Quartett im September - Utta Danella - E-Book

Quartett im September E-Book

Utta Danella

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Beschreibung

München, in den 60er-Jahren. Die erfolgreiche Werbetexterin Vera hat eine Trennung hinter sich – wieder eine Leidenschaft, die den Alltag nicht überlebt hat. Vera beschließt, mit ihrem geliebten Pferd Urlaub in dem kleinen Kneipp-Kurort Bad Waldhofen zu machen. Männer sollen in ihrem Leben keine Rolle mehr spielen. Zeit, an eine unabhängige Zukunft zu denken. Sie genießt den Spätsommer auf dem gut geführten Reitstall, auch wenn ihre ängstliche Stute und sie mit dem Landleben nur langsam warm werden. Vielleicht ein neues Buch schreiben? Die Kurgäste liefern genügend Material für interessante Geschichten. Auch der zurückhaltende Besitzer von Timotheus, mit dem sich ihre Vollblutstute Lorine so gut versteht. Die Liebe zu den Pferden bringt Vera und den zurückgezogen auf dem Land lebenden Dr. Gerlach einander näher, mehr haben beide nicht geplant …

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Seitenzahl: 437

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Utta Danella

Quartett im September

Roman

hockebooks

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Utta Danella: Quartett im September. Roman

Copyright ©2016 by Erbengemeinschaft Utta Danella vertreten durch AVA international GmbH, Germany

Die Originalausgabe ist 1967 im Schneekluth Verlag, Darmstadt erschienen.

Überarbeitete Neuausgabe ©2020 by hockebooks gmbh

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Joachim Luetke (www.luetke.com) unter Verwendung eines Motivs von SusaZoom/shutterstock.com

ISBN: 978-3-957-51360-1

www.ava-international.de

www.uttadanella.de

Für mein Pferd Dilona

Anmerkungen des Autors

Das Glück dieser Erde ist ein recht schwierig zu erlangendes Ding. Da nützen weder Tüchtigkeit, Fleiß noch hohe Intelligenz und sorgfältige Ausbildung; da helfen auch nicht Ausdauer, Geduld und eiserner Wille; da kann einer dies und das vollbringen an schätzenswerten Taten und kann sich an Macht, Erfolg und Reichtum erfreuen, eins jedoch kann er nicht erarbeiten, nicht erdienen, nicht erringen und erzwingen oder gar erschmeicheln von Gott und dem Schicksal: Glück.

Solange Menschen atmen auf dieser Welt, wollten sie so gern glücklich sein, doch sie haben bis heute nicht gelernt, wie man das macht.

Dabei ist es ganz einfach.

Es erhob sich die Frage, was Glück eigentlich ist. Die weisesten Philosophen der alten und neuen Zeit untersuchten das Problem von vor- und rückwärts, zerpflückten den Glücksbegriff und setzten ihn wieder zusammen, doch ein Rezept, wie man den begehrten Zustand erreicht, entdeckten sie nicht.

Ich habe eins.

Da suchten die Menschen das Glück in Ruhm und Reichtum, in Krieg und Sieg, im Himmel und in der Liebe. Doch wenn sie irgendwann dabei ein bisschen glücklich wurden hier auf Erden – denn ob und wieweit man es im Himmel sein wird, ist bis heute ungeklärt – dann war es meist eine sehr fragwürdige Sache und war meist sehr schnell wieder vorbei.

Ich aber weiß, wie man es anfängt, jeden Tag aufs Neue glücklich zu sein. Und ich kann das Rezept gern verraten. Reiten Sie!

Lassen Sie sich von einem Pferd durchs Leben begleiten! Wenn ich mir die Menschheit von heute so betrachte, die ihre Seligkeit darin sieht, mit einem stinkenden lärmenden Blechkarren durch die Gegend zu fahren – eingezwängt und zusammengedrückt in sich selbst, in schlechter Luft, Scheiben um den Kopf und eine Maschine unter sich –, dann frage ich mich, ob diese Menschen von heute wohl den letzten Rest Verstand verloren haben. Sie legen sich krumm und lahm, arbeiten und sparen und unterschreiben Wechsel, nur um so ein grässliches Ding ihr Eigen zu nennen und könnten stattdessen für dasselbe Geld oder sogar für weniger Geld einen treuen Freund und täglichen Begleiter haben, der sie glücklich macht.

Kann einer widerwillig aufstehen und missmutig den Tag beginnen, wenn er weiß, im Stall wartet sein Pferd auf ihn, wird ihm leise entgegenwiehern, mit weichen Nüstern den Zucker aus seiner Hand nehmen, mit langen Schritten aus dem Stall gehen und ihn in den Morgen hinaustragen – im ersten Frühlingswind unter noch kahlen Bäumen; im Mai, wenn es grün ist und blüht; zu ganz früher Stunde im Sommer, wenn es im Wald so herrlich kühl ist; und im Herbst, wenn man mit dem Wind um die Wette über die leeren Felder jagen kann.

Sie kennen diese Art von Leben nicht? Dann sind Sie zu bedauern. Dann entgeht Ihnen das Schönste, was diese Erde zu bieten hat. Ein reines, uneingeschränktes Glück, schöner noch als das Glück der Liebe, das ist es, was ein Pferd zu verschenken hat.

Wäre ich ein Psychiater, ich würde alle meine Patienten zum Reiten schicken. Und bald hätte ich keine Patienten mehr. Wäre ich ein Erzieher, der schwierige Kinder, verdorbene Jugendliche zu betreuen hätte, ich ließe sie reiten, ließe sie Pferde putzen und Pferde pflegen, und meine Arbeit wäre leicht.

Wer reiten kann, wird fröhlich sein, er wird sich jung und gesund fühlen, er wird die Natur lieben und Gott. Denn dass Gott ein Geschöpf geschaffen hat wie das Pferd, so edel, so schön, so voll Harmonie, und dass er es dem Menschen möglich machte, dieses Geschöpf zum Freund zu gewinnen, ist ein Grund ihm ewig dankbar zu sein.

Dumme Menschen, die keine Ahnung haben, sehen im Reiten einen hoffärtigen Luxus und betrachten den Reiter als arroganten Angeber. Sicher, das Reiten ist ein stolzes Tun – sofern man es einigermaßen beherrscht – und die hochgemute Haltung eines gut gerittenen Pferdes sollte auf den Reiter abfärben. Aber wer nur aus Angabe reiten will, der hört auch bald wieder auf. Es kostet Mühe, Ausdauer und allerhand Schweiß. Und die Arroganz verliert sich, wenn man ein paar Mal im hohen Bogen im Sand gelandet ist. Das Pferd erzieht einen so ganz nebenbei zu Bescheidenheit und fairen Manieren.

Wer aber könnte dies von seinem Auto sagen?

Erfreulicherweise hat der Reitsport in den letzten Jahren Anhänger gewonnen und einen beachtlichen Aufschwung genommen. Überall werden neue Ställe gebaut, es werden gute Pferde gezüchtet, selbst die Bauern besinnen sich hier und da wieder darauf, wie gut es ihrem Hof ansteht, wenn dort ein Pferd im Stall steht und nicht bloß leblose Maschinen; und falls sie es nicht zur Arbeit nützen, dann zum Sport. Man findet Pferde, wenn man in Urlaub reist: am Meer, in der Heide, im Vorgebirge, in Ungarn, Spanien und Irland und anderswo auch noch. Man kann sein eigenes Pferd mitnehmen in Urlaub, und das ist der Höhepunkt aller Ferien.

Auch in den großen Städten entstehen neue Reitschulen, oft vorbildliche Anlagen, wo man für gar nicht viel Geld reiten lernen kann. Heute im Zeitalter des Sports, im Zeitalter der wachsenden Freizeit, haben die Pferde auf einmal wieder mehr Platz in unserem Dasein. In zehn, zwanzig Jahren, wer weiß, wird das Reiten längst zum Volkssport geworden sein wie heute das Skifahren. Man wird gar nicht mehr verstehen, warum man das Reiten lange Zeit als Luxus betrachtet hat.

