war, das Bierglas aufaß. Man hörte das Glas regelrecht zwischen seinen Zähnen knirschen. Sascha konnte sich darüber jedes Mal wieder neu ausschütten vor Lachen. Nachdem er Sascha ins Bett gebracht und ihm auch noch etwas vorgelesen hatte, war er ins Wohnzimmer hinuntergegangen, wo Susann auf dem Sofa saß, die Beine untergeschlagen. Er hatte sich neben sie gesetzt und sie an sich gedrückt, als könne er die körperliche Nähe, die er all die Tage über vermisst hatte, ihr regelrecht abpressen, bis sie lachend aufschnaufte. Dann sagte er – und er musste innerlich regelrecht einen kleinen Anlauf nehmen –, er habe ein Projekt in Übersee angenommen, eine Papierfabrik. Es passierte das ganz und gar Unerwartete. Susann war keineswegs entsetzt, sie war nicht einmal überrascht. Sie sagte nur, ein halbes Jahr vergeht rasch.

Nach einem kurzen Zögern sagte er: Es wird ungefähr ein Jahr dauern.

Auch das geht noch. Es war, als müsse sie ihm zureden, dabei hatte er sich doch längst entschieden. Sascha können wir unmöglich aus der Schule nehmen. Er hat genug Schwierigkeiten mit dem Schulanfang gehabt.

Nein, sagte er, das wäre nicht gut.

Es war, das spürte er jetzt, doch ein weiter gehender Abschied, als er zunächst vermutet hatte. Sie trennten sich für ein Jahr, und keiner begehrte auf.

Spätabends kamen Renate und Berthold vorbei. Berthold, der nur zwei Jahre älter als Wagner war, hatte schon zwei Baustellen in Übersee geleitet. Er sagte sofort: Das ist ein Himmelfahrtskommando. Bei den Verhältnissen da unten, schlimmer geht’s gar nicht: Militärdiktatur, Guerilla, Korruption, Schlamperei und dann auch noch die Hitze. Wenn du den Bau über die Rampe bringst, dann kannst du dir in Zukunft jeden Bau aussuchen, wenn aber nicht, dann stürzt du ins Bodenlose. Denn das ist doch klar, dein Vorgänger wird bis zu seiner Pension Einfamilienhäuser in der Lüneburger Heide bauen.

Er hatte, als er von seinem neuen Job erzählte, Renate angesehen. Sie war überrascht, und sie konnte ihre Überraschung nicht verbergen, sodass er hoffte, Berthold und Susann bemerkten nichts. Er vermied es, an dem Abend mit Renate allein zu sprechen. Sie hatten dann alle auf den neuen Job angestoßen. Den Ort hatten sie im Atlas nicht finden können.

Erst am nächsten Morgen, als er Sascha erzählte, dass er in den Urwald ginge, für eine längere Zeit, war es für Wagner auch spürbar geworden, wie sehr sein Entschluss ihr Leben verändern würde. Er versprach sogleich, für Sascha Pfeile und Köcher von den Indianern mitzubringen. Aber das vermochte nichts von Saschas Schmerz zu nehmen, da ja das Dampfschiff, das sie doch zusammen bauen wollten, nicht gebaut würde, auch nicht die Gegensprechanlage, und für lange Zeit würden sie nicht einmal Mensch-ärgere-dich-nicht spielen. Sascha wurde vom Weinen regelrecht geschüttelt. Er war so untröstlich, dass Wagner erstmals an seinem Entschluss zweifelte und das Gefühl hatte, als mache er sich aus dem Staub. Die Erinnerung an Saschas Schmerz war auch jetzt noch quälend.