Das ist so mein Zukunftstraum, meine Vorstellung von »Wie leben wir im Jahre 2000?« Eine Fahrt zum Mond oder zum Mars? Wozu eigentlich? Was soll ich da? Ein Pferd im Stall, möglichst jedem Familienmitglied ein eigenes, und verständnisvolle Stadt- und Gemeindeverwaltungen, die Wiesen und Wege dafür zur Verfügung stellen, pferdefreundliche Bauern und Landbewohner, die mitreiten, dann wird man endlich sagen können: »Oh, Jahrhundert, es ist eine Lust zu leben!«

Sie glauben mir nicht? Sie denken, aus mir spricht die pure Begeisterung. Durchaus – das stimmt. Eine Begeisterung, die in meiner Kindheit begann und nie ab-, immer nur zugenommen hat.

Ich will Sie nicht überreden, ich rate nur: Probieren Sie es selbst. Ziehen Sie sich eine strapazierfähige Hose an, gehen Sie in den nächsten Reitstall und verkünden Sie dort, Sie wollten reiten lernen. Seien Sie vier Wochen lang mutig, tapfer und nicht wehleidig. Haben Sie nach vier Wochen zum ersten Mal das Gefühl, ein bisschen was begriffen zu haben. Seien Sie vier Monate lang ausdauernd und fleißig, hören Sie auf Ihren Reitlehrer und auf Ihr Pferd. Und hängen Sie dann vier Jahre daran, um Sicherheit und einige Erfahrung zu gewinnen. Dann steht nichts mehr im Wege, ein Leben lang glücklich zu sein.

Hafis, der große persische Dichter des 14. Jahrhunderts, ist es, dem man den berühmten Ausspruch zuschreibt: Das höchste Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde.

Ob er es nun gesagt hat oder ein anderer, ganz egal: Der Mann hat recht gehabt.

Lorines Abreise

Lorine will nicht verreisen. Sie zeigt klar und deutlich, dass ihr nicht das Geringste daran liegt, mit mir gemeinsam in die Ferien zu fahren. Seit geschlagenen zwanzig Minuten weigert sie sich erfolgreich, den Wagen zu besteigen, der sie zu ihrem Urlaubsziel befördern soll. Die weit geöffnete Tür des Gefährts muss ihr vorkommen wie das Tor zur Hölle. Sie geht nur noch rückwärts, sie steigt, sie schnaubt und prustet, ihr Blick ist leicht irr. Lieber Himmel, was tue ich ihr da an! Das konnte ich ja wirklich nicht ahnen.

Dabei würde sie geradezu fürstlich reisen, gemessen daran, wie die meisten Leute heutzutage in Urlaub fahren – mit Kind und Kegel, sechs Koffern, der Schwiegermutter und einem Zelt, und das alles in einem engen Viersitzer. Ich könnte es verstehen, wenn sich da einer weigert, mitzufahren.

Lorine dagegen hat keinen Grund, sich so idiotisch aufzuführen. Ein großer geräumiger Transporter mit gepolsterten Ständen, mit Stroh ausgelegt, mit Luftklappen versehen, steht zu ihrer Verfügung. Sie hätte sogar Gesellschaft; Casanova, der Schimmel des Herrn Welz, ist bereits verladen, er geht für vier Wochen auf die Koppel, bis sein Herrchen von der Adria zurück sein wird. Übrigens hat Casanova sich vorbildlich benommen, ein leichtes Zögern, dann ist er gelassen und elegant eingestiegen, ganz ein Mann von Welt, der es gewöhnt ist, gelegentlich zu verreisen. Nun dreht er den Kopf und besieht sich von innen indigniert Lorines hysterisches Gebaren. Allzu sehr dürfte es ihn allerdings nicht wundern, schließlich kennt er Lorine. Er war dabei, als sie mich vor vierzehn Tagen abgeworfen hat, nur weil ein Vogel etwas schrill in ihrer Nähe gepiept hat. So ist Lorine nun mal: Wenn es irgendeinen Grund gibt, Theater zu machen, dann macht sie es.

Ich habe mich in den Hintergrund zurückgezogen, mir ist schwummerig zumute, meine Augen tränen und meine Knie sind weich. Lorine hat mir einen ganz schönen Kinnhaken verpasst. Natürlich dachte ich, sie geht ohne Weiteres mit mir, wenn ich sie am Halfter fasse und ihr gut zurede. Denkste! Weder mit Zucker noch mit Rüben war sie in den Wagen zu locken. Wie eine Verrückte hat sie mit dem Kopf geschlagen und mich am Kinn getroffen. Der ganze Unterkiefer schmerzt mir, und mit der Zunge probiere ich, ob meine Zähne noch fest sind. Das fängt ja gut an. Offenbar eine Schnapsidee von mir, mit dem Pferd in Urlaub zu fahren. Ich hätte es wissen müssen: Mit Lorine ist so was nicht zu machen.

Außerdem hat mich der Transporteur ziemlich unfreundlich angefahren. »Gengans doch weg, gnä’ Frau, , lassen S’ doch uns das machen. Pferdebesitzer stören nur, wenn verladen wird.« Wahrscheinlich hat der Mann recht, ich bin ihm nicht böse. Aber es kränkt mich, dass Lorine so wenig Vertrauen zu mir hat. Zwei Jahre lang teilt sie nun mein Leben, in all der Zeit hat sie nur Gutes von mir erfahren, hat eine Menge Liebe gekriegt, und schließlich und endlich habe ich sie davor bewahrt, im Verleihbetrieb zu landen. Sie sollte das wissen und nicht so undankbar sein.

Im Hof der Reitschule haben sich eine Menge Neugierige angesammelt, alle meine lieben Reiterfreunde und -freundinnen, die mehr oder weniger schadenfroh dem Unternehmen beiwohnen. Der Chef ist da, die Pferdepfleger, die Kinder der Pferdepfleger und die Putzfrau aus dem Café, und die Männer, die im Café eine neue Leitung verlegen – alle finden es hochinteressant und fühlen sich gut unterhalten. Auf meine und Lorines Kosten.

Jetzt ziehen sie ihr einen dreckigen Sack über den Kopf, was natürlich Blödsinn ist, denn das muss sie vollends verrückt machen. Sie führen sie im Kreis, aber Lorine ist natürlich nicht zu täuschen, sie weiß genau, wo der Wagen steht und als sie sich mit ihr der Rampe nähern, die ins Innere des Transporters führt, steigt sie und reißt sich los.

Ich kann das nicht mehr mit ansehen. Das Pferd wird sich verletzen oder gleich einen Herzschlag kriegen.

Ich wage mich also wieder in den Kreis der Männer und sage: »Ich glaube, wir lassen es lieber. Ich werde alles absagen.«

»Wissen S’ was, gnä’ Frau, Sie täten mir einen Gefallen, wann S’ verschwinden täten. Gehn S’ rauf ins Café und trinken S’ an Schnaps. Wir machen das schon.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Herr Weber und ergreift mich energisch am Arm, »gehen wir hinauf, das ist das Beste.«

Herr Weber ist der Chef der Reitschule und natürlich weiß und versteht er das alles besser als ich, aber …

»Nein, ich kann jetzt nicht weg. Sie werden sie schlagen. Ich kann doch nicht …«

»Kommen Sie nur, die machen das schon richtig.«

»Die anderen sollen auch verschwinden«, ruft der Transporteur und scheucht mit einer Armbewegung alle Neugierigen davon.

Herr Weber deponiert mich an einem Tisch in unserem Reiterlokal und bestellt einen doppelten Steinhäger für mich. »Nur keine Angst«, tröstet er mich, »das geht schon in Ordnung.«

Die anderen setzen sich um uns herum und erzählen von spannenden und dramatischen Transporterlebnissen. Frau von Kleiss, groß, knochig, breitschultrig, eine Pferdeexpertin ersten Ranges – jedenfalls mit dem Mundwerk –, berichtet ausführlich, wie ihre Stute Ramona sich bei dem Transport von Karlsruhe nach München so schwer verletzte, dass sie danach drei Monate stehen musste und genau genommen überhaupt nicht mehr richtig gesund wurde, ein halbes Jahr später ging sie in den Pferdehimmel ein. Und Frau Alberty, recht hübsch, klein und zierlich, ein Society-Gewächs, in dritter Ehe mit einem reichen Textilfabrikanten verheiratet, weiß zu berichten, dass der Herkules, den sie früher mal hatte, so herumgetobt hat, dass er den ganzen Transportwagen einfach umschmiss. Mit sich selber drin.