Fledermäuse schossen durch die Luft. Im Schein der Lampen taumelten schwere Insekten. Aus der Ferne hörte er das dunkle Bellen eines Hundes. Im Nachbargarten redete jemand in einem breiten Texanisch über den Anbau verschiedener Maissorten; es war eine Stimme, die einer Frau, aber auch einem Mann gehören konnte. Wagner stand auf, um nicht einzuschlafen. Er schwamm nochmals, zog Jeans und ein weißes Hemd an. Er ließ sich von Sophie den Autoschlüssel geben. Der Wagen stand in der Garage, ein grauer Ford Falcon. Der Wagen war so gut wie neu. Sein Vorgänger hatte ihn vor zwei Monaten von der Firma bekommen.

Er fuhr die Asphaltstraße hinauf bis zu Bredows Haus. Bredows Frau öffnete. Christi, wie sie sich selbst vorstellte, eine große rothaarige Frau mit einem durchtrainierten, fast muskulösen Körper. Wagner schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie trug ein blau geblümtes Kleid und Pumps mit hohen Absätzen. Christi führte ihn durch das Haus. Alle Sessel, Tische, Kommoden, Schränke, Stühle waren aus einem hellen Nussholz, hergestellt in einer dänischen Werkstatt.

Christi sagte, sie sei Dänin, er müsse ihr etwas holpriges Deutsch entschuldigen. Sie sprach aber fast akzentlos Deutsch.

In einem Eckschrank standen alte schwedische Gläser. Vor den Fenstern Leinenvorhänge in Pastelltönen. Geschmackvoll und teuer.

Bredow kam herein, die große Grillgabel in der Hand. Er hatte sich die Jacke ausgezogen und die Ärmel seines hellblauen Hemdes hochgekrempelt.

Weißt du, sagte er, man muss sich hier wohlfühlen, sonst hält man das auf Dauer nicht aus, darum ziehen wir auch immer mit der gesamten Einrichtung um. Die meisten Sachen kommen von Christi. Ich habe nur einen Brief mit in die Ehe gebracht. Er zeigte mit der Grillgabel auf einen an der Wand hängenden, eingerahmten Brief. An einem blauen Band hing ein Orden daran. Ein Handschreiben von Zar Alexander I., nach der Schlacht bei Leipzig, an Bredows Urahn gerichtet. Der war mit einem preußischen Linienregiment vorgerückt und hatte dadurch ein russisches Corps gerettet. Das ist der Rest vom Schützenfest, alles andere ist im Osten geblieben, das haben sich die Russen zurückgeholt.

Er ging mit Bredow in den Garten, wo der Grill stand, der Asado.

Die Steaks sind hier im Lande unvergleichlich. Sie haben einen ganz besonderen Geschmack. Das liegt daran, dass die Rinder das ganze Jahr über auf der Weide stehen und kein Kraftfutter bekommen.

Er schnitt in das Fleisch und prüfte, wie weit es durchgebraten war. Das Blut sammelte sich in der Schnittstelle. Für einen Junggesellen ist das Leben hier nicht leicht. In der Stadt, wenn man sie denn Stadt nennen will, gibt es ein Kino und einen Nightclub, und beide haben, wie du dir vorstellen kannst, nicht gerade internationales Niveau. Das gesellige Leben spielt sich hier, auf dem grünen Hügel, fast ausschließlich in den Häusern ab. Es gibt eine ziemlich große deutsche Kolonie, aber die wohnen natürlich hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen. Du wirst sie sicherlich bald kennenlernen. Sie werden dich einladen. Geh hin. Nimm es wie ein Kuriositätenkabinett. Diskussionen sind zwecklos. Fällt man aus diesem Kreis heraus, kann man verdammt einsam sein, wenn man kein Spanisch kann.

Sie aßen auf der Veranda und tranken zu dem Fleisch einen Burgunder. Warum hast du deine Frau nicht mitgebracht?, fragte Christi. Sie hoffe, dass er nichts gegen das Du habe, das ihr als Dänin eben leichtfalle.

Nein, sagte Wagner, er habe überhaupt nichts dagegen. Seine Frau sei zu Hause geblieben, weil sie ihren Sohn nicht aus der Schule nehmen wollten, in der er sich eben mit Mühe eingewöhnt habe.