Das könne man ja nun hiermit nicht vergleichen, wird sie von Frau von Kleiss belehrt – die beiden sind intime Feindinnen –, vermutlich sei Herkules in einem Anhänger gereist und nicht in einem ordentlichen Transporter. So wie sie es herausbringt, hört es sich an, als sei Frau Alberty zu geizig gewesen, einen richtigen Transporter zu bezahlen. Die beiden reden immer auf diese Weise miteinander. Frau Alberty sagt, es sei ein besonders großer und stabiler Anhänger gewesen, der bekannte Turnierreiter XY habe ihn ihr geliehen, weil er so große Stücke auf sie und Herkules hielt, und schließlich hätte sie damals einen Cadillac gefahren, da habe es ihr eben Spaß gemacht, das Pferd selbst zu transportieren. Das sei übrigens damals gewesen, als sie bei dem Grafen XYZ für den Sommer eingeladen gewesen sei. Auf das Schloss des Grafen, Sie wissen doch? Oder kennen Sie es am Ende nicht? Frau von Kleiss wird ein wenig gelb im Gesicht, es war ein bisschen viel in dieser Antwort verpackt, der Graf, das Schloss, der Cadillac und auch noch die Reiterkoryphäe, so etwas muss man erst mal schlucken. Aber sonst sind die beiden reizende Menschen und sooo unterhaltend.

Herr Weber verbeißt sich ein Schmunzeln und meint, wenn einer schon Herkules hieße, dann könne man ja nicht viel anderes von ihm erwarten.

Ich sage gar nichts und kippe meinen Schnaps und rauche eine Zigarette. Ich fühle mich gar nicht wohl in meiner Haut. Arme Lorine, was machen sie da unten mit dir. Ich werde Tage brauchen, bis ich dich wieder friedlich gestimmt habe, du hast nun mal ein etwas kompliziertes Seelenleben, dafür bist du eben eine hochgezüchtete Aristokratin und das gefällt mir gerade an dir. Du bist das schönste Pferd weit und breit, stolz, geradezu arrogant, ich kenne jedenfalls niemand, der so hochnäsige Nüstern machen kann wie du, wenn dir etwas oder vor allem jemand nicht passt. Wir beide, Lorine, wir kennen und verstehen uns. Ich liebe dich sehr und ich dachte, du liebst mich auch ein wenig. Aber wie sich nun zeigt: Du hast kein Vertrauen zu mir. Schön, verreisen wir also nicht.

»Noch einen«, sagte ich zu Molly, unserer Bedienung, die zufällig vorbeikommt. Von selbst kommt sie nämlich sonst nie, man muss sie immer holen.

Und plötzlich kommt Klaus, der Sohn des Pferdepflegers Franz, hereingestürmt und schreit lauthals »Sie ist drin, sie ist drin. Ist ganz prima gegangen.«

Ich stürze hinunter in den Hof, aber die Tür des Transporters ist schon geschlossen, von Lorine ist keine Schweifspitze mehr zu sehen.

»Ist ihr auch nichts passiert?«

»Woher denn? Was soll ihr denn passieren?«

»Wieso ging’s denn auf einmal?«

»Sie hat eingesehen, dass sie ihren Kopf nicht durchsetzen kann«, antwortet mir der Mann voller Gemütsruhe und verzieht keine Miene.

Ich schlucke alle weiteren Fragen herunter. Eine Peitsche kann ich nirgends sehen. O Lorine, da drin in dem Riesenkasten, wie werde ich dich wiederfinden?

»Kann ich sie nicht mehr sehen?«

»Nix mehr. Wir fahren jetzt ab.«

»Ich fahre auch gleich. Ich werde zum Empfang draußen sein.«

»Ist recht.«

Am liebsten würde ich sagen: Fahren Sie vorsichtig! Aber ich lasse es bleiben. Nicht nötig, dass ich mir eine grobe Erwiderung einhandle. Und ich weiß ja, dass er vorsichtig fahren wird, schließlich ist es das bestrenommierte Pferdetransportgeschäft weit und breit. Turnier- und Rennpferde werden hier verladen, zu weiten Auslandstransporten manchmal, und alle kommen sie gut an, also wird wohl auch mein Herzblatt unbeschädigt landen.

»Auf Wiedersehen! Gute Fahrt.«

Ich sehe dem Transporter nach, wie er schwerfällig die Auffahrt hinaufrumpelt und um die Ecke verschwindet. Arme Lorine! Sicher bist du sehr verzweifelt. Denkst du, dass ich dich verkauft habe? Dass ich dich verraten und verlassen habe?

Der Unterkiefer tut mir immer noch weh, aber die Zähne scheinen noch festzusitzen. Nun denn! Jetzt gebe ich eine Abschiedsrunde für die anderen, trinke auf den zweiten Schnaps hinauf einen Kaffee und dann fahre ich los. Mein Wagen steht bereit, das Gepäck ist drin. Meine Wohnung habe ich vor einer Stunde verlassen und werde sie vier Wochen lang nicht mehr sehen. Es weiß fast keiner, wo ich hinfahre, und das ist gut so. All die Leute können mir gestohlen bleiben, Bekannte, Freunde – der Teufel soll sie holen mit ihren blöden Fragen und faulen Trostversuchen. Ich habe alles satt. Fed up bis oben hin. Und wann ich wiederkomme – das wissen die Götter, vielleicht komme ich gar nicht wieder. Manchmal bin ich so müde in letzter Zeit. Ich habe gar keine Lust mehr weiterzumachen. Das ist natürlich Unsinn. Man muss nur wieder einmal etwas Neues beginnen. Neue Wege machen jung. Ist es nicht so?

Und Enttäuschungen machen alt. Wie viel Enttäuschungen kann ich mir eigentlich noch leisten? Es muss aufhören mit den Versuchen an ungeeigneten Objekten. Nicht dass ich der Liebe abschwören will, ich habe Männer immer gern gemocht, aber ich werde keinen mehr ernst nehmen. Mal ein Liebhaber hier und da, ein bisschen Amüsement, aber keine Liebe mehr, bei Gott, nie wieder. Kein Ernst, nur Spiel. Lieben werde ich nur noch Lorine. Und im Übrigen werde ich mich ums Geld verdienen kümmern. Das war’s denn!

Der Abschied geht schnell und schmerzlos vonstatten. »Tschüs, Kinder, macht’s gut«, und es nimmt auch keiner groß Notiz von meiner Abreise. Sie reden gerade von Herrn Körner, der in einem Jahr schon dreimal das Pferd gewechselt hat. Seiner Meinung nach taugen die Pferde alle nichts, er sucht immer ein besseres. Ihrer Meinung nach taugt Herr Körner als Reiter nichts, er würde auch auf einem Olympiadepferd nur rückwärts galoppieren können. Unten im Hof bei den Außenboxen schlendert wie von ungefähr Ferdinand durchs Gelände. Er tut, als hätte er mich nicht gesehen, tätschelt einen Pferdekopf und sucht in seinen Taschen nach Zucker. Der hat mir noch gefehlt. Der liebste, beste, gütigste, sanftmütigste Mensch, den ich kenne und je gekannt habe. Ich bin seiner Liebe nicht wert, er sollte das eigentlich inzwischen wissen. Sicher, es wäre mir viel erspart geblieben, wenn ich vor fünfzehn Jahren ihn statt René geheiratet hätte, aber ich kann es mir heute genauso wenig wie vor fünfzehn Jahren vorstellen, dass ich mit Ferdinand … also nein!

»Was machst du denn hier? Bist du nicht im Geschäft?«

»Ach! Vera! Wie nett, dich noch zu sehen!«

Er wird doch wahrhaftig immer noch ein bisschen rot, wenn er mir gegenübersteht. Es ist rührend. »Ich hatte gerade hier in der Nähe zu tun, da dachte ich, schau ich mal, muss ich doch mal sehen, ob ihr gut weggekommen seid.«

»Du bist zu spät gekommen, sonst hättest du miterlebt, wie Lorine sich aufgeführt hat. Es war eine Katastrophe.«

»So? Na ja. Sie ist eben nervös. Wie eben Vollblüter so sind.«

Es ist zum Lachen. Der gute Ferdinand. Er hat nicht die geringste Ahnung von Pferden. Früher hätte er einen Araber nicht von einem Kaltblüter unterscheiden können. Aber seit ich reite, interessiert er sich für Pferde, hört geduldig zu, wenn ich von Pferden rede, und ich rede viel davon und von Lorine besonders. Und er liest sogar einschlägige Bücher. So ist Ferdinand. Genaugenommen der einzig wirkliche Freund, den ich habe. Auch wenn ich ihn nicht verdiene.

»Ich muss fahren. Ich möchte vor Lorine ankommen. Damit sie sieht, dass ich da bin.«

Er sieht mich mit seinem geduldigen Hundeblick an und versucht es noch einmal. »Du willst mir deine Adresse wirklich nicht geben?«

»Nein.«

»Es könnte ja mal was sein?«

»Was soll sein? Mir kann jeder gestohlen bleiben. Die Post kriege ich nachgeschickt, und Frau Busch kümmert sich um die Wohnung.«

Frau Busch ist meine Hausmeisterin, ein echtes Goldstück. »Sonst kräht ja sowieso kein Hahn nach mir.«

»Aber ich doch.«

»Ja, du!« Der Ton ist nicht sehr nett, in dem ich das sage. Es tut mir auch gleich leid. Ich streichle seine Wange und füge hinzu: »Ich werd’ dich anrufen.«

»Ich könnte dich mal besuchen.«

Schon wieder zu viel. – »Ich brauche keinen Besuch.«

»Auch nicht von mir?«

»Nein, mein Schatz, auch nicht von dir. Ich möchte tun, als sei ich eben auf die Welt gekommen.«

»Das kannst du doch nicht.«

»Das kann ich. Jedenfalls eine Zeit lang.«

»Du wirst dir nur wieder so einen fremden Kerl anlachen und dir neuen Kummer machen.«

»Ich werde mir gar niemand anlachen. Wer wird schon in dem Kaff sein! Also – Servus, mein Schatz. Lass es dir gut gehen.«

»Ohne dich kann es mir gar nicht gut gehen.«

Da mache einer was dagegen. Er wird wohl nie begreifen, dass seine demütige Liebe niemals Liebe erwecken kann. Nicht bei einer Frau, wie ich es bin. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich frage mich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich ihm damals nicht über den Weg gerumpelt wäre … Er war ein ganz netter junger Mann. Vielleicht hätte er ein ebenso nettes junges Mädchen geheiratet und wäre glücklich geworden. So vergeht sein Leben damit, mich treu und hoffnungslos zu lieben. Und immer da zu sein, wenn ich einen Freund brauche, wenn ich Trost, Zuspruch oder Hilfe brauche. Und all das brauche ich ziemlich oft. So gesehen, biete ich ihm schon allerhand. Manchmal habe ich auch schon gedacht, ich sollte zum Lohn einmal mit ihm schlafen. Oder sagen wir: einige Male. Aber es wäre nicht fair, das erst recht nicht. Es wäre kein Geschenk. Es wäre ein Almosen, das ich sofort wieder zurücknehmen müsste. Und ich mag viele schlechte Eigenschaften haben – doch, einige sind es bestimmt – aber unfair bin ich nie. Gegen nichts und niemand.

Viel Verkehr auf der Landstraße. Furchtbar viele Laster, und man kann so schlecht überholen. Warum sie nicht endlich mal breitere Straßen bauen. Wenigstens Dreispurbahnen, wenn nicht am besten gleich Vierspurbahnen. Erst hinter Landsberg sehe ich den großen silbergrauen Kasten vor mir. Da ist sie drin, mein arme Lorine.

Eine Weile bleibe ich hinter dem Kasten, dann auf einer geraden, übersichtlichen Strecke überhole ich, tippe einmal leicht auf die Hupe und hebe die Hand. Der Fahrer des Transporters, hoch über mir, gibt kein Zeichen, dass er mich erkannt hat.

Lorines Ankunft

Der Reitstall des Kurbades Waldhofen liegt etwa drei Kilometer nördlich des Ortes inmitten von Wiesen und Feldern. Also ich finde, er liegt sehr schön. Vor zwei Monaten, als ich diesen tollkühnen Entschluss fasste, nicht mit einem Mann, sondern mit einem Pferd in die Ferien zu reisen, war ich hier und habe mir das alles angesehen. Das heißt, erst habe ich mich natürlich in Reiterkreisen umgehört. Nicht dass sehr viele Leute mit ihrem Pferd verreisen. Ich habe mir erzählen lassen, in Norddeutschland käme das öfter vor, da fahren sie aus den großen Städten, aus Hamburg oder Bremen oder sogar vom Westen her aus Düsseldorf mit ihren Pferden ans Meer oder in die Heide, um einmal ungestört und nach Herzenslust im Gelände zu reiten. Hier bei uns in Süddeutschland kommt es relativ selten vor. Natürlich ist es kein ganz billiger Spaß, und vor allem muss man den richtigen Ort erst finden. Meer und Heide haben wir hier leider nicht.

Am Meer bin ich geritten, in Holland und auf verschiedenen Nordseeinseln, ich weiß, wie herrlich es ist, am Strand entlang zu galoppieren. Aber es ist nicht daran zu denken, dass ich meiner armen Lorine die weite Reise von München an die Nordseeküste zumute. Wie gesagt, von unserem Stall aus fahren nicht viele Leute mit Pferd in Urlaub. Manche tun es, sie haben Bekannte auf dem Land oder selbst ein Landhaus. So gibt es eine fesche sportliche Frau in unserem Stall, die verbringt mit Pferd, Hund und Mann den ganzen Sommer auf eigenem Landsitz und erholt sich bestens beim Pferdeputzen und Stallausmisten. Andere Reiter wieder bringen ihr Pferd zu einem Bauern oder auf ein Gestüt, wo es auf die Koppel gehen kann, meist in der Zeit, in der sie selbst verreist sind.

Wie ich auf die Idee kam, mit Lorine zu verreisen, kann ich nicht genau sagen. Ich komme immer auf irgendwelche Ideen, manchmal gute, manchmal schlechte. In welcher Eigenschaft sich diese ausweisen wird, bleibt abzuwarten. In meinem bisherigen Leben, das ja nun schon eine stattliche Anzahl von Jahren währt, habe ich viele schöne und große Reisen gemacht. Am meisten liebe ich das Meer, das südliche und noch mehr das nördliche. Und ich habe mich immer gern an mondänen Plätzen und in Luxushotels aufgehalten. Ich kenne die französische Küste rundherum, die belgischen, die holländischen und natürlich die deutschen Nordseebäder.

Ich liebe Österreich, seine Seen und Berge, ich bin für mein Leben gern in der Schweiz, gelegentlich war ich auch in Italien und Spanien – alles in allem bin ich gar nicht mehr so neugierig, das nun immer wieder aufs Neue abzugrasen. Vor allzu fernen Ländern und allzu fremden Lebensbedingungen scheue ich ein wenig zurück, denn ich habe es gern bequem und einigermaßen kultiviert. Ich habe all diese Reisen nicht allein gemacht. Da war immer ein Mann, der mein Leben teilte, der es mehr oder weniger verschönte. Nun ja, und damit komme ich nun zu einem wesentlichen Punkt, der in letzter Zeit und auch noch jetzt mein Leben nicht verschönt, sondern reichlich verbittert.