Die deutsche Schule in der Hauptstadt ist sehr gut. Es gibt auch ein an die Schule angeschlossenes Internat. Unsere Kinder sind dort.

Wie alt sind die?

Zehn und zwölf.

Als er Christi überrascht ansah, lachte sie. Sie sei Bredow mit achtzehn in die Arme gelaufen. Ihr Vater war damals hier im Land Diplomat.

Warum Wagner sich für die Baustelle gemeldet habe, wollte Christi wissen.

Ich wollte einfach einmal in Übersee arbeiten.

Wagner war immer wieder überrascht, dass sich die Leute mit dieser Erklärung zufriedengaben. Sicherlich vermuteten sie noch andere Gründe, mochten nur nicht danach fragen. Hätte nicht wenigstens Susann fragen müssen?

Da Bredow nicht auf den Bau zu sprechen kam, fragte ihn Wagner, wie es denn vorangehe.

Das geht seinen Gang, sagte Bredow und schnitt an seinem Steak herum.

Gibt es keine Probleme?

Nein, jedenfalls keine, die über das Übliche hinausgehen.

Und was ist das Übliche?

Du wirst es sehen. Ich fahr dich morgen hin.

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3

Um fünf Uhr morgens fuhr Wagner zur Baustelle. Bredow hatte ihn von zu Hause abgeholt und fuhr in seinem BMW voraus. Zunächst nach Norden, auf der Provinzstraße, dann bogen sie auf eine schmale Asphaltstraße ab, die von der Firma gebaut worden war. Überall am Straßenrand waren die tiefen Profilabdrücke von Lkw-Reifen zu sehen. Die Laster mussten auf der schmalen Straße einander ausweichen. Die Asphaltdecke der Straße war rot überstäubt. Bredow fuhr schnell, hin und wieder hupte er, als wolle er sich vergewissern, dass Wagner nicht eingeschlafen sei. Wagner hatte alle Fenster heruntergedreht, der Fahrtwind wühlte in seinem Haar. Der grüne Wulst am Horizont, der Regenwald, wurde langsam größer, und schon konnte er einzelne hoch aufgeschossene Bäume erkennen. Dann tauchten sie in das Grün, und es war wieder dunkel. Die Straße führte wie ein Tunnel durch den Wald. Er sah im Scheinwerferlicht Blätter, Stämme, Lianen. Es war überraschend still, bis auf das Knattern des Fahrtwindes. Hin und wieder flatterten ein paar Vögel auf. Gern wäre er jetzt ausgestiegen, einfach um für einen Moment still in dem Wald zu stehen. Er hupte und blinkte, aber Bredow beschleunigte daraufhin abermals das Tempo, hupte, um zu zeigen, dass er verstanden habe, und es begann eine rasende Fahrt durch den Urwald. Er fuhr, das Gaspedal durchgedrückt und auf die Straße starrend. Wie Adern verliefen die Wurzeln unter dem Asphalt, der oftmals schon aufgebrochen und in Schlaglöcher ausgefahren war. Plötzlich bremste Bredow. Wagner sah die drei Laster mit den Betontrommeln. Die Laster fuhren rechts an den Straßenrand, die Räder wühlten sich in den weichen Boden. Wagner fuhr hinter Bredow an den Lastern vorbei, auf denen sich langsam die Betontrommeln drehten. Am ersten Wagen war die Betonschütte nicht richtig verschlossen, bei jeder Drehung fiel schubweise etwas Beton auf die Straße. In dem Augenblick entdeckte Wagner die Schlange, eine smaragdgrüne Schlange, die vor ihm über die Straße glitt. Er versuchte auszuweichen, wäre dann aber in die tiefen Radspuren neben der Straße gekommen, so fuhr er weiter und bremste neben der Fahrerkabine des ersten Lasters. Er versuchte den Fahrer, einen noch jungen Mann mit indianischen Gesichtszügen, darauf aufmerksam zu machen, dass die Trommel Beton verlor. Der Mann verstand ihn nicht, er beachtete Wagner nicht einmal. Er starrte auf die Straße. Wagner stieg aus und zeigte auf die Betonspur. Erst da sah er die Schlange. Er hatte sie ziemlich genau in der Mitte überfahren und regelrecht auf dem Asphalt festgewalzt. Während der Schlangenkopf mit ruckartigen Bewegungen den platt gedrückten Leib nach vorn zu zerren versuchte, ringelte sich das Schwanzende ein. Wagner überlegte, ob er das Tier nicht einfach tottreten solle, aber schon der Gedanke, mit dem Absatz das Tier zu berühren, ekelte ihn. Er versuchte nochmals, den Fahrer auf die Betonspur hinzuweisen, aber der starrte wie gebannt auf die zuckende Schlange. Wagner stieg wieder ein und fuhr langsam weiter. Im Rückspiegel sah er, wie die beiden anderen Fahrer ausstiegen und zu der Schlange gingen. Was war daran so bemerkenswert? Die überfuhren doch sicherlich täglich mehrere Schlangen. Bald hatte er Bredow erreicht, und nach knapp zehn Minuten öffnete sich der Wald zu einer großen Lichtung. Die Stubben gefällter Bäume ragten aus der Erde. Das Gebiet war abgebrannt worden, nur vereinzelt standen noch angekohlte Palmen darauf. Aus der grauen Asche hatten sich schon wieder grüne Schößlinge geschoben. Sie fuhren zu der Baustelle, auf der vier Kräne standen. Ein zweistöckiges Betongebäude war fertig gebaut. Es war der spätere Bürotrakt, der jetzt als Baubüro benutzt wurde, wie er aus den Bauplänen wusste. Daneben stand ein zweites, kleineres Gebäude, das Kraftwerk, das die Baustelle mit Strom versorgte und später einmal, wenn die Überlandleitungen bis hierher führten, zu einem Transformationswerk umgewandelt werden sollte. Um die beiden Gebäude war ein gut drei Meter hoher Zaun mit Stacheldraht errichtet worden. Bredow fuhr durch das offene Zauntor, vorbei an einem Wachmann in Khaki. Der Mann hatte einen schweren Trommelrevolver umgeschnallt, wie Wagner ihn aus Western kannte. Bredow hielt vor dem Eingang des Bürotrakts. Wagner stieg aus und ging zu Bredow hinüber, der, noch im Wagen sitzend, sich gelbe Gummistiefel anzog.

Warum hast du angehalten?

Bei einem der Laster war die Betonschütte nicht richtig verriegelt.

Bredow lachte: Da haben die eine Betonspur durch den Wald gelegt.

Sie gingen in den Bürotrakt. Auf der Treppe kam ihnen ein Mann entgegen. Mitte fünfzig, schätzte Wagner, blondgraues schütteres Haar, ein aufgedunsenes, aber braun gebranntes Gesicht, das Khakihemd spannte sich über dem mächtigen Bauch.

Das ist Herr Steinhorst, der stellvertretende Bauleiter. (Bredow sagte nicht: dein Stellvertreter.) Herr Steinhorst hat in der Zwischenzeit den Bau betreut.

Betreut, das ist nett ausgedrückt, sagte Steinhorst, ich bin froh, und er drückte Wagner die Hand, dass Sie da sind.