Dieser Punkt heißt Gert. Vier Jahre lang waren wir zusammen. Vier Jahre lang war die Rede von Liebe. Nein – das stimmt nicht. Zwei Jahre lang war es diese komische Sache, die man Liebe nennt. Ein Jahr lang war es so halb und halb und zunehmend schwierig. Und das letzte Jahr war mehr oder weniger Quälerei. Ich wusste lange, dass es auf eine Trennung zugeht; was das betrifft, so war ich nie ein Mensch, der sich etwas vormacht. Aber man löst sich nicht so leicht. Schon gar nicht, wenn – wie in diesem Fall – auch eine enge berufliche Zusammenarbeit auf dem Spiel steht. Ach, zum Teufel mit all den vorsichtigen Worten. Ich hab’ den Kerl gern gehabt, aber manchmal zweifle ich daran, ob es wirklich Liebe war. Es blieb immer ein Rest, der nicht passte. Und so etwas wächst mit der Zeit. So etwas breitet sich aus wie ein Geschwür. Ich bin keine geduldige, keine duldsame Frau. Ich stecke nichts ein, ich ordne mich nicht unter, ich gebe nichts – aber auch gar nichts – von mir und meinem Wesen auf. Wenige Männer können auf die Dauer mit so einer Frau etwas anfangen. Das weiß ich sehr gut. Trotzdem, und das ist es, was mich verbittert, hat Gert sich schlecht benommen. Es war kein schönes Ende einer Liebe.

Gut oder nicht gut. Aber auf jeden Fall aus. Es ist vollkommen unwichtig, ich will es vergessen und ich werde es vergessen. Aber es führt ein gerader Weg von dieser Endsituation zu meiner jetzigen Reise.

Als wir uns endgültig trennten – das war im Mai dieses Jahres, ulkig, eigentlich soll man sich im Mai verlieben und nicht auseinandergehen –, da war ich erst einmal mit Gott und der Welt zerfallen. Ich fuhr nach Paris, anschließend nach Nizza, in beiden Städten war ich mit ihm auch gewesen, und beide Städte brachten weder Trost noch Ablenkung, außerdem hatte ich ständig Sehnsucht nach Lorine.

Ich kehrte nach München zurück und fand bei ihr, was ich brauchte: Trost, Ablenkung, Freude – Glück. Und da kam mir die Idee: Das nächste Mal verreise ich mit Lorine. Voilà, das ist die Geschichte. Und als ich mich ein bisschen umgehört hatte, erzählte mir einer von Bad Waldhofen, das ich dem Namen nach zwar kannte, aber zuvor nie besucht hatte. Kleine gemütliche Kurbäder – das stand bisher nicht auf meinem Reiseprogramm. Kurz entschlossen fuhr ich damals hin, sah mich in dem Ort um, fand ihn ziemlich uninteressant, aber dann sah ich den Reitstall und der gefiel mir. Ein heller, luftiger Stall mit schönen großen Boxen, tadellos gepflegt, eine kleine gedeckte Reitbahn, ein offener Reitplatz, eine schöne große Koppel – Lorine würde sich hier wohlfühlen. Das gab den Ausschlag. Man konnte es mal versuchen mit Ferien auf andere Art.

Unsere Abreise hat mich etwas kleinlaut gestimmt. Ich zweifle auf einmal am Wohlgelingen dieses Unternehmens. Und als ich mittags gegen ein Uhr in Bad Waldhofen ankomme, zweifle ich weiter. Damals, als ich hier war, herrschte reger Betrieb. Pferde auf der Bahn, Pferde auf der Koppel, der Reitlehrer bei der Arbeit, aber jetzt liegt der ganze Komplex öde und verlassen im leichten Nieselregen. Ja – es hat angefangen zu regnen während meiner Fahrt und es ist reichlich kühl für Ende August.

Ein einziger Wagen steht auf dem Parkplatz vor dem Stall. Wohl der Wagen von Herrn Meisel, dem Besitzer des Stalls. Weit und breit keine Menschenseele. Ja, warten die denn nicht auf mich? Haben die Leute vergessen, dass Lorine heute kommt? Ich habe gestern extra angerufen und die vermutliche Zeit der Ankunft mitgeteilt. Natürlich, durch Lorines Theater ist es später geworden.

Ich kenne die mittägliche Ruhe in Pferdeställen. Um zwölf wird gefüttert und anschließend hat keiner etwas im Stall zu suchen, das ist Gesetz. Hier hält man sich anscheinend wirklich daran. Aber wie soll Lorine ausgeladen werden? Und wo wird sie wohnen? Die hohe Tür zum Stall ist abweisend geschlossen. Aber als ich dagegen drücke, gibt sie nach, ich kann hinein.

Ruhe im Stall. Die Pferde stehen in ihren Boxen, kauen das letzte Heu vom Mittagsmahl oder dösen vor sich hin. Und es riecht so gut. Gleich fühlt man sich zu Hause. Nichts auf der ganzen Welt riecht besser als ein Pferd. Und ein ganzer Stall von Pferden, das ist schlechthin die Vollendung.

Da stehe ich an der Tür, und auf einmal merke ich, dass ich lächle. Heimatliches, vertrautes Gefühl. Ist es zu glauben, dass ich so viele Jahre meines Lebens sinnlos verschwendet habe, einfach dadurch, dass ich kein Pferd hatte. Was für ein ungelebtes Leben ist es gewesen! Da habe ich mich herumgeärgert mit allen möglichen blödsinnigen Leuten, mit meiner Arbeit, mit Männern, habe mir am Ende gar noch eingebildet glücklich zu sein mit diesem oder jenem und habe nicht gewusst, dass man gar nicht glücklich sein kann ohne Pferd.

Wahrscheinlich übertreibe ich wieder schrecklich. Aber das tue ich gern. »Nom de Dieu, Vera«, pflegte mein Letztverflossener gelegentlich zu sagen, »sei nicht so exaltiert! Es ist kaum zu ertragen, wie exaltiert du bist. Immer sechs Etagen über den Tatsachen.«

Womit er furchtbar übertrieben hat. Und außerdem konnte niemand exaltierter sein als er. Nicht zuletzt einer der Gründe, warum wir nicht zusammenbleiben konnten. »Zwei Verrückte«, das hinwiederum hat mein guter Ferdinand gesagt, »zwei Verrückte, das kann nicht gut gehen. Wenn einer schon spinnt, muss wenigstens der andere ruhig und vernünftig sein.«

»Ich bin ruhig und vernünftig«, habe ich ihm darauf geantwortet, »jedermann landab und landauf wird dir das bestätigen, mit mir hat immer jeder gern zu tun gehabt.«

Ein bisschen verrückt bin ich vielleicht schon. Und wenn ich einmal ganz ehrlich bin, im Grunde meines Herzens habe ich mir immer einen ruhigen und besonnenen Mann gewünscht, so etwas ganz Seriöses und Überlegenes, lieber Himmel, genau so etwas, wie es sich jede Frau schon in ihren Kinderträumen vorstellt. Leider ist mir so etwas nie begegnet. Vielleicht gibt es das auch gar nicht mehr.

Ein leichter Stups an meiner Schulter. Ein großer Brauner streckt den Kopf zur Box heraus und schaut mich vertrauensvoll an.

Wer bist du denn, du stehst da und sagst gar nichts? Hast du keinen Zucker mitgebracht?

Mechanisch stecke ich die Hand in die Kostümjackentasche. Aber da ist nichts. »Tut mir leid, im Moment habe ich nichts da. Draußen im Wagen habe ich welchen, du kriegst ihn nachher. Hm?« Ich klopfe seinen Hals und gehe langsam weiter.