Er wollte Wagner damit wohl zu verstehen geben, dass er selbst keinerlei Ambitionen auf den Bauleiterposten habe. Er sah Wagner aus seinen himmelblauen Augen an, die feucht waren, die Lider schimmerten rot entzündet. Steinhorst führte Bredow und Wagner in einen größeren Raum, die Kantine, in der ungefähr zwanzig Mann versammelt waren, die Ingenieure, Techniker und Poliere. Unter all den Dunkelhaarigen, Braungesichtigen entdeckte Wagner sogleich den dritten Ingenieur auf der Baustelle, Hartmann, ein noch junger Mann, kurznäsig und mit einer sommersprossigen Glatze. Ein Kopf, der Wagner an Darwin erinnerte. Bredow redete auf Spanisch zu den Leuten. Wagner hatte als Student einmal einen Spanisch-Kurs mitgemacht, aber verstand nichts von dem, was Bredow sagte. Ein älterer dunkelhäutiger Mann mit graukrisseligem Haar trug auf einem Plastiktablett Pappbecher herein und verteilte sie an die Umstehenden.

Versteit Se dat, fragte ihn ein großer Indianer, der sein blauschwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.

Wagner war über das Plattdeutsch aus diesem Indianermund so überrascht, dass er nur Ja sagte.

Wenn Se wat weten wullt, ik übersetz dat. Ik heet Juan.

Wagner wollte fragen, wo Juan das Platt gelernt habe, da hoben alle ihre Pappbecher und Gläser, und Bredow sagte: Auf ein gutes Gelingen.

Sie prosteten Wagner zu. Er trank, verschluckte sich, es war kein Sekt, wie er angenommen hatte. Er hustete, der Indianer klopfte ihm den Rücken, und als Wagner hochsah, blickte er in freundlich grinsende Gesichter. Alle Fremdheit war für einen Moment verschwunden.

Sidra is dat, sagte Juan.

Eine Sirene heulte zum Arbeitsbeginn, und die Männer verließen den Raum. Steinhorst holte sich einen gelben Plastikhelm und brachte auch Wagner einen mit.

Ist das nicht etwas dramatisch, fragte Wagner.

Überhaupt nicht, sonst haben Sie bald einen Sonnenstich. Kommen Sie auch mit, fragte Steinhorst Bredow.

Nein, ich hab einen Termin, außerdem hab ich von dem Bau eh keine Ahnung. Das macht ihr schon. Er schlug Wagner auf die Schulter, rief Adios und ging in seinen leuchtend gelben Gummistiefeln hinaus.

Steinhorst führte Wagner über das Baugelände. Wagner hatte die Pläne sorgfältig zu Hause studiert. Da waren die drei großen Fabrikhallen, in denen das Papier hergestellt werden sollte. In der Halle A war das Fundament schon fertig, und man war dabei, die Stützen und tragenden Wände zu gießen. Dann gingen sie zu einer Baugrube, in der drei große Caterpillars die Erde aushoben.

Dort soll die Halle B gebaut werden. Halle C kommt dorthin, sagte Steinhorst und zeigte auf einen mit rot-weißen Stangen gekennzeichneten Platz. Da kommen die beiden Lagerhallen hin und dort die Werkstatt, daneben die Kantine.

Etwas abseits standen mehrere Nissenhütten, runde, mit Wellblech belegte Dächer.

Dort wohnen die Arbeiter, sagte Steinhorst.

Wagner sah zwei größere Feuerstellen, einen Herd, einen Ofen. Unter einem Wellblechdach, das auf Pfählen ruhte, standen mehrere selbst gezimmerte Tische und Stühle. Schweine lagen im Schatten, ein paar räudige Hühner pickten in dem roten Erdboden. Ein zerlumpter Mann mit langem schwarzem Haar hackte Holz.

Sind das Indianer?

Bolivianer, aber viele sind Indianer.

Warum Bolivianer?

Die sind billiger und fleißiger, sagte Steinhorst, die müssen arbeiten, sonst fliegen die sofort.

Gibt es mit denen Probleme?

Nein, überhaupt nicht, die würden sonst sofort abgeschoben.

Gibt es politische Probleme?

Sie meinen die Guerilla? Kaum noch. Das Militär hat nach dem Putsch kräftig aufgeräumt. Als wir hier anfingen, war das noch die heiße Phase. Da ging fast jede Nacht in der Stadt eine Bombe hoch. Es kam auch immer wieder zu Schießereien. Wir hatten auch hier Sabotageakte. Ein Brandanschlag auf einen Kran, durchstochene Reifen, geklaute Zündkerzen. Die werden noch immer geklaut, aber nicht mehr aus politischen Gründen. Die klauen hier wie die Raben.

Sie waren zur Baustelle von Halle A zurückgegangen. Wagner beobachtete, wie die Holzverschalungen für die Pfeiler gezimmert wurden.

Als wir hier anfingen, die Baugrube von Halle A auszuheben, wurde Ehmke entführt. Sie werden ja davon gehört haben. Steinhorst starrte zum Waldrand hinüber, als sei dort die Entführung noch zu beobachten.

Ist er dort entführt worden, fragte Wagner.

Nein. Er wurde in seinem Haus, auf dem Hügel, gekidnappt, wo Sie jetzt wohnen. Es war nachts. Seine Frau und die Kinder schliefen schon. Ehmke saß auf der Veranda, rauchte und trank noch ein Bier. Morgens fand die Frau seine ausgebrannte Pfeife und das halb ausgetrunkene Glas Bier. Niemand hatte etwas gemerkt. Sie waren über die Gartenmauer gekommen, haben Ehmke mit Pistolen bedroht, gefesselt, geknebelt, in einen bereitstehenden Wagen gesteckt und sind in die Stadt gefahren, wo er drei Wochen lang in einer Kammer festgehalten wurde. Die Wohnung ist auch später von der Polizei nie gefunden worden. Ehmke erzählte, dass er unter der Türritze in eine Küche sehen konnte. Unter einem Küchenschrank sah er zwei Granatäpfel liegen. Die müssen für ihn etwas Tröstliches gehabt haben. Er sagte später, er habe nie geglaubt, dass sie ihn erschießen würden.

Warum ist der überhaupt entführt worden?

Die Guerilleros haben ihn entführt, um von der Junta eine Erklärung im Fernsehen zu erpressen. Eine Erklärung, die sich gegen die Militärs, aber auch gegen unsere Firma richten sollte, sogar gegen dieses Bauprojekt.

Und warum?

Steinhorst nahm sich den Plastikhelm vom Kopf und wischte sich mit dem Hemdärmel über die Stirn.

Jedenfalls nicht, um den Wald zu schützen. Es ging um irgendwelche Schiebungen, Bestechungsgelder, Landverkäufe, was weiß ich. Man blickt nicht durch. Sie werden das noch selbst sehen.

Und wo haben sie Ehmke freigelassen?

Ganz einfach. Eines Tages war er wieder da, mit einem Vollbart. Die haben ihn nachts auf einer Straße in der Stadt ausgesetzt. Der war eben eine Nummer zu klein. Die Militärs haben sich überhaupt nicht um das Ultimatum gekümmert. Wäre Ehmke umgelegt worden, dann wäre das auch für die Firma ein Arbeitsunfall gewesen. Mit dem Risiko muss man heute in unserm Job leben. Steinhorst lachte auf. Frau Ehmke hätte sich freuen können. Erstens wäre sie ihren alten Nörgler losgewesen, und dann hätte sie neben einer Rente auch noch eine dicke Lebensversicherung kassiert. Der war doch hoch versichert. Sie doch hoffentlich auch?

Wagner musste lachen.

Wissen Sie, sagte Steinhorst, ich glaube ja, dass die den Ehmke gar nicht wollten. Die haben den verwechselt. Die meinten den Bredow, das gibt einen Sinn.

Und welchen?

Steinhorst wiegte den Kopf und grinste, dann klopfte er sich auf seinen Bauch und sagte: Es wird Zeit, ich muss was trinken. Die Wüste ruft.