Die vierte Box ist leer, also wohl Lorine zugedacht. Frisches Stroh ist eingeschüttet, in der Krippe eine Portion Hafer. Also bekommt Lorine ihr Mittagessen nachserviert, sehr schön. Wenn sie nur schon hier wäre und heil ausgeladen. Außer den Pferden befindet sich offenbar kein Lebewesen im Haus. Doch – eine große graugestromte Katze sitzt in der Nachbarbox auf dem Rand der Krippe und schnurrt friedlich. Der Bewohner dieser Box, ein großer kräftiger Goldfuchs mit schmaler weißer Blesse, ist augenscheinlich an diesen Gast gewöhnt. Er pustet der Katze ein bisschen ins Fell, was diese mit geschlossenen Augen genießt. Was für ein schönes Pferd! Ich hebe ganz langsam die Hand und streiche ihm sanft über die Nase, was er sich reglos gefallen lässt. Das wäre bei Lorine nicht möglich. Sie lässt sich nicht gern an den Kopf fassen, von Fremden schon gar nicht.

»Du bist aber ein Schöner. Ganz große dunkle Augen hast du. Hm? Wohnst du immer hier? Oder bist du auch ein Urlauber? Wirst du auch nett sein zu Lorine? Sie ist sehr empfindlich. Und sie redet nicht mit jedem.«

Alle Pferde im Stall haben ihre Köpfe zu mir hingewendet und hören zu. Sie haben es so gern, wenn man mit ihnen redet, leise und sanft. Und sie haben es überhaupt gern, wenn Besuch kommt.

Am anderen Ende des Stalls führt eine Tür in den Hausflur, und direkt gegenüber der Stalltür ist das Büro, das weiß ich von meinem Besuch her. Und hier finde ich endlich eine Menschenseele. Ein junges Mädchen sitzt da und liest.

»Grüß Gott!«

Sie blickt auf, ein schmales Kindergesicht unter kurzgeschnittenen blonden Haaren.

»Ist Herr Meisel nicht da?«

»Herr Meisel ist oben in der Wohnung.«

»Ich bin Vera Marvin. Ich bin eben angekommen.«

Die Kleine steht auf. »Ist Ihr Pferd auch schon da?«

»Nein. Aber ich denke, dass es bald kommen wird. Sie wissen also Bescheid?«

»Ja. Ich bin hier, um auf Sie zu warten.«

»Aha, sehr schön.« Ich lächle die Kleine an, und sie lächelt scheu zurück.

»Wie heißt du denn?«

»Angelika.«

Jetzt hab’ ich sie geduzt, aber sie ist höchstens fünfzehn, sechzehn, vielleicht auch jünger, bei den Mädchen heutzutage weiß man nie, sie sind meist jünger, als sie aussehen. Außerdem ist es eine schlechte Eigenschaft von mir, Leute, die mir gefallen, gleich zu duzen, so en passant, und in keiner Weise verpflichtend. Manche wundert’s vielleicht, nur Spießer sind pikiert.

»Nett, dass du auf mich gewartet hast, Angelika. Da bist du um deinen Nachmittagsschlaf gekommen.«

Jetzt lacht sie sogar. »Aber ich schlafe doch nachmittags nicht. Es ist schon schade, dass man nachts schlafen muss.«

Ja, das denkt man, wenn man sehr jung ist. Ich schlafe gern. Aber schad’ um die Zeit ist es dennoch, das denke ich auch heute noch.

»Ist die freie Box für Lorine?«

»Ja.«

Wir gehen zusammen in den Stall, besichtigen noch einmal Lorines zukünftige Wohnung, dann gehen wir von Box zu Box, und Angelika nennt mir die Namen der Pferde. Sie tut es mit der zärtlichen Anteilnahme, die junge Reiter für Pferde haben.

»Bist du von Waldhofen?«

»Nein, ich bin zu den Ferien hier.«

»Und du wohnst hier im Hause?«

»Ja. Ich helfe im Stall und bekomme dafür Reitstunden. Aber in zehn Tagen fängt die Schule wieder an.«

»Pech.«

»Ja, wirklich.«

»Wird dir schwerfallen, von hier wieder abzureisen, hm?«

»Ach, ich kann gar nicht daran denken.«

Das kenne ich von unseren jungen Leuten im Stall. Diese Hingabe, dieser Enthusiasmus, den die Kinder aufbringen, wenn sie reiten lernen und reiten dürfen, das sucht seinesgleichen in der Welt. Man sagt immer, in unserer Zeit sei die Jugend abgebrüht, schlecht gelaunt und schlecht erzogen, haltlos, rundherum widerlich. Mag sein. Die Jugend, die reitet, ist es nicht. Wenn ich Kinder hätte, dürften sie reiten gehen, sobald sie alt genug sind, auf einem Pferd zu sitzen, und ich würde disziplinierte, fröhliche und glückliche Kinder haben. Und fast alle Kinder würden gern reiten lernen. Ich habe selten ein Kind erlebt, das sich nicht dafür interessiert hätte. Die Eltern ahnen gar nicht, welch wunderbaren Erziehungshelfer sie sich entgehen lassen: das Pferd. Und es soll auch keiner sagen, dieser Sport sei zu teuer. Für wie viel sinnlosen Blödsinn geben die Leute in unserer Zeit ihr Geld aus. Was müssen sie alles in sich und ihre Kinder hineinstopfen, weil sie meinen, es gehöre zum modernen Lebensstandard. Und wie wenig Glück kaufen sie damit sich und ihren Kindern. Oder macht es ein Kind glücklich, wenn es Tag für Tag vor dem Fernseher sitzt oder in Vaters liebevoll gewienertem Auto nach Spanien und Italien fährt? Das bedeutet gar nichts. Solche Ferien, wie Angelika sie macht, Ferien in einem Reitstall bei Pferdeputzen und Reitenlernen, das sind Ferien, an die wird sie noch denken, wenn sie Großmutter ist.

»Aber nächstes Jahr darf ich wiederkommen, darauf freue ich mich jetzt schon.«

»Kannst du denn zu Hause auch reiten?«

»Doch. Nicht so viel wie hier natürlich. Zweimal in der Woche. Und nur wenn in der Schule alles klappt. Aber hier«, und ihre Augen strahlen mich an, »hier konnte ich jeden Tag zwei Stunden reiten und manchmal sogar mehr.«

»Wen reitest du denn besonders gern?«

»Ach, eigentlich alle. Am liebsten vielleicht die Carmen, da drüben die Schwarze. Die gehört Herrn Meisel. Die durfte ich manchmal in der Stunde mitreiten. Sie ist noch jung und ziemlich wild. Sie hat mich oft runtergeworfen.« – Und wie sie das sagt, hört es sich an, als sei es ihr das größte Vergnügen und zudem eine Ehre, von Carmen abgesetzt zu werden.

»Wie viele Privatpferde habt ihr denn hier?«

»Sieben zur Zeit. Zwei sind auch in Urlaub hier, der Braune hier und der Schimmel in der letzten Box. Fünf stehen immer hier. Die anderen sind Reitschulpferde.«

Siebzehn sind es im Ganzen, also hat Herr Meisel zehn eigene Pferde, die im Verleih gehen. Ganz schön für einen kleinen Stall. Wie er die wohl alle durch den Winter bringt, wenn wenig Kurgäste hier sind und wenig Betrieb im Stall. Kein leichtes Geschäft so ein kleiner Reitstall, es gehört Idealismus dazu, Freude an der Sache.

Wir stehen wieder bei dem Goldfuchs, und ich sage: »Das ist ein hübscher Bursche. Hast du den auch mal geritten?«

»Nein. Den reitet nur der Besitzer. Oder wenn er nicht da ist höchstens Herr Meisel. Ein sehr gutes Pferd. Er geht M und springt fantastisch. Er ist der Beste hier. Timotheus heißt er.«

»Timotheus!«, sage ich und kraule ihn unter dem Stirnhaar. Dann gehen wir hinaus in den Hof, und ich blicke hoffnungsvoll auf den schmalen Zufahrtsweg. Noch kein Transporter in Sicht. Es regnet immer noch, mehr als vorher, die Landschaft sieht trüb und eintönig aus, auf dem Hof stehen große Wasserlachen.

»Es hat hier wohl auch viel geregnet?«

»Ja. Jeden Tag in der letzten Woche.«

»Schade.«

»O nein«, widerspricht Angelika eifrig, »es ist gut, wenn es regnet. Bei schönem Wetter könnte man gar nicht ausreiten.«

»Warum denn das?«

»Es gibt dieses Jahr furchtbar viele Bremsen.«

»Was, hier auch?«, sage ich und das ist zweifellos reichlich dämlich. Warum soll es auf dem Land keine Bremsen geben, wir haben ja sogar im Englischen Garten jede Menge. Ich fürchte die Biester auch. Lorine benimmt sich wie eine Närrin, wenn sie gestochen wird.

»Wenn das Korn drin ist, sind sie weg«, tröstete mich Angelika.

»Na, dann sollen sie sich mal beeilen mit der Ernte. Wird sowieso langsam Zeit.«

Da – jetzt kommt etwas. Schwerfällig biegt der dicke Kasten drüben von der Landstraße ein, rumpelt auf dem Zufahrtsweg in unserer Richtung. Jetzt kommt sie, sie kommt – lieber Himmel, steh mir bei, dass sie heil und gesund herauskommt und alles gut gegangen ist.

Da ist der Wagen. Da steht der Wagen, der Fahrer klettert heraus, spricht kein Wort und macht sich daran, die Tür an der Rückwand aufzukoppeln.

»Alles gut gegangen?«

»Klar.«

Die Tür schwingt auf, die Rampe klappt herunter, und da sehe ich schon Lorines Ohren über der Zwischenwand. »Lorine! Liebling! Ich bin hier.«

Und da – aus dem Innern des Wagens kommt ein helles hohes Wiehern. Ich bin ganz sprachlos. Noch nie habe ich Lorine wiehern gehört. Auf einmal tut sie das. Sie hat meine Stimme erkannt, sie ist froh, dass ich hier bin, sie hat gesagt: Gott sei Dank, da ist ja Frauchen. – Ich freue mich kindisch und bin gerührt.

Das Ausladen ist ein Kinderspiel. Sie wird losgebunden, der Mann nimmt sie am Halfter, und sie kommt mit zwei Sprüngen die Rampe herunter.

Da ist sie. Steht da und schaut. Biegt den schlanken Hals, reckt den Kopf und öffnet weit die Nüstern. Sie ist immer noch aufgeregt, und alles ist natürlich fremd und seltsam. Aber sie sieht ja, dass ich da bin. »Lorine!«, sage ich, streichle ihren Hals, lege meine Wange an ihr Seidenfell. Ich bin so glücklich.

Auf einmal ist auf dem Hof allerhand Betrieb. Herr Meisel ist da, fertig mit dem Mittagessen, Frau Meisel, ein paar Kinder und ein junger Mann. Alle stehen um Lorine herum und bewundern sie.

Ich bin stolz, dass ich so ein schönes Pferd habe. Ein rassiges, edles Tier. Ich höre es immer gern, wenn man mir Komplimente über Lorine macht. Ich werde nicht mehr so stolz sein, wenn sie mich reiten sehen. Ehrlich gestanden, ich bin nur eine mittelmäßige Reiterin. Und Lorine macht manchmal mit mir, was sie will. Aber das tut meiner Begeisterung keinen Abbruch.

Herr Meisel, ein drahtiger mittelgroßer Mann, drückt mir kräftig die Hand, viel zu sagen hat er nicht, er interessiert sich viel mehr für Lorine als für mich. Aber auch dieses Interesse bleibt schweigsam. Er betrachtet die Stute von allen Seiten, dann nimmt er sie am Halfter und führt sie in den Stall. Lorine geht widerspruchslos mit. Sie anerkennt die Autorität. Typisch Pferd.

Mit größter Selbstverständlichkeit bezieht sie ihre Ferienwohnung, und, ohne rechts und links zu blicken, macht sie sich über ihr verspätetes Mittagessen her und speist mit gutem Appetit. Ich hole die gelben Rüben aus dem Auto, die ich vorsorglich mitgebracht habe. Lorine teilt sich ihr Essen immer gut ein. Ein Maul voll Hafer, eine Rübe. Ich sehe befriedigt zu, wie es ihr schmeckt. Die Nachbarn zur Rechten und Linken, ein kleiner pummeliger Kastanienbrauner und Timotheus, der Goldfuchs, sehen ebenfalls zu. Jeder bekommt ein paar Rüben zum Einstand und zur guten Nachbarschaft.

Das wäre geschafft. Ein bisschen könnte ich nun mal an mich denken. Ich habe auch Hunger. Frühstück gab es heute nur ganz flüchtig im Vorübergehen. Ich werde in mein Hotel fahren und ausführlich zu Mittag speisen.

Das denke ich in meiner kindlichen Naivität. Ich kenne Bad Waldhofen noch nicht.

Bad Waldhofen

Bad Waldhofen, wie gesagt, habe ich in natura kennengelernt, als ich vor zwei Monaten einen Tag hier war. Früher hatte ich nur davon gehört, so zum Beispiel, dass manche Leute immer wieder und mit Überzeugung zur Kur hinfahren und jedes Mal jünger wiederkommen. So in der Art. Nun werden hier etwa keine tollen Kurmittel verabreicht noch sprudeln berühmte Quellen aus der Erde. Man hält sich an ganz gewöhnliches Wasser. Mit einem Wort: Es wird gekneippt. Und diese Art Umgang mit dem Wasser, das sollte ich bald erfahren, ist so eine Art Weltanschauung. Entweder man schwört darauf, oder man findet es komisch. Aber an einer Sache, die sich so lange hält und der so viele Menschen anhängen, muss ja wohl etwas dran sein … Was mich betrifft, so interessiert mich der Gedanke an das berühmte Waldhofener Geplansche nicht im Geringsten. Für mich würde das Ganze ein Experiment sein – einmal Urlaub auf ungewohnte Art. Wie sich das anlassen würde, davon hatte ich keine Ahnung.

Wie ich nun an diesem denkwürdigen Tag meinen Einzug in Bad Waldhofen so kurz nach zwei Uhr halte und durch die regennassen, menschenleeren Straßen rolle, ist mein Eindruck: Lieber Himmel, was für ein ödes Kaff. Unmöglich, dass ich es hier vier Wochen aushalte. Was soll ich hier den ganzen Tag anfangen? Reiten, – na schön, aber mehr als zwei Stunden am Tag reite ich schließlich nicht, und wenn es so weiterregnet, nicht mal das.

Wir werden sehen. Zunächst einmal muss mein Gepäck ausgeladen werden und dann brauchte ich dringend etwas zu essen. Jedoch Letzteres erweist sich als ein Ding der Unmöglichkeit. Um diese Zeit gibt es in Bad Waldhofen nichts zu essen. Absolut nichts. Rien ne va plus. Mittagessen gibt es bis halb zwei, präzise dreizehn Uhr dreißig und keine Minute länger. Allüberall. Jetzt wird geschlafen.

Diktatur habe ich immer schon schlecht vertragen. Und Diktatur von Leuten, die mir eigentlich nach Herkommen und Bezahlung zu Diensten sein sollten, ist mir völlig unbegreiflich. Noch viel unbegreiflicher ist es den Waldhofenern, dass ein Mensch es wagt, um halb drei Hunger zu haben.

Bei mir im Hotel gibt es nichts, in einem Lokal in der Nähe sieht man mich an, als käme ich vom Mond. Auf meine Frage, ob ich denn nicht wenigstens etwas Kaltes haben könnte, erfahre ich: Die Küche ist zu. Meine Laune ist nicht die beste, als ich in mein Zimmer zurückkehre. Komische Manieren haben die hier. Ein Glück, dass man wenigstens Lorine das Essen nachserviert hat. Vielleicht hätte ich vorher anrufen sollen und darum bitten, dass man mir um zwölf einen Teller Suppe ins Zimmer stellt.