Als Wagner in sein Zimmer kam, saß Juan auf seinem Stuhl. Er hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt und las in einem Comic-Heft. Juan sah nur kurz hoch.

Brukt Se mi?

Nein, sagte Wagner, aber es wäre schön, wenn Sie die Füße von den Bauzeichnungen nehmen könnten.

Juan nahm die Füße vom Tisch und stand langsam auf. Er warf noch einen Blick auf das Comic-Heft, wahrscheinlich wollte er sich die Seite merken.

Wo heft Se dat Platt oppickt? In Hamburg?

Nee, bi uns to Hus, sagte Juan, im Gran Chaco.

Wagner lachte: Dat is Indianerlatein, wat.

Nee, is wohr. Mien Volk snackt mit de Mennoniten Platt, de sitt do, de Mennoniten, dickdreevsch, im Gran Chaco, op uns Grund und Boden.

Mööt wi in Ruhe besnacken.

Schon im Hinausgehen fragte Juan, ob es stimme, dass Wagner eine Schlange getötet habe.

Getötet, Wagner lachte, das klingt sehr dramatisch, jedenfalls auf Hochdeutsch. Wer sagt das?

De Arbeiter. War se smaragdgrün?

Ja. Warum?

Das ist die Acaray-Schlange. Man darf sie nicht töten, sagte Juan auf Hochdeutsch, und das klang sehr feierlich.

O.k., sagte Wagner, o.k., nächstes Mal pass ich besser auf, aber jetzt muss ich arbeiten.

Juan ging. Wagner setzte sich an seinen Schreibtisch, über dem ein Ventilator lief, der die heiße Luft umrührte. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen, aber in seinem Kopf war ein Dröhnen.

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4

Das Abendessen hatte Sophie unter einem beständigen Gebrummel serviert und später mit demselben Gebrummel wieder abgeräumt. Wagner hatte etwas von einem Abgöttischen, einer Sichel und einem rauchenden Brunnen verstanden. Er wollte sie fragen, was das für ein rauchender Brunnen sei, aber dann blieb sie in der Küche. So ging er auf die Terrasse und setzte sich auf eine der weiß lackierten Holzliegen, stellte das Bier auf den Boden und zündete sich eine Zigarette an. Die Sonne versank in einem orangefarbenen Dunststreif, und für einen Moment war es, als kämen in dem letzten Licht noch einmal alle Dinge zu sich selbst, zeigten sich scharf umrissen und deutlich, die glattgrünen Blätter des Orangenbaums, die Brüstung der Mauer, ein gekippter weißer Gartentisch, um wenig später ins Ungefähre, Dunkle zu versinken. Er saß in einer wohligen Mattigkeit und lauschte dem schrillen Sägen der Zikaden, das mit Einbruch der Dämmerung sich abermals verstärkt hatte. Noch vor dem Essen hatte er ein Gespräch nach Hamburg angemeldet. Er wollte Susann sprechen, die jetzt, es war fünf Stunden früher, bald zu Bett gehen würde. Wahrscheinlich war sie gerade dabei, für das Frühstück am nächsten Morgen zu decken. Vor ein paar Tagen hatte er sie, als er seit Langem erstmals wieder an einem Werktag zu Hause war, beobachtet. Susann war ins Haus gekommen, hatte ihren gelben Regenmantel ausgezogen, am Rock hatte sie noch Kreidestaub, und war sofort in die Küche gegangen. Sascha musste sich die Hände waschen und dann in der Küche decken, nicht im Esszimmer, wo sie am Wochenende immer aßen. Susann lief in der Küche hin und her, und Wagner hatte plötzlich das Gefühl, dass in diesem Tagesablauf gar kein Platz für ihn war. Als er sich an den Küchentisch setzte, schob Susann den für ihn gedeckten Teller an das Tischende und sagte, da sitzt du ungestörter. Tatsächlich war er es, der störte. Er hörte, was sie mit Sascha besprach, und das meiste war ihm fremd, es ging um Freunde, um Schulaufgaben, um den Flötenunterricht, um das Aufräumen einer Spielkiste, Probleme, die Wagner normalerweise am Wochenende nur als ganz allgemeine Stimmungsberichte erreichten. Sascha verschwand in seinem Zimmer. Er musste Schulaufgaben machen. Susann setzte sich an ihren Schreibtisch, um eine Englischstunde vorzubereiten. Wagner wanderte durch das Haus, das sie vor drei Jahren hatten bauen lassen (der Entwurf stammte von einem befreundeten Architekten). Irgendwie war es zu rechtwinklig und zu groß geworden. Allerdings hatten sie, als sie das Haus planten, auch noch drei Kinder haben wollen, davon war, schon bevor sie ins Haus einzogen, nicht mehr die Rede. Susann ging alle zwei Jahre zum Arzt, um sich die Spirale austauschen zu lassen. Er erfuhr davon irgendwann später und eher zufällig. Wagner hätte gern noch ein Kind gehabt, aber er redete nicht mit Susann darüber, weil er sah, wie sehr sie die Schule forderte (und sie sich fordern ließ, denn sie hatte es bislang immer abgelehnt, sich beurlauben zu lassen oder auch nur die Stundenzahl zu reduzieren), wie sehr sie sich aber auch alles zu Herzen nahm, die Probleme ihrer Schüler, vor allem aber die Probleme von Sascha. Ein verletzliches, etwas ängstliches Kind, das scheinbar grundlos zu weinen begann. Wenn man nachfragte, stellte sich heraus, dass er einen Schuh nicht finden konnte oder ein Heft in der Schule vergessen hatte. Und noch immer konnte Sascha nirgendwo anders auf die Toilette gehen als zu Hause. So stopfte Susann ihm die Unterhose mit einer Frauenbinde und Watte aus. Susann zergrübelte sich den Kopf nach den Ursachen, und ihre Überlegungen kreisten immer wieder darum, was sie falsch machte, denn dem Jungen sollte es ja gut gehen, er sollte sich wohlfühlen, er sollte glücklich sein. Wagner kam sich, wenn sie über Sascha redeten, immer täppisch vor, weil er glaubte, man solle Saschas Ängstlichkeit nicht weiter beachten. Der Junge macht das schon, sagte er, worauf ihn Susann ansah, stumm und vorwurfsvoll. Angeblich war er es, der den Jungen überforderte. Er setzte Sascha aufs Fahrrad und sagte, los, fahr mal. Und Sascha fuhr. Susann kam, um zuzusehen, und sagte, sei schön vorsichtig, und prompt fiel Sascha hin und schlug sich das Knie auf. Manchmal stritten sie sich darüber, wie man Sascha am besten helfen könne. Wagner dachte immer, es sei gut, gerade für Sascha, wenn er wieder zu Hause wäre. Und doch hatte er, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, diesen Posten angenommen. Dachte er an Sascha, hatte er das Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben, dachte er an Susann, war ihm, als sei er abgeschoben worden. Ihm war an dem Tag, als er es ihr gesagt hatte, einen Moment der Verdacht durch den Kopf gegangen, dass sie einen anderen Mann habe. Aber das war dann doch ein abwegiger Gedanke, nicht etwa, weil es unvorstellbar war, sondern weil Susann es ihm gesagt hätte. An dem Freitag hatte er sie, als sie mit Berthold und Renate zusammensaßen, genau beobachtet. Aber aufgefallen war ihm lediglich, dass sie viel witziger (sie konnte sehr genau die Sprechweisen von Menschen nachmachen) und ausführlicher von ihren Erlebnissen in der Schule erzählt hatte als zuvor ihm allein. Ja, er hatte gemerkt, was ihm schon früher aufgefallen war, dass sie sich die kuriosen Geschichten regelrecht aufgehoben hatte. Während sie ihm zuvor nur von