Mein Zimmer ist auch nicht mein Zimmer. Nicht das, was ich mir seinerzeit ausgesucht habe. Das ist noch bewohnt, und die Leute fahren erst in zwei Tagen ab. Inzwischen hat man mich in einem viel zu kleinen, sehr bescheidenen Zimmer ohne Bad untergebracht. Keine Rede davon, dass ich meine Sachen hier unterbringen kann. Ich sitze auf dem Bettrand, um mich das ganze Gepäck, und bin sauer. Zigarette auf leeren Magen schmeckt nicht. Außerdem habe ich heute schon viel zu viel geraucht. Kaffee könnte ich wohl haben, hatten sie unten gnädigerweise verlautbart, aber ich hatte dankend verzichtet. Jetzt bereue ich es. Zigarette mit Kaffee ist immer noch besser als Zigarette mit gar nichts.

Und dann muss ich plötzlich lachen. Ach was, Wichtigkeit! Nimm es mit Humor, Vera! Jetzt hänge ich die Kleider auf und dann gehe ich mal los, irgendein Café wird es wohl geben und dann esse ich eben ein Stück Kuchen.

Ich hänge meine Kleider und Kostüme, die Hosen und Blusen sorgfältig in den Schrank, betrachte skeptisch meine hübschen Sommerkleider – bei der Kälte und dem Regen würde ich sie kaum brauchen. Die Zahnbürste, die Cremetöpfe, ein Pyjama, das genügt im Moment, das andere kann ich auspacken, wenn ich umgezogen bin. Mein Kostüm ziehe ich aus, überlege, was ich anziehen soll, am besten lange Hosen und einen Pulli, kühl genug dazu ist es. – Aber dann ziehe ich erst einmal meinen Morgenrock über, lege mich aufs Bett und zünde mir eine Zigarette an. Irgendwie komme ich mir verlassen vor. Ich bin der einsamste Hund auf der Welt. Außer Lorine habe ich keinen Menschen, der zu mir gehört. Das ist die Bilanz meines Lebens, das nun immerhin über die Mitte der Dreißig hinausreicht. Einen Job habe ich auch nicht mehr, zwar noch ein bisschen Geld auf der Bank, aber wie es weitergeht, das weiß ich noch nicht. Nicht dass mich das verzagt macht: in diesem Punkt habe ich eine hohe Meinung von mir. Ich habe schon viel Geld verdient in meinem Leben und ich werde es wieder verdienen. Auf meinen Kopf kann ich mich verlassen. Aber es ist trotzdem nicht schön, wenn man immer wieder von vorn beginnen muss.

Damals, als ich von René geschieden wurde, waren meine Gefühle ähnlich. Oder eigentlich auch wieder nicht. Ich war acht Jahre jünger und voller Tatendrang. Ich wollte es ihnen allen mal zeigen. Zunächst hatte ich daran gedacht, weiter zu studieren. Wegen René hatte ich mein Studium nicht abgeschlossen. Ich war verliebt und heiratete ihn und ich bekam ein Kind – ach Gott, ist das alles noch wahr? Es ist eine Ewigkeit her. Und dann war von der Liebe nichts übrig, die Ehe war am Ende, das Kind war tot, und ich – ich war ganz unten und dennoch voller Tatendrang. So ist man noch mit achtundzwanzig. Und mit dem Weiterstudieren, das war natürlich eine blödsinnige Idee. Das kostete unnötig viel Geld und Zeit. Zeit hatte ich nicht mehr viel zu verschwenden, die Jungen rückten nach. Und Geld musste ich verdienen.

Beim Funk hatte ich schon während meiner Ehe gearbeitet, jetzt bekam ich einen guten Posten in der politischen Redaktion, und von dort ging ich an eine Wochenzeitschrift, dann hatte ich ein Verhältnis mit dem Chefredakteur, und das konnte natürlich nicht lange gut gehen, aber es machte nicht viel aus, ich ging als Redakteurin in eine Frauenzeitschrift, und diese Arbeit machte mir viel Spaß. Die Zeitung war nicht allzu spießig und kleinkariert, ich konnte recht flotte Beiträge schreiben und spezialisierte mich später auf Mode. Dadurch kam ich viel nach Paris und da hatte ich eine Idee. Wieder einmal.

Von der Idee sprach ich zu einem Verleger, den ich kannte. Und der fand sie gar nicht übel. Er gab mir einen Vorschuss, etwas Geld hatte ich noch, und ich ging ein Jahr nach Paris. Danach erschien mein erstes Buch. Es hieß »Fremd in Paris«, es behandelte die Schicksale von Frauen, die aus verschiedensten Gründen vom Ausland nach Paris gekommen waren, um dort Karriere zu machen, zu arbeiten, etwas zu erleben, was auch immer; bei einigen war es gut gegangen, bei vielen schlecht, es waren alles authentische Fälle, die ich mit Fleiß und Hartnäckigkeit zusammengetragen hatte. Nicht zu glauben, was man alles entdeckt, wenn man sich umsieht.

Das Buch wurde ein Erfolg. Ein richtiger, ansehnlicher Erfolg. Ich war sehr glücklich. Und ich ging gleich an die Arbeit für ein neues Buch. Es sollte heißen »Capricen an der Côte« oder so ähnlich, es sollte wieder von Frauen handeln, und zwar von solchen, die in den letzten hundert Jahren an der Côte d’Azur oder an der Riviera, wie man früher sagte, von sich reden gemacht hatten. Königinnen, Fürstinnen, Künstlerinnen, Mätressen, Spielerinnen, Huren. Erstaunlich, auf was man hier erst alles kam, wenn man sich in die Sache vertiefte. Die Arbeit war natürlich etwas anspruchsvoller als die erste, es gab viel Vorarbeiten, ich hielt mich eine Zeit lang in Nizza auf, wühlte in Archiven, alten Tageszeitungen, besuchte Bibliotheken und interviewte, wen ich erwischen oder wer mir was erzählen konnte. Leider – und das war mein Unglück, hatte ich kurz zuvor Gert kennengelernt. Und war wieder mal verliebt. Oder das, was ich dafür hielt. Er kam mit mir, er störte mich bei der Arbeit, er fand meine Arbeit überhaupt nicht so wichtig, er redete mir ein, mich mit ihm zusammenzutun. Mit ihm eine Firma aufzumachen. Oh, ich war nicht wert, dass mich die Sonne beschien, nicht die von Nizza und nicht die von München, wohin ich schließlich mit Gert zurückkehrte. Nicht wert deswegen, weil ich so unwahrscheinlich dumm war.

Ach, zum Teufel, bin ich in dieses dusslige Waldhofen gefahren, um mich über meine Vergangenheit zu ärgern? Was habe ich erst heute Morgen großartig dem lieben Ferdinand erzählt? Ich möchte so tun, als sei ich eben auf die Welt gekommen. Wer eben auf die Welt gekommen ist, hat keine Vergangenheit, nur Gegenwart und bestenfalls eine Zukunft.

Ich springe mit beiden Beinen aus dem Bett, steige in dunkelblaue Hosen, entscheide mich für einen weißen Pulli, Regenpaletot darüber, etwas Geld in die Manteltasche, ein Kämmchen und ein Lippenstift, und dann würde ich mir mal Waldhofen näher ansehen. Ob sie hier vielleicht Kuchen backen gelegentlich oder ob sie das nur an hohen Fest- und Feiertagen tun und ihn dann nur zwischen vier und fünf servieren.

Sie backen welchen und keinen schlechten. Ich esse ein großes Stück mit Schlagsahne und trinke ein Kännchen Kaffee und einen doppelten Kognak dazu, und dann ist mir viel wohler. Das Café ist reizend, gemütlich und warm, man sieht von dem Fenster aus, an dem ich sitze, auf die Kurpromenade hinaus und ich erlebe, wie nach und nach die Kurgäste, vom Mittagsschlaf erwacht und von Tatendrang beseelt, die Promenade beleben, dahinschlendern, meist zu Paaren oder in Gruppen, man steht und plaudert, man begrüßt sich, man hat Zeit. Sie bieten kein allzu farbenfrohes Bild an diesem Tag, aber sie sehen eigentlich ganz zufrieden aus trotz der Regenmäntel und der aufgespannten Regenschirme